Na gut, Herzen sind ja auch was, wenn es auch keine Kommentare sind. 
Kleine Einblicke
Josh
Als ich die Lichtung verließ, hüpfte ich beinahe vor lauter positiven Gefühlen. Ich war so glücklich. Endlich hatte ich Freunde, nicht nur Ethan und Sarah, sondern nun auch Cody. Dann gab es noch Jacob. Er war einfach super und ich wünschte, ich wäre mehr wie er. Im Moment war mein Leben besser, als ich es mir je hätte erhoffen können. Selbst mein Muskelkater und die Aussicht, dass dieser sich nach der Arbeit auf der Farm heute Nachmittag verschlimmern würde, konnten meine Stimmung nicht dämpfen.
Als ich einen der kleinen Pfade betrat, die zurück zu den besser besuchten Gebieten des Parks führten, sah ich ein Eichhörnchen einen Baumstamm hochklettern. Ich blieb stehen und beobachtete mit einem Lächeln, wie es auf einem der Äste saß und an etwas knabberte. In diesem Moment fühlte ich mein beinahe so frei wie das Eichhörnchen. Als ob ich jedes Hindernis überwinden und von Baum zu Baum springen könnte. Es war so anders, als mein normaler Gefühlszustand.
Schließlich löste ich mich von dem Anblick, weil ich rechtzeitig wieder an Jacobs Schule ankommen musste. Das Eichhörnchen sprang von Ast zu Ast über mir, während ich weiterging. Als ich den Park verließ, überprüfte ich die Uhrzeit auf meinem Handy und sah, dass ich nur noch ein paar Minuten hatte. Einige Sekunden lang versuchte ich zu rennen, aber meine Muskeln protestierten, also ließ ich mich wieder auf ein langsames Tempo zurückfallen. Da ich auf jeden Fall zu spät kommen würde, zog ich mein Handy wieder hervor und schickte Ethan eine SMS.
Ich komme ein paar Minuten zu spät. Geh schon mal zum Parkplatz und sag, dass ich noch auf Toilette musste. Ich treffe dich dann da.
Ich ging gerade durch das Schultor, als ich Cody auf mich zukommen sah.
»Hey J! Ça va?« rief er, als er mich entdeckte.
»Hey Cody, was geht?« rief ich zurück.
Er kam zu mir und grinste. »Hättest du nicht in Französisch sein sollen?«
»Ähm«, sagte ich. »Ich schätze ja?«
»Was hast du stattdessen gemacht?« fragte er mich zwinkernd.
»Ich war im Park spazieren. Hatte Kopfschmerzen und dachte mir, die frische Luft würde mir guttun«, log ich und versuchte dabei lässig zu klingen.
»Oh, okay.« Er schmunzelte. »Ganz alleine?«
»Ähm ja, natürlich alleine.« Mein Körper fühlte sich plötzlich zu heiß an und mein Herz schlug schneller. Hatte er Verdacht geschöpft?
Er zog eine Augenbraue hoch und grinste mich weiter an. Wusste er etwas? Unterbewusst schob ich meine schwitzenden Hände in meine Taschen. Das hier gefiel mir gar nicht. Je schneller diese Unterhaltung endete, desto besser.
»Bist du dir sicher?« fragte er mit einem weiteren Zwinkern. Er wusste etwas! Warum würde er all diese komischen Fragen stellen, wenn nicht, weil er wusste, dass etwas im Busch war.
»Hör auf, so komisch zu sein, Cody«, sagte ich, aber mit einem sanften Lachen, sodass es nicht beleidigend herüberkam. »Mit wem würde ich bitte im Park abhängen? Ich habe keine Ahnung, woher du deine Ideen nimmst.«
»Och na ja, ich habe mich nur gewundert«, sagte er lässig, aber ich konnte ihm ansehen, dass er etwas versteckte.
»Wie auch immer.« Ich hatte ein starkes Bedürfnis, einfach wegzulaufen. »Ich muss los. Meine Brüder warten auf mich.«
»Okay, viel Spaß auf der Farm, wir sehen uns morgen.«
Ich eilte zum Parkplatz und sah, dass Conrad, Ian, Ethan und Tante Mary bereits neben dem Auto warteten. Conrad und Ethan unterhielten sich angeregt, während Ian gelangweilt einen Basketball dribbelte.
»Da bist du ja endlich«, rief Ian mir zu, als er mich sah. Er dribbelte den Ball weiter hin und her, bis ich nah genug war. »Fang!« rief er plötzlich. Dann kam der Ball in meine Richtung geflogen.
Vollkommen überrascht versuchte ich verzweifelt, den Ball noch zu fangen. Meine Hände machten eine schnelle, aber vollkommen planlose Bewegung und bevor der Ball bei mir war, wusste ich schon, dass ich es versaut hatte. Der Ball flog gegen eine meiner Hände, prallte ab und hüpfte davon. Ich zog eine Grimasse. Jacob hätte den problemlos gefangen. Ethan schaute besorgt zu mir herüber und dadurch fühlte ich mich sogar noch schlechter.
»Hey«, sagte ich verlegen. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin.«
»Schon okay«, sagte Ian. Er schien überrascht, dass ich so einen einfachen Pass nicht hatte annehmen können. »Du solltest mal wieder mit uns spielen, du bist ja schon am Einrosten«, sagte er mit einem Grinsen.
Ich lief dem Ball hinterher und sammelte ihn ein. Als ich ihn in meinen Händen hatte, überlegte ich kurz, ob ich ihn zu Ian zurückpassen sollte, aber entschied mich dagegen. Mit meinem Können beim Basketball würde ich vermutlich jemanden gegen am Kopf treffen oder eine Fensterscheibe zerstören.
»Ich bin irgendwie ziemlich müde«, gähnte ich, als ich am Auto ankam, um mein Versagen zu entschuldigen. Ich hoffte, dass Ian da nicht zu viel hineinlesen würde. Er hatte mich bereits am Morgen sehr genau beobachtet, als ich Jacobs Mutter ungewöhnlich lange umarmt hatte.
Er schaute mich komisch an, aber als wir uns ins Auto zwängten, tat ich einfach so, als ob ich weggedöst sei, sodass niemand versuchen würde, mit mir zu reden. Je weniger ich mit Ian und Conrad sprach, desto besser, zumindest solange unser Geheimnis auch geheim bleiben sollte.
»Aufwachen, J«, hörte ich plötzlich Ethans Stimme neben mir. Anscheinend war ich tatsächlich eingeschlafen. Ich schnallte mich ab und verließ gähnend und Augen reibend das Auto. Wir zogen uns rasch um und machten uns an die Arbeit.
Ethan zog eine Grimasse, als ihm der Gestank aus dem Stall entgegenschlug, aber dann schnappte er sich zwei Mistgabeln, während ich die Schubkarre in Position brachte.
»Lass uns beide aufladen und dann wechseln wir uns mit dem Schieben ab, okay?« schlug er vor, während er mir eine der Mistgabeln entgegenhielt.
»Klingt gut!« nickte ich und wir begannen zu arbeiten. Meine Muskeln beschwerten sich sofort, aber ich ignorierte sie. Anstatt ganz aufzuhören, arbeitete ich lieber langsam, sodass ich die Arbeit zwar schaffen würde, aber ohne mich dabei total zu überfordern. Ich war zuversichtlich, dass der Schmerz nach einer Weile nachlassen würde, genau wie es am Tag zuvor gewesen war.
»Weißt du was?« fragte Ethan. »Wir müssen unbedingt Basketball spielen üben. Wenn wir jemals mit irgendjemandem spielen, musst du zumindest die Regeln kennen. Jacob ist zwar kein Pro, aber er kann wenigstens einigermaßen was reißen.«
Ich stöhnte. »Bloß nicht! Ich hasse Kontaktsportarten und in der Hälfte der Fälle spiele ich den Ball eh dem falschen Team zu.«
»Du denkst also in dem Eifer des Gefechts, dass du für das andere Team spielst«, kicherte Ethan. »Und das auch noch bei einer Kontaktsportart. Du solltest aufpassen, dass du nicht beim falschen Korb einlochst.«
»Du bist so versaut«, lachte ich. »Wie kann einem so etwas nur so schnell und ohne Zusammenhang einfallen?«
Er rollte mit den Augen. »Du lenkst vom Thema ab. Außerdem ist Basketball gar kein Kontaktsport…«, er wartete einen Moment für den Effekt. Dann zwinkerte er mir zu. »Aber ich kann machen, dass es einer ist.«
Das brachte uns erneut zum Lachen. Als ich mich beruhigt hatte, widersprach ich ihm grinsend. »Das, woran du denkst, geht glaube ich nicht als Basketball durch.«
»Wieso?« fragte er mit vorgetäuschter Unschuld. »Ich habe gehört, dass man dabei Endorphine freisetzt und anstrengend kann es auch sein. Das klingt für mich nach Basketball.«
»Ja, aber es ist normalerweise weder ein Mannschaftssport noch ein Wettstreit«, argumentierte ich.
Ethan warf mir ein versautes Grinsen zu. »Normalerweise…«
Ich lachte und warf meine Hände in die Luft. »Du bist unmöglich! Ich gebe auf.«
Daraufhin musste Ethan lachen und das steckte mich dann auch wieder an. Als wir uns endlich beruhigt hatten, wandte er sich wieder mir zu. »Aber jetzt mal ernsthaft, wir sollten daran arbeiten. Vielleicht können wir das morgen Abend machen, falls Jacob sich bereit erklärt, die Nacht wieder im Haus deiner Eltern zu verbringen.«
»Okay, also treffen wir uns dann abends bei dir zu Hause, nur wir beide, um Kontaktsport zu machen?« fragte ich mit einem hinterhältigen Grinsen. Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ich realisierte, wie offensiv ich mit ihm flirtete und mein Gesicht alle vorstellbaren Rottöne annahm. So war ich doch sonst nicht. Woher kam dieser Übermut?
Ethan schien allerdings nichts zu bemerken. Er war viel zu beschäftigt damit, sich kaputt zu lachen. »Falls du hoffst zu punkten«, keuchte er. »Dann mach dich aber auf ein heißes Gefecht gefasst. Ich bin nämlich ziemlich gut.«
Ich schnaubte vor Lachen und glücklicherweise schien er tatsächlich nicht zu bemerken, dass ich knallrot war. Schnell griff ich mir die beladene Schubkarre und machte mich auf den Weg aus dem Stall. Als ich wiederkam, wechselte ich das Thema, bevor ich meine Gefühle für Ethan noch offensichtlicher machte.
»Ich glaube, Cody weiß etwas«, sagte ich und fasste die Unterhaltung zusammen, die ich mit ihm am Schultor gehalten hatte. »Ich bin mir aber nicht vollkommen sicher.«
»Es klingt so, also würde er vermuten, dass etwas los ist, aber wie kann er überhaupt darauf gekommen sein? Von all diesen Leuten um uns herum kennt er Jacob am wenigsten«, kommentierte Ethan.
Wir arbeiteten eine Weile in Schweigen und dachten darüber nach. Als die Schubkarre wieder voll war, schob Ethan sie nach draußen.
Während er weg war, ging ich gedanklich über die wenigen Momente, in denen Cody in meiner Nähe gewesen war, und dann erinnerte ich mich plötzlich.
»Scheiße! Es war im Umkleideraum«, rief ich, als Ethan wieder zurückkam.
»Hä?« Ethan schaute mich verwirrt an. »Was war im Umkleideraum?«
»Er muss mitgehört haben, als wir geredet haben«, sagte ich entsetzt. »Als du mich überredet hast… Na ja, du weißt schon… zu duschen. Er war der Letzte, der noch in unserer Nähe war. Sein Schließfach war ziemlich nah an unserem. Er muss gelauscht haben.«
»Verdammt, du hast Recht«, fluchte Ethan. »Selbst, wenn er nicht alles gehört hat, könnte er schon eine Ahnung haben, was los ist.« Er begann auf- und abzugehen. »Wenn er der falschen Person davon erzählt, die falsche Frage stellt, selbst unwissend… ihr würdet ziemlich schnell auffliegen. Was sollen wir tun?«
»Wir könnten ihm die Zunge herausreißen«, schlug ich säuerlich vor.
Ethan schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Ich schätze, wir müssen mit ihm reden. Es ist besser, ihm alles zu erzählen, als zu riskieren, dass er versucht, herauszufinden, was los ist. Er könnte dabei andere Leute argwöhnisch machen und das können wir uns nicht leisten«
»Mir gefällt das überhaupt nicht«, murrte ich. »Wir kennen ihn kaum. Er scheint ja ganz okay zu sein, aber wenn er das nicht für sich behalten kann, wäre das echt zum Kotzen.«
»Na ja, es sieht kaum so aus, als ob wir da eine große Wahl haben«, entgegnete Ethan.
Ich seufzte. »Wir können ihm das doch nicht einfach so sagen, oder? Können wir nicht erstmal irgendwie herausfinden, was er eigentlich genau weiß?«
Ethan zuckte mit den Achseln. »Wenn du eine Idee hast, dann los. Ansonsten denke ich, dass es besser ist, ihn einzuweihen, als irgendetwas zu riskieren. Was, wenn er es schon längst weiß und das Falsche sagt, während Ian in der Nähe ist, oder so?«
»Mist! Du hast Recht. Hast du seine Handynummer?«
»Nein, tut mir leid. Aber es ist vermutlich eh besser, diese Unterhaltung nicht am Telefon zu führen. Du wirst ihn bis morgen früh nicht wirklich treffen können. Wir stecken hier noch bis heute Abend fest. Du könntest die Zeit nutzen, um das genau zu durchdenken. Vielleicht überreagieren wir auch und er weiß eigentlich gar nichts.«
»Ich werde mal schauen, was morgen in der Schule passiert«, stimmte ich ihm zu. »Ich kann ja versuchen herauszufinden, ob er etwas weiß. Wenn das der Fall ist… Na ja, dann muss ich es ihm wohl erzählen und ihn bitten, es für sich zu behalten.«
»Cody scheint echt in Ordnung zu sein. Selbst wenn er es weiß, wäre das nicht so schlimm.«
»Vielleicht hast du Recht«, seufzte ich. »Kannst du diese Ladung übernehmen? Ich bin total platt.«
»Klar, kein Ding«, antwortete er mir. Er wendete die Schubkarre und schob sie weg, aber nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um. »Ach ja übrigens: Ich wollte nur mal sagen, dass du dich super in deiner Rolle als Jacob machst. Das im Umkleideraum heute… das muss ein großer Schritt für dich gewesen sein. Du solltest stolz auf dich sein.«
Ich lief rot an. »Danke«, sagte ich sanft und lächelte ihm schüchtern zu.
»Ich sage dir nur, wie es ist. Dafür musst du mir nicht danken.« Mit einem Grinsen verschwand er mit der Schubkarre aus dem Stall.
Als wir wieder in Albany ankamen, legte Ethan eine Hand auf meine Schulter. »Hey, willst du bei mir übernachten? Dann könnten wir unsere Hausaufgaben zusammen erledigen«, schlug er vor, während Ian und Conrad aus dem Auto ausstiegen.
»Ähm«, machte ich. Das kam etwas spontan für mich. Eine Übernachtung bei Ethan? Auf jeden! Aber ich hatte so etwas seit Jahren nicht mehr gemacht, also überraschte mich die Idee ein wenig. »Ähm, lass mich das mit meinen Eltern klären, okay?«
Ich schnappte meinen Rucksack und stieg aus dem Auto aus. Ethan begann ebenfalls auszusteigen, aber Tante Mary stoppte ihn. »Ich kann euch noch schnell zu Ethan nach Hause fahren, ihr habt heute so hart gearbeitet, das ist das Mindeste was ich für euch tun kann.«
»Danke, aber passt schon«, sagte ich schnell. »Ich glaube ein kleiner Spaziergang nach der Arbeit würde mir guttun.«
»Bist du dir sicher?« fragte sie. Ich nickte. »Okay, dann eine gute Nacht euch beiden. Danke noch einmal für die Hilfe.«
»Kein Problem, Mrs. Baker«, antwortete Ethan mit einem Lächeln. Eine Sekunde lang verlor ich mich vollkommen in seinem Anblick. Er war so wunderschön, wenn er lächelte. Ich riss mich schnell aus meiner Trance und wir verabschiedeten uns. Während Ethan seine Eltern anrief, ging in nach drinnen, um mit Jacobs Eltern zu sprechen. Der Muskelkater in meinen Beinen machte das Treppensteigen zu einer Tortur, aber schließlich betrat ich die kleine Wohnung und fand Jacobs Mutter lesend in der Küche.
Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und betrachtete die kleine, rundliche Frau einige Sekunden lang. Sie hatte diese fröhliche, warme Aura, selbst wenn sie nur dort saß und friedlich las. Da sie mich nicht bemerkte, räusperte ich mich.
»Hey Mama«, grüßte ich sie mit sanfter Stimme.
Sie schaute von ihrem Buch auf und lächelte mich an. »Oh, hey Liebling, du bist wieder da. Habt ihr alles geschafft? Wie war’s?«
»Jap. Alles erledigt. Es hat sogar Spaß gemacht, weil Ethan mir geholfen hat«, erzählte ich und konnte nicht anders, als zu lächeln.
»Wie hast du denn Ethan dazu bekommen, dir auf der Farm zu helfen?« fragte sie und zog eine ihrer Augenbrauen hoch.
»Ach komm schon, Mama, so faul ist er gar nicht«, protestierte ich scherzhaft. »Ich habe ihn einfach freundlich gefragt und er hat eingewilligt.«
»Man höre und staune!« sagte sie grinsend. »Ich hoffe du hast nicht zu viele Hausaufgaben zu erledigen? Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass wir euch den kompletten Nachmittag und Abend an einem Schultag auf die Farm geschickt haben, aber es ging leider nicht anders.«
»Das ist in Ordnung, ist ja immerhin für die Familie. Sie würden uns auch helfen, wenn wir es bräuchten«, versicherte ich ihr. »Aber ähm, wo wir gerade davon sprechen«, fing ich an. Plötzlich fühlte ich mich total unsicher, als ob ich wieder neun Jahre alt wäre und eine Frage stellen würde zu der ich »Nein« als Antwort erwartete. »Ich dachte, dass vielleicht… weil Ethan und ich auf der Farm gearbeitet haben… und immer noch Hausaufgaben machen müssen… dass ich vielleicht bei Ethan übernachten dürfte, damit wir unsere Hausaufgaben zusammen erledigen können?«
Sie lächelte mich an. »Natürlich darfst du das.« Sie stand auf und ging zu mir herüber. »Versprichst du mir, dass ihr nicht die ganze Nacht wach bleibt?«
»Okay Mama, versprochen«, sagte ich. Die meisten Jugendlichen hätten diese Worte gesagt, nur um zu dürfen, aber nicht weil sie ihr Versprechen ernst meinten. Für mich war das aber anders. Obwohl es etwas so Kleines, Unbedeutendes war, konnte ich fühlen, dass ich ihr wichtig war und sie mein Bestes wollte.
Dann umarmte sie mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Viel Spaß, Großer. Bis morgen.«
In diesem Moment fühlte ich mich so schlecht, so falsch. Das Gespräch zwischen mir und Jacobs Mutter war so wunderbar gewesen, so… surreal, auf eine positive Weise, fast wie ein Traum, von dem ich hoffte, er würde niemals enden. Es war anders als jeder andere Moment, den ich je mit meinen Eltern erlebt hatte, doch ich wusste, dass es alles nur Schein war. Ich war nur ein erbärmlicher Lügner und sie dachte, dass ich Jacob wäre, mehr nicht. Es war nicht real; ich täuschte sie nur, und mich selbst täuschte ich auch. Ich konnte ihr nicht einmal mehr in die Augen schauen.
»Danke… Mama«, zwang ich mich selbst zu sagen. Ich merkte, wie sich ein schwerer Kloß in meinem Hals bildete. »Ich muss dann mal los. Ethan wartet schon auf mich.«
Nachdem ich mir meinen Rucksack und frische Klamotten für den nächsten Tag geschnappt hatte, ging ich nach draußen zu Ethan.
Sobald ich die Tür öffnete, um das Haus zu verlassen, bemerkte Ethan mich. »Hey, meine Eltern haben ihr Okay gegeben. Hast du alles, was du brauchst?«
Ich bekam kaum mit, was er sagte. Nach mehreren Sekunden nickte ich mechanisch und ging los in Richtung seines Hauses. Er folgte mir und wir gingen zusammen die Straße hinunter, beide in tiefem Schweigen versunken.
Die Dämmerung setzte ein und wir liefen in etwa westwärts, also hatte ich einen perfekten Blick auf den Sonnenuntergang. Ich starrte die lange Straße hinunter und fragte mich, was die Zukunft wohl brachte. Hatte ich eine Chance bei Ethan? Es gab einige Hinweise, dass er auch schwul sein könnte, aber es konnte genauso gut sein, dass es einfach nur seine Persönlichkeit war und die Art, wie er sich unter Freunden verhielt. Was würde ich tun, wenn er meine Gefühle nicht erwiderte?
Ich dachte ein wenig darüber nach. Es würde wehtun, und zwar sehr, aber vielleicht war es sogar besser so. Ein fester Freund würde es viel schwieriger machen, vor meinen Eltern geheim zu halten, dass ich schwul war. Außerdem war es schon wie ein Sechser im Lotto, Ethan auch nur als Kumpel zu haben. Ich schüttelte meinen Kopf. Wem wollte ich hier eigentlich etwas vormachen? Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, dann sah das alles ganz anders aus. Ich wollte nicht, dass Ethan nur ein Freund war. Ich wollte mit ihm zusammen sein, ihn halten, ihn berühren, meine Arme um ihn legen. Ob wir wohl heute Nacht in einem Bett schlafen würden?
Ich unterbrach diesen Gedankengang. Wenn ich so weitermachte, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sich eine unübersehbare Beule in meiner Hose bilden würde. Stattdessen konzentrierte ich meine Gedanken auf Cody, Ian und besonders auf Jacobs Eltern. Wie lang würde es dauern, bis jemand unser kleines Geheimnis aufdeckte? Früher oder später würden wir uns dem stellen müssen.
Würde Cody irgendjemandem davon erzählen? Und welche Reaktion konnte ich von Ian, Conrad und Mr. und Mrs. Baker erwarten? Akzeptanz oder Ablehnung?
Es war ungewöhnlich still, also schaute ich zu Ethan herüber. Genau wie ich schien er tief in Gedanken versunken zu sein. Er bemerkte nicht einmal, dass ich ihn anstarrte. Worüber er wohl nachdachte? Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass Ethan so etwas wie Sorgen, Probleme oder Bedauern kannte. Es passte einfach nicht zu seiner Persönlichkeit, aber am Vormittag, nachdem er Cody verteidigt hatte, war er genauso gewesen, vollkommen abwesend und gedankenverloren.
Sein rechter Fuß fand einen kleinen Stein auf dem Fußweg und er kickte ihn ein paar Meter vorwärts und als wir ihn wieder erreicht hatten, tat er das noch einmal, und dann immer wieder. Ich schaute ihm dabei eine Weile lang zu, aber dann blickte ich zu seinem Gesicht. Seine Augen sahen so traurig aus und er verzog sein Gesicht, als ob ihn etwas quälte. Sofort hatte ich das Verlangen, meine Hand auf seine Schulter zu legen, ihn anzuhalten und zu umarmen, aber ich widerstand. Ich wusste ja nicht einmal, ob er so eine Umarmung überhaupt von mir wollte. Außerdem hatte ich zu sehr Angst, dass er sich hieran erinnern und es falsch interpretieren würde, falls er jemals herausfinden sollte, dass ich schwul war.
Ich wollte nicht, dass es so aussah, als würde ich unsere Freundschaft ausnutzen, um ihm körperlich nahe zu kommen. Stattdessen ging ich einfach schweigend neben ihm her und schaute ab und an flüchtig zu ihm herüber. Ich passte auf, immer einen halben Schritt hinter ihm zu bleiben, so dass er nicht bemerkte, wie oft ich zu ihm herüberschaute. Als wir bereits den halben Weg hinter uns gebracht hatten, wandte er sich plötzlich mir zu.
»Hey«, sagte er mit sanfter Stimme. »Was ist los? Du bist so nachdenklich.«
Beinahe hätte ich ihm geantwortet, dass er ja wohl derjenige war, der sich ungewöhnlich still verhielt, aber ich ließ es dann. Es würde sich eine Gelegenheit finden, über Ethans Probleme zu reden, aber ich war mir sicher, dass diese nicht hier und jetzt war.
»Ach, ich… ich bin nur kaputt von der Arbeit«, erwiderte ich. Es war nicht wirklich eine Lüge, sondern eher Auslassung von einigen Details. Ich war tatsächlich müde und kaputt, und vermutlich war das sogar der Hauptgrund für meine komische Stimmung.
»Achso, ja«, sagte er und nickte langsam. »Das geht mir auch so.«
Wir kamen endlich bei ihm zu Hause an. Ethans Eltern waren ins Restaurant essen gegangen und noch nicht zurückgekommen, also schnappten wir uns ein paar Dosen Cola und gingen direkt in sein Zimmer, um unsere Hausaufgaben zu erledigen. Der Raum war nicht so groß wie meiner und er hatte kein eigenes Badezimmer, aber wenigstens musste er ihn nicht teilen, so wie Jacob. Der Mangel an Privatsphäre war eines der Dinge, an die ich mich noch nicht so wirklich gewöhnt hatte.
Die Einrichtung war genauso wie Ethan; chaotisch. Es war nicht dreckig oder vermüllt; der Boden war sauber und es lagen keine dreckigen Klamotten herum. Es sah einfach nur unorganisiert und vollgestopft aus, als ob er viel zu viele Sachen hätte und nicht wüsste, wo er sie unterbringen sollte.
Sein Schreibtisch war unter einem Haufen Papier begraben und die Wände waren praktisch mit Postern tapeziert. Auch bei den Postern gab es keine Struktur. Poster von Bands hingen direkt neben welchen von Tieren oder Sportlern. Er hatte eine Playstation und die Controller lagen auf dem Boden davor herum, als wären sie da vor fünf Minuten erst hingelegt worden und jeden Moment würde jemand kommen, um weiter zu spielen. Ich konnte diverse Sportausrüstung in den Ecken sehen und er hatte sogar Lego in den überfließenden Regalen stehen.
Insgesamt sah es so aus, als ob er sich in diesem Zimmer vom Kind zum Jugendlichen entwickelt und immer neue Sachen gefunden und hinzugefügt hatte, ohne sich jemals von etwas zu trennen. Ich blieb einige Sekunden im Türrahmen hinter Ethan stehen und nahm all dies in mich auf, bevor ich eintrat und die Tür hinter mir schloss.
»Joah, das ist mein Zimmer… ist vermutlich nicht, was du gewohnt bist, aber na ja…« sagte Ethan und dann verstummte er.
Als ich nicht direkt etwas sagte, redete er weiter. »Ähm, ich hoffe, dass es dir nicht zu chaotisch ist… Ich weiß, dass du selber eher organisiert bist, und so.«
Ich schüttelte meinen Kopf.
»Nein, passt schon. Irgendwie gefällt es mir sogar.«
»Echt?« fragte er überrascht und strahlte auf einmal.
»Ja«, bestätigte ich, und dann schaute ich noch einmal durch den Raum. Zu mir selbst dachte ich: »Ist irgendwie so wie du. Chaotisch, voller Farben, aber warm und nett.«
»Also, dann fangen wir mal an, wa?« Er ging zum Schreibtisch und begann die Arbeitsfläche frei zu räumen, indem er alle Blätter und Bücher nahm und sie in der Ecke auf den Boden legte.
»Wollen wir uns die Arbeit teilen und dann voneinander abschreiben, soweit das geht?« schlug Ethan vor. »Ich bin total müde und will einfach nur ins Bett.«
»Klingt gut«, stimmte ich zu. Normalerweise würde ich mich nicht auf so etwas einlassen. Der Sinn von Hausaufgaben war schließlich nicht, sie für den Lehrer zu machen, sondern damit man etwas lernte. Im Moment war mir das allerdings egal. Ich war zu kaputt und außerdem war ich in Gedanken ganz woanders. Wir setzten uns nebeneinander an seinen Schreibtisch und begannen schweigend zu arbeiten.
Nach etwa einer halben Stunde klopfte es an der Tür. »Herein!« rief Ethan und ein Mann mittleren Alters öffnete die Tür.
»Hey Papa«, begrüßte Ethan ihn gähnend.
»Hey ihr beiden«, antwortete sein Vater und winkte uns zu. »Ich wollte euch nur wissen lassen, dass wir wieder da sind. Es ist schon spät, also schaut, dass ihr bald ins Bett kommt.«
»Werden wir«, versprach Ethan. »Wir machen nur noch die Hausaufgaben fertig und dann gehen wir schlafen. Mach dir keine Sorgen, dass wir die ganze Nacht wach bleiben, dafür sind wir eh viel zu kaputt.«
»Okay, gute Nacht«, wünschte uns sein Vater. Ethan und ich erwiderten dasselbe und er verließ das Zimmer.
In dem Moment bekam ich einen Anruf von Jacob. Ich wollte Ethans Konzentration nicht stören und konnte nicht riskieren, dass seine Eltern das Gespräch mithörten, also sagte ich Jacob, er solle warten. Rasch griff ich mir Ethans Schlüssel und schlich mich aus dem Haus, um kurz spazieren gehen.
Als Jacob mir von dem Ausflug nach Washington erzählte, stöhnte ich auf. Ich wollte mein Wochenende mit Ethan verbringen, nicht mit meinen Großeltern. Dann realisierte ich, dass Jacob vermutlich noch nie in Washington gewesen war. Es war eigentlich echt schön dort und meine Großeltern waren viel netter als meine Eltern. Wir würden zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich hätte mein Wochenende mit Ethan, und Jacob würde einen Ausflug machen, von dem ich mir sicher war, dass er ihm gefallen würde.
Ich erzählte ihm aufgeregt von Washington und er stimmte mir schließlich zu. Dann sprach ich über meine Sorgen bezüglich seiner Eltern und Ian. Er versprach mir, dass es kein Problem sein würde, aber das beruhigte mich nicht wirklich.
Dafür merkte ich allerdings, dass ich ihm wichtig war und das erzeugte ein großartiges, wohliges Gefühl in mir. Irgendwann wünschten wir uns dann gegenseitig eine gute Nacht und legten auf.
Als ich zurück in Ethans Zimmer kam, hatte er bereits seine Hausaufgaben fertig und war ins Badezimmer verschwunden. Ich erledigte schnell den Rest von dem, was ich noch machen musste und wartete dann auf Ethan.
Als er zurückkam, trug er lediglich seine eng anliegenden Boxershorts und ich erlaubte mir für eine oder zwei Sekunden seinen perfekten Körper zu betrachten, bevor ich wieder zu seinem Gesicht aufsah. Er zeigte mir wo das Bad war und als ich fertig war und zurück in sein Zimmer kam, lag er bereits im Doppelbett und starrte auf seinen Nachttisch.
Er schaute zu mir auf, als ich eintrat, genauso wie er nur in Boxershorts. Ich war mir nicht sicher gewesen, was ich zum Schlafen anziehen sollte, aber er hatte mir diese Entscheidung zum Glück abgenommen und ich passte mich ihm einfach an.
»Ähm«, brachte ich mit einem Blick auf das Sofa hervor. »Hast du Bettzeug für die Couch oder teilen wir uns das Bett, oder…?«
»Ach so«, sagte Ethan. »Ähm, tut mir leid, da habe ich nicht wirklich drüber nachgedacht. Jacob und ich teilen uns normalerweise das Bett. Ich kann dir aber was für das Sofa holen, wenn dir das lieber ist?«
»Ähm, das Bett ist schon in Ordnung, schätze ich. Du brauchst nicht extra noch aufstehen und etwas für mich holen.« Okay ehrlich jetzt? Das Bett mit Ethan teilen? Das war ein Traum. Ich musste mich praktisch zwingen, nicht zu grinsen. Er lächelte mich an und zog die zweite Decke auf seinem Doppelbett zurück, um mir sozusagen den Platz zu seiner Rechten anzubieten. Ich ging um das Bett herum und schlüpfte unter die Bettdecke.
»Alles bequem? Ist es okay wenn ich das Licht ausmache?« fragte er sanft.
Nach einem Tag wie diesem war nichts besser, als in einem Bett zu liegen. Es hätte eine Holzpritsche aus dem 17. Jahrhundert sein können und es wäre bequem gewesen. »Mir geht’s gut«, antwortete ich. »Du kannst das Licht ausmachen, wenn du willst. Mir ist das egal.«
»Okay«, sagte er und drückte den Lichtschalter über seinem Nachttisch.
Ich schloss meine Augen, aber anstatt mich gut zu fühlen, weil ich mit Ethan im Bett lag, fand ich mich auf einmal von all dem überwältigt, was an dem Tag passiert war. Der Morgen, an dem ich andere Leute von mir aus angesprochen hatte, die Dusche nach dem Sportunterricht, das Gespräch mit Cody und das Schule schwänzen, sowie der Nachmittag auf der Farm. Es war definitiv ein ereignisreicher Tag gewesen und ich hatte in den letzten achtundvierzig Stunden vermutlich mehr erlebt, als sonst im ganzen letzten Jahr.
Dann kamen allerdings Gedanken über Jacobs Eltern und Ian auf. War das, was wir taten, richtig? Ich dachte auch an meine eigenen Eltern, und was passieren würde, wenn sie hiervon erfuhren; und an Jacobs Mitschüler, insbesondere natürlich Ethan und meine Gefühle für ihn. Ich ließ ein hörbares Seufzen aus meinem Mund entkommen.
Plötzlich fühlte ich, wie Ethan sich im Bett bewegte und als ich zur Seite schaute, sah ich, dass er zu mir herübergerutscht war. Ich konnte nicht jedes Detail erkennen, aber der Mond schien hell in dieser Nacht und sein blasses Licht fiel in den Raum. Ethan lag auf seiner Seite, vielleicht einen halben Meter von mir entfernt, vielleicht sogar etwas weniger. Sein Kopf war auf seinen Arm gestützt und seine wundervollen ozeanblauen Augen beobachteten mich.
»Was bedrückt dich, Josh?«
»Ach nichts«, murmelte ich.
»Du kannst es mir ruhig sagen«, sagte er. Ich fühlte wie seine Finger meinen Arm berührten und dann legte er seine Hand auf meine Schulter. »Es hilft immer, über Probleme zu reden und was auch immer es ist, ich werde es für mich behalten, da kannst du mir vertrauen.«
Ich kämpfte noch einen Moment mit mir selbst, aber dann entschied ich mich, es einfach alles herauszulassen.