Gemini

Wo issn da ein p? :stuck_out_tongue_winking_eye:

So muss das! Würde ich nicht anders machen, wenn jemand aus meiner Familie oder Freunde mich so anrufen/alarmieren.

Nun ist das Geheimnis gelüftet! Bin gespannt, was passiert ist und wie Jacob reagieren wird.

Lol, dass selbst jetzt noch solche Fehler auftauchen…
Da stellt sich für mich langsam die Frage ob es da nicht in Word irgend einen Kobold gibt, der alles durcheinander bringt, nachdem man es schon gegengelesen hat.

Ich bin mir sicher, dass das Mal Jap war…

Soweit ich das sehen kann, habe ich auch keinen Zugriff mehr darauf. Kannst du das noch editieren? :smiley:

hab das p ergänzt. :wink:

Zuri guckt gerade ganz unschuldig, als wenn er das p entfernt hätte.

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Danke dir. :smiley:

Verschollen Teil 2


Josh

Keine fünfzehn Minuten später standen wir in Sichtweite meines Elternhauses. »Keiner da«, stellte ich mit einem Blick auf die Einfahrt fest.

Wir eilten die Straße hinunter und ich führte die beiden über den schmalen Durchgang zwischen Garage und Zaun in unseren von hohen Hecken geschützten Garten. Für Ethan und mich war es eng, aber Ian musste sich regelrecht seitlich durch die kleine Passage zwängen.

Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und fühlte entlang des Simses über der Hintertür der Garage. »Wenn sich nichts geändert hat…«, murmelte ich, »…aha, hier haben wir es ja.«

Meine Finger erfassten den Schlüssel und einige Handgriffe später waren wir in der Garage. Ich war froh, nicht nachts hierhergekommen zu sein. Ohne das Licht der strahlenden Sonne, welches durch ein kleines Fenster und die Garagentür eindrang, wäre unsere geheime Einbruchsmission deutlich gruseliger gewesen. Aber auch so konnte ich meinen Herzschlag bis in meinen Hals spüren.

Ethan schien ein wenig blass geworden zu sein, aber als unsere Blicke sich trafen, schluckte und nickte mir zu. Hinter uns schloss sich die Tür mit einem unheilvollen Knarzen, und wir bewegten uns weiter. Obwohl offensichtlich niemand im Haus war, versuchten wir trotzdem, uns möglichst leise zu bewegen. Plötzlich stieß mein Fuß mit lautem Klappern etwas Metallenes um. Wir stoppten, wie erstarrt und ich schloss meine Augen und atmete tief durch.

»Weiter«, forderte Ian. »Ich will hier keine Sekunde länger bleiben, als ich muss.«

Die Durchgangstür zum Haus am anderen Ende der Garage öffnete sich ohne Schwierigkeiten, und nach einem kleinen Zwischenraum befanden wir uns in der Küche.

Ian blieb stehen und schaute sich um. Ihm wurde anscheinend erst jetzt, als er sich die großräumige, modern und vor allem teuer eingerichtete Küche besah, bewusst, wie groß eigentlich der Unterschied zwischen Jacobs und meinem Leben war. Er setzte zu einem Kommentar an, schüttelte dann aber den Kopf und machte eine fragende Geste zu den beiden weiteren Türen.

Ich räusperte mich, um etwas zu sagen, und zuckte zusammen, so laut erschien mir das Geräusch. Anstatt zu sprechen, bewegte ich mich wortlos voran. Das einzige Geräusch, was man von da an hören konnte, war der Klang unserer Schuhsohlen auf den marmornen Fliesen.

An der Treppe ins Obergeschoss hielt ich kurz inne. »Sollen wir kurz in meinem Zimmer schauen, oder erst im Arbeitszimmer meines Vaters?« flüsterte ich.

»Dein Zimmer zuerst«, antwortete Ethan ebenso leise.

Der Weg erschien quälend lang. Als wir da waren, blieb ich einen Moment stehen. Ich konnte Ethan nah hinter mir spüren. Mein Atem stockte einen Moment und ich wollte die Klinke fast gar nicht herunterdrücken; aus Angst, was ich finden würde.

Ein Stups von Ethan riss mich aus meinen Gedanken. Vorsichtig öffnete ich die Tür und betrat den Raum.

So schnell es ging, ohne unnötig laut zu sein, waren wir alle im Zimmer und die Tür hinter uns wieder geschlossen. Erst jetzt traute ich mich, wieder normal zu atmen und konnte hinter mir ein Seufzen hören. Alles schien in normalem Zustand zu sein, nur die Luft roch leicht abgestanden, als sei hier seit einigen Tagen nicht mehr gelüftet worden.

»Komisch«, meinte ich, wobei ich wieder in normaler Lautstärke sprach. Irgendwie fühlte ich mich hier sicherer. Ian ließ seinen Blick über den ganzen Raum gleiten, schien jedes Detail auf Hinweise zu prüfen, während ich eine Weile brauchte, um mich wieder voll zu beruhigen.

Plötzlich blieb sein Blick am Boden neben meinem Bett hängen. Er machte einige Schritte und kniete sich nieder, fuhr mit seinen Fingern über eine Stelle am Boden, sagte aber nichts weiter. Ethan folgte ihm, neugierig, und dann beugte auch er sich nach unten. »Ist das Blut?« fragte er in einem merkwürdig verzerrten Ton.

In Sekundenbruchteilen war auch ich dort und starrte auf die zahlreichen, dunkelroten Flecken, die in einem unregelmäßigen Muster auf dem Teppich verteilt waren. »Vielleicht…«, ich schluckte und atmete etwas schneller »vielleicht Saft? Ich weiß nicht.« meine Stimme war belegt und in meiner Brust baute sich ein drückendes Gefühl auf. Was war hier bloß geschehen?

»War das vorher schon da?« wollte Ian wissen.

Ich versuchte, mich zu räuspern. »Nein«, brachte ich hervor und wandte mich den anderen zu. Ethan bemerkte mich gar nicht und starrte immer noch unverändert auf die roten Flecken, während Ian meinen Blick mit einem unleserlichen Gesichtsausdruck erwiderte, bevor er sich abwandte und aufstand.

Anstatt weiter dort zu verharren und mich verrückt vor Sorgen zu machen, erhob ich mich ebenfalls und zog Ethan mit mir vom Bett weg. Ian überprüfte noch das Bad, bevor er zu uns kam. »Da ist nichts Auffälliges« Er öffnete die Tür zum Flur und bedeutete mir, ihnen den Weg zum Arbeitszimmer meines Vaters zu zeigen.

Gerade, als wir im Erdgeschoss angelangt waren, hörten wir das laute Motorbrummen eines Autos, das in die Einfahrt fuhr, und dann das Einrasten der Handbremse.

»Scheiße«, stellte Ethan fest, gerade als der Motor verstummte.

Ich zog die beiden schnell mit mir in das nächstgelegene Zimmer, eine Art Abstellraum und Archiv neben dem Büro meines Vaters. Sekunden später war bereits der Schlüssel in der Haustür zu hören.

Als die Tür zugeschlagen wurde, standen wir dicht aneinandergedrängt, wie zu drei Salzsäulen erstarrt. Schnelle Schritte kamen den Hauptgang hinunter in unsere Richtung. Meine Hände zitterten und Ethan schien es kaum besser zu gehen. Ich zögerte, doch nach einigen Sekunden überwand ich mich und legte meine Arme von hinten um ihn und drückte ihn vorsichtig an mich. Ein kurzer Blick zu Ian zeigte mir sein grünliches Gesicht. Ich fragte mich kurz, ob das mit meiner und Ethans Umarmung zu tun hatte, oder mit der Situation, bis mir die Absurdität des Gedankens bewusstwurde.

»Habe ich schon«, konnten wir plötzlich die kalte Stimme von Philip hören. »Nichts.«

Ich zuckte zusammen, obwohl das keine große Überraschung war. Wenn irgendjemand um diese Uhrzeit in dem Haus aufkreuzte, dann Philip. Ich streckte meinen Kopf in seine Richtung, als ob ich ihn dadurch besser verstehen könnte.

»Rate mal, was ich gerade mache«, kam als nächstes. Jetzt stand er beinahe direkt vor unserer Tür. Der sarkastische Unterton war kaum zu überhören. Es klang, als ob eine schwere Tasche auf dem Boden abgesetzt und ein Reißverschluss geöffnet wurde.

»Ja, ich bin eben gerade angekommen.« Philip seufzte nach einem Moment der Stille, inzwischen deutlich genervt. »Ja, ja, ich weiß. Keine Spuren, keine Fingerabdrücke, nichts was später nachweißbar ist. Ich pass schon auf.«

Ethan griff meine Handgelenke und presste sie gegen seine Brust. Er zog mich näher an sich, versuchte sich rückwärts in mich zu drücken. Währenddessen schien Philip vor der Tür in seiner Tasche herumzukramen und es klang so, als würde er sich Gummihandschuhe anziehen.

»Tut mir leid«, sagte Philip auf einmal kleinlaut. »Ich bin gestresst, das hätte ich nicht an dir auslassen dürfen. Entschuldigung.«

Dann entfernte er sich ein Stück von uns und die Tür zum Nachbarzimmer, dem Büro meines Vaters, wurde langsam geöffnet. »Wie auch immer, ich muss hier jetzt weitermachen, wir können später noch reden. Sobald ich etwas habe, schicke ich dir Fotos; zur Sicherheit.«

Ethan entspannte sich in meinen Armen und ich begann langsam, wieder zu atmen, während ich einen erleichterten Blick mit Ian austauschte. Im Nebenzimmer wurden währenddessen mehrere Schubladen aufgezogen und Blätter durchwühlt. Philip murmelte etwas zu sich selbst, aber ich konnte nichts Genaues verstehen. Eine Metallplatte klapperte auf dem Holz des Schreibtisches. Philip zog mit einem lauten, kratzenden Geräusch etwas Schweres aus einer Schublade und legte es auf dem Boden ab. Das Klicken der Handykamera war laut und deutlich.

Vermutlich hatte er die Kiste mit den Schusswaffen und der Munition meines Vaters gefunden. Ein Schauder lief mir über den Rücken. Der Gedanke, dass er mehrere geladene Waffen vor sich hatte, war nicht gerade beruhigend.

»Was genau tut er da?« flüsterte ich, mehr zu mir selbst. Ethan drückte warnend meine Hand.

Philip fluchte. Dann ging die Papierwühlerei weiter, und kurze Zeit später begann der Kopierer, auf Hochtouren zu arbeiten. Aus Sekunden wurden Minuten und irgendwann wusste ich nicht mehr, wie lange wir schon bewegungslos dort standen. Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Außer dem Rascheln von Blättern drang nur ab und zu das Scharren eines Stuhles, der geschoben wurde, oder das Öffnen und Schließen von Aktenordnern zu uns hinüber. Ich fragte mich, ob wir hätten versuchen sollen, uns weg zu schleichen, oder aus dem Fenster zu entkommen, aber gleichzeitig war mir klar, dass wir es nie unbemerkt geschafft hätten.

Mehrfach folgte ein weiteres Klicken der Kamera und dann klang es so, als würde Philip die Schubladen wieder schließen und aufräumen. Er schien noch eine letzte Runde durch den Raum zu gehen, bevor er die Tür hinter sich schloss. Wieder konnten wir einen Reißverschluss hören und er seufzte. Das Klacken seiner Schritte hallte von den Wänden wider, als er sich den Flur entlang in unserer Richtung bewegte. Als er sich kurz vor unserem Versteck befand wurden seine Schritte langsamer, und wieder setzte er etwas auf dem Boden ab.

Dann öffnete sich die Tür vor uns. Eine Schrecksekunde lang waren wir wie eingefroren. Er war bereits einen halben Schritt auf uns zugegangen, als sein Blick auf uns fiel und er ebenfalls erstarrte.

Ian schaffte es, sich als erster aus der Paralyse zu lösen und sprang Philip instinktiv an. Der Kampf war vorbei, bevor er überhaupt begonnen hatte. Ian war fast genauso groß wie Philip und hatte Schwung und Überraschung auf seiner Seite. Beinahe mühelos riss er Philip zu Boden und nutzte sein jahrelanges Training, um ihn in einem Haltegriff zu fixieren.

»Urgh«, machte Philip, als er nach Luft schnappte. »Stopp.«

»Was machst du hier«, verlangte ich. Adrenalin pumpte durch meinen Körper und jegliche Spur von meiner sonstigen Schüchternheit war verschwunden.

Ian löste seinen Griff leicht, sodass Philip zu mir aufschauen konnte. »Josh?« fragte er, offensichtlich überrascht. »Wo warst du? Ich habe schon überall nach dir gesucht.«

Mein Herz pochte in meiner Brust, als ich versuchte, zu verstehen, was er damit meinte. Argwöhnisch schaute ich ihm in die Augen. »Was soll das heißen? Was hast du dann in dem Arbeitszimmer von meinem Vater getan?«

»Ich habe versucht, herauszufinden, wohin du verschwunden bist«, keuchte er, als er sich hin- und herwand. Plötzlich schaffte er es, sich aus Ians eisernem Griff zu lösen.

Ian versuchte sofort, ihn wieder zu Boden zu drücken, aber Philip hatte sich in Sekundenschnelle erhoben und hielt Ian mit einem ausgestreckten Arm von sich weg. Als Ian versuchte, ihn zu greifen, wehrte Philip jeden Versuch mit Leichtigkeit ab.

»Hör auf«, schrie er Ian mit kommandierender Stimme an, als er ihn von sich stieß, sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und seine Arme in einer angreifenden Geste ausbreitete. Ian schreckte vor dem Ton zurück und hielt inne, während Ethan und ich es gerade so schafften, uns nicht zusammenzukauern.

»Soooo«, sagte Philip langgezogen. »Und jetzt reden wir wie normale Menschen darüber, was hier eigentlich los ist.«

»Was hast du hier gemacht? Wo ist Jacob?« verlangte ich.

»Jacob?« Philip war offensichtlich verwirrt. »Wer ist Jacob? Und warum bist du hier, und wo warst du?«

Ich stockte, wusste nicht, ob und wie ich die Geschehnisse der letzten Wochen erklären sollte. Ethan war immer noch halb hinter mir und blieb still, während Ian angespannt und jederzeit zum Angriff bereit dastand, und Philip genau im Auge behielt.

Als keiner von uns bereit schien, etwas zu sagen, seufzte Philip, ging zwei Schritte zurück und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. »Okay, also…«, er überlegte einen Moment. »Da ihr ja irgendwie wenig bereit seid, mir zu sagen, was los ist, fangen wir am besten ganz am Anfang an. Ich bin hier, weil dein Vater«, er gestikulierte zu mir, »mich informiert hat, dass ich die nächsten Tage nicht zur Arbeit zu kommen brauche. Ich dachte mir schon, dass irgendetwas faul ist, deswegen bin ich heute früh trotzdem hierhergekommen. Als ich das Blut in deinem Zimmer gesehen hatte, wusste ich, dass etwas absolut gar nicht in Ordnung war. Ich bin also zu deiner Schule gefahren. Laut deinem Geschichtslehrer, Mr. Fisher, wurdest du heute früh von der Schule abgemeldet.«

Er wollte weitersprechen, aber ich unterbrach ihn grob. »Wie von der Schule abgemeldet?« Noch während ich sprach, kamen mir zahlreiche Ideen, was das bedeuten könnte und keine davon war gut. »Verdammt! Das klingt nach schlechten Nachrichten.«

Philip nickte. »Das dachte ich mir auch, deswegen habe ich auch versucht, herauszufinden, was passiert ist. Aber jetzt will ich erstmal wissen, was ihr hier macht und warum du von nichts wusstest.«

Ich zögerte. Einerseits schien Philip nicht bereit, uns mehr Informationen zu geben, wenn wir das nicht auch taten. Andererseits traute ich ihm nicht. Er konnte mit den richtigen Informationen viel Schaden anrichten.

»Woher wissen wir, dass wir dir vertrauen können?« fragte Ian letzten Endes.

Philip hob eine Augenbraue. »Eine gute Frage.« Seine Augen schwenkten zu mir. »Josh, habe ich je etwas getan, das dir geschadet hat?«

Ich dachte einen Moment darüber nach und musste zugeben, auch wenn mir sein Verhalten manchmal äußerst komisch vorkam, konnte ich mich nicht erinnern, dass er je wirklich gegen mich gewesen war. Er hatte sich meistens aus allen Dingen herausgehalten oder sogar subtil meine Eltern von mir abgelenkt, soweit es ging. Ich zuckte mit den Achseln. »Das heißt noch nichts.«

Philip runzelte seine Stirn. »Ich weiß schon seit Längerem, dass du schwul bist. Habe ich das deinen Eltern gesagt?«

»Ich bin nicht…« verleugnete ich vehement, aber Philip unterbrach mich.

»Als ob, versuch es gar nicht erst.« Er schüttelte mit dem Kopf. »Sehe ich so aus, als ob ich blöd wäre? Ich habe ja sogar deinem Vater versichert, dass in deiner Browser-History nichts Auffälliges oder Verdächtiges zu finden ist.«

Ich spürte, wie ich rot im Gesicht wurde. »Du warst an meinem Computer und hast meine Sachen durchsucht?« brauste ich auf. »Und ich soll dir noch vertrauen?«

Philip fiel ein bisschen in sich zusammen. »Nur oberflächlich. Dein Vater hat es mir aufgetragen; und du warst zeitweise so depressiv, ich habe mir Sorgen gemacht, dass du dir selbst etwas antust, okay? Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Das ist nun wirklich nicht mein Fachgebiet, und in der Jobbeschreibung war es auch nicht gerade. Ich habe einfach das getan, was ich für das Beste hielt, auch wenn es vielleicht im Nachhinein keine gute Idee war. Es tut mir leid.«

»Oh«, machte ich, und komischerweise glaube ich ihm.

»Und was ist mit Seth?« forderte Ethan plötzlich.

»Woher kennt ihr Seth?« wollte Philip sofort wissen. Seine ganze Körperhaltung war auf einmal wieder bedrohlich.

»Ihr wurdet letztes Wochenende im Park gesehen, du hast ihm Geld gegeben, er ist in dein Auto eingestiegen.« Ethans Augen blitzten gefährlich.

Philip schaute ihn ungläubig an. »Was? Seth ist mein Halbbruder und seit er zu Hause rausgeflogen ist, wohnt er bei mir. Natürlich ist er in mein Auto eingestiegen.«

»Echt jetzt?« Ethan schaute zu mir, dann wieder zurück zu Philip. »Und das sollen wir dir glauben?«

»Willst du ihn anrufen?« lachte Philip, der das Ganze anscheinend zu absurd fand, um es ernst zu nehmen. »Rate mal, mit wem ich eben telefoniert habe. Ich nehme an, dass ihr alles mitgehört habt?«

Er streckte uns sein Handy entgegen. Ian, der ihm am nächsten war, zögerte einen Moment, aber schüttelte dann mit dem Kopf. »Schon ok.«

»Ian…«, begann ich, aber er hob eine Hand.

»Ich glaube ihm. Wir haben jetzt Wichtigeres zu klären. Zum Beispiel, wo mein Bruder ist.«

»Dein Bruder?« wollte Philip wissen. »Jacob?«

Ian seufzte und bedeutete mir, das zu erklären.

»Ich habe einen Zwilling, der genauso aussieht, wie ich«, sagte ich knapp. »Wir wurden anscheinend nach der Geburt getrennt und beide adoptiert. Vor ein paar Wochen haben wir uns zufällig getroffen und dachten, es wäre eine lustige Idee, Rollen zu tauschen. War wohl nicht so gut im Nachhinein. Was auch immer am Wochenende war, ist nicht mir, sondern Jacob passiert.« Ich senkte voller Schuldgefühle meinen Blick.

Philip schnaubte. »Das erklärt einiges. Wie auch immer, soweit ich weiß, ist irgendwas passiert, was deinen Vater dazu gebracht hat, ihn in der Prüfungszeit von der Schule abzumelden und wegzuschicken. Von den Papieren her, die ich in seinem Büro finden konnte, wahrscheinlich auf eine christliche Militärschule für besonders schwierige Fälle.«

»Was?« rief ich entsetzt. Das, in Kombination mit dem Blut in meinem Zimmer, brachte meine schlimmsten Befürchtungen zurück. »Wir müssen etwas tun«, sagte ich verzweifelt.

»Ach was«, bemerkte Philip sarkastisch, und dann musste er komischerweise grinsen. »Die Tatsache, dass er Jacob und nicht dich dahin verschifft hat, ist allerdings von Vorteil.«

»Was meinst du damit?« In Ians Stimme konnte man hören, dass er gar nicht amüsiert war.

»Mit Josh hätte er das legal machen können, aber mit Jacob…«, Philip zog eine Grimasse. »Auch, wenn er es nicht wusste, das ist im Prinzip Kindesentführung.«

Auf einmal schöpfte ich Hoffnung. Mein Vater war äußerst schwer einzuschüchtern, aber damit… aber dann wurde mir klar, dass, selbst wenn wir Jacob zurückholen konnten, es meine Situation vermutlich nicht verbesserte. Mein Vater würde mich wohl kaum einfach in Ruhe lassen.

Ich räusperte mich. »Damit bekommen wir Jacob zurück, aber was ist dann mit mir?«

Philip schaute einen Moment lang unentschlossen, bevor er mir antwortete. »Das alleine mag kompliziert sein. Es wäre so gut wie unmöglich, das vor Gericht zu beweisen. Ich habe allerdings schon länger so ein paar Vermutungen über deinen Vater gehabt. Als ich nach Hinweisen gesucht habe, wo du sein könntest, habe ich diese gleich mit bestätigt.«

Er deutete auf seine schwere Aktentasche und lächelte schwach. »Zusammen mit den Beweisen für Betrug und Steuerhinterziehung die ich sichergestellt habe… Keine Angst, irgendeine Lösung finden wir schon.«

Wir starrten ihn ungläubig an. »Steuerhinterziehung?«

»Ich habe Business Administration studiert, bevor das mit Seth passiert ist«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Ich musste abbrechen und den Job hier bei deinem Vater annehmen, um die Rechnungen zu bezahlen. Das Aufpassen in der Uni hat sich aber anscheinend gelohnt.«

»Also bringen wir meinen Vater einfach hinter Gitter?« Die Situation fühlte sich auf einmal vollkommen surreal an. Wollte ich das? Wäre das die faire Lösung? Und was würde dann aus mir werden? Was war mit meiner Mutter? War sie auch daran beteiligt oder unschuldig? Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, zu schnell, als dass ich sie alle verarbeiten konnte.

»Das werden wir sehen«, sagte Philip. »Aber es ist die offensichtlichste Lösung.« Er schaute mich etwas mitleidig an. »Wäre das schlimm für dich?«

Wäre es? Ich schluckte. »Weiß ich nicht.«

Ethan stupste mich an. »Vielleicht solltest du deine Großmutter anrufen? Wenn jemand helfen kann, und auf deiner Seite ist, dann sie.«

Ich nickte, zog mein Handy hervor, und wählte, ohne weiter darüber nachzudenken oder zu warten, die Nummer von ihrem Handy.

»Ja?« meldete sie sich.

»Oma, ich bin’s, Josh. Ich brauche deine Hilfe«, brachte ich hervor, und dann erzählte ich alles. Den Tausch, dass Jacob etwas passiert war, und was meinem Vater drohte. Sie hörte mir die komplette Zeit geduldig zu und stellte nur ab und zu Fragen, wenn etwas unklar war, ohne weiter zu kommentieren oder mich unnötig zu unterbrechen.

Als ich fertig war, sagte sie nur knapp: »Ich nehme den nächsten Flieger nach Albany. Bist du bis dahin okay?«

Ich schaute auf Philip, dann auf Ethan und Ian. »Ja, bin ich, Oma.«

»Versucht, bis heute Abend mehr Informationen zu sammeln«, wies sich mich an. »Ich melde mich, sobald ich ankomme.«

»Okay, machen wir. Und danke«, antwortete ich, und dann legte sie auf.

»Was machen wir jetzt?« fragte Ethan.

»Diese komische Schule anrufen, von der Philip denkt, dass Jacob da sein könnte«, schlug Ian vor.

»Und die werden uns einfach so alles sagen, was wir wissen wollen?« fragte ich skeptisch.

Philip befand sich bereits auf dem Weg zurück in das Arbeitszimmer. »Wenn jemand mit der Nummer deines Vaters anruft? Warum nicht?«

Wir folgten ihm und er bedeutete uns, leise zu sein, als er die Nummer wählte.

»Weißt du überhaupt, was du sagen willst?« fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Achseln. »Bekomme ich schon hin.« Dann waren wir still, und Sekunden später hörten wir leise, wie eine Sekretärin ihn mit irgendeinem Standardsatz grüßte.

»Ja, hier spricht Mr. Adams. Ich wollte mich nach meinem Sohn erkundigen.«

Nach einigen Sekunden der Stille wurde Philip plötzlich sehr blass im Gesicht.

»Wie, er ist verschwunden? Ist das Ihr Ernst?«

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Sooo, bald haben wir es geschafft.

Angriff ist die beste Verteidigung


Jacob

36 Stunden zuvor

Es war nach Mitternacht, als wir in Albany landeten. Der Check-out war in kürzester Zeit erledigt und von da an ging es im Taxi weiter. Ich war durch den langen Tag müde und kaputt, und selbst die Sorgen, die ich mir anfangs noch gemacht hatte und der Ärger darüber, dass ich mein Ladekabel vergessen hatte, konnten mich nicht mehr wachhalten. Bereits im Flugzeug hatte ich die letzte halbe Stunde in einem zombiehaften Halbschlaf verbracht und auf der Fahrt konnte mich nichts mehr wachhalten.

Erst das Geräusch einer zuschlagenden Autotür riss mich wieder aus meinem Tiefschlaf. Verpeilt schaute ich mich um, rieb meine Augen und gähnte laut. Als ich das Auto verließ, konnte ich sehen, dass Mr. Adams bereits an der Haustür auf uns wartete. Mit meinem Koffer ging ich den kurzen Weg die Einfahrt runter und zur Tür, doch als ich ins Haus wollte, wurde mir der Weg versperrt.

»Handy«, verlangte Mr. Adams mit versteinerter Miene und streckte seine Hand aus. Ich kramte in meiner Tasche herum, bis ich es fand und überreichte es ihm. Sein starrer Blick erzeugte in mir ein Gefühl, als wäre ich irgendein wertloses Insekt. Er trat zur Seite. »Auf dein Zimmer. Pack einen Koffer. Wir reden später.«

Ich schritt durch den Eingang und den Flur hinunter. An der Treppe drehte ich mich kurz um, und sah, wie er seine Frau begrüßte und ins Haus zog, während er leise auf sie einredete. Anstatt meiner Versuchung nachzugeben und zu lauschen, riss ich mich los und stapfte die Treppe hinauf. In Joshs Zimmer angekommen, legte ich meinen Rucksack ab und schaute mich um. Ich sah sofort, dass der Computertisch und Stuhl anders standen, als ich sie hinterlassen hatte, dachte mir aber erst einmal nichts weiter dabei. Stattdessen schnappte ich mir einen leeren Koffer und stopfte ihn mit Joshs teuren Klamotten voll.

Was konnte wohl geschehen sein, das Mr. Adams zu so einem Verhalten bewegte? Was auch immer es war, sah nicht gut für mich, beziehungsweise Josh aus. Ich war noch einen Moment lang hin- und hergerissen, aber entschied dann, dass es in dieser Situation besser war, auf alles vorbereitet zu sein. Ich öffnete die Tür einen Spalt und lauschte. Mr. und Mrs. Adams waren immer noch im Untergeschoss am Reden, wobei ihre Stimmen aber nun deutlich lauter geworden waren. Schnell schloss ich die Tür und eilte zu Joshs geheimem Versteck. Ich erinnerte mich noch, wie er mir ganz am Anfang erzählt hatte, dass er so viel Geld wie möglich unbemerkt sparte und dort für Notfälle hortete, anstatt es dafür auszugeben, wofür seine Eltern oder Philip es ihm gegeben hatten. Damals fand ich das etwas übertrieben, aber in diesem Moment änderte ich meine Meinung schlagartig.

Ich nahm mehrere hundert-Dollar Noten und stopfte sie in die Tasche einer der Hosen weit unten im Koffer. Dasselbe tat ich mit einem Taschenmesser, das ich dort fand, aber dies ging in eine andere Hose. Plötzlich konnte ich Schritte auf der Treppe hören. So schnell es ging, stopfte ich den Rest der Sachen in den Koffer und zog den Reißverschluss zu.

Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, mich auf das Bett zu setzen und einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck anzunehmen, bevor die Zimmertür schwungvoll geöffnet wurde.

Mr. Adams trat ein, schloss die Tür hinter sich und durchquerte den Raum, um sich vor mir aufzubauen. In seiner Hand waren mehrere Blätter Papier und einige Fotos.

»Kannst du mir das hier bitte mal erklären«, forderte er mit gefährlich kalter Stimme und hielt ein Foto vor mich. Auf der Aufnahme waren Cody, Ethan und Josh im Schwimmbad zu sehen. Cody trug seine Regenbogenbadehose während Ethan und Josh in einer äußerst komischen Umarmung verschlungen waren. Das Ganze sah mehr als nur ein bisschen homoerotisch aus. Ich konnte mir absolut nicht erklären, wie dieses Foto zustande gekommen war, aber schaute Mr. Adams direkt in die Augen und log ohne mit der Wimper zu zucken. »Das war letztes Wochenende. Da habe ich ein paar Leute im Schwimmbad getroffen und wir haben Wasserball gespielt.«

»Aha«, machte er. Es war klar, dass er mir kein Wort glaubte.

Er zeigte mir noch einige weitere Bilder, in denen sich Ethan und Josh immer irgendwie berührten. Es war klar, dass jemand entweder ein Händchen für Fotografie oder sehr viel Glück hatte, um etwas, das für mich aussah, wie normales Ballspielen im Schwimmbad, so sehr aus dem Kontext zu reißen. Oder er hatte unzählige Bilder geschossen, und die besten ausgewählt.

Mr. Adams zog ein Blatt Papier aus dem Stapel, und begann vorzulesen:

»Sehr geehrter Mr. Adams,

als besorgter Mitschüler von Josh fühle ich mich dazu verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass Josh vom rechten Pfad abgekommen ist. Ich habe schon immer vermutet, dass mit Josh etwas nicht stimmt, aber nun, da ich seine abartige Lebensweise mit eigenen Augen beobachten musste, war klar, dass ich Sie davon informieren muss. Die beigelegten Bilder sollten für sich sprechen. Bitte sorgen Sie dafür, dass Josh von seinem Leiden geheilt werden kann…«

»Das ist von Parker, der will mir einfach nur eins reinwürgen, weil er mich nicht ausstehen kann, mehr nicht«, rief ich wütend. Wenn ich dieses Arschloch in meine Finger bekam… So etwas war unverzeihlich, vor allem bei Joshs Eltern. Das Schlimmste dabei war, dass er mit seinen vollkommen idiotischen Anschuldigungen auch gar nicht so falsch lag. Josh hätte vermutlich nicht die Fassung verloren, sondern viel ruhiger, um nicht zu sagen verzweifelter, reagiert, aber das war mir im Moment vollkommen egal.

Schneller als ich gucken konnte, machte Mr. Adams Hand Kontakt mit meinem Gesicht. Es knallte und mein Kopf wurde zur Seite geworfen. »Lüg. Mich. Nicht. An!« brüllte er wutentbrannt.

Ich brauchte einige Sekunden, um mich von der Wucht zu erholen. Langsam hob ich meinen Kopf und starrte ihm trotzig in die Augen. Meine Wange brannte wie Feuer und ich konnte spüren, wie sich langsam Tränen in meinen Augen bildeten. Nicht wirklich vom Schmerz; eher von der Ungerechtigkeit der Situation, die meine Emotionen gnadenlos überwältigte, und der Hilflosigkeit, die sich daraus ergab. »Meine Eltern würden so etwas nie tun«, schoss mir durch den Kopf, und obwohl ich nun in dieser Situation war, tat mir Josh nun umso mehr leid.

Ich wusste nicht, ob das Glitzern der Tränen in meinen Augen inzwischen sichtbar war, wollte es wegblinzeln, aber das hätte Schwäche gezeigt. Stattdessen erwiderte ich weiter Mr. Adams Blick, bewegungslos, und wartete darauf, was er als Nächstes tat.

Er zog ein paar weitere Blätter hervor. »Ich bin schließlich nicht blöd, also habe ich meine eigenen Nachforschungen angestellt.«

Entsetzt starrte ich auf den seitenlangen Ausdruck von einem Browserverlauf. Hatte Josh etwa vergessen, seinen Verlauf zu löschen? Oder wusste Mr. Adams, wie man gelöschte Verläufe wiederherstellen konnte?

»Hot teen boy jerking off«, las er vor. »straight teen lost bet to gay friend? Hast du etwas dazu zu sagen?« Bei den letzten Worten war er wieder am Schreien.

Ich wurde knallrot vor Scham, obwohl ich für diese Suchbegriffe gar nicht verantwortlich war. »Suchten schwule Jungen wirklich nach solchen Dingen?« fragte ich mich noch, als mir gleichzeitig schon klar wurde, dass das offensichtlich der Fall war, sonst wäre es nicht in Joshs Verlauf, was mein Gesicht noch mehr zum Aufflammen brachte. Ich senkte meinen Blick und Mr. Adams schien das als volles Geständnis zu interpretieren.

Er griff meine Haare und zwang meinen Kopf wieder hoch. »Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede«, zischte er.

Ich blieb so wie ich war, bewegungslos, aber dieses Mal konnte ich definitiv Tränen spüren. Sein fester Griff in meinen Haaren schmerze, und ich versuchte, mich möglichst nicht zu bewegen. »Ob es etwas bringen würde, zu sagen, dass ich gar nicht Josh bin?« fragte ich mich, und hasste mich selbst gleichzeitig dafür. »Das würde es nur Schlimmer machen, er würde mir sowieso nicht glauben, und selbst wenn, dann würde Josh das alles hier abbekommen«, beschloss ich, und bereitete mich innerlich auf weitere Schläge vor.

»Dass du es wagst, solche Dinge in meinem Haus zu tun«, zischte er, als ich stumm blieb. Sein Gesicht zeigte, wie er immer mehr die Fassung verlor, und ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Dann kann der nächste Stoß. »Wir hätten dich nie adoptieren sollen.«

Ich starrte ihn entsetzt an. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Wie sehr hätte das Josh zerstört, wäre er jetzt hier gewesen, wenn er mich und Ethan nicht kennengelernt hätte? Wäre das der entscheidende Schlag gewesen, um ihn zu brechen? Oder war ich schuld? Hatte mein Umgang mit Parker ihn überhaupt erst dazu gebracht, den Brief zu schreiben? »Daran muss es liegen, ansonsten wäre das alles hier nie passiert«, realisierte ich.

»So etwas ekelt mich an«, fügte er dann noch hinzu. »Du ekelst mich an. Das wird es ab jetzt in diesem Haus nicht mehr geben.«

Eine unglaubliche Wut stieg in mir auf. Auf mich selbst, auf Parker, aber vor allem auf Mr. Adams, dessen hirnlos-extremistische Einstellung Joshs ganzes Leben zerstörte. Anstatt mich ihm zu fügen, versuchte ich meinen Kopf aus seinem Griff zu lösen. Er schlug mich erneut, und traf diesmal meine Nase. Blut begann auf den Boden und meine Kleidung zu tropfen. Tränen ließen meine Sicht leicht verschwimmen, was mich wiederum noch verzweifelter und vor allem wütender machte. Ohne darüber nachzudenken, drehte ich meinen Kopf und spuckte Mr. Adams Blut ins Gesicht.

In Sekundenschnelle verlor er vollkommen die Kontrolle. Eine Faust traf meine Rippen, dann meine Schulter. Ich wich zurück, stolperte über das Bett hinter mir. Er setzte nach, und ich schaffte es gerade noch, mich schützend zusammen zu rollen, bevor seine Fäuste auf meine Seite und Beine niederprasselten. »Ich muss hier weg«, kam mir noch der entfernte Gedanke, bevor ich Mrs. Adams’ Kreischen hörte, und dann ließ er auf einmal von mir ab.

Ich sank zu Boden und lehnte mich stöhnend gegen das Bett. Joshs Mutter stand zwischen Mr. Adams und mir und schrie auf ihn ein, wobei ich ihre Worte aber nicht wirklich wahrnahm.

Kurze Zeit später griff Mr. Adams den Koffer und Mrs. Adams zog mich an meinem Arm hoch und führte mich die Treppe herab zum Auto. Sie stopfte noch ein paar Taschentücher in mein blutendes Gesicht, bevor sie die Tür zu schlug und sich neben ihrem Ehemann vorne niederließ. Ich dachte kurz darüber nach, wegzulaufen, oder um Hilfe zu schreien, aber dann wurde mir klar, dass so etwas jetzt vermutlich auch nicht mehr viel bringen würde. Die Straßen waren absolut verlassen.

Vorsichtig schnallte ich mich an und fuhr meine Hände langsam über meinen Körper, versuchte alle Finger, Zehen und sonstigen Teile zu bewegen. Glücklicherweise schien ich mir nichts gebrochen zu haben, aber es fühlte sich so an, als wäre jeder Quadratzentimeter mit blauen Flecken übersät. Als meine Nase endlich aufhörte, zu bluten, hatten wir Albany bereits hinter uns gelassen. Ich wunderte mich, wohin wir fuhren, aber traute mich nicht, zu fragen, was vermutlich auch besser so war.

Stattdessen versuchte ich es mir so bequem zu machen, wie es in der Situation nur möglich war. Sobald ich an die Seitenwand des Autos gelehnt und mein Kopf von einem Nackenkissen gestützt war, verdrängte ich all meine Gedanken, um wenigstens ein bisschen Schlaf und Ruhe zu bekommen, und nicht weiter meine Schmerzen fühlen zu müssen.

Die Ankunft auf dem Gelände der christlichen Militärschule bekam ich nur in Ausschnitten mit. Ich war viel zu müde und wurde aus dem Tiefschlaf gerissen, damit ich überhaupt selber gehen konnte. Ich konnte mich nur grob an ein Gespräch zwischen Mr. Adams und einem der uniformierten Mitarbeiter erinnern, und dann war ich auch schon auf irgendeinem Zimmer untergebracht. Ich fragte mich noch, wie Mr. Adams das alles so schnell arrangieren konnte, aber erklärte es mir damit, dass er hier vermutlich irgendwann einmal einen Haufen Spendengelder gelassen hatte.

Das Erste, was ich beim Aufwachen spürte, war ein dumpfer Schmerz, der sich über meinen ganzen Körper zu erstrecken schien. Ich setzte mich vorsichtig auf und schaute mich um. Der Raum war klein und äußerst spartanisch eingerichtet. Neben meinem Bett befand sich lediglich ein Nachtschrank und am Fußende ein Schrank, neben dem mein Koffer stand. Auf der anderen Seite des Zimmers befanden sich in exakter Spiegelung dieselben Möbel. Die Wände waren kahl und weiß.

Ich drehte meinen Kopf zum Fenster und sah eine Reihe von Gebäuden und etwas, das aussah, wie ein Exerzierplatz neben einem Footballfeld. Dahinter war ein Waldrand. Auf dem Spielfeld war gerade ein Match im Gange und auch sonst schien auf dem Gelände viel los zu sein. Ich vermutete, dass ich irgendwo im Norden von New York State gelandet war. Für alles andere wäre die Fahrt zu kurz gewesen. Das Geräusch der sich senkenden Türklinke riss mich aus meinen Gedanken.

Ich versuchte noch schnell, mich wieder hinzulegen und so zu tun, als ob ich schliefe, allerdings erfolglos. »Hey, endlich wach?« begrüßte mich der Junge, und schloss hinter sich die Tür. Er hatte lediglich ein Handtuch um seinen Unterkörper geschlungen, und wandte sich sofort dem Schrank zu, um einige Klamotten hervorzukramen. Ich ließ meinen Blick über seinen Oberkörper gleiten. Er war muskulös und seine Haut wurde von einer Reihe von Narben geziert.

»Hey, wir sind hier nicht im Zoo«, warnte er mich schroff, als er eine Boxershorts griff. »Spannen kannst du woanders.« Und damit fiel das Handtuch zu Boden. Ich senkte sofort meinen Blick. Das fing ja super an.

»Hast dich ja schneller erholt, als die dachten«, stellte er fest, als ich mich wieder aufsetzte. »Ein Wunder, dass sie dich überhaupt in Ruhe haben schlafen lassen. Du hast Glück, dass die heute total unterbesetzt sind, und zusätzlich auch noch Besuchstag ist. Ansonsten würdest du gerade Runden um den Platz draußen rennen, und angebrüllt werden.«

Ich zuckte mit den Achseln, unsicher, was ich antworten sollte.

»Ich bin übrigens Drew«, stellte er sich vor. »Du?«

»Jacob.«

»Und warum bist du hier?« wollte er wissen. »Was hast’ ausgefressen?«

Ich zögerte meine Antwort etwas hinaus, indem ich mich erst räusperte. Sollte ich ehrlich antworten? Was wäre eigentlich eine ehrliche Antwort? »Meine Eltern denken, ich wäre schwul«, vereinfachte ich die Situation schließlich.

»Schwul?« Drew zog eine Grimasse und betrachtete mich mitleidig. »Na dann viel Spaß. Ich halte sonst ja nicht so viel von Schwuchteln, aber mein Beileid. Ihr habt’s hier wirklich nicht leicht. Stell dich lieber drauf ein, hier deinen Mann zu stehen. Memmen kann keiner ab. Und mach alles, was sie dir sagen, besser sofort, ohne herumzudiskutieren. Ignorier den Bullshit, den sie dir erzählen, und die ganze Beterei. Die Gedanken sind frei; da kannst du dir Männerärsche vorstellen wie du willst. Aber versuch wenigstens so zu tun, als ob das ganze Programm hilft, und dich ›auf den rechten Pfad‹ bringt.« Bei dem letzten Teil imitierte er mit seinen Fingern Anführungszeichen und schnitt dabei eine Grimasse. »Je schneller du dich anpasst, desto eher lassen sie dich in Ruhe.«

Ich starrte ihn geschockt an, nicht sicher, ob ich mir wirklich ausmalen wollte, was jemanden wie Josh hier erwartete. »Aber… ich bin nicht schwul, das denken nur meine Eltern.«

Er musterte mich kurz und zuckte mit den Achseln. »Wenn du meinst.« Ich hatte nicht wirklich das Gefühl, dass er mir glaubte.

»Wo sind wir hier genau?« fragte ich ihn.

Er hob eine Augenbraue. »Machst du schon Pläne, abzuhauen?«

Ich lachte gekünstelt, wobei meine Rippen in Schmerz aufflammten und das Ganze in einem Husten enden ließen. »Als ob ich laufen könnte.«

»Also ja«, stellte er ohne mit der Wimper zu zucken fest. »Wir sind etwa zwölf Meilen westlich von Plattsburgh. Nicht dass dir das was bringt. Die fangen dich sowieso wieder ein, und selbst wenn du dich nach Hause oder so durchschlägst, schicken deine Eltern dich erst recht wieder hierher.«

Ich drehte mich auf meinen Rücken und zog die Decke ein Stück hoch. Es war sehr unwahrscheinlich, dass ich hier wieder landen würde. Aber was würde das für Josh bedeuten? Ich unterbrach diesen Gedanken. So gerne ich auch den Märtyrer für ihn gespielt hätte, er würde sich wahrscheinlich schon bald unglaubliche Sorgen machen, wenn er nicht von mir hörte. Irgendeine Lösung würde sich schon finden, um ihn von den Adams wegzubekommen, aber dafür musste ich nach Albany.

So oder so, ich musste hier weg, alleine schon aus Trotz gegenüber Mr. Adams.

»Wie mache ich das am besten?« fragte ich ihn.

Er schaute mich überrascht an, aber als ich seinem Blick standhielt, nickte er schließlich anerkennend. »Du bist verrückter, als ich dachte; aber warum nicht? Ehrlich gesagt ist deine beste Chance, wenn du dir irgendwas Unauffälliges anziehst, einfach aus dem Haus gehst, und dich dann in die Wälder verdrückst. Eigentlich achten die hier schon auf so was, aber heute ist viel los und kaum ein Mitarbeiter weiß, wie du aussiehst.«

»Hm.« Ich stand auf und schaute wieder aus dem Fenster. »Wieviel Zeit habe ich noch, bis die Familien hier wieder verschwinden?«

Drew schaute auf seine Uhr. »Vielleicht noch ein, zwei Stunden. Spätestens beim Abendessen wird man dich vermissen.«

Mit einem Ächzen stand ich auf. Der Schmerz in meinen Beinen hielt sich in Grenzen, aber mein Oberkörper schien mit blauen und grünen Flecken übersät zu sein. Es war ein Wunder, dass nichts gebrochen war. »Danke Drew, du bist der Beste.«

Er winkte ab. »Ja, ja, kein Ding. Wenn sie dich einfangen und wieder hierherbringen, erinnere dich dran, du mir schuldest was.«

»Ich komme nicht wieder«, versicherte ich ihm, während ich in meinem Koffer nach den Geldscheinen und dem Messer suchte. Beides schien übersehen worden zu sein; oder sie hatten meinen Koffer gar nicht durchsucht. Da ich immer noch in denselben Klamotten steckte, wie Samstagmorgen, griff ich mir etwas Frisches, drehte Drew meinen Rücken zu und zog mich schnell um. Ich verspürte das Bedürfnis zu duschen, aber sah ein, dass ich dafür nicht die Zeit hatte. Ich musste so schnell es ging von hier verschwinden, und dabei zählte jede Minute.

Ich steckte Taschenmesser und Geld in die Taschen meiner neuen Hose und bemerkte in genau dem Moment, dass Drew mich dabei gesehen hatte.

»Nicht schlecht«, meinte er. »Wenn deine Eltern den Koffer abgeben, kommt nicht jeder auf die Idee, den zu durchsuchen.«

»Hier«, sagte ich, und steckte ihm zwei hundert-Dollar-Noten entgegen. »Danke nochmal für deine Hilfe.«

»Bist du dir sicher?« fragte er, überrascht von der hohen Summe, auch wenn es offensichtlich war, dass er sie haben wollte.

Ich schnaubte. »Sieh es mal so: Wenn ich erwischt werde, haben wir wenigstens noch 200 Dollar über, anstatt gar nichts. Ist doch auch gut.«

Er nickte zustimmend und grinste. »Danke.«

»Kein Ding«, meinte ich, und fischte noch einmal in meinem Koffer herum. Ganz unten fand ich meine Silberkette, die ich dort am Vorabend versteckt hatte. Sie schien mir im Moment das Wichtigste zu sein, auch wenn sie mir am wenigsten praktischen Nutzen brachte. Vorsichtig legte ich sie mir um den Hals, und schloss den Koffer wieder.

Ich machte mich auf, zu gehen, aber Drew stoppte mich. »Hier, nimm«, sagte er, und hielt mir eine Jacke hin, welche Teil irgendeiner Uniform zu sein schien. »Könnte heute Nacht kalt werden. Viel Glück und so.«

»Danke«, sagte ich, so ausdrucksvoll ich nur konnte. »Aber bekommst du keine Probleme, weil du mir geholfen hast?«

Er lachte nur. »Ach was. Ich sage einfach, du hast sie mir geklaut.« Aber dann zwinkerte er mir zu und ich wusste, er würde versuchen, meine Flucht so lange wie möglich zu verbergen.

Ich verließ das Zimmer und folgte dem Gang und dann einer Treppe nach unten. Der Ausgang war kaum zu verfehlen, aber ich sah dort mehrere Erwachsene stehen. Einige schienen Eltern zu sein, doch einer war offensichtlich ein Mitarbeiter der Einrichtung. Ich atmete tief durch, zwang mich trotz des Schmerzes normal zu gehen und hoffte, dass er mich nicht erkannte.

Er musterte mich kurz, aber schien mich dann als Familienangehörigen eines Schülers abzustempeln. Als ich die Gruppe endlich passiert und das Gebäude verlassen hatte, merkte ich erst, dass ich die Luft angehalten hatte. Mein Herz pochte so laut, als wäre ich gerade eine Meile gerannt. Ich zwang mich, meinen Gang auf eine normale, lässige Geschwindigkeit zu verlangsamen. Um möglichst selbstbewusst zu wirken, hob ich meinen Kopf leicht und machte meinen Rücken gerade.

Die Straße, welche die kleine Ansammlung von Gebäuden gen Westen verließ, war schnell gefunden. Ich hatte mich bereits um die hundert Meter von den Gebäuden entfernt, und beinahe den Wald erreicht, als ich jemanden hinter mir rufen hörte: »Hey du, warte mal!«

Ich blieb stehen und zog kurz eine Grimasse, bevor ich mich betont locker umdrehte. »Was ist denn?« fragte ich den uniformierten Mann.

»Was machst du hier, und warum hast du nicht deine volle Uniform an?«

»Meine Uniform?« fragte ich ihn mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Dann schaute ich an mir herunter. »Oh, die Jacke ist von meinem Bruder«, erklärte ich mit Unschuldsmiene. »Ich hatte gerade einen Streit mit meinen Eltern und brauche ein wenig Zeit, um in Ruhe nachzudenken und runterzukommen. Ein wenig Bewegung und frische Luft hilft mir immer dabei.«

Er starrte mich noch einen Moment lang misstrauisch an, aber nickte dann knapp. »Sieh zu, dass du nicht zu weit läufst. Die Besuchszeit ist bald vorbei.«

Ich zwang mich, zu lächeln. »Okay, ich bin gleich wieder da, nur ein paar Minuten für mich und dann ist alles wieder gut.«

Er schien damit zufrieden zu sein, denn er nickte mir erneut zu und drehte wieder um.

Ich ging nun ein bisschen schneller. Sobald ich außer Sichtweite war, verließ ich den Pfad und wechselte ins Laufen über. Falls ich Pech hatte und der Mann sich fragte, warum ich nicht wieder auftauchte, und eins und eins zusammenzählte, dann würde ich deutlich früher verfolgt werden, als ich gefürchtet hatte.

Etwa eine halbe Stunde später war ich so langsam aus der Puste. Auch der Schmerz, der vom Adrenalin in den Hintergrund gedrängt worden war, machte sich schon seit einiger Zeit wieder bemerkbar. Ich verlangsamte mein Tempo und lehnte mich schließlich für eine kurze Pause gegen einen Baum. Meine Rippen taten mehr weh denn je, und obwohl ich versuchte, den riesigen blauen Fleck auf meinem rechten Oberschenkel zu ignorieren, verursachte er ein leichtes, aber sehr störendes Hinken.

Ich spähte durch die Bäume hinüber zur Straße. Bisher hatte ich versucht, immer möglichst in Sichtweite des Waldwegs zu bleiben, aber dennoch weit genug entfernt, dass ich mich jederzeit ducken oder verstecken konnte, sollte ich ein Fahrzeug hören. Glücklicherweise hatte aber anscheinend bisher niemand meine Abwesenheit bemerkt.

Als sich mein Atem normalisiert hatte, stieß ich mich vom Baum weg und setzte meinen Weg fort. So gerne ich auch möglichst schnell Distanz zwischen die Schule und mich bringen wollte, so konnte ich doch nicht durchgehend laufen. Außerdem war der Waldboden uneben und ich war bereits mehrfach fast umgeknickt. Ein gebrochener Fuß hätte meiner Flucht ein sehr schnelles Ende bereitet.

Als die Nacht anbrach, hatte ich bereits ein beachtliches Stück der Strecke zurückgelegt. Wie weit ich genau gekommen war, konnte ich schwer sagen. Immer wieder hatte ich mich ducken und warten müssen, bis Autos auf der Straße, an die ich mich hielt, vorbeigefahren waren. Außerdem konnte ich mich auf dem Waldboden nur langsam fortbewegen und meine Schmerzen hatten sich auch nicht gerade gebessert. Trotzdem, ich musste bereits um die sechs Stunden am Stück unterwegs gewesen sein, also sollte ich einen großen Teil der Strecke geschafft haben.

Inzwischen war es zu dunkel geworden, um sicher weiterzugehen, und ich brauchte sowieso dringend eine Pause. Das einzige, was mich noch auf den Beinen hielt, war mein monotoner, gedankenloser Gang, der sich seit Stunden nicht geändert hatte. Ich fragte mich, ob es sinnvoll sei, ein Nachtlager aufzuschlagen.

Gab es in diesen Wäldern nicht Wölfe? Ich schüttelte den Kopf, versuchte den Gedanken loszuwerden. Die Chance, auf ein wildes Tier zu treffen, war vermutlich so ziemlich gleich, egal ob ich mich bewegte oder nicht. Das einzige, was mich bisher gestört hatte, waren glücklicherweise Insekten.

Meine Hand fühlte nach dem Messer in meiner Tasche. Viel konnte das sicher nicht ausrichten, doch ich fühlte mich trotzdem ein Stück sicherer in dem Wissen, es an mir zu haben.

Plötzlich stieß mein Fuß gegen einen größeren Stein. Ich kam ins Straucheln und versuchte in letzter Sekunde, den Sturz zu verhindern, nur um mit dem anderen Fuß im Matsch auszurutschen. Mein Bein verdrehte sich und ein lange, schmerzerfüllte Sekunde wurden die Sehnen meines Fußes überstrapaziert. Mit einem dumpfen Aufprall landete ich auf dem Boden.

Mein Rücken tat auf einmal doppelt so sehr weh, während sich in meinem Fuß ein dumpfes Pochen aufbaute. Ich fluchte. Wie konnte ich nur so dumm sein und in absoluter Dunkelheit, tief in Gedanken versunken herumlaufen, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ich trat. Ich brauchte eine Minute, um mich zu erholen, bevor ich die Zähne zusammenbiss und mich vom feuchten Boden erhob.

Vorsichtig trat ich mit dem verletzten Fuß auf, nur um mein Gewicht gleich wieder auf den anderen zu verlagern. Es fühlte sich nicht gebrochen an, aber definitiv verstaucht. »Glück im Unglück«, hätte Ethan jetzt gesagt, aber das half mir auch nicht weiter. Ich humpelte vorsichtig zu dem Stein zurück, über den ich gestolpert war, und prüfte die Oberfläche. Trocken und glatt. Erleichtert ließ ich mich nieder, wischte meine dreckigen Hände an der Hose ab und hoffte, dass der Schmerz bald nachließ.

Da ich mich nicht mehr bewegte, merkte ich schnell, wie sehr es sich inzwischen abgekühlt hatte. Ich schloss den Reißverschluss von Drews Jacke, um mich vor der kalten Brise zu schützen und drückte meine Arme an mich. Als ich eine Weile so gesessen hatte, wurde die harte Fläche unter mir unbequem. Weder weiterzugehen noch hierzubleiben schien mir eine gute Möglichkeit. Ich konnte nur wenig sehen, aber andererseits konnte ich wohl kaum hier die Nacht verbringen. Zum einen hatte ich nichts, wo ich mich auch nur halbwegs bequem hinsetzen konnte, zum anderen wollte ich, wenn ich schon von einem wilden Tier gefunden wurde, dabei wenigstens wach sein.

Vielleicht war das Licht ja auf der Straße etwas besser? Es war riskant, aber wenn wirklich ein Auto kam, dann sollte ich es früh genug hören können, um mich zu verstecken. Mein Kopf zuckte hoch. Schon seit einiger Zeit war in der Ferne ein Rauschen zu hören, aber erst jetzt realisierte ich, was das bedeute. War ich bereits in der Nähe des Highways? Ich musste unwillkürlich grinsen. Wie konnte ich das nur verpasst haben?

Ächzend erhob ich mich von dem Stein. So sehr mir auch alles wehtat und so müde ich auch war, ich würde nicht aufgeben. Meine Augen glitten über die dunklen Umrisse des Waldbodens. Das Mondlicht durchbrach die Baumkronen nur sehr spärlich, aber genug, um einige längere Äste zu finden. Ich wählte die beiden stabilsten, passendsten aus und bearbeitete sie mit meinem Taschenmesser, bis ich zwei improvisierte Krücken hatte.

Behutsam testete ich sie. Ich war deutlich langsamer als zuvor, sah vermutlich total lächerlich aus und die ungewohnte Haltung belastete meine Arme, aber immerhin konnte ich mich fortbewegen. Nach wenigen Minuten hatte ich die Straße erreicht und setzte meinen Weg in Richtung des entfernten Rauschens fort.

Während ich mühsam vor mich hin humpelte, dachte ich darüber nach, was ich in Plattsburgh machen würde. Sollte ich versuchen, ein öffentliches Telefon zu finden, und jemanden anrufen? Schnell verwarf ich den Gedanken wieder. Die einzige Nummer, die ich im Kopf hatte, war die von meinem Zuhause. Da anzurufen würde mir vermutlich wenig weiterhelfen. Um diese Uhrzeit hätte ich meinen Eltern höchstens unnötige Sorgen bereitet und die ganze Nacht wachgehalten. Außerdem wollte ich mich alleine wieder aus diesem Schlamassel retten.

Es war vermutlich extrem starrköpfig und dumm von mir, aber jetzt, nach allem was ich durchgestanden hatte, wollte ich den Rest vom Weg alleine schaffen. Außerdem hatte ich mehr als genug Geld dabei, um einen Fernbus nach Albany zu nehmen.

Es musste mehr als eine Stunde vergangen sein, bis die Straße in den Highway mündete. Der Wald war inzwischen spärlich geworden und auf einem Großteil der Strecke hatte ich vor allem Felder passiert. Von den Lichtern im Norden konnte ich erkennen, dass ich mich nicht weit von der Stadtgrenze befand. Bisher hatten nur zwei Autos die Straße hinter mir passiert und beide Male hatte ich mich problemlos verstecken können. Ob die Polizei bereits meine Vermisstenmeldung erhalten hatte? Oder würde die Militärschule so etwas lieber erst einmal selbst regeln? Vielleicht hofften sie, dass ich in meinem Zustand nicht weit gekommen war und wollten am Morgen eine Suchaktion beginnen?

Mit einem Seufzen setzte ich meinen Weg am Straßenrand fort. Zu dieser Zeit waren sehr wenige Autos unterwegs, aber genug, um mich ein Stück abseits bewegen zu müssen. Ich hatte kein Bedürfnis, herauszufinden, wer zu dieser Uhrzeit anhalten würde, um einen einsamen Jugendlichen mitzunehmen. Schnell erwies sich das aber als schwierig. Der Grund abseits der Straße war schwierig zu passieren und mein Fuß erschwerte das Ganze noch mehr.

Schließlich gab ich auf und ließ mich einfach dort, wo ich war, auf den Boden sinken. Ich war viel zu erschöpft, um weiter zu laufen. So langsam kam ich mir dumm vor. Warum war ich einfach weggelaufen. Hätte ich nicht eine andere Lösung finden können? Sofort unterdrückte ich den Gedanken. Das hätte bedeutet, aufzugeben. Ein kleines bisschen bereute ich es trotzdem.

Stur richtete ich mich wieder auf und versuchte weiterzuhumpeln, trotz Schmerzen und Erschöpfung, nur um gleich wieder zu kapitulieren. Mir war bewusst, dass ich es nicht mehr schaffen würde, ohne längere Pause die Fernbusstation zu erreichen. Ganz davon abgesehen, wusste ich überhaupt nicht, wo die sich befand. Wenn sie am anderen Ende der Stadt war, hatte ich erst recht ein Problem. Vielleicht sollte ich mein Glück doch mit einem der wenigen, vorbeifahrenden Autos versuchen?

Ich setzte meinen Weg näher an der Straße fort, auf dem deutlich besser begehbaren Seitenstreifen. Nur wenige Minuten später wurde mir die Entscheidung abgenommen. Das Scheinwerferlicht eines Autos erfasste mich. Der Wagen überholte mich noch, bremste und hielt ein Stück vor mir mit Blinklicht an. Wäre ich nicht so kaputt gewesen, hätte ich gelacht: Es war ein Taxi.

Unschlüssig blieb ich einen Moment stehen, bevor ich zu dem Auto hinkte. Das Fenster auf der Beifahrerseite war heruntergefahren und als ich hereinschaute, blickte ein älterer Mann zurück. »Können sie mich zur Greyhound Busstation bringen?« fragte ich, als ob an der Situation nichts Ungewöhnliches wäre.

Er musterte mich. Sein Blick war irgendwie gruselig und ich war einen Moment lang versucht, umzudrehen und wegzulaufen. Schließlich nickte er und bedeutete mir einzusteigen. Trotz meiner wachsenden Angst öffnete ich die Tür. Einen Moment lang zögerte ich. Stieg ich gerade wirklich mitten in der Nacht in irgendein Auto auf dem Highway ein? Ich musste verrückt sein. Was der Typ alles mit mir anstellen könnte, wenn ich Pech hatte… Ausgeraubt und auf der Straße sitzengelassen zu werden, war dann noch meine geringste Sorge. Aber für solche Gedanken war es längst zu spät. Ich schluckte und setzte mich ins Auto.

Es folgte ein weiterer, langer und vor allem merkwürdiger Blick, aber dann schloss er das Fenster wieder und fuhr los. Möglichst unauffällig schloss ich meine Finger um das Messer in meiner Hosentasche. Erst als ich es hielt, entspannten sich meine angespannten Muskeln ein wenig. Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück und zum ersten Mal in dieser Nacht hatte ich die Ruhe, um die mondbeschienene Landschaft zu betrachten und irgendeinen Rocksong im Radio zu hören.

Ich versuchte wach zu bleiben, aber langsam wurden meine Augenlider immer schwerer. Der Fahrer hatte noch kein einziges Wort gesprochen und ich fragte mich, ob ich das Ganze vielleicht träumte. War ich im Wald umgekippt und befand mich bereits im Koma? Irgendwie kam mir die Situation unwirklich vor.

Mit einem Ruck schlug ich meine Augen wieder auf. Hatte ich geschlafen? Waren es nur Sekunden gewesen; oder länger? Ich schaute aus dem Fenster und sah Straßenlaternen und Häuser.

»Wir sind gleich da«, kam eine raue Stimme von meiner Linken.

Ich schreckte auf. Der Gurt stoppte meine plötzliche Bewegung und hielt mich mit einem scherzhaften Ruck in meinem Rippen auf meinem Sitz.

Ich brauchte einen Moment, um wieder normal atmen zu können. Aus den Augenwinkeln konnte ich den Taxifahrer schmunzeln sehen. Dann bog das Auto um eine Ecke und bereits aus der Ferne konnte ich die Station sehen. »Was schulde ich Ihnen?« fragte ich; und leckte mir nervös über die Lippen.

Er sah mich mitleidig an. »Ist schon okay, ich wäre sowieso in die Richtung gefahren.«

Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Vielleicht hatten mich die Ereignisse der letzten Stunden und Tagen ein wenig zu paranoid gemacht? Ich schüttelte vehement den Kopf und fischte in meiner Tasche nach einer zwanzig Dollar Note. »Hier.« Ich drückte ihm den Schein in die Hand, als wir am Straßenrand anhielten. »Danke fürs Mitnehmen.«

Ich verließ das Auto, bevor er noch etwas sagen konnte, und ging schnell zu der Busstation. Glücklicherweise gab es einen leeren Warteraum, in dem mehrere Bänke standen. Ein Blick auf den Plan verriet mir, dass der nächste Bus am frühen Morgen, gegen 7:00 Uhr fahren und knapp sechs Stunden nach Albany brauchen würde. Ich ging zum Fahrkartenautomaten und kaufte mir eine Fahrkarte. Laut der Uhr auf dem Display war es Viertel nach vier. Meine Flucht hatte deutlich länger gedauert, als gedacht.

Erleichtert ließ ich mich auf einer Bank nieder und schloss meine Augen. Das Holz unter mir war hart und unbequem, aber ich war inzwischen viel zu müde, als dass ich mich daran gestört hätte. Ich hatte es geschafft; zumindest bis hierhin. Falls die Polizei nicht schon meine Suchmeldung hatte, dann waren die Chancen gut, schon bald wieder in Albany zu sein. Alles andere würde ich dann entscheiden.

Das leise Gespräch von anderen, wartenden Fahrgästen weckte mich aus meinem Schlaf. Es waren zwei ältere Damen, die mich leicht abfällig beäugten, sich dann aber wieder abwandten. Ich musste schrecklich aussehen. Die Sonne war bereits wieder am Himmel und weitere Leuten trafen an der Haltestelle ein. Ich gähnte, streckte mich und wischte mir etwas Sabber aus dem Mundwinkel.

Die wenigen Blicke, die in meine kleine Ecke geworfen wurden, machten mich nervös und verdoppelten das Gefühl von Schmutz und Schweiß auf meiner Haut und den unangenehmen Geschmack in meinem Mund. Schließlich erhob ich mich und ging zur öffentlichen Toilette, um mich, wenn auch mit wenig Erfolg, wieder halbwegs herzurichten.

Der Bus fuhr kurze Zeit später. Ich suchte mir einen Platz weit hinten und machte es mir gemütlich. Drews Jacke diente dabei als ein hervorragendes Polster. Hatte er versucht, mein Verschwinden möglichst lange geheim zu halten? Ob er dafür Ärger bekommen würde? Vielleicht sollte ich ihm, wenn das Alles vorbei war, einen Brief schreiben? Dann übermannte mich auch schon wieder meine Müdigkeit.

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Soo, sorry für die schnellen Posts, aber ich will das jetzt langsam fertig bekommen. :smiley:

Geheimnisse gelüftet


Josh

Nachdem er aufgelegt hatte, ließ Philip sich auf den Chefsessel meines Vaters fallen und seufzte. »Also, die Schule hat die Polizei bereits informiert. Sobald die etwas wissen, werden sie sich hier melden. Deinen Vater haben sie bisher nicht erreichen können, und zum Glück werden sie es jetzt nicht mehr weiter versuchen.«

»Okay, was machen wir jetzt?« fragte ich.

Philip griff sich den Kalender meines Vaters vom Schreibtisch und blätterte kurz darin. »Deine Eltern sind auf einer wichtigen Konferenz. Wir können also ruhig noch ein paar Stunden hierbleiben, falls die Polizei anruft.«

Ich nickte. Das ergab Sinn. Das Letzte, was wir wollten, war, dass mein Vater mitbekam, was vor sich ging und Jacob bei der Polizei abholte. Und sollte die Polizei ihn zuhause nicht erreichen, würden sie es sicherlich auf anderem Wege versuchen.

Ich zog mein Handy hervor und ging zur Tür. »Ich sage kurz Sarah, was los ist.« Als ich im Flur war, wählte ich ihre Nummer und wartete angespannt.

»Hey J, was geht?« meldete sie sich endlich mit verschnupfter, verschlafener Stimme.

»Ähm, wir haben ein Problem.« Ich räusperte mich. »Jacob ist weg.«

»Was meinst du damit? Was ist passiert?« Auf einmal klang sie hellwach.

»Keine Ahnung. Er ist nicht wie verabredet in den Park gekommen. Wir sind jetzt bei mir zuhause. In meinem Zimmer ist Blut auf dem Boden, und Philip meinte, er wäre von der Schule abgemeldet worden.«

»Moment, was? Philip?«

»Ja, der’s anscheinend doch okay. Keine Ahnung, lange Geschichte, ist ja auch egal, aber er ist auf unserer Seite und hilft uns.

Wie auch immer, Philip hat herausgefunden, dass Jacob auf eine Militärschule geschickt wurde, aber als wir da angerufen haben, meinten die, er wäre verschwunden.«

»Oh, Shit«, fluchte sie. »Und jetzt?«

»Wir warten bei mir zuhause auf einen Anruf von der Polizei und hoffen, dass ihm nichts passiert ist.«

»Ich komme vorbei«, meinte sie entschlossen. »Ich muss mich nur schnell fertigmachen.«

»Sarah, du brauchst nicht extra zu kommen, wir schaffen das schon. Du bist krank, ruh dich lieber aus.« Ehrlich gesagt machte ich mir Sorgen, was geschehen würde, wenn mein Vater dennoch vorzeitig nach Hause käme. Ich wollte nicht verantwortlich sein, wenn Sarah auch noch etwas passierte. Das wollte ich ihr aber so nicht sagen.

»Und die ganze Aufregung verpassen? Auf keinen Fall, bis gleich!« rief sie noch, bevor sie auflegte.

Ich starrte einen Moment auf mein Handy, bevor ich seufzte und wieder das Arbeitszimmer betrat.

»… war ein bisschen schüchtern, aber insgesamt lief es extrem gut«, hörte ich Ethan sagen. »Niemand bemerkte irgendetwas; warum auch? Wer würde schon darauf kommen, dass er nicht Jacob, sondern sein Zwilling ist, wenn niemand weiß, dass er überhaupt einen Zwilling hat. Na ja, dann kam jemand an und hat ihn was zu den Französischausaufgaben gefragt. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen!« Ethan lachte und Philip und Ian grinsten amüsiert. »Da haben wir dann auch gemerkt, wie viele Lücken unser Plan hatte. Zur Französischstunde konnte er zumindest schon einmal nicht gehen, ohne dass alles auffliegt.«

Ich setzte mich auf einen freien Stuhl und hörte amüsiert zu, wie Ethan von den vergangenen Wochen erzählte.

Etwa eine Stunde später klingelte Sarah an der Tür. Ich ließ sie herein und sie begrüßte mich mit einer Umarmung. »Ist alles okay?« wollte sie wissen.

»Ich hoffe. Bisher wissen wir noch nichts Neues. Im Moment sitzen wir nur rum und unterhalten uns.«

Als ich sie ins Büro führte, sprach Philip gerade am Telefon.

»Okay, vielen Dank, ich werde mich gleich auf den Weg machen.« Nach einigen weiteren Worten legte er auf und wandte sich uns zu. »Sie haben Jacob gefunden, er war im Bus von Plattsburgh nach Albany.«

Ich atmete erleichtert auf. Den anderen schien es genauso zu gehen. »Fahren wir ihn abholen?«

»Wir werden es versuchen«, meinte Philip, als er aufstand und seine Autoschlüssel hervorkramte.

Die Fahrt schien sich ewig hinzuziehen, was nicht zuletzt daran lag, dass die Polizeistation, am anderen Ende der Stadt lag. Als Philip das Auto endlich geparkt hatte, drehte er sich zu uns um. »Ihr bleibt am besten hier und wartet.«

»Ich komme mit«, widersprach Sarah sofort.

Er betrachtete sie mit abschätzendem Blick. »Okay, aber nur du.«

Nachdem die beiden das Auto verlassen hatten, sprach Ethan. »Ich bin froh, dass sie ihn so schnell gefunden haben.«

»Wäre besser gewesen, wenn er es so zu uns geschafft hätte«, erwiderte ich mit verschränkten Armen.

»Ja, aber was meinst du, was alles hätte passieren können.« Ethan schauderte. »Ich würde jedenfalls nicht freiwillig nachts durch den Wald und am Highway langlaufen.«

»Ich frage mich, wie er das überhaupt in der Zeit geschafft hat«, meinte Ian. Wir hatten uns in der Wartezeit angeschaut, wo die Schule war. Ich musste ihm recht geben. Das war eine ziemliche Leistung, und von dem Blut in meinem Zimmer her zu urteilen, war er vermutlich auch nicht gerade in bester Verfassung gewesen.

»Ich hoffe, es geht ihm gut«, meinte Ethan leise. Ich traute mich nicht, darauf etwas zu erwidern, sondern nickte nur zustimmend.

Einige Zeit später verließen Philip und Sarah die Polizeistation wieder. Jacob war allerdings nirgendwo zu sehen. Ich schnallte mich ab und stieg aus dem Auto. »Wo ist er?«

»Nur Familie darf ihn abholen«, antwortete Philip missgelaunt. »Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass ich im Auftrag deines Vaters hier bin, aber das hat genau gar nichts gebracht.«

»Na super«, stöhnte ich. »Und jetzt?«

»Jetzt warten wir auf deine Großmutter«, grinste Philip. »Die ist ja schließlich Familie.«

»Wir können solange zu mir nach Hause fahren«, warf Ian ein. »Meine Eltern sollten Bescheid wissen.«

Ich schluckte, aber nickte dann langsam. »Okay. Du hast recht.«

Auf der Fahrt zu Jacobs Familie lehnte ich mich zurück und schloss meine Augen. Die letzten Wochen war wie im Flug an mir vorbeigezogen und es gab nie die Zeit, um stehenzubleiben und wirklich zu reflektieren. Erst am Ende des vergangenen Wochenendes hatte ich so wirklich angefangen, die Geschehnisse als Realität, und nicht als Traum, zu akzeptieren.

Rollen mit Jacob zu tauschen war im Rückblick eine ziemlich verrückte Idee gewesen. Wie ich mich getraut hatte, das durchzuziehen, konnte ich mir immer noch nicht erklären. Nachdem ich aber dann den Sprung in das kalte Wasser gewagte hatte, genoss ich es dermaßen, dass ich gar nicht mehr zurücktauschen wollte.

So zu tun, als wäre ich Jacob, gab mir eine Selbstsicherheit, die ich sonst nie gekannt hatte. Seine Familie liebte ihn, er hatte Freunde und wurde respektiert. Sein Leben war vielleicht nicht perfekt, aber verdammt nah dran. Gleichzeitig schien Jacob überraschenderweise aber auch Teile meines Lebens zu genießen. Für jemanden wie ihn war der Reichtum meiner Familie auf den ersten Blick sicherlich anziehend. In anderen Teilen hatte er sich aber bestimmt auch für mich geopfert; etwas das ich ihm wohl nie angemessen vergelten könnte, insbesondere wie er sich für mich gegen Parker eingesetzt hatte.

Zuerst hatte ich mich mit ihm darüber gestritten, aber inzwischen war mir dies alles egal. Parker konnte mir am Arsch vorbeigehen und ich war nur noch froh, dass ich so jemanden wie Jacob hatte, der auf meiner Seite stand, egal was passierte. Und dann hatte ich noch Ethan kennengelernt und mich in ihn verliebt. Seit dem Nachmittag im Park existierte etwas Besonderes, Unausgesprochenes zwischen uns und ich hoffte, dass sich daraus mehr entwickelte. Alles lief unglaublich gut, viel besser, als ich es mir je erhofft hätte.

Am Sonntagabend hatte Jacob sich dann aber nicht gemeldet und am Montag war er nicht aufgetaucht. Irgendetwas musste passiert sein, das meinen Vater dazu gebracht hatte, Jacob zu verprügeln und auf eine Militärschule zu schicken. Oder vielleicht war er einfach endgültig durchgedreht. Sehr überrascht hätte mich das bei ihm nicht.

Würde Jacob mir das je vergeben können? Ich war schließlich schuld an dem, was ihm passiert war. Das Schlimmste daran war, dass es eigentlich mich hätte treffen sollen. Hätten wir nicht Rollen getauscht, uns nie getroffen, wäre ihm all das vermutlich erspart geblieben. Wäre doch bloß ich an seiner Stelle gewesen.

Ich hoffte wirklich, dass Jacob mir das Ganze nicht so sehr übel nahm, dass er nicht mehr mit mir reden oder komplett den Kontakt abbrechen würde. Grund dazu hatte er. Nach einigem Nachdenken realisierte ich allerdings, dass er gar nicht unbedingt derjenige war, um den ich mir Sorgen machen musste. Seine Familie hingegen war ein viel größeres Problem.

Ich schaute zu Ian herüber und ließ meine Augen einen Moment lang auf seinem Gesicht verweilen. Überraschenderweise wandte er mir seinen Kopf zu und erwiderte meinen Blick mit einem bekräftigenden Lächeln.

Ich versuchte, verlegen zurückzulächeln, doch es endete eher in einer Grimasse. Über ihn musste ich mir zum Glück keine allzu großen Sorgen machen. Er hatte all dies verhältnismäßig gut aufgenommen und schien zumindest vorübergehend damit klarzukommen.

Conrad hingegen war eine ganz andere Geschichte. Wenn er herausfand, dass ich schwul war und im gleichen Zimmer geschlafen hatte… Ich schüttelte meinen Kopf, als ob mir das dabei helfen würde, den Gedanken zu vertreiben.

Jacobs Eltern hingegen… Einerseits war ich mir sicher, dass sie mich schon irgendwie, in irgendeiner Form, akzeptieren würden. Etwas anderes war bei ihnen kaum vorstellbar. Andererseits nagte trotzdem eine gewisse Angst an mir, dass sie mich verstoßen würden; dass sie Jacob und mir die Täuschung übelnehmen würden.

Was würde ich tun, wenn unser kleiner Spaß, der Rollentausch, der sich zu so einer riesigen Aktion und vor allem so einer Dummheit entwickelt hatte, nach hinten losging, und mich sowohl meine eigene als auch Jacobs Familie kostete?

Vielleicht wäre Philip bereit, mir zu helfen? Ansonsten könnte ich noch zu meiner Großmutter gehen, aber das würde gleichzeitig auch die Trennung von Jacob bedeuten; und, mindestens genauso schlimm, von Ethan.

»Wir sind da«, verkündete Philip, während er das Auto parkte. Ich schloss die Augen und atmete tief durch.

»Alles okay mit dir?«

Sarahs ruhige Stimme und besorgter Blick hielten mich von einem »Ja, alles gut.« ab. Stattdessen hielt ich einen Moment inne und räusperte mich. »Ich glaube, ich mache mir einfach zu viele Sorgen. Das wird schon irgendwie. Hoffe ich.«

»Na dann mal los«, seufzte Philip. Wir folgten ihm zur Haustür, wo ich meinen Schlüssel hervorzog, um die anderen hereinzulassen. Auf der Treppe waren alle still, sodass man von oben das Klappern von Töpfen und Geschirr hören konnte.

Erst an der Wohnungstür wurde mir bewusst, wie gewohnt das Treppenhaus, die Wohnung, eigentlich alles dort, war, und das, obwohl erst ein paar Wochen seit Beginn unseres Rollentausches vergangen waren. Für mich war es seitdem fast selbstverständlich geworden, beinahe wie eine Art zweites Zuhause. Ich unterdrückte einen weiteren Anfall von Schuldgefühlen, schluckte, und öffnete die Tür.

Vor dem Eintreten zögerte ich. Zuvor hätte ich so etwas wie »Mama, ich bin Zuhause«, gerufen, aber das schien jetzt mehr als unangemessen. Die Entscheidung wurde mir von Jacobs Mutter abgenommen. »Essen ist gleich fertig«, rief sie, bevor sie in der Tür zur Küche erschien. »Jacob…« Sie schaute etwas überrascht in die nicht ganz so kleine Runde. »Sarah, Ethan? Hast du nicht noch Sport, Ian? Ist etwas passiert?«

»Kann man so sagen«, meinte Ian. »Können wir beim Essen darüber reden?«

Jacobs Mutter nickte langsam. »Okay, warum nicht. Wascht eure Hände, schnappt euch ein paar Teller, wir essen im Wohnzimmer; da ist mehr Platz.«

Nachdem sich alle die Schuhe ausgezogen und die Hände gewaschen hatten, halfen wir, den Tisch im Wohnzimmer zu decken. Conrad kam kurze Zeit später dazu, blieb aber glücklicherweise ruhig und setzte sich zu uns.

Zuletzt kam Jacobs Vater aus der Küche, ließ sich am Kopfende nieder und sprach ein kurzes Tischgebet. Ich hatte das zuvor noch nie bei Jacobs Familie erlebt. Der Gedanke, dass selbst seine Eltern ein gewisses Bedürfnis hatten, einen guten Eindruck bei Besuch zu machen, lenkte mich einen Moment von der Situation ab und ich musste ein Augenrollen unterdrücken. Immerhin war es lange nicht so schlimm, wie bei meinen Eltern.

Während Jacobs Vater die Teller mit Spagetti belud, rutschte ich unruhig auf meinem Platz herum. Schließlich räusperte ich mich. »Ähm, das ist übrigens Philip«, bemerkte ich mit einer Geste in seine Richtung.

Jacobs Mutter schaute mich ein wenig merkwürdig an. Vermutlich wegen des Altersunterschiedes, realisierte ich. »Ein neuer Freund von dir? Oder… von Ian?« fragte sie schließlich.

»Ähm, also…« begann Ian.

»Ich bin in Wirklichkeit gar nicht Jacob«, platze es aus mir heraus, bevor Ian weitersprechen konnte.

Einen Moment lang herrschte Totenstille am Tisch. Dann begannen alle gleichzeitig zu sprechen.

»Was soll das heißen?« verlangten Jacobs Eltern.

»Er meint damit…«, begann Ian.

»Was zur Hölle«, war alles, was Conrad von sich gab.

»Ruhe!« rief schließlich Philip.

Als alle auf einen Schlag verstummten, räusperte er sich verlegen. »Also, Jacob ist adoptiert, richtig?«

»Dachte ich mir doch«, kommentierte Conrad sofort. Sein Blick glitt zu Ian herüber, als ob er auf eine Art Bestätigung wartete. Der allerdings war zu angespannt, um das überhaupt zu bemerken.

Ich schaute besorgt zu Jacobs Eltern hinüber. Die guckten sich verlegen an, dann blickte Jacobs Vater in die Runde und nickte langsam. »Ja, das stimmt.«

»Wieso habt ihr das eigentlich nie gesagt?« fiel Ian aufgebracht ein. »Haben wir nicht ein Recht, das zu wissen? Hätte Jacob das nicht wissen sollen?«

»Wir… wir wollten es, aber es lief alles so gut und wir wollten keine unnötigen Probleme verursachen, wo keine sind, also haben wir es immer weiter aufgeschoben. Das tut uns wirklich leid«, versuchte Jacobs Mutter an mich gewandt zu erklären. Dann senkte sie ihren Blick.

Als keiner etwas erwiderte, räusperte Jacobs Vater sich. „Wir wollten es euch nicht verheimlichen, aber ihr habt euch so gut verstanden…“ Man merkte, dass er zwar seiner Frau zur Hilfe eilen wollte, aber nicht so recht wusste, was er sagen sollte. „Irgendwann…“ Seine Worte hatten offenbar seine Gedanken überholt und er sah wortlos in die Runde. Nur einen Moment herrschte Stille. Dann hatte sich Mrs. Baker wieder gefasst und sprach mit ihrer sanften Stimme weiter, die alle Sorge von einem wischte: »Aber was hat das damit zu tun? Wer bist du, wenn du nicht Jacob bist? Meinst du damit, dass du ursprünglich einen anderen Namen hattest? Wie hast du überhaupt herausgefunden, dass du adoptiert bist?«

»Ähm, nein.« Ich schluckte, versuchte, Zeit zu gewinnen. »Ähm, also… die Sache ist, dass ich, na ja, dass ich halt Jacobs Zwilling bin… ich habe Ethan im Schwimmbad getroffen und er hat uns einander vorgestellt, also Jacob und mich.« Unter den Blicken der anderen begann ich, beinahe wie im Scheinwerferlicht zu schwitzen und redete immer schneller. »Dass wir adoptiert sind, war die logischste Schlussfolgerung. Wir haben uns entschieden, es erst einmal geheim zu halten, zumindest bis wir mehr wissen… nur Ethan und Sarah wussten Bescheid. Dann sind wir auf die Idee gekommen, Rollen zu tauschen. Nur ein bisschen, solange wir das noch konnten. Als wir das einmal angefangen hatten, wollten wir gar nicht mehr aufhören. Es tut mir wirklich leid, das hätten wir nicht tun sollen. Ich habe hier geschlafen, gegessen, so getan als wäre ich Jacob. Ich habe euch alle getäuscht. Das war falsch und wenn ich es rückgängig machen könnte, dann würde ich.«

Ich zwang mich zu stoppen, als ich merkte, wie emotional ich geworden war. Mein Blick war auf meine Hände gefallen und nachdem ich meine drohenden Tränen heruntergeschluckt hatte, zwang ich mich, Jacobs Eltern anzusehen. »Tut mir wirklich leid, das hätte ich nicht tun sollen. Ich hoffe, ihr könnt meine Entschuldigung annehmen und erlaubt mir, weiter mit Jacob in Kontakt zu bleiben.«

Nach einer gefühlten Ewigkeit in geschockter Stille erhob Jacobs Mutter sich, ging zu mir herüber und zog mich in ihre Arme. Zuerst versteifte ich mich, doch nach einiger Zeit schaffte ich langsam, mich zu entspannen und die Umarmung anzunehmen. Ein unwohles Gefühl im Magen hatte ich trotzdem noch.

»Tut mir wirklich leid«, wiederholte ich mich.

»Ist schon gut«, erwiderte sie leise, während sie mich weiter hielt. »Wenn du Jacobs Zwilling bist, dann bist du praktisch Familie. Vielleicht war es nicht besonders schlau, aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Bald können wir sicher alle darüber lachen.« Ich musste mich räuspern, versuchte erneut, meine Tränen zurückzuhalten. Endlich ließ sie los und ich wusste nicht so genau, ob ich darüber froh oder traurig sein sollte. Mit einem Blick in meine Augen scherzte sie: »Nächstes Mal sagst du uns aber vorher Bescheid.«

Ich musste fast ein wenig lachen. Sie hatte dieses unglaubliche Talent, jeden zu beruhigen und dafür zu sorgen, dass sie sich besser fühlen. »Okay, wird gemacht. Danke«, versprach ich.

»Wie heißt du denn dann, wenn nicht Jacob?« wollte sie wissen.

»Josh.« Es fühlte sich unwirklich an, meinen eigenen Namen auszusprechen.

»Willkommen in der Familie, Josh.« Sie zog mich in eine weitere Umarmung, bevor sie mich endgültig losließ und sich zurück auf ihren Platz begab.

Jacobs Vater nickte mir währenddessen wohlwollend zu und wandte sich dann Philip zu. »Also, wer bist du dann, wo ist Jacob und warum seid ihr alle hier?«

»Ich bin Philip und habe für Joshs Vater gearbeitet…«

»Hast gearbeitet? Vergangenheit?« unterbrach ich ihn.

Philip schnaubte. »Nun ja, nach allem, was heute passiert ist, bezweifle ich, dass ich weiter für ihn arbeiten kann, geschweige denn, dass ich es will.«

»Was ist mit Jacob?« erinnerte Mr. Baker uns ungeduldig. Man konnte ihm anmerken, dass, auch wenn er meist das Reden seiner Frau überließ, er nun, da es um seinen Sohn ging, ein starkes Bedürfnis hatte, sich einzumischen.

»Ja… ähm, Jacob ist im Moment bei der Polizei, wir waren schon da und haben versucht, ihn abzuholen, aber das darf nur Familie, also entweder mein Vater, oder meine Großmutter. Und ihr könnt ihn nicht abholen, weil die ja denken, dass er ich ist.« Ich sprach so schnell es nur ging. »Meine Großmutter ist unterwegs hierher aus Washington D. C., weil der Grund dafür, dass Jacob bei der Polizei ist, vermutlich mein Vater ist, weil er ihn auf eine Militärschule verschifft hat, weil er dachte, dass Jacob ich wäre, und nicht Jacob. Aber wir wissen nichts Sicheres. Also hoffen wir erst einmal, dass sie bald da ist, und dann schauen wir weiter. Apropos…« Ich zog mein Handy hervor, vor allem, um nicht die Reaktion auf meine Worte sehen zu müssen. Tatsächlich hatte ich eine neue SMS.

»Jap. Meine Großmutter hat mir vorhin geschrieben. Sie ist in etwa einer halben Stunde am Flughafen und fragt, wo sie hinkommen soll.«

»Sag ihr, wir kommen sie abholen«, schlug Philip vor. Ob er das im Sinne meiner Großmutter entschied oder einfach nur, um der Situation zu entkommen, wusste ich nicht genau, aber ich war über den Vorschlag froh.

»Moment mal«, protestierte Jacobs Vater. »Was genau ist passiert?«

»Das wissen wir doch selber nicht«, erwiderte ich, wobei ich versuchte, die Verzweiflung in meiner Stimme so gut es ging zu unterdrücken. »Jacob ist bei der Polizei. Aus irgendeinem Grund wurde er von meinem Vater auf eine Militärschule geschickt und ist dort weggelaufen. Alles andere kann nur er uns erzählen, und um ihn bei der Polizei abzuholen, brauchen wir meine Großmutter, die gleich am Flughafen ankommt.« Dass mein Vater Jacob vermutlich verprügelt hatte, ließ ich erst einmal lieber weg. Das hätte die ganze Situation noch viel komplizierter gemacht und uns weiter aufgehalten. Philip schien ähnlich zu denken, denn er warf mir einen wissenden Blick zu und nickte leicht.

»Okay, wir kommen mit«, entschied Jacobs Mutter. »Wir räumen hier nur schnell auf und dann geht es los.« Das Essen war inzwischen so gut wie komplett vernichtet, also dauerte es keine fünf Minuten, bis der Tisch abgewischt war und wir das Haus verließen.

Ich stieg wieder mit Philip, Ethan und Sarah ins Auto, während Ian und Conrad mit ihren Eltern fuhren. Unterwegs herrschte eine angespannte Stille. Ich wusste nicht, worüber Jacobs Familie während der Fahrt geredet hatte, aber die Anspannung hielt sich, bis wir am Flughafen meine Großmutter beim Check-out sahen.

»Josh, schön dich zu sehen«, begrüßte sie mich, während sie mich in eine formelle Umarmung zog.

»Oma! Danke, dass du gekommen bist.«

Sie schaute mich ernst, beinahe scheltend an. »Selbstverständlich, Josh. Du bist Familie, ob adoptiert oder nicht.«

Ich umarmte sie sofort wieder. »Danke«, flüsterte ich, und kurz danach: »Wusstest du davon?«

Sie löste sich von mir, sodass sie mir in die Augen schauen konnte, während sie antwortete. »Nein. Deine Mutter war zu der Zeit nach mehreren Fehlgeburten wieder schwanger und deine Eltern waren fast dauerhaft verreist. Auf einmal war sie wieder im Land und hatte dich dabei. Ich erinnere mich kaum noch, aber einige Sachen kamen mir damals schon komisch vor. Wie auch immer, im Nachhinein ergibt einiges mehr Sinn, allerdings habe ich es nie direkt vermutet. Das macht aber nichts, wie ich schon gesagt habe, du gehörst trotzdem zur Familie. Jetzt musst du mich aber erst einmal den anderen vorstellen und mir sagen, wie ich helfen kann. Wisst ihr schon, wo dein Zwillingsbruder ist?«

»Ja, Jacob ist bei der Polizei, aber nur du oder meine Eltern können ihn abholen. Mein Vater weiß zum Glück bisher nichts davon. Die anderen sind Sarah und Ethan, Freunde von Jacob, Ian und Conrad, Jacobs große Brüder, und das sind seine Eltern, Peter und Mary Baker, und Philip, von dem hast du ja schon gehört.«

Bei jedem Namen zeigte ich auf die jeweilige Person. Sie nickte allen freundlich zu und wandte sich dann Jacobs Eltern zu. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Margery Adams, Joshs Großmutter.«

»Ebenso, und danke, dass Sie so schnell hierhergekommen sind, auch wenn wir noch gar nicht so wirklich verstehen, was hier eigentlich vor sich geht«, erwiderte Mrs. Baker, wobei sie immer noch etwas überwältigt wirkte.

»Ich habe vermutlich kaum mehr Ahnung«, stellte meine Großmutter fest. »Aber jetzt müssen wir erstmal Jacob abholen und uns überlegen, was aus Josh wird. Wären Sie bereit, ihn für ein oder zwei Tage bei sich aufzunehmen?«

Ich wollte gerade einwenden, dass sie wohl kaum den Platz dafür hatten, als Jacobs Mutter schon antwortete: »Aber natürlich können wir das machen. Brauchen Sie auch eine Unterkunft?«

»Ach nein, aber danke. Ich nehme mir ein Zimmer im Hotel, bis sich alles geklärt hat«, erwiderte meine Großmutter. »Josh, würdest du gerne bei den Bakers schlafen oder lieber im Hotel?«

»Bei Jacob«, antwortete ich sofort. Ich war unglaublich froh, dass ich zumindest erst einmal nicht zu meinen Eltern zurückkehren würde, und dankbar, dass meine Großmutter dieses Problem so schnell erkannt und beseitigt hatte. Ian und Conrad bereiteten mir noch ein wenig Sorgen, aber für den Moment verdrängte ich das erst einmal.

Sie nickte mir verständnisvoll zu. »In Ordnung, dann würde ich vorschlagen, dass ihr zu dir nach Hause fahrt und alle deine Sachen holt.« An Jacobs Eltern gewandt fügte sie hinzu: »Und wir nutzen die Zeit. um Jacob abzuholen und uns in Ruhe zu unterhalten. Ist das für alle akzeptabel?«

»Klingt gut«, antwortete ich sofort. Als niemand etwas Gegenteiliges sagte, machte ich mich mit Philip, Ethan und Sarah auf den Weg zum Auto.

Der Tag ging bereits auf den Abend zu, als wir endlich wieder beim Haus meiner Eltern ankamen. Die Einfahrt war glücklicherweise noch leer; mein Vater war also immer noch nicht da.

»Haben wir noch genug Zeit?« fragte ich, während Philip das Auto in der nächsten Seitenstraße parkte. Warum er das tat, wusste ich nicht, aber ich hinterfragte es auch nicht weiter. Vermutlich wollte er, dass, falls mein Vater zurückkam, wir noch eine Möglichkeit hatten, wieder abzuhauen, ohne direkt gesehen zu werden.

»Sollte reichen«, meinte er. »Wir beeilen uns einfach. Normalerweise dauern seine Konferenzen ja relativ lange.«

Diesmal betraten wir das Haus mit Philips Schlüssel durch die Vordertür. Der Flur war unheimlich still und, im Vergleich zu der sommerlichen Hitze draußen, unnatürlich kühl. Philip kam als letzter herein und schloss die Tür hinter sich. Ohne groß zu warten, ging ich die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, während die anderen mir folgten.

Es befand sich immer noch in genau dem gleichen Zustand, in dem wir es nur wenige Stunden zuvor verlassen hatten. Ich tat einen Schritt in den Raum und blieb dann abrupt stehen. Ethan hinter mir musste sich bremsen, um nicht in mich hineinzulaufen, doch das nahm ich nur am Rande wahr.

Das war es also. Der Tag war gekommen, an dem ich mein Elternhaus verließ. Vielleicht sogar endgültig? So wirklich störte mich der Gedanke nicht, und doch war es äußerst komisch, dies alles hinter mir zu lassen. Trotz all ihrer Fehler, aller Probleme und Ängste, die sie mir bereitet hatten, waren meine Eltern immer noch meine Eltern; adoptiert oder nicht macht da am Ende keinen wirklichen Unterschied. Auch wenn sie sich nie wirklich um mich gekümmert hatten und wahrscheinlich angewidert wären, wenn sie von meiner Sexualität wüssten, so war es doch kein kleiner Schritt, und vor allem keiner, den ich unbedacht gehen wollte.

Ich schloss meine Augen und atmete zwei, drei Mal tief durch. Ethan legte seine Hand von hinten auf meine Schulter und drückte sie sanft, beinahe als könnte er meine Gedanken lesen. Mit einem leisen Seufzer ging ich weiter in das Zimmer. Sofort fühlte ich mich ein wenig befreiter, aber gleichzeitig auch, als hätte ich ein Stück von mir verloren, dass ich nie zurückholen konnte. »Dann mal los«, sagte ich in den Raum vor mir und versuchte dabei, zumindest halbwegs enthusiastisch zu klingen.

»Wie können wir dir helfen?« wollte Sarah wissen. Sie gluckste. »Soll ich anfangen, deine Unterwäsche zu packen?«

Ich drehte mich um und rollte mit den Augen. »Ganz bestimmt. Im Schrank neben der Tür zum Bad sind Reisetaschen, Rucksäcke und ein Koffer. Philip, kannst du bitte mit Sarah die Playstation und den Computer zusammenpacken? Ethan, hilfst du mir mit meinen Klamotten?«

»Ist das nicht ein bisschen viel Kram?« meinte Sarah mit einem Blick auf all die Kabel.

»Quark«, antwortete ich, während ich zum Schrank mit den Taschen ging. »Den lasse ich auf keinen Fall hier.« Ich kramte kurz und warf ihr dann eine große Reisetasche zu. »Pack hier einfach alles rein, auch den Monitor. Den PC tragen wir so und was noch an Platz über ist, füllt ihr einfach mit Spielen und Filmen auf.«

Ich schnappte mir meinen Koffer und ging hinüber zum Kleiderschrank. Ethan ergriff die Initiative und begann, meine Klamotten so effizient wie möglich zu verstauen, während ich mein Versteck checkte. Ich bemerkte sofort, dass Jacob Geld genommen hatte. Das erklärte jedenfalls, wie er so schnell wieder nach Albany gekommen war. Mit einem Schulterzucken steckte ich den Rest zusammen mit einigen alten Bildern von mir als Kind, die ich dort verstaut hatte, in meine Tasche. Zuletzt griff ich noch mein allererstes Kuscheltier, ein Nilpferd, das ich schon vor Ewigkeiten hatte verstecken müssen, damit mein Vater es mir nicht wegnehmen konnte. Es kam mir beinahe ein wenig albern vor, aber ich konnte mich irgendwie auch nicht dazu durchringen, es zurückzulassen.

Als ich aufschaute, waren die anderen so gut wie fertig. Philip kämpfte noch mit dem LAN-Kabel, während Ethan versuchte, die letzten Luftlücken mit Socken vollzustopfen. Ich wollte gerade zum Bücherregal gehen, um eine weitere Tasche mit meinen Lieblingsbüchern zu füllen, als ich ein Knarren auf der Treppe hörte.

»Pscht!« Ich versuchte so schnell es ging, die anderen zum Verstummen zu bringen. Sie schienen das Geräusch ebenso wahrgenommen zu haben und außer meinem Zischen, war nichts im Raum zu hören. Ich schaute mich langsam um, während weitere Schritte auf der Treppe zu hören waren.

Alle standen beinahe wie zu Salzsäulen erstarrt da und ich begann, innerlich zu beten, dass es nicht mein Vater sei, obgleich ich schon wusste, dass es gar niemand anderes sein konnte. Vorsichtig zog ich mein Handy aus der Tasche, bedacht darauf, möglichst keine Geräusche zu erzeugen.

Die Eingabe des Zahlencodes schien schier endlos zu dauern und ich vertippte mich zweimal, bevor ich endlich auf »SMS« drücken konnte. Wie immer, wenn man mal wirklich schnell etwas brauchte, hängte das Handy sich erst einmal fast auf. Ich unterdrückte ein Stöhnen und begann gleichzeitig, mir Selbstvorwürfe zu machen. Warum waren wir gerade jetzt wieder hierhergekommen? Was, wenn mein Vater immer noch wütend war? Warum hatten wir sein Auto nicht gehört? Ich hätte mich nicht so ablenken lassen dürfen, sondern hätte besser aufpassen müssen.

Endlich funktionierte das Handy wieder richtig und ich wählte sofort die Konversation mit meiner Großmutter und begann zu tippen.

Die Tür sprang plötzlich auf und knallte gegen die Wand. Der Lauf einer Handfeuerwaffe wurde in den Raum gehalten und halb hinter der Ecke in Deckung stand mein Vater. »Hände hoch«, brüllte er. »Einbrecher und…« Aber weiter kam er nicht. Er hatte sich ein Stück vorwärtsbewegt und dabei unsere Gesichter gesehen.

»Josh?« Seine Stimme war ungläubig und er senkte den Revolver ein Stück. Dann wechselte sein Blick zu Philip, und zurück zu mir, und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn.

Als er seinen Mund öffnete, um loszubrüllen, und anfing, wild mit der Waffe zu fuchteln, nutzte ich verzweifelt die Gelegenheit, um hinter meinem Rücken auf »Senden« zu drücken.

HILFE

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Ein Ende mit Schuss


Jacob

Die Cola-Dose zerknitterte mit einem knisternden Geräusch in meiner Hand. Sie ließ sich einfach zerdrücken; beinahe ein bisschen zu einfach. Ich war versucht, sie gegen die Wand zu schmeißen, beherrschte mich aber gerade noch so und zielte stattdessen auf den Papierkorb neben der Tür. Einige Momente hielt ich sie so, überlegte, ob ich wirklich werfen sollte.

Wie lange saß ich hier schon herum? Vier, fünf, sechs Stunden? Ich erinnerte mich kaum noch daran, wie ich hierhergekommen war. Als der Bus endlich in Albany angekommen war, hatte mich ein älterer Mann aus meinem Tiefschlaf gerissen. Er hatte dabei einige unfreundliche Worte vor sich hingemurmelt und mich wie ein Insekt angeschaut. Ich hatte mich widerwillig bei ihm bedankt und war schlaftrunken aus dem Bus getaumelt - direkt in die Arme von zwei wartenden Polizisten.

Ich hatte nicht einmal versucht, davonzulaufen oder groß zu diskutieren. Dafür war ich viel zu müde gewesen. Stattdessen hatte ich mit meinen Schultern gezuckt und in einem eher dramatischen Move meine Hände hingehalten, als ob ich das Anlegen der Handschellen schon erwartete. Die Beamten hatten ein wenig lachen müssen.

Im Polizeiauto war ich so gut wie sofort wieder eingeschlafen. Erst auf der Wache, als sie mich durchsuchten und in irgendeine Abstellkammer brachten, die aussah, wie ein überholter Vernehmungsraum, war ich so halbwegs wieder wachgeworden.

Man hatte mich kurz auf eine Toilette gelassen und mir sogar ein feuchtes Tuch gegeben, mit dem ich endlich die längst getrockneten Blutreste an meiner Nase abwischen konnte. Ich hatte überall Schrammen von meinem nächtlichen Spaziergang durch den Wald und roch vermutlich wie ein Stinktier. Vielleicht erklärte das auch, wieso bisher niemand die Zeit gehabt hatte, ernsthaft mit mir zu sprechen. Vielleicht hatte aber auch jemand den Nachnamen von Joshs Vater erkannt, und dem ganzen einen Riegel vorgeschoben, bevor unangenehme Fragen gestellt werden konnten. Oder sie hatten einfach bessere Dinge zu tun, als sich mit einem jugendlichen Rebellen von einer Schule für schwer erziehbare herumzuschlagen; zumindest musste es für die Polizisten so aussehen.

Ab und zu war eine jüngere Polizistin in den Raum gekommen, hatte mir versichert, dass mich sicher bald jemand abholen würde und ich hier bestimmt bald rauskönne. Dann hatte sie gefragt, ob ich etwas brauche. Ich hatte nur meinen Kopf geschüttelt. Ihr Blick war für meinen Geschmack ein wenig zu mitleidig, aber wenigstens stellte sie mir ein paar Cola-Dosen auf den Metalltisch und meinte, wenn ich auf die Toilette müsse, solle ich einfach an die Tür klopfen.

Ich hatte schon überlegt, ob ich den Raum einfach verlassen und aus der Wache spazieren könnte. Es würde doch sicherlich nicht ein Polizist nur für meine Bewachung abgestellt werden, oder? Dann hätten sie sich vermutlich auch schon mit mir unterhalten. Andererseits hatte ich auch nicht mehr so wirklich Lust, das zu versuchen. Ich wollte einfach nur noch in ein vernünftiges Bett, bevorzugt das bei mir Zuhause. Es war mir beinahe egal, wer mich abholte und was sonst noch geschah.

Mit ein wenig zu viel Schwung warf ich die Cola-Dose. Sie flog gegen die Wand und landete scheppernd neben dem Mülleimer. Unwillkürlich musste ich an Basketball denken, was mich zum Grinsen brachte. Ob Josh das Spiel inzwischen konnte? Wenn Ian und Conrad gewusst hätten, dass er nicht ich, sondern mein Zwillingsbruder war, hätten sie ihm sicher geholfen, Basketball zu lernen, so wie sie mir damals auch geholfen hatten. Auch ich hatte meine Schwächen gehabt, und hatte manche immer noch, aber das war Josh sicherlich nicht immer so sehr bewusst.

Was hatte er am Wochenende wohl gemacht? Ich hoffte, dass er gut mit Ethan und Sarah klargekommen war. Kurz wunderte ich mich, ob Josh sich wohl bei Ethan geoutet hatte, und wie dieser darauf reagiert haben könnte, doch dann schüttelte ich den Kopf. Ich konnte mir keinen wirklichen Grund vorstellen, warum er das überhaupt tun sollte. Außerdem, auch wenn Josh so tat, als wäre er ich und nicht er selbst, so mutig war er vermutlich dann doch noch nicht geworden.

Und trotzdem hatte er sich enorm verändert und irgendwie war ich auch ein wenig stolz darauf, wieviel Fortschritt er gemacht hatte; beinahe als wäre ich persönlich dafür verantwortlich. Er hatte immer noch seine Momente und auch für das, was jetzt passiert war, würde er vermutlich sich und nur sich alleine die Schuld geben, aber insgesamt hatte er sich unglaublich zum Positiven verändert, trotz der nur sehr kurzen Zeit.

Seufzend erhob ich mich und ging zu der Dose hinüber, um sie in den Papierkorb zu werfen. Was wohl aus Josh und mir werden würde? Würde er bei seinen Eltern ausziehen können, sobald das Ganze herauskam? Wohin würde er dann gehen? Ich wünschte, meine Eltern würden ihn aufnehmen, aber im Moment war unsere Wohnung schon mehr als zu voll. Vielleicht würde er vorübergehend bei Ethan schlafen und dann zu uns ziehen, sobald Conrad mit seinem Stipendium auf dem College war?

Vielleicht würden die Dinge aber auch ganz anders kommen. Falls Mr. Adams mich abholen würde… Sollte ich der Polizei sagen, dass ich gar nicht der war, für den sie mich hielten? Welche Auswirkungen hätte das für Josh? Würden sie mir überhaupt glauben? Theoretisch müssten sie es überprüfen, aber vermutlich würden sie einfach nur darüber lachen und es ignorieren. Ich gähnte. Das konnte ich immer noch entscheiden, sobald ich wusste, wer mich abholen würde

Ich hatte gerade die nächste Dose geöffnet und ein paar Schluck getrunken, als die Tür sich öffnete. Diesmal war es ein mürrisch dreinschauender Polizist mittleren Alters. »Du wirst abgeholt«, meinte er nur desinteressiert, bevor er verschwand und die Tür hinter sich offenließ.

Ich folgte ihm durch einige Gänge in den Empfangsbereich der Polizeiwache. Joshs Großmutter wartete bereits auf mich und empfing mich mit ihrer typisch formellen Umarmung.

Der Polizist entfernte sich mit einer Bemerkung, dass er den notwendigen Papierkram besorgen würde und sie wandte mir ihre volle Aufmerksamkeit zu. »Du bist also Jacob«, stellte sie fest.

Ich schluckte sichtbar. »Ja«, antwortete ich. Sie wusste also Bescheid. Hoffentlich war das gut für mich.

Wir warteten einige Momente, bis der Polizist zurückkehrte. Während sie die Papiere ausfüllte und noch mit ihm redete, stand ich nutzlos daneben. Erst als alles erledigt war, wandte sie sich wieder mir zu. »Lass uns gehen. Deine Eltern warten draußen.«

Ich fühlte mich ein wenig wie ein gescholtener Hund, als ich neben ihr herging. Obwohl ich sie bereits in Washington kennengelernt hatte, so kam sie mir auf einmal etwas fremd vor, auch wenn sie sich mir gegenüber keineswegs abweisend verhielt, höchstens der Situation angemessen knapp. Wahrscheinlich sah sie in mir immer noch ihren Enkel, auch wenn sie eigentlich wusste, dass ich nicht Josh war. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte; und wieder schwirrten mir tausend Gedanken im Kopf herum. War sie auf Mr. Adams’ Seite? Das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, auch wenn er ihr Sohn war. Schließlich rang ich mich zu einer simplen, aber aufrichtigen Entschuldigung durch. »Tut mir leid, der ganze Aufwand und das alles; dass wir Rollen getauscht haben.« Irgendwie klang es mehr als nur ein bisschen kläglich in meinen eigenen Ohren.

Sie hielt an und fixierte mich mit ihrem Blick. »Ihr hättet jemandem Bescheid sagen sollen. Aber das ist jetzt irrelevant.«

»Wieso? Was ist mit Josh? Ist er okay? Was wird aus uns? Er muss nicht wieder zurück zu seinen Eltern, oder?« fragte ich hoffnungsvoll. »Und was ist mit Mr. Adams? Ich habe denen hier nichts gesagt. Ich wusste nicht genau, was ich machen soll, also habe ich lieber erst einmal den Mund gehalten.«

»Josh geht nicht zurück zu seinen Eltern«, informierte sie mich knapp. »Den Rest müssen dir deine Eltern erzählen.«

»Die wissen Bescheid?«, fragte ich überrascht.

Sie nickte nur knapp. »Deine Brüder auch, aber die sind jetzt bei dir zuhause. Wir hatten nicht genug Platz für alle im Auto. Josh holt seine Sachen von dem Haus seiner Eltern und dann treffen wir uns alle und reden darüber, wie es weitergeht.«

Ich wollte gerade hinterfragen, ob es wirklich eine schlaue Idee war, dass Josh gerade jetzt seine Sachen holte und wo genau sein Vater war, aber in diesem Moment entdeckte ich meine Eltern.

Meine Mutter lief auf mich zu und schloss mich in eine erstickende Umarmung. Ich klopfte ihr auf die Schulter, während ich versuchte, nach Luft zu schnappen. »Mama!«

»Wie siehst du denn aus?« fragte sie, nachdem sie mich endlich losgelassen hatte, um mich zu genauer betrachten. In ihrer üblichen mütterlichen Fürsorglichkeit hatte sie bereits ein Taschentuch gezückt und befeuchtete es mit ihrer Zunge. Ich schaffte es gerade noch im letzten Moment, mich ihr zu entwinden.

»Mir geht’s gut, Mama, alles in Ordnung«, versuchte ich sie abzuwehren, aber sie schnappte sich meinen Arm und hielt mich fest, um irgendeinen Blutfleck zu entfernen, den ich wohl übersehen haben musste.

»Mama!« protestierte ich erneut.

»Stell dich nicht so an«, erwiderte sie, und zog mich dann, nachdem sie mein Gesicht zu ihrer Zufriedenstellung begutachtet hatte, erneut in eine Umarmung. Diesmal gab ich nach und ließ sie gewähren.

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht«, flüsterte sie mir zu. Hinter ihr stand mein Vater und schaute ein wenig verlegen drein, offensichtlich unsicher, wie er sich verhalten sollte.

Mir fielen eine Millionen Dinge ein, die ich hätte sagen können. Ich liebe euch. Wisst ihr von Josh? Was ist genau los? Kann Josh bei uns wohnen? Stattdessen fragte ich nur flüsterleise: »Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass ich adoptiert bin?«

Bevor sie antworten konnte, unterbrach uns Joshs Großmutter. »Wir müssen los, jetzt sofort«, wies sie uns an.

»Was ist denn passiert?« wollte mein Vater wissen, wobei wir uns bereits auf dem Weg zum Auto befanden.

»Ich würde Sie bitten, mich zum Haus meines Sohnes zu bringen. Er ist vermutlich früher nach Hause gekommen, als geplant.«

»Oh.« Meine Mutter sah besorgt aus. »Ist das denn so schlimm? Was kann denn schon passieren, wenn Philip dabei ist?«

Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich mit den Augen gerollt. Bei Mr. Adams konnte so einiges passieren, aber es war vermutlich besser, wenn ich meiner Mutter nicht unbedingt erzählte, woher das Blut in meinem Gesicht stammte. Dann stockte ich. »Moment, Philip?«

»Später«, meinte Joshs Großmutter nur knapp. »Steig ein.«

Mein Vater fuhr, während ich Navigator spielte. Meine Eltern wussten nicht, wo wir hinmussten, während Joshs Großmutter sich offensichtlich nicht gut genug in der Stadt auskannte. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, den Autos um uns herum tödliche Blicke zuzuwerfen, als ob das diese verscheuchen und uns schneller an unser Ziel bringen würde. Mir selbst ging es kaum besser.

Die Fahrt schien schier endlos zu dauern. In jeder verstreichenden Minute malte ich mir aus, was alles passiert sein könnte. Offensichtlich hatte Mr. Adams Josh, und wer auch immer sonst noch dabei war, im Haus erwischt. Wie würde er wohl reagieren? Wenn ich mich daran erinnerte, was er weniger als zwei Tage zuvor mit mir angestellt hatte, konnte es nicht zu gut für die anderen aussehen. Vor allem wenn er nach Hause kam und dort Josh antraf, wo er doch mich gerade erst auf die Militärschule verschifft hatte. Alles andere, wie zum Beispiel die Frage, was aus unserer Zukunft werden würde oder wer genau eigentlich was alles über Josh und mich und unseren Rollentausch wusste, war so gut wie vergessen. Das einzig Positive, an dem ich mich festhalten konnte, war der Gedanke, dass Josh wenigstens nicht alleine war.

Als wir endlich angekommen waren, parkte mein Vater das Auto gegenüber vom Hauses. Joshs Großmutter öffnete die Tür zum Aussteigen, drehte sich dann aber zu mir um. »Du bleibst im Auto«, befahl sie mir todernst. Ich schluckte und nickte nur zustimmend. An meine Eltern gewandt fuhr sie fort. »Ich würde es bevorzugen, wenn Sie im Auto bleiben, aber ich kann sie nicht aufhalten. Wenn Sie darauf bestehen, können sie mich begleiten.«

»Wir kommen mit«, erwiderte mein Vater sofort.

Sie hatten kaum das Haus betreten, als ich bereits meine Tür öffnete und mich abschnallte. Als ob ich im Auto warten würde, wenn Josh dort drinnen in der Klemme steckte. Seine Großmutter hatte die Tür glücklicherweise in der Eile einen Spalt weit offengelassen. Ich schob sie vorsichtig auf und schlich mich herein. Die Eingangshalle war wie gewohnt kalt und ein wenig zu kahl, trotz der sommerlichen Hitze an dem Tag. Ich trat einen Schritt herein und schloss die Tür hinter mir. Gerade als ich mich wieder der Treppe zuwandte, hörte ich von oben Joshs Großmutter schreien.

»Leg sofort die Waffe weg!«

Mit einem lauten Knall löste sich ein Schuss. Die Welt schien einen Moment lang stillzustehen. Dann durchbrach ein Aufschrei von oben die Stille. Nach einigen Sekunden konnte ich langsam wieder mein Herz in meiner Brust pochen spüren. So schnell ich nur konnte raste ich die Treppe hinauf. Gleichzeitig konnte ich von oben mehr Schreie und ein Handgemenge hören.

Ich stieß die Tür zu Joshs Zimmer auf und hielt einen Moment inne, um die Szene vor mir zu betrachten. Philip und mein Vater schienen Mr. Adams zu Boden gerungen zu haben. Mr. Adams selbst saß apathisch auf dem Boden. Er war kreidebleich und schien zu zittern. Die Waffe lag zur Seite getreten in der Ecke des Raumes und das Fenster war zersplittert, offensichtlich von der Kugel zerstört. Zum Glück war niemand getroffen worden.

Als nächstes sah ich Sarah. Sie war am Weinen und kam auf mich zugelaufen. Ich öffnete meine Arme und fing sie sanft auf, und dann hielt ich sie ganz fest an meine Brust. Sie schmiegte sich an mich und ich konnte spüren, wie sehr sie zitterte.

»Ist ja gut, alles wird gut, es ist vorbei« flüsterte ich ihr beruhigend ins Ohr, ohne dass mir selbst so wirklich bewusst war, was ich da eigentlich sagte.

»Ein paar Minuten…«, schluchzte sie. »Ein paar Minuten lang dachte ich, alles wäre vorbei.«

»Pscht«, machte ich nur, und drückte sie noch fester.

Ich hielt sie weiter so; und erst nach einer gefühlten Ewigkeit lockerte ich meinen Griff wieder, aber nur, damit sie es sich noch ein bisschen bequemer in meiner Umarmung machen konnte. Mein Herz schlug ein bisschen schneller, und obwohl es mir angesichts der Situation vollkommen falsch vorkam, so genoss ich doch die Nähe zu ihr.

Als ich aufschaute, sah ich Josh und Ethan in einer ähnlichen Umarmung, eng ineinander verschlungen. Ich betrachtete die beiden eine Weile, während ich mich weiter an Sarah festhielt. Ethan löste sich ein Stück, zog Joshs Kopf herunter und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Josh erwiderte die Geste. Dann hob er seinen Kopf und schaute zu mir, als ob er meinen Blick gespürt hätte.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich so etwas wie Angst in seinem Gesicht, doch dann verwandelte sich sein Ausdruck in eine Mischung aus Trotz und Stolz. Mit erhobenem Haupt schaute er mir entgegen.

Er hatte sich also offensichtlich doch bei Ethan geoutet. Mir kam die Situation äußerst merkwürdig vor und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich überrascht sein sollte. Das hätte ich von Ethan jedenfalls nicht erwartet. Aber in diesem Moment war mir dies alles vollkommen egal.

Ich hob meine Hand und gab ihm hinter Sarahs Rücken ein Thumbs Up, während ich ihm gleichzeitig bekräftigend zugrinste. Auch wenn er versuchte, es in seinem Blick zu verstecken, so konnte ich förmlich spüren, wie seine Erleichterung zu mir herüberstrahlte.

Ich zwinkerte ihm zu und machte mit meinem Mund übertriebene Kussbewegungen. Dann streckte ich ihm die Zunge heraus. Er schaute mich einen Moment lang künstlich empört an, doch dann grinste er zurück und drückte Ethan noch fester an sich.

Ich sah gerade noch so, wie er etwas in Ethans Ohr murmelte und ihm einen Kuss auf die Haare drückte.

Dann schaute ich wieder zu Sarah, nahm all meinen Mut zusammen und drückte sanft meine Lippen auf ihre Stirn.

ENDE

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Epilog


Josh

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Nun geh’ schon.« Ethan drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Das hier ist euer Ding, nicht meins.«

Ich zog meinen Mund zu einer Schnute zusammen, tat so als ob ich schmollte, doch Ethan strecke mir nur die Zunge heraus.

»Okay, okay«, gab ich nach. Ich drückte Ethan einen Abschiedskuss auf die Wange und wandte mich Jacob zu, der uns beiden augenrollend zugeschaut hatte.

»Was?« verlangte ich lachend. »Tu nicht so, als ob du und Sarah besser wären.«

»Ja, ja«, erwiderte er grinsend. »Wollen wir?«

»Jop.« Ich ging los, während Jacob sich mit Handschlag von Ethan verabschiedete und sich mir dann anschloss. Inzwischen war dies alles schon vollkommen normal, aber manchmal musste ich unwillkürlich zurückdenken und konnte es immer noch kaum fassen, dass Jacob und auch Ian meine Beziehung mit Ethan aufgenommen hatten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Conrad hatte ein wenig länger gebraucht, aber auch er war letzten Endes damit klargekommen und seit er auf dem College in Boston war, sahen wir ihn sowieso kaum noch. Nur Jacobs Eltern und meiner Großmutter hatten wir noch nichts gesagt, aber ihren Blicken nach zu urteilen vermuteten sie es bereits.

Apropos, Jacobs Familie war in ein viel größeres, viel besseres Haus gezogen, in dem nun auch ich ein Zimmer hatte. Es hatte eine Weile gedauert, aber so langsam fühlte ich mich dort so richtig zuhause.

Jacobs Vater hatte vollkommen unerwartet ein unglaublich gutes Jobangebot als Abteilungsleiter in einer großen Fabrik erhalten. Er habe doch so gute Erfahrung aus der Zeit, als er seine eigene Firma geleitet hatte und jemandem der trotz Behinderung so hart arbeite, den brauche man, als Mitarbeiter und als Vorbild. Das Gehalt war überdurchschnittlich und er hatte einen großen Bonus direkt zur Einstellung bekommen. Anders als ich wusste er nicht, dass diese Fabrik ein Subunternehmen des Firmenimperiums meiner Großeltern war, und falls er etwas vermutete, so hatte er zu mindestens nichts dazu gesagt.

Meine Eltern hatten sich getrennt und mein Vater lebte wieder in Washington DC. Manchmal besuchten wir meine Großeltern, aber bisher hatten wir immer erfolgreich vermieden, ihn dort zu treffen. Das letzte Mal hatten wir sogar Cody mitgenommen. Die Interaktion zwischen meinem Großvater und ihm zu beobachten, war äußerst unterhaltsam. Mein Großvater legte zwar sehr großen Wert auf Gastfreundschaft, wusste aber nicht so recht, wie er sich gegenüber jemandem verhalten sollte, der so offensichtlich schwul war.

»Worüber denkst du nach?« wollte Jacob wissen.

»Ach, dies und das«, erwiderte ich, und musste dabei unwillkürlich lächeln. »Was halt alles so passiert ist.«

»Hm«, summte Jacob zustimmend. Er schien ähnlich in Gedanken versunken zu sein wie ich.

»Wir sind gleich da.« Ich zeigte auf das große, rote Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Endlich war es so weit. Monatelang hatten wir versucht, herauszufinden, wer unsere leiblichen Eltern waren und warum wir getrennt adoptiert worden waren.

Jacobs Mutter hatte uns gesagt, bei welcher Organisation sie Jacob adoptiert hatten. Von da an mussten wir zahllose Briefe schreiben und Anträge stellen. Am Ende war herausgekommen das unsere Trennung durch einen Fehler in der Bürokratie entstanden war. Zudem waren unsere leiblichen Eltern unbekannt. Immerhin konnte die Organisation uns sagen, dass wir vor dieser Feuerwache gefunden worden waren. Wir blieben einen Moment stehen und schauten uns die Umgebung an. Hier hatte also alles angefangen.

»Ihr müsst Josh und Jacob sein«, stellte der Feuerwehrmann grinsend fest, der uns die Tür öffnete. »Das letzte Mal, als ich euch gesehen habe, wart ihr noch so klein.« Er hielt seine Hände ein Stück auseinander und ich konnte mir kaum vorstellen, dass ein Mensch überhaupt so winzig sein konnte. Jacob und ich grinsten uns gegenseitig an und folgten ihm in das Gebäude.

Während der Feuerwehrmann davon erzählte, wie er uns gefunden hatte, und von unserer Zeit auf der Feuerwache, wurde mir ein wenig melancholisch zumute. Erst da realisierte ich endgültig, dass wir nie herausfinden würden, wer unsere Mutter war. Immerhin wussten wir aber, wo alles angefangen hatte. Vielleicht war das nicht perfekt, aber zufrieden war ich damit trotzdem. Ich hatte meinen Zwillingsbruder wiedergefunden, ich hatte eine Familie und Ethan war das Beste, was mir je passiert war. Mehr brauchte ich nicht, um glücklich zu sein.

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Ich hatte es zwar schon Sammy in privater mail gesagt aber ich muss es hier noch einmal loswerden. Es ist eine einfach wunderbare und unglaublich fesselnde Geschichte.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Story schon zu Ende ist. Es gäbe doch noch so viel zu erzählen.

  • Wie die neue Familie zusammenwächst
  • Wie die Brüder miteinander auskommen
  • Wie sich die Beziehung zwischen Ethan und Josh weiter gestaltet
  • usw
    Es ist für mich immer schwer auszuhalten, wenn eine so tolle Geschichte zu Ende ist.
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Hey!

danke für deinen Kommi. Ich kenne es, wenn man erst einmal in einer Geschichte drin ist, dann hätte man am liebsten, dass es nie aufhört. Aber es ist auch wichtig, einen guten Punkt zum Aufhören zu finden, sonst wird es irgendwann langweilig. So kann sich jetzt jeder selber ausmalen, wie es weitergeht. :wink:

Für mich war die Geschichte da fertig erzählt, das war der Punkt zu dem ich hin wollte. Trotzdem freut es mich immer zu lesen, dass es anderen so sehr gefallen hat, das sie gerne noch mehr lesen würden. Danke dafür. :slight_smile:

Ein kleiner Trost: es gibt noch viele andere schöne Geschichten auf dieser Seite und wenn das nicht reicht, und man ein wenig Englisch kann, auch auf awesomedude und gayauthors.

Liebe Grüße
Sammy

PS: kann es sein, dass deine Nachricht untergegangen ist? Bei mir ist bisher nichts angekommen. (Oder meintest du früher mal?)
PPS: vielleicht macht es an diese Stelle Sinn zu erwähnen, dass es immer noch Exemplare von Gemini als Buch zu kaufen gibt. :smiley:

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…und genau so ein Buch habe ich und mit einer Widmung von Dir drin. Ich habe es tatsächlich 3mal gelesen. Und dann noch mal in Gayauthors.

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Hey,

Ah okay :smiley:

Konnte den Namen so nicht zuordnen, aber dann bist du ja schon versorgt und kennst auch GA schon. :smiley:

Beste Grüße

Hallo Ruben,
Wir hatten 2020 Kontakt miteinander:

Hallo Ruben!

Rate mal, was heute in meinem Briefkasten lag.
Große Freude!
Das Buch ist viel dicker als ich es erwartet hätte. Der Einband gefällt mir gut.
Ich habe schon angefangen, die Geschichte noch einmal zu lesen.

Vielen Dank auch für das starke Zitat von Oscar Wilde.
Ich habe immer versucht, ich selbst zu sein. Aber so ganz können wir uns den Strömungen der Zeit nicht entziehen und adaptieren uns, meistens ganz unbewusst.

Vielen Dank noch einmal für das Buch und
Dir alles Gute!
Dein Manfred

Deine Story gehört nach wie vor zu den richtig guten, an die ich gerne denke.
Du darfst gerne neue Geschichten posten, du wirst in mir einen eifrigen Leser finden. Und falls Du einen Lektor brauchst, stehe ich gerne zur Verfügung.

Liebe Grüße
Manfred

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Hey,

ja, das kann ich jetzt zuordnen :slight_smile:

Aktuell habe ich leider absolut keine Zeit (in 4 Monaten schreibe ich eine Abschlussprüfung) und danach werde ich wohl erstmal viele andere Sachen wieder aufholen müssen und mehr Zeit meiner Familie widmen.

Aber vielleicht ergibt es sich ja irgendwann mal wieder. Lust hätte ich eigentlich schon. :slight_smile:

Beste Grüße

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