Tja, es ist leider nicht so schwarz und weiß, wie man denken mag.
Auch Homophobe können liebevolle Menschen sein. Nicht jeder reflektiert seine Einstellung immer so, wie wir uns das eventuell wünschen würden.
Aber die Jungs werden ja wohl hoffentlich noch ihre Prioritäten gerade biegen können.
Schenectady
Josh
»Ist echt nervig, dass wir hier im Park bleiben müssen«, bemerkte ich. »Es ist ja echt schön hier und so, aber wirklich etwas tun können wir nicht.«
Jacob nickte zustimmend, aber dann hielt er inne, schaute mich an und begann zu grinsen. »Was, wenn wir woanders hingehen?« Er zog sein Handy hervor und wählte eine Nummer. »Ich da habe eine Idee.«
»Hey, warte!« versuchte ich ihn zu stoppen. »Wir können doch nicht einfach irgendwo hingehen. Was, wenn uns jemand zusammen sieht?«
»Das wird schon nicht passieren«, versicherte er mir, und dann sprach er ins Handy. »Hey Sarah, kannst du uns nach Schenectady fahren?«
»Schenectady?« fragte ich verwirrt. »Was willst du denn da?«
Er grinste mich an, aber antwortete nicht. »Cool, danke! Ich ruf dich dann nochmal an und sage dir, wo du uns abholen kannst. Ich muss das erst mit Ethan klären. Kannst du schon mal nachschauen, wo wir da am besten hinkönnen? Guck einfach, ob du ein größeres Einkaufzentrum mit einer Gaming Arcade findest, oder sowas.«
»Alter«, beschwert ich mich, während er wieder Sarah zuhörte. »Ich muss in ein paar Stunden zum Abendessen zu Hause sein.«
Dieses Mal ignorierte mich Jacob demonstrativ, als er weiter ins Handy sprach. »Ja, das war Josh im Hintergrund… Nein, er hat nichts Wichtiges gesagt.« Er steckte mir die Zunge heraus.
»Gib mir das Handy«, rief ich und versuchte es ihm wegzunehmen.
Er lehnte sich von mir weg und versuchte meine Hände mit seiner linken Hand abzuwehren, während er weiter sprach. »Beachte ihn nicht, es war wirklich nichts. Jedenfalls nichts wichtig…«
Weiter kam er nicht. Ich warf mich auf ihn und riss ihn auf seinen Rücken. Zuerst war er überrascht, aber er fing sich schnell und begann sich zu wehren. Wir rangelten etwa eine Minute, und es zeigte sich schnell, dass er stärker war als ich. Trotz meiner Anstrengungen war ich bald derjenige, der auf dem Rücken lag; und Jacob saß mit einem triumphierenden Grinsen auf meiner Brust.
Ich täuschte einige Sekunden vor, nachzugeben und entspannte meine Muskeln. Dann überraschte ich mit einem Taktikwechsel. Meine Finger fanden seine Hüften und ich kitzelte ihn gnadenlos. Er kreischte auf und warf das Handy zur Seite, bevor wir wieder begannen, uns auf dem Boden hin- und herzurollen. Er versuchte mich auch zu kitzeln, aber ich schaffte es, dem zu widerstehen und schließlich saß ich auf seiner Brust, während wir beide nach Luft schnappten.
Plötzlich hörten wir ein Plärren vom Handy kommen. Sarah war immer noch in der Leitung. Ich sprang in Richtung des Handys, aber Jacob war auch in dem Bruchteil einer Sekunde auf seinen Beinen und warf mich wieder zu Boden, gerade als ich es greifen wollte.
Wir versuchten beide, das Gerät in unsere Hände zu bekommen, während wir gleichzeitig den anderen daran hinderten. Ich gab mein Bestes, aber Jacob war einfach stärker als ich und das mit dem Kitzeln funktionierte auch nicht mehr so wirklich, also verlor ich letzten Endes doch.
»Danke Sarah, das war alles!« keuchte er ins Handy und beendete den Anruf, während er mich mit seiner freien Hand auf Distanz hielt.
»Nicht fair!« rief ich und warf ihm einen bösen Blick zu.
Er streckte mir die Zunge heraus. »Pech gehabt.«
Ich versuchte noch böser zu schauen, aber dann musste ich lachen.
»Sieht so aus, als ob wir einen Ausflug machen«, sagte Jacob mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
»Aber das lohnt sich doch kaum«, beschwerte ich mich.
»Ein, zwei Stunden. Ist doch besser als nichts«, antwortete Jacob. »Es wird sich trotzdem lohnen.«
»Hm, vielleicht hast du Recht«, gab ich nach. »Eigentlich gefällt mir die Idee sogar, aber du hättest mich doch vorher mal fragen können.«
Er lachte. »Das macht doch jetzt auch keinen Unterschied mehr. Aber nächstes Mal kann ich das machen. Versprochen.«
Zwanzig Minuten später saßen Jacob, Sarah und ich auf dem Parkplatz von irgendeinem Einkaufszentrum und warteten auf Ethan und Cody.
»Danke, dass du das für uns machst«, sagte Jacob zu Sarah.
»Kein Ding«, antwortete sie. Anstatt sich wieder nach vorne umzudrehen, zögerte sie einen Moment und schaute ihn weiter an. Dann fixierten ihre Augen plötzlich etwas hinter uns. »Da sind sie ja!«
»Ich sitz’ vorne!« konnte ich Ethan nur Sekunden später von neben dem Auto quietschen hören. Er sprang auf den Beifahrersitz, während Cody die Tür öffnete, um sich zu Jacob und mir auf die Rückbank zu setzen. Als er uns sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis er anfing zu sprechen. »Wow, ich wusste ja, dass ihr euch ähnlich seid, aber… verdammt, ihr seid Klone!« rief er.
»Hey Cody«, grüßte ich ihn grinsend.
»Bist du Jacob oder Josh?« fragte er, leicht verwirrt, während er sich ins Auto setzte und anschnallte.
»Ich bin Jacob«, antwortete ich beinahe automatisch.
»Und ich bin Josh«, fügte Jacob sofort hinzu.
Cody schien zufrieden, aber Ethan drehte sich um und runzelte die Stirn. »Habt ihr nicht gesagt, dass ihr vor Freitag nicht wieder tauschen wollt?«
»Na ja, ja, wir können ja immer noch heute Abend wieder tauschen«, sagte ich und zuckte mit den Achseln.
Ethan schaute mit einem argwöhnischen Blick zu Sarah und ihr Gesichtsausdruck musste uns verraten haben, denn seine Augen schossen sofort zurück zu uns. »Netter Versuch«, grinste er.
»Okay Cody, das«, er zeigt auf mich; dann auf Jacob, »ist Josh und das Jacob. Das machen öfter mal. Man gewöhnt sich daran.«
Cody schaute uns verwirrt an, aber dann schüttelte er seinen Kopf und wandte sich Ethan zu. »Macht das wirklich einen Unterschied, ob man die Namen richtig hinbekommt? Sie sind Klone, also sind sie sowieso gleich und vermutlich reagieren sie sowieso auf beide Namen.«
»Wer weiß«, sagte Ethan und zwinkerte uns zu. »Selbst identische Zwillinge sind nicht komplett gleich.«
Das kam unerwartet und ich schaffte es kaum, meinen Schock zu verbergen. Meinte er etwa, dass ich schwul war? Ein Blick zu Jacob verriet mir, dass er dasselbe gedacht haben musste wie ich, denn sein Gesicht war ungewöhnlich ausdruckslos. Glücklicherweise fingen wir uns beide schnell. »Es gibt überhaupt keinen Unterschied«, stellte ich klar.
»Natürlich gibt’s den!« protestierte Jacob. »Ich bin älter, also bin ich stärker und besser.«
Ohne zu zögern startete ich eine erneute Kitzelattacke auf ihn. »Nimm das sofort zurück!«
»Neeeeein!« jaulte er, und während er hin- und herzuckte und dabei gegen die Rückseite von Sarahs Sitz trat.
»Benehmt euch, Jungs!« rief Sarah von vorne. »Ich versuche, uns in einem Stück nach Schenectady zu bringen. Ihr benehmt euch ja schlimmer als Fünfjährige.«
Da ich Sarah nicht ablenken oder stören wollte, hörte ich auf, Jacob zu kitzeln und zog meine Hände zurück, damit er herunterkommen konnte. Den Fehler hätte ich nicht machen sollen. Nur Sekunden später war ich derjenige, der zappelte und quietschte wie ein sterbender Hamster.
»Hey, aufhören«, beschwerte Sarah sich erneut. »Oder ich setze euch hier ab und ihr könnt den Rest vom Weg laufen!«
Jacob ließ endlich von mir ab. Er machte allerdings nicht den gleichen Fehler wie ich. Er war immer noch in Angriffshaltung, jederzeit darauf vorbereitet, dass ich versuchen könnte, mich zu rächen. Wir starrten aneinander an, während ich versuchte, meine Atmung wieder zu normalisieren. Nach einigen Sekunden des Schnaufens begannen wir zu grinsen und dann zu lachen.
»Okay, du gewinnst«, gab er nach. »Wir sind gleich, auch wenn ich trotzdem älter als du bin.«
»Bist du gar nicht!« erwiderte ich sofort.
Jacob hielt sich Hände über die Ohren. »Lalala, ich kann dich nicht hööören.« Cody und Ethan brachen beide in Gelächter aus, und Jacob und ich ließen uns davon anstecken. In diesem Moment klingelte mein Handy und ich signalisierte den anderen, leise zu sein. Bevor ich abnahm, schaute ich noch auf die Nummer, aber ich kannte sie nicht.
»Hallo?« meldete ich mich unsicher.
Eine allzu bekannte Stimme kam aus meinem Handy: »Hey Josh, ich bin’s, Philip.«
»Was willst du?« fragte ich, und klang dabei nicht gerade freundlich, aber ich hatte reagiert ohne nachzudenken.
»Wow, entspann dich mal«, sagte er. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Die Schule ist schon seit über einer Stunde vorbei und du bist immer noch nicht zu Hause.«
»Ich im Park«, log ich.
»Oh, du bist mit deinen neuen Freunden unterwegs? Was ist denn dieser Lärm im Hintergrund?«
»Ja, bin ich, und das muss die Verbindung sein«, log ich erneut und betete, dass keines der Autos um uns herum Hupen würde. Warum rief er mich an und löcherte mich mit all diesen Fragen? Er hatte das noch nie zuvor getan. Andererseits ging ich aber normalerweise nach der Schule auch immer direkt nach Hause. Nach einer kurzen Stille ergriff ich die Gelegenheit und sprach, bevor er etwas sagen konnte.
»Also, warum rufst du an?« fragte ich und versuchte dabei so ablehnend wie möglich zu klingen, in der Hoffnung, ihn so schnell abwimmeln zu können. »Ich bin gerade etwas beschäftigt, also…«
»Oh ja«, sagte er und plötzlich klang er… nervös? »Ähm, deine Eltern werden heute Abend lange weg sein und ich dachte, na ja… da du ja mit deinen Freunden unterwegs bist, kannst du heute meinetwegen länger wegbleiben. Sei aber bitte wieder zu Hause, wenn ich Feierabend mache.« Er überlegte kurz. »Neun Uhr, okay?
»Okay, ich werde darauf achten, nicht zu spät zu kommen. Danke!« versprach ich und legte auf. Träumte ich? Und war das jetzt gut oder schlecht, wenn man meine Vermutungen über Philip bedachte? Zuerst einmal wandte ich mich den anderen zu und gab die gute Nachricht bekannt. »Ich kann länger wegbleiben!«
»Super!« freute Ethan sich. »Wie kommt’s?«
»Ähm, Philip hat es mir erlaubt, weil meine Eltern erst spät nach Hause kommen«, erklärte ich und versuchte dabei zu verstecken, dass ich nicht nur glücklich, sondern auch leicht besorgt deswegen war. Jacob schien den gleichen Gedanken gehabt zu haben wie ich, nur dass er seine Gefühle nicht so gut versteckte. Glücklicherweise bemerkte das aber niemand außer mir. Ich lächelte ihm schnell zu und tat so, als ob alles in Ordnung sei. Ich wollte nicht, dass die anderen irgendwelche Fragen stellten und nach einigen Momenten des Nachdenkens realisierte ich, dass ich sowieso nichts an der Situation ändern konnte, also beschloss ich, mich auf die guten Dinge zu konzentrieren.
Einige Zeit danach fuhren wir auf die Parkfläche eines mittelgroßen Einkaufszentrums in Schenectady. Anstatt einen freien Parkplatz vor dem Gebäude zu suchen, parkte Sarah einfach etwas weiter entfernt, in einer der Reihen, in denen alles frei war. Als wir das Auto verließen, konnte Jacob nicht anders, als Sarahs Parkkünste zu kommentieren. »Na ja, fast perfekt«, sagte er trocken, als er auf den Wagen schaute.
»Ja, noch ein kleines bisschen diagonaler und du würdest drei und nicht nur zwei Parkplätze blockieren«, fügte Ethan grinsend hinzu.
Sarah starrte sie böse an, aber Ethan konnte sich nicht stoppen. »Immerhin bekommen wir mal ein wenig Bewegung durch den langen Weg zum anderen Ende des Parkplatzes«, scherzte er.
»Als ob du das besser könntest«, erwiderte sie. »Du hast noch nicht einmal deinen Führerschein. Wenn es nach mir ginge, würdest du den vermutlich auch nie bekommen. Du in einem Auto? Das wäre wie eine ungesicherte, geladene Schusswaffe in Kinderhänden. Als ob einer von euch dieses Riesending in einen der viel zu engen, freien Parkplätze da drüben reinbekommen würde.«
»Vielleicht kannst du uns ja beibringen wie man so nen Riesending in enge Plätze reinbekommt«, sagte Ethan und zwinkerte ihr zu. Jacobs Gesicht wurde nach diesem Kommentar rot, aber zum Glück war ich der Einzige, der zu ihm herüberschaute.
Zu meiner Überraschung grinste Sarah über die Anspielung. »Ethan, ich denke, du solltest Cody mal danach fragen. Vielleicht kann er dir beibringen, wie man rückwärts reinkommt.«
Während Jacob und ich fast vor Lachen erstickten, war dies einer der seltenen Momente, in denen Ethan überrascht war und nicht sofort eine passende Antwort parat hatte. Stattdessen schaute er besorgt zu Cody herüber, um zu sehen, wie dieser den Witz aufgenommen hatte.
Cody schien sich allerdings nicht daran zu stören und stieg direkt mit ein. »Na ja, ich bin da zwar kein professioneller Trainer«, sagte er und zwinkerte Ethan zu. »Wenn du allerdings lieb fragst, dann lasse ich dich vielleicht mit mir zusammen üben.«
Das brachte selbst Ethan zum Erröten, wenn auch nur ein kleines bisschen, während der Rest von uns wieder lachen musste.
»Lasst uns gehen«, rief Cody, bevor Ethan sich eine gute Antwort ausdenken konnte. »Ich will Dance Dance Revolution spielen! Wagt sich irgendwer hier, gegen mich anzutreten? Ethan?«
»Darauf kannst du deinen Hintern verwetten«, erwiderte Ethan, und grinste breit. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass du eine Chance gegen mich hast, oder?«
Cody schüttelte nur mit dem Kopf. »Ja, ja, das werden wir ja sehen. Der Verlierer muss fürs Abendessen zahlen!«
Etwa eine Stunde später lieferten Jacob und ich uns unser drittes Match am Air-Hokey Tisch. »Ha, das war’s! Loser!« verkündete er triumphierend. Ich löste meinen Blick von Ethan und Cody, die hinter Jacob auf dem Dance Dance Revolution Gerät herumhüpften, und schaute auf den Punktestand: 10-2. »Siehst du, ich bin doch der bessere Zwilling«, stichelte er mich.
Ich zuckte nur mit den Achseln. »Wie du meinst.«
»Alles okay?« fragte er mich besorgt, weil ich seinen Enthusiasmus nicht teilte. »Wenn du etwas anderes spielen möchtest, ist das okay. Wir müssen das hier nicht machen, nur weil ich es vorgeschlagen habe.«
»Passt schon, keine Sorge«, antwortete ich. Es hatte Spaß gemacht, Air Hockey zu spielen, aber je länger ich Ethan und Cody aus meinen Augenwinkeln betrachtete, je besser sie miteinander klarkamen, desto stärker wuchs das stechende Gefühl der Eifersucht in meiner Brust. »Ich war nur gerade in Gedanken woanders«, log ich.
Da, sie hatten gerade ein Lied fertig und anscheinend hatten sie gut gespielt. Cody wollte Ethan einen High Five geben, aber Ethan ignorierte seine Hand und umarmte ihn stürmisch. Ach, wie ich mich danach sehnte, in diesem Moment an Codys Stelle zu sein. Obwohl ich wusste, dass es kindisch war, die Eifersucht wurde immer größer. Ich hatte es schon immer gehasst, meine Gefühle nicht kontrollieren zu können, und das war nun mehr denn je der Fall. Alles was sie taten, war Spaß zu haben und sich wie gute Freunde zu verhalten, und ich ruinierte mir das bisschen Zeit, das ich mit Jacob hatte, indem ich zu viel über die zwei nachdachte.
»Na ja, da Josh sich anscheinend im Traumland verlaufen hat, hast du Lust auf eine Herausforderung, Sarah?« hörte ich Jacob nach einem Moment fragen. Oder war es länger gewesen? Ich musste aufhören, Ethan anzustarren, oder Jacob würde merken, was los war. Auch wenn er mein Coming Out relativ gut aufgenommen hatte, war ich mir nicht so sicher, ob er ähnlich entspannt darauf reagieren würde, dass ich auf seinen besten Freund scharf war. Schwer seufzend zwang ich mich, meine Aufmerksamkeit wieder auf Jacob und Sarah zu richten.
»… aber warum fragst du nicht Ethan? Ich wollte mir eigentlich was zu essen kaufen. Er und Cody sind fertig und eh kommen gerade zu uns«, sagte Sarah und zeigte auf die beiden.
Jacob dreht sich um und als er sie auf uns zukommen sah, grinste er sie breit an. »Wer hat gewonnen?«
»Ich!« riefen beide gleichzeitig und fingen dann an zu lachen.
»Ja ne, ist klar«, sagte Jacob mit hochgezogener Augenbraue. »Lust auf 'ne Runde, Ethan?«
»Natürlich!« rief Ethan. »Stell dich schon mal darauf ein, zu verlieren!«
»Na ja, ich habe Hunger. Ich bin demnächst wieder da«, unterbrach Sarah. »Will irgendwer mitkommen?«
Ethan und Jacob begannen bereits ihr Spiel und Cody schüttelte den Kopf. »Nein danke.«
Sarah wandte sich mir zu. »Was ist mit dir, Josh?«
Einen Moment lang zögerte ich. Ich wollte hierbleiben, und ich hatte auch keinen Hunger, aber dann realisierte ich, dass ein wenig Distanz zu Ethan und Cody mir guttun würde. »Bin dabei«, antwortete ich und begleitete Sarah, während ich über Ethan nachdachte. Wenn er wirklich schwul war, dann könnte sich Cody als gefährlicher Konkurrent herausstellen. Wenn ich mich nicht bald bei Ethan outete, könnte es zu spät sein, und ich würde ihn an Cody verlieren. Das wollte ich definitiv nicht riskieren.
Ich entschied, dass dies nicht innerhalb der nächsten Stunden passieren würde, und dass Eifersucht mir auch nicht weiterhalf. Ich konnte mich nicht konzentrieren, wenn ich in so einer Stimmung war. Ich musste mein Bestes geben, um meine Gefühle zu unterdrücken und an etwas anderes zu denken. Vielleicht würde ich meine Chance mit Ethan am kommenden Wochenende erhalten.
»Was willst du denn essen?« fragte ich Sarah.
»Ähm… Pizza, denke ich«, antwortete sie. »Lass uns zuerst schauen, was es hier gibt.«
Als wir den Food-Court gefunden hatten, kaufte Sarah sich ein Stück Pizza und eine Cola, während ich mich entschied, nichts zu essen. Wir setzten uns an einen der Tische und das Gespräch ging weiter.
»Kannst du mir von Jacob erzählen?« bat ich sie. Sie schaute mich fragend an, also redete ich weiter. »Na ja, wann seid ihr Freunde geworden, wie war er so drauf als er jünger war, solche Sachen.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich kann wohl kaum seine Eltern oder Brüder fragen und mit Ethan wäre das komisch. Jungs reden nicht über sowas. Ich dachte, dass ich vielleicht von dir etwas mehr erfahren könnte.«
»Nur, weil ich ein Mädchen bin«, fragte sie, und täuschte dabei vor, total beleidigt zu sein. Dann grinste sie. »Und warum willst du das alles wissen?«
»Ja, aber nur, weil du ein Mädchen bist.« Ich zwinkerte ihr zu. »Und na ja, ich weiß nicht. Es ist halt so, dass wir getrennt aufgewachsen sind, und es fühlt sich so an, als ob ich all diese Zeit etwas verpasst hätte, also frage ich mich halt, wie er so war, bevor wir uns gefunden haben.« Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung woher die Frage kam. Ich hatte einfach versucht, mich von der Sache mit Cody und Ethan, und Philip, abzulenken, und war dabei bei Jacob gelandet.
»Er war ein bisschen, wie du jetzt bist«, begann sie, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, während sie ein Stück vom Rand der Pizza abknabberte. »Genauso wie Ethan kenne ich ihn seit wir auf der High-School sind, also seit der neunten Klasse. Ethan und Jacob waren allerdings zuerst befreundet. Er war irgendwie etwas introvertiert. Nicht wirklich schüchtern, aber… zurückgezogen und ziemlich süß.« Sie lächelte und errötete sogar ein bisschen, als sie das sagte. Mein Herz stoppte beinahe für eine Sekunde. Bedeutete das, dass Jacob eine Chance bei ihr hatte?
Ich wollte nicht, dass sie meine Reaktion sah, also fragte ich schnell weiter. »Jacob und introvertiert? Ich meine, er ist jetzt nicht unbedingt wie Ethan, aber er ist definitiv nicht introvertiert. Hat er sich so sehr verändert?«
»Na ja, ich schätze das passiert halt, wenn man länger mit Ethan abhängt. Schau dich mal an.«
»Okay, Touché«, stimmte ich ihr zu. »Aber trotzdem kann ich ihn mir nicht wirklich so vorstellen. Er ist so… stark.«
Sie hob eine Augenbraue. »Stark? Ich denke, damals lag das vor allem an seinen Brüdern. Er hat immer nur mit den beiden und ihren Freunden Zeit verbracht. Sie haben ihn zwar nicht bewusst klein gehalten, aber er hat halt einfach nicht viel anderes gemacht. Sein Status in der Gruppe war garantiert, also hat er sich an sie gehalten. Im letzten Jahr ist er deutlich unabhängiger geworden, aber noch nicht vollständig. Ich denke, deswegen schaut Ian ihn auch immer so an. Er hat bemerkt, dass es eine Änderung in Jacobs, oder eigentlich deinem, Verhalten gibt.«
»Wow«, sagte ich. »Woher weißt du das alles? Vielleicht solltest du Psychologie studieren?«
»Das ist genau das, was ich später auch machen möchte«, lachte sie.
»Denkst du, dass es ein Problem mit Ian geben wird?« fragte ich leicht besorgt.
»Nein«, sagte sie selbstsicher. »Er ist ein total netter Typ, selbst wenn er sich manchmal zu viele Sorgen macht. Er ist nur elf Monate älter als Jacob, aber behandelt ihn, als seien es drei Jahre. Das ergibt eigentlich sogar Sinn, er wiegt doppelt so viel und das sind alles Muskeln. So oder so: Im schlimmsten Fall macht Ian sich Sorgen, dass Jacob Drogen nimmt, oder so. Das sollte sich schnell erledigen, weil Jacob das ja offensichtlich nicht tut.«
»Und was, wenn er ihm folgt, um zu gucken, was Jacob den ganzen Tag tut?« fragte ich.
»Das bezweifle ich. Er würde erstmal versuchen, darüber zu reden. Ich werde Jacob allerdings warnen, wenn du dich dann besser fühlst«, schlug sie vor und schob sich das letzte Stück Pizza in den Mund. Ich nickte nur, unsicher was ich antworten sollte. Sie kannte die beiden schon viel länger, also musste ich ihr da vertrauen.
»Willst du direkt zurück zu den anderen, oder wollen wir uns hier noch ein wenig umschauen?« fragte sie, als sie ausgekaut hatte.
»Lass uns noch ein bisschen warten«, entschied ich. »Wenn du das willst?«
»Klingt gut«, antwortete sie. »Die Spiele machen zwar Spaß, aber ich bin trotzdem nicht ganz so begeistert davon wie die Jungs.«
Wir standen auf, und nachdem wir den Food-Court verlassen hatten, fand Sarah relativ schnell einen Juwelier und schleppte mich dort mit hinein. Ich ging desinteressiert durch den Laden und schaute in die Glasvitrinen, während ich auf sie wartete. Plötzlich fiel mir etwas ins Auge. In einer Ecke war eine Sammlung von Anhängern, die alle Zeichen aus dem Tierkreis darstellten. Ich wusste nicht einmal, warum ich sie erkannte. Astrologie interessierte mich eigentlich weniger, aber das war wohl eines jener Dinge, die ich in einer der langweiligen Nächte vor meinem Leben mit Jacob gelesen hatte.
»Hast du etwas Interessantes gefunden?« fragte Sarah plötzlich von hinter mir.
Ich zuckte mit den Achseln und zeigte auf die Anhänger. »Nicht wirklich. Ich habe mir nur gerade die hier angeschaut. Die sehen schön aus.«
Sie betrachtete die Anhänger einige Zeit und zeigte dann auf das Symbol der Gemini, der Zwillinge: Zwei parallele, vertikale Säulen, auf denen jeweils oben und unten ein Bogen lag. »Der würde dir und Jacob echt gut stehen. Zwei davon meine ich, einer für jeden von euch.«
»Meinst du, dass ich ihm einen kaufen sollte? Wäre das nicht ein wenig zu schwul?« protestierte ich, und überraschte mich selbst mit meiner Reaktion und Wortwahl.
Sarah musterte mich von Kopf zu Fuß, dann kicherte sie. »Na und? Klingt ziemlich heiß, wenn du mich fragst.«
»Ich bin nicht… wir sind nicht… auf keinen Fall, nicht so.« Ich zog eine Grimasse. Sarahs Kichern verwandelte sich in Lachen, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Du bist schlimmer als Ethan«, beschwerte ich mich.
»Also ich fand’s lustig«, antwortete sie. Ich rollte nur mit meinen Augen, aber wandte mich dann wieder dem Anhänger zu und betrachtete ihn genauer. Er war gut gefertigt, aus Silber und nicht gerade billig.
»Aber mal ernsthaft, ich finde nicht, dass es schwul oder so wäre«, sagte Sarah. »Es wäre eine schöne Kette mit einer symbolischen Bedeutung, nicht mehr oder weniger.«
»Bist du dir sicher?« fragte ich. »Irgendwie mag ich die Idee, aber ich will nicht, dass Jacob das komisch findet, oder so«, sagte ich und begann damit, ihr meine Unsicherheiten zu offenbaren. Ich wusste nicht einmal wieso, vermutlich einfach, weil sie die einzige Person war, mit der ich darüber reden konnte. »Ich fühle mich jetzt schon, als ob ich mich an ihn klammere, und ich habe Angst, dass wenn ich das zu viel tue, er mich abweisen wird. Er könnte so etwas falsch verstehen.« Ich konnte ihr zwar nicht erzählen, dass meine Sexualität dieses Problem erschwerte, aber sie verstand mich trotzdem.
Sie nickte langsam. »Warum redest du dann nicht mit ihm darüber? Er wird schon verstehen, wie es dir geht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Ich schaute zurück auf den Anhänger und dachte einige Minuten darüber nach. Jacob hatte mein Leben so sehr verändert und ich hatte das Gefühl, ihm etwas zu schulden, aber hatte keine Idee, wie ich diese Schuld begleichen konnte. Geld war vermutlich nicht das Richtige, aber vielleicht war ein kleines, persönliches Geschenk wie dieses ein guter erster Schritt. Ich zog mein Portemonnaie hervor und schaute auf meine Kreditkarte.
Ich hatte sie nur für Notfälle und nutzte sie so gut wie nie, aber, wenn ich wollte, konnte ich. Meine Eltern würden das nie bemerken, denn es war Philips Aufgabe, solche Sachen im Auge zu behalten. Würde er es meinen Eltern sagen? Würde das meine aktuelle Situation mit ihm verschlimmern? Ich seufzte. War es überhaupt möglich, diese Situation noch zu verschlimmern? Vermutlich nicht. Er würde es sowieso nicht gleich sehen, wenn er es überhaupt mitbekam. Wie so oft in den Stunden und Tagen zuvor entschied ich, dass mir das alles egal war.
»Du hast nicht wirklich vor die jetzt gleich zu kaufen?« fragte Sarah mich, als ich auf einen der Angestellten zuging. »Die sind teuer.«
»Wonach sieht es den aus?« entgegnete ich grinsend. »Danke für die Idee und danke für deine Tipps.«
»Du bist verrückt«, sagte sie. »Willst du die ihm direkt geben?«
Ich dachte einen Moment darüber nach, entschied mich dann aber dagegen. »Ich werde vermutlich bis zum Wochenende, wenn er nach Washington fliegt, warten.«
Nachdem ich zwei der Anhänger mit passenden Silberketten gekauft hatte, gingen wir zu den anderen zurück. Glücklicherweise überredete Sarah Cody dazu, sie mit Dance Dance Revolution zu bespaßen, sodass Ethan, Jacob und ich zu dritt etwas machen konnten. Das beruhigte dann auch das kleine grüne Monster in meiner Brust, zumindest vorerst. Letzten Endes blieben wir gar nicht so lange, wie ich gehofft hatte, weil Ethan früher nach Hause musste. Nach einem langen und emotional sehr anstrengenden Tag kam ich dann gegen halb neun nach Hause.
»Guten Abend«, begrüße Philip mich aus dem Flur, als ich die Tür hinter mir schloss. »Hattest du einen schönen Tag?«
»Definitiv. Danke, dass ich länger draußen bleiben durfte«, antwortete ich gut gelaunt. Wenn ich je wieder so etwas erlaubt bekommen wollte, musste ich freundlich zu ihm sein, zumindest ein paar Minuten lang. »Es war schön, aber auch anstrengend. Ich mache jetzt noch schnell meine Hausaufgaben und dann gehe ich direkt schlafen.«
»In Ordnung«, meinte Philip. Er zögerte einen Moment, dann lächelte er mir zu. »Du scheinst glücklich zu sein. Es ist schön, das zu sehen. Du solltest dich öfter mit diesen neuen Freunden treffen. Wir wissen beide, dass deine Eltern dir vermutlich nicht erlauben würden, sie hierher einzuladen, aber davon abgesehen… wenn du meine Hilfe mit irgendetwas brauchst, oder länger wegbleiben willst… Na ja, frag mich einfach.«
»Danke.« Ich lächelte zaghaft, verunsichert, wie ich auf seine Worte reagieren sollte.
Er schaute mich noch einige Sekunden länger an und dann nickte er. »Na ja, ich bin hier fast fertig und dann fahre ich auch nach Hause. Ich wünsche dir eine gute Nacht, Josh.«
»Nacht«, erwiderte ich und ging die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Ich war zugleich besorgt und erleichtert. Erleichtert, dass alles darauf hindeutete, dass er mir nichts Schlimmes wollte, jedoch auch besorgt, dass ich falsch lag und hinter der nächsten Ecke eine böse Überraschung lauerte.