Hey, danke für den Kommi!
ich denke auch, wenn wir uns mal öfter etwas trauen würden, anstatt nur davon zu träumen, dann ginge es uns allen besser.
Brüderlichkeit
Jacob
»Cody weiß Bescheid«, sagte Josh, als er sich neben mich auf die Wiese setzte.
»Verdammt. Wie hat er das bitte herausgefunden?« fragte ich überrascht.
»Er hat einen von uns hier im Park in meinen Klamotten gesehen«, erklärte Josh. »Deswegen hat er mich in der Schule wohl genauer beobachtet und letzten Endes ein Gespräch zwischen Ethan und mir mitgehört. Wir dachten, es wäre besser ihm alles zu erzählen, anstatt irgendetwas zu riskieren. Er hat versprochen, es für sich zu behalten.«
»Und du vertraust ihm genug, um dir sicher zu sein, dass er das auch tut?« fragte ich.
Josh zuckte mit den Achseln. »Sieht nicht so aus, als ob wir eine Wahl hätten. Ich habe ihn eingeladen, heute Nachmittag mit hierher zu kommen.«
Ich nickte. »Da hast du wohl Recht. Können wir jetzt auch nicht mehr ändern.« Dann blickte ich auf mein Handy. »Okay, wollen wir Klamotten tauschen? Wir haben nur ein paar Minuten Zeit, wenn wir pünktlich wieder in der Schule sein wollen.«
»Okay«, antwortete er und nachdem wir uns vergewissert hatten, dass wirklich niemand in der Nähe war, begannen wir uns auszuziehen. »Hast du dein Deo dabei?«
»Ja, hier drin.« Ich reichte ihm meinen, oder eigentlich seinen, Rucksack.
»Danke«, sagte er und gab mir seinen im Tausch. Nachdem er seine Kleidung gefaltet und auf die Schuhe gelegt hatte, stellte er sich vor mir hin, etwa anderthalb Meter entfernt. Er schob seine Daumen unter den Gummizug seiner Boxershorts und grinste mich an. »Tauschen wir die auch?«
Ich schaute an mir herunter und zögerte einen Moment. Dann grinste ich zurück. »Du willst mich doch nur nackt sehen.«
Er lachte. »Ich kann dich nackt sehen, wann immer ich will«, sagte er, zog seine Boxershorts ein Stück von seinem Körper weg und schaute hinein. »Jup, du bist hervorragend ausgestattet, Jacob. Damit wirst du noch viele Mädchen glücklich machen.«
Das brachte mich zum Lachen. »Du bist verrückt.«
Er ließ den Gummizug seiner Boxer gegen seinen Bauch klatschen und griff seine Klamotten. »Dann halt nicht. Wir müssen das nicht machen, wenn du Angst hast, den Kürzeren zu ziehen«, stichelte er mich. Ich schüttelte grinsend meinen Kopf und begann, mich anzuziehen.
Sobald wir fertig waren, schaute er auf seine Handyuhr. »Okay, ich sollte los. Ich kann mit diesem Muskelkater nicht laufen und ich will nicht zu spät sein.«
»Okay, bis später«, erwiderte ich. »Ach ja Josh? Sei vorsichtig, wenn du in Parkers Nähe bist, okay? Achte darauf, dass du möglichst selbstbewusst aussiehst. Das ist wichtig.«
Er guckte mich plötzlich sehr besorgt an. »Warum?«
»Ähm«, sagte ich. Warum hatte ich ihm das nicht schon längst erzählt? »Ich habe ihn… Na ja überzeugt, dich in Ruhe zu lassen, aber du kannst es dir nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Ansonsten wird er das Risiko eingehen und schauen, ob ich nur leere Drohungen gemacht habe.«
»Was? Was zum Teufel hast du getan? Ich meine, was auch immer du getan hast, um dich zu verteidigen, ist okay, aber das klingt gar nicht gut. Hast du ihn etwa irgendwie herausgefordert?«
»Äh«, brachte ich hervor. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das Richtige getan hatte. »Ich hab ihm in die Eier getreten. Dann hab ich ihm gesagt, dass wenn er es je wieder wagt, mich zu berühren, dein Vater ihn verklagen würde. Ich habe eventuell auch erwähnt, dass ich einen Zeugen bestechen und ihn wegen sexueller Belästigung anzeigen würde. Ich war mir ziemlich sicher, dass er so eine Anschuldigung weder seinen Eltern noch seinen Freunden erklären wollen würde. Bisher scheint’s zu funktionieren.«
»Wie bitte?« Es war mehr ein Aufschrei als eine Frage. »Scheiße, verdammt!«
Ich war ziemlich geschockt von seiner Reaktion. Josh war zwar nicht der liebe, religiöse Sohn, für den seine Eltern ihn hielten, aber die Wortwahl war selbst für ihn etwas heftig. Er begann auf- und abzugehen. »Scheiße! Er wird irgendeinen Weg finden, sich zu rächen, soviel ist sicher.«
»Warte mal Josh!« Er blieb stehen und warf mir einen finsteren Blick zu. Wut begann sich in mir aufzubauen. Ich hatte so viel für ihn getan und es war nicht so, als ob Parker mir eine Wahl gelassen hätte. »Es tut mir ja leid, aber wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich verprügelt worden. Ich bin mir sicher, dass er nichts weiter machen wird.«
Ich versuchte meinen Muskeln zu entspannen und ruhig zu sprechen, aber so wirklich funktionieren tat es nicht. »Vielleicht ist er dumm, aber solange er keinen schwachen Punkt sieht, wird er nichts riskieren. Tu einfach so, als ob er dir vollkommen egal ist, wenn du ihn siehst, und dann wird das schon.«
»Ich hoffe, du hast Recht«, kommentierte Josh säuerlich. »Warum hast du mir nicht früher davon erzählt? Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
Ich schluckte. Da war die Sache mit Philip, aber wenn ich ihm das jetzt erzählte, dann würde er vermutlich total abdrehen. Er musste meinen Gesichtsausdruck gesehen haben, denn er schaute noch finsterer als zuvor. »Was ist es? Sag schon!«
»Ähm na ja, Philip«, stotterte ich. »Er hat… irgendwie… Na ja, Andeutungen gemacht…«
»Was für Andeutungen«, verlangte Josh.
»Dass du schwul wärest?« Es war kaum mehr als ein Flüstern.
Ich war davon ausgegangen, dass er mich anschreien würde, dass er durchdrehen, mich vielleicht sogar angreifen würde, aber stattdessen ließ er sich zu Boden sinken und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich bin sowas von am Arsch.«
Ich setzte mich ihm gegenüber, etwa zwei Meter entfernt, kreuzte meine Arme und sprach trotzig.
»Das war definitiv nicht mein Fehler. Ich bin nicht einmal schwul, also wie sollte er das von mir herausfinden. Er muss das schon länger vermutet haben, als nur die letzten Tage, also gib mir nicht dafür auch noch die Schuld.«
»Scheiße«, murmelte Josh. »Das ist jetzt auch egal, Jacob. Ich will nicht darüber nachdenken, okay?«
»Das ist nicht egal«, rief ich verletzt. »Es ist nicht so, als ob ich versucht hätte, dir Schaden zuzufügen. Ich habe versucht, es dir einfacher zu machen und anscheinend glaubst du, dass das mit Parker ein Fehler war. Keine Ahnung was mit Philip los ist, aber anscheinend gibst du mir dafür auch die Schuld. Selbst wenn du bei Parker Recht hast, was hätte ich tun sollen? Mich zusammenschlagen lassen? Und Philip? Er sah nicht so aus, als ob er vorhätte, deinen Eltern irgendetwas zu sagen. Ich habe mein Bestes gegeben, um in diese Rolle zu passen und dir ein wenig zu helfen, und das ist der Dank?«
Er schaute auf und ich sah, dass er zitterte. »Checkst du das nicht?« brüllte er. »Es geht hier überhaupt nicht um dich. Okay, es ist nicht dein Fehler, aber das macht keinen Unterschied. Checkst du nicht, was Philip alles mit mir anstellen kann, wenn er das weiß?«
Ich machte eine abwehrende Geste mit meinen Händen, überrascht, dass er so heftig reagierte. »Nein, ich check’s nicht«, warf ich zurück. »Wovon redest du bitte?«
Josh raufte sich das Haar. »Jacob, wenn er irgendeine Art Beweis hat, dass ich schwul bin, dann hat er totale Kontrolle, verstehst du das nicht? Ich bin mir sicher, dass er schwul ist, und jetzt, wo er weiß, dass ich schwul bin, wird er auf einmal total freundlich zu mir, als ob er die Situation ausnutzen will? Er hat so lange versucht, mein Vertrauen zu erlangen und kommt so oft in mein Zimmer, vor allem in den letzten Wochen, da steckt mehr dahinter, als nur dass er seinen Job macht. Er ist ein sehr gutaussehender Typ Mitte zwanzig und hat nie etwas von einer Freundin oder Frau erwähnt. Was denkst du wohl, woran das liegt?«
»Er ist nett, weil ich nett zu ihm war, und woher willst du das überhaupt alles so genau wissen?« widersprach ich.
»Ich habe verdammt nochmal keine Ahnung«, warf er zurück. »Vielleicht hat er eine Möglichkeit gefunden, meinen Browserverlauf wiederherzustellen? Darum geht es aber nicht. Er würde keine Andeutungen machen, wenn nicht mehr dahinterstecken würde. Mal ehrlich, er arbeitet für meinen Vater. Er würde sich nicht trauen, so etwas zu sagen, ohne dass er einen Plan hat.«
»Er wird doch nicht versuchen, sich an dich heranzumachen, oder?« fragte ich, als ich plötzlich verstand, warum Josh so aufgebracht war. Ich hatte gedacht, dass Philip einfach nur freundlich war, aber was Josh sagte, konnte genauso gut sein.
»Woher soll ich das wissen?« fragte er niedergeschlagen. Er ließ seinen Kopf hängen und stützte seine Stirn auf seinen Fäusten ab. Dann schauderte er sichtlich. »Ich weiß allerdings eines. Wenn er auf die nette Art keinen Erfolg hat, kann er jederzeit drohen, meinem Vater zu erzählen, dass ich schwul bin.«
»Er würde dich doch nicht erpressen und dazu zwingen mit ihm… zu… ähm…«, ich verstummte und schaute ihn geschockt an. »Ist es das, woran du denkst?
»Ich will am liebsten überhaupt nicht daran denken«, seufzte er und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. »Alles woran ich gerade denken kann, ist, dass meinem Vater nicht davon wissen darf. Scheiße, was auch immer er von mir verlangt, ich muss es tun, ansonsten bin ich richtig am Arsch.«
Ich konnte nicht auf sein Gesicht schauen, aber sah ihn wieder schaudern. Es schien beinahe so, als ob er versuche, sich selbst kleiner zu machen. Nach etwa einer Minute sprach er endlich wieder. »Es tut mir leid, wegen vorhin«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ich… ich gebe dir nicht die Schuld. Es tut mir leid, dass… dass ich dich angeschrien habe. Es ist nur so… so viel ist schiefgelaufen und ich habe total Angst davor, was passieren könnte.«
Er gab ein gequältes Räuspern von sich, aber als er wieder sprach, klang seine Stimme immer noch komisch. »Wenn Philip es wirklich weiß, dann hat er mich vollkommen in der Hand.«
Ich rutschte zu ihm herüber. Vorsichtig berührte ich seine Schulter und legte dann meinen Arm um ihn. »Es tut mir leid, wenn ich irgendetwas falsch gemacht habe, Josh. Wirklich. Ich weiß, dass du mehr zu verlieren hast, als ich mir überhaupt vorstellen kann, also… keine Ahnung. Bitte sei mir nicht böse. Ich wollte wirklich keine Probleme verursachen.«
Er lehnte sich an mich und ich spürte, wie sein Körper sich ein wenig entspannte. »Wie konnten so viele Dinge nur in so kurzer Zeit passieren?« fragte er leise. »Ich habe einige Leute misstrauisch gemacht, dann sind da noch Parker und Philip… ich weiß nicht, es ist irgendwie zu viel auf einmal.«
Ohne darüber nachzudenken, legte ich meinen anderen Arm um ihn herum und zog ihn an mich. »Hör mal, wir müssen los, aber wir treffen uns heute Nachmittag gleich nach der Schule wieder, okay? Beruhig dich ein wenig und versuch möglichst selbstsicher auszusehen, wenn Parker in der Nähe ist. Wir können nach der Schule über alles reden. Was Philip betrifft, mach dir darüber erstmal keine Sorgen, okay? Wenn er irgendetwas in der Richtung macht, dann musst du mir auf jeden Fall sofort Bescheid sagen. Ethan und ich regeln das schon irgendwie, egal was passiert, in Ordnung?«
Er verweilte noch ein wenig in meiner Umarmung, Kopf auf meiner Schulter. Plötzlich hob er seinen Kopf, legte seine Arme um mich und klammerte sich einige Momente lang an mich, als ob sein Leben davon abhinge. »Es tut mir immer noch leid wegen vorhin.«
»Ist schon okay«, beruhigte ich ihn. »Ich verstehe, warum du so reagierst hast. Solange du verstehst, dass ich nicht wollte, dass so etwas passiert, ist alles in Ordnung. Ich bin mir sicher, du hast auch Fehler gemacht, aber das ist okay. Wenn man so etwas tut, wie wir, dann sollte man wohl damit rechnen, dass etwas schiefgeht. Jetzt müssen wir halt irgendwie damit klarkommen.«
Ich war bei Weitem nicht so ruhig, wie ich ihm vorspielte, aber es hätte nichts geholfen, ihn noch mehr zu verunsichern. Seufzend erhob ich mich. »Wir müssen los, wir sind so schon zu spät.«
Er nahm meine ausgestreckte Hand und zog sich hoch. Als er seinen Rucksack nahm, legte ich eine Hand auf seine Schulter. »Alles okay? Bis nachher hältst du durch, oder?«
»Ja, ich denke schon«, antwortete er und zwang sich, zu lächeln. Es sah eher wie eine Grimasse aus. Ich gab ihm noch eine kurze Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken. »Ich treffe dich dann nach der Schule wieder hier. Versuch bis dahin einfach, nicht darüber nachzudenken, okay?«
Er nickte langsam. »Okay.«
Nach der Mittagspause hatte ich kaum eine ruhige Minute. Philip wollte meine Gedanken einfach nicht verlassen.
»Hey Ethan, kannst du irgendetwas mit Cody machen und ihn erst ein, zwei Stunden später zum Park bringen? Ich muss noch ein paar Sachen mit J alleine klären«, bat ich ihn, als wir den Unterrichtsraum verließen. Der Stress, den ich spürte, musste sich in meiner Stimme und auf meinem Gesicht gezeigt haben, denn Ethan sah mich neugierig an. Er zögerte einen Moment und es war offensichtlich, dass er irgendeinen Spruch auf den Lippen liegen hatte, aber als er meinen Blick sah, schluckte er ihn herunter.
»Klar. Wir sehen uns dann später.«
»Danke, hast einen gut bei mir«, sagte ich und eilte den Gang herunter. Ich wollte so schnell es ging zum Park kommen. Es war mir inzwischen völlig egal, wer was falsch gemacht hatte, es ging nur darum, dass wir das Problem in den Griff bekamen. Natürlich war ich irgendwo immer noch sauer, dass Josh so reagiert hatte, aber das war nicht mehr wichtig. Ich bezweifelte zwar, dass Philip seine Macht über Josh ausnutzen würde, denn er verhielt sich viel zu nett dafür, aber war es andererseits nicht gerade typisch für diese Sorte von Leuten, sich so zu verhalten? Ich hoffte, Josh würde die Schuld nicht bei mir suchen, wenn es so weit kam.
»Hey J, warte mal«, hörte ich jemanden hinter mir rufen. Ich drehte mich um und sah Conrad in meine Richtung kommen. Mit verschränkten Armen vor der Brust lehnte ich mich gegen die Wand und wartete auf ihn. Was auch immer er wollte, ich hatte gerade wirklich keine Zeit dafür.
»Was gibt’s?« fragte ich knapp angebunden, als er nahe genug war, um sich ohne Rufen verständigen zu können.
»Komm, wir können uns im Gehen unterhalten«, sagte er und ging weiter Richtung Treppe. Ich drückte mich von der Wand weg und schloss zu ihm auf.
»Du hängst mit irgendeinem neuen Typen rum?« fragte er, während ich neben ihm herging.
»Du meinst Cody«, stellte ich fest.
»Cody, meinetwegen, ist auch egal«, erwiderte er abweisend. »Es heißt, er wäre schwul.«
»Aha, und weiter?« fragte ich genervt. Ich richtete meinen Blick starr geradeaus, als ich ihm antwortete, anstatt ihn anzusehen. Während der letzten Tage hatte ich definitiv genug homophoben Unsinn von Mr. Adams hören müssen und jetzt wollte Conrad auch noch seinen Senf dazugeben? Ich hatte echt andere Probleme.
»Jacob! Er ist… schwul«, wiederholte Conrad und gestikulierte mit seinen Händen, als ob ich dadurch besser verstehen würde, worauf er hinauswollte Er war offensichtlich ein wenig verwirrt darüber, wie gleichgültig ich reagierte.
»Ja, ich weiß«, antwortete ich und öffnete die Eingangstür des Gebäudes. Während ich im Durchgang stand, drehte ich mich zu ihm um, zuckt mit den Achseln und trat dann nach draußen.
Er gab allerdings nicht einfach auf. »Jacob, es könnte das Gerücht umgehen, dass du auch schwul bist, weil du mit ihm abhängst. Außerdem, warum gibst du dich überhaupt mit einer Schwuchtel ab?«
Ich wirbelte herum und starrte ihn finster an. Ob es Mr. Adams Gerede war oder die Tatsache, dass ich einen schwulen Zwillingsbruder hatte… ich wusste es nicht, aber etwas hatte mich diesem Wort gegenüber deutlich empfindlicher gemacht, als ich es noch kurz zuvor gewesen war. Trotz meines vorherigen Streits mit Josh kam eine Welle der Wut über mich, als ich dieses Wort hörte. Beinahe hätte ich Conrad dafür angeschnauzt, aber ich unterdrückte diesen Impuls. Stattdessen atmete ich tief ein, und wieder aus, und versuchte mich zu beruhigen.
»Also Conrad«, sagte ich, so gelassen ich nur konnte. »Ich habe gerade echt keine Lust, darüber zu reden. Was geht es dich überhaupt an? Ich bin alt genug, um mir meine Freunde selber auszusuchen. Ich weiß, was du meinst, aber im Moment habe ich andere Probleme, okay? Trotzdem danke, dass du dir Sorgen um mich machst.«
Er starrte mich mit offenem Mund an, total überrascht von meiner Reaktion. Ich entschied, dass die Unterhaltung damit vorüber war, und ging einfach weiter. Als ich das Schulgelände verließ und Richtung Park ging, begannen meine Emotionen mich einzuholen. Ich war meinen Brüdern sehr nahe und obwohl Conrad in letzter Zeit immer distanzierter geworden war, tat es mir leid, so reagiert zu haben. Gefühle der Schuld kamen in mir auf, aber ich wehrte diese sofort ab.
Wir waren nicht mehr in den 70ern, wir waren im 21. Jahrhundert. Conrads Homophobie war lächerlich und ich würde ihm früher oder später sowieso widersprechen müssen. Ian war zwar nicht ganz so schlimm wie Conrad, aber ich nahm an, dass die beiden sich in diesem Falle einig sein würden. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis dieses Thema aufkam, und nun hatte ich den Ball ins Rollen gebracht.
»Na ja, je früher, desto besser«, dachte ich, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob es nicht doch etwas zu früh gewesen war.
Sobald ich den Park betrat, verlangsamte ich meinen Schritt. Die Sonne schien und man konnte viele Familien auf der Wiese sehen. Ich sog die friedliche Atmosphäre ein und versuchte mich zu beruhigen. Conrad und Ian würden schon irgendwie damit klarkommen. Ich war zuversichtlich, dass selbst wenn Conrad einige Zeit brauchen würde, er letzten Endes aber akzeptieren musste, dass ich andere Ansichten hatte als er. Es war schön, dass ich meinen Brüdern wichtig war und sie auf mich aufpassten, aber ich war kein kleines Kind mehr und hatte auch eine eigene Meinung.
Als ich zur Lichtung kam, sah ich Josh bereits gegen einen Baum gelehnt auf mich warten. Ich ging zu ihm herüber und wir begrüßten uns mit Handschlag.
Zuerst wollte ich mich direkt hinsetzten, wo ich war, sodass ich ihm ins Gesicht schauen konnte, aber tat es dann doch nicht. Stattdessen ließ ich mich neben ihm nieder, mein Rücken an den gleichen Stamm gelehnt, Schulter an Schulter.
Mehrere Minuten lang sprach keiner von uns ein Wort. Ich schaute über die Wiese und sah eine Biene umherfliegen. Sie bewegte sich von Blume zu Blume und kam uns immer näher. Es war so ruhig, man konnte jeden einzelnen Vogel in den Bäumen über uns hören. Die Natur so in mich aufzunehmen, hatte einen beruhigenden Effekt und ich bemerkte erst jetzt, da mein Körper entspannte, wie verkrampft ich gewesen war.
Die Biene flog schließlich weiter und als ob das mein Signal gewesen wäre, räusperte ich mich und begann zu sprechen. »Wie ist es so, zurück zu sein?«
Josh zog seine Beine an die Brust und legte seine Arme um sie. »Irgendwie komisch«, antwortete er nach einer Weile. »Es ist… als ob ich die ganze Zeit in diesem kleinen Tal gelebt und dann endlich einen der Bergpässe erklommen hätte, um die umliegenden Täler zu erkunden. Jetzt, wo ich zurück bin, erscheint alles so unreal und eingeengt.«
Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich ihn wirklich richtig verstand. Dann realisierte ich, dass er mich überhaupt nicht nicken sehen konnte, weil wir in verschiedene Richtungen schauten. »Das verstehe ich, glaube ich.«
»Es ist beinahe, als würde ich all das jetzt aus einer anderen Perspektive betrachten«, fuhr er fort. »Noch vor zwei Wochen war das alles, was ich kannte. Es schien, als ob es keinen Ausweg gäbe. Jetzt erscheint mir alles so unwichtig, nichts davon nimmt mich mehr so wirklich mit, verstehst du? Bevor wir uns getroffen haben, hatte ich immer Angst davor, was in der Zukunft auf mich wartet. Ich wusste, dass wenn meine Eltern über meine Orientierung herausfinden, ich so gut wie erledigt bin.«
Er machte eine Redepause und räusperte sich. »Aber jetzt, selbst wenn alles komplett schiefgeht, habe ich immer noch dich und Ethan. Das macht alles deutlich einfacher.«
»Du solltest trotzdem vorsichtig sein«, warnte ich ihn. »Wir sind alle noch minderjährig und können nicht einfach so weglaufen und ein neues Leben woanders anfangen oder so.«
»Ich wünschte, wir könnten«, sagte er. »Aber ich verstehe, was du meinst. Ich sage ja nur, es hilft mir zu wissen, dass es Menschen gibt, denen ich nicht egal bin.«
»Also ist das von vorhin erledigt?« fragte ich und drehte meinen ganzen Körper, sodass ich ihm vernünftig ins Gesicht schauen konnte. »Es tut mir wirklich leid, falls irgendetwas davon mein Fehler war. Ich wollte wirklich keine Probleme verursachen.«
Er drehte seinen Kopf und nahm Augenkontakt auf. »Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe. Ich war total geschockt, aber das gibt mir kein Recht, dich so anzuschreien. Ich habe genauso wie du Fehler gemacht. Ich hoffe einfach nur, dass wir das hinter uns lassen und uns auf die wichtigen Dinge konzentrieren können.«
Ich nickte. »Gut. Vergeben und vergessen.« Er lächelte und umarmte mich nahezu stürmisch. Ich legte meine Arme erst zögerlich um ihn, und zog ihn dann aber in eine brüderliche Umarmung. Manchmal kam mir die Häufigkeit unserer Umarmungen komisch vor, und einen Moment lang fragte ich mich sogar, ob es etwas damit zu tun hatte, dass er schwul war, aber diese Idee verwarf ich schnell. Ich kannte seine Eltern allzu gut und ich wusste, wie distanziert und kalt sie waren. Er sehnte sich nach Liebe und Bestätigung, und eine Umarmung war eine sehr direkte, körperliche Möglichkeit, genau diese Dinge zu demonstrieren.
Auf eine merkwürdige Art und Weise konnte ich genau verstehen, warum er sich so verhielt und das stimmte mich traurig. Wenn ich so darüber nachdachte, die Umarmungen störten mich nicht. Es war etwas, an dem es mir nie gemangelt hatte, aber nach dem er hungerte, weil er es nie zuvor erlebt hatte.
Als wir uns voneinander lösten, bemerkte ich seinen übermäßig glücklichen Gesichtsausdruck. In Anbetracht der Freude, die ich ihm damit bereitet hatte, nahm ich mir vor, ihn öfter und länger zu umarmen.
»Okay, wie geht’s weiter? Steht der Plan mit Washington noch?«
Er lächelte mich an. »Willst du immer noch das Wochenende bei meinen Großeltern verbringen?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte ich begeistert. »Ich freue mich echt darauf. Es ist etwas, das ich noch nie gemacht habe und soweit ich das beim Frühstück heute verstanden habe, werden wir mit einem Privatjet fliegen. Ich bin noch nie geflogen, aber dann auch noch gleich in einem Privatjet? Das wäre der Hammer!«
Josh war von meinem Enthusiasmus amüsiert. »Ja, die fliegen immer mit dem firmeneigenen Jet. Okay, wir bleiben erst einmal wir selbst und Freitagmittag können wir zurücktauschen. Das gibt uns genug Zeit, um unsere Leben wieder auf die Reihe zu bekommen und möglichen Verdacht zu zerstreuen, sodass du das Wochenende in Washington verbringen kannst.«
»Cool«, stimmte ich zu. Damit blieb nur noch ein Problem, das wir bereden mussten, bevor Ethan und Cody zu uns kamen. Ich zögerte einen Moment, aber dann entschied ich mich einfach zu fragen. »Ähm, das ist vermutlich nicht gerade dein Lieblingsthema, aber was ist mit Parker und Philip?«
Er zuckte mit den Achseln. »Du lagst richtig mit Parker. Er hat mich so weit in Ruhe gelassen. Vielleicht habe ich Glück und das klappt wirklich so, wie du es dir überlegt hast, zumindest bis zu den Sommerferien. Ich schätze, bis dahin kann ich halbwegs selbstbewusst auftreten, zumindest solange er mir nicht zu nahe kommt.«
Ich nickte. Eine bessere Antwort hätte ich im Moment gar nicht erwarten können. Als Josh nicht weitersprach, anscheinend, weil er in Gedanken versunken war, warf ich ihm einen auffordernden Blick zu. Da dieser keine Wirkung zeigte, fragte ich letzten Endes direkt. »Was ist mit Philip?«
Er seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich habe das noch nicht ganz durchdacht, aber es gibt vermutlich sowieso nichts, was ich tun kann, außer abwarten und schauen, was passiert. Fürs Erste werde ich versuchen, Distanz zu wahren ohne ihn dabei zu verärgern.«
»Ich mache mir da irgendwie Sorgen«, gab ich zu. »Sagst du’s mir, wenn er irgendetwas Verdächtiges sagt oder macht? Selbst wenn es nur eine Kleinigkeit ist?«
»Was für einen Unterschied macht das schon?« fragte er niedergeschlagen. Ich warf ihm einen strengen Blick zu und zuerst schaute er weg, aber als ich nicht aufhörte, gab er endlich nach. »Okay, okay, versprochen.«
»Gut«, sagte ich erleichtert. »Weil wenn du wirklich recht damit hast… Ich will nicht, dass du… Na ja…«
»Ich weiß«, unterbrach er mich. »Ich werde mich nicht von ihm erpressen lassen, zumindest habe ich mir das vorgenommen. Ich habe Glück, dass ich Ethan und dich gerade jetzt getroffen habe. Ohne euch wäre das alles ziemlich hoffnungslos und ich will gar nicht wissen, was dann passiert wäre. Es kann immer noch vieles geschehen, aber wenn es wirklich schlimm wird, dann stehe ich nicht mehr allein da.«
Das brachte mich zum Lächeln. »Okay, lass uns versuchen, da nicht zu viel drüber nachzudenken, aber ich kann dir versprechen, dass, wenn es schiefgeht, wir alles geben werden, um dir zu helfen«, versprach ich und achtete darauf, Augenkontakt mit ihm aufzunehmen, damit er wusste, dass ich es auch so meinte.
Er dachte ein wenig darüber nach und ein dankbares Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich bin mir nicht sicher, was man noch retten kann, wenn Philip meinen Eltern wirklich irgendwann sagen sollte, dass ich schwul bin. Es bedeutet mir allerdings viel, dass ihr bereit seid, zu helfen. Niemand hat das je grundlos getan, wenigstens nicht so sehr wie ihr. Also danke!«
Seine Stimme wurde ein wenig emotional und der Ausdruck auf seinem Gesicht, der beinahe dem von Bewunderung glich, erzeugte ein komisches Gefühl in mir. Ich erinnerte mich an meine früheren Gedanken und mein Vorhaben und rutschte herüber, um ihn zu umarmen. In dem Moment wusste ich, dass dies alles es wert war, egal welche Probleme daraus entstanden. Der Streit mit Conrad war nur ein Beispiel dafür, dass dies alles nicht so einfach war, wie wir uns das ursprünglich gedacht hatten. Das Gefühl jemanden zu haben, der genauso ist, wie man selbst, einen eineiigen Zwilling, machte das aber um ein Vielfaches wett. Wenn Josh mich brauchte, dann würde ich auf jeden Fall für ihn da sein.