Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Die Luftnummer

Cosmin

Nach dem Mittagessen begann Cosmin im Zimmer, das ihm Max’ Oma überlassen hatte, den Rucksack für den geplanten Campingausflug zum Steinbruch am Petersberg zu packen. Anders als an den Vortagen strahlte die Sonne von einem blankgeputzten Himmel und die Wettervorhersage versprach für das Wochenende einen ersten Vorgeschmack auf den kommenden Sommer. Während Cosmin die auf dem Sofa zurechtgelegten Sachen in den Rucksack stopfte, vibrierte in der Hosentasche sein Handy, das ihm die Lehrerin am Vormittag zurückgegeben hatte. Cosmin hatte zunächst überlegt, Max’ Handy weiter zu nutzen. Vor allem weil er ahnte, dass sein Vater ihn schon bald anrufen würde.
Er will versuchen, sein Versprechen zu halten. Aber was, wenn dieser Versuch misslingt?
Cosmin hatte Bammel vor dem Gespräch mit dem Vater. Trotzdem benutzte er wieder das eigene Handy. Er würde ohnehin nicht ewig vor diesem Gespräch davon laufen können, zumal er die Vertrautheit seines eigenen Zimmers etwas vermisste.
Wie es Cosmin befürchtet hatte, war die Nachricht von seinem Vater:

„Cosmine, bitte melde dich. Ich mache mir Sorgen.“

Cosmin fuhr mit der Zungenspitze über seine Unterlippe. Er konnte immer noch fühlen, was die die Hand seines Vaters dort angerichtet hatte.
„Ich schreibe dir morgen“, murmelte er und schulterte den gepackten Rucksack.
Anschließend spähte er in Max’ Zimmer und fand es verlassen vor. Max war demnach bereits fertig mit Packen und Cosmin vermutete, dass er unten im Wohnzimmer auf ihn wartete.
Er stieg die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Max saß zusammen mit Oma Lisa auf der Couch und es schien, als würden sie sich gegenseitig festhalten.
Cosmin verharrte unschlüssig auf der untersten Treppenstufe, weil er sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam.
Oma Lisa bemerkte offenbar Cosmins Verlegenheit. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen trocken und erhob sich von der Couch. „Ich habe Baguettes und Pizza für euch. Ich packe alles schnell noch ein“, sagte sie und eilte in die Küche.
Cosmin sah, dass es auch in Max’ Augen glitzerte.
„Maxi?“
Max erhob sich nun ebenfalls und griff nach seinem Rucksack, der am Wohnzimmertisch lehnte.
„Ist was passiert?“, fragte Cosmin besorgt. Eine Träne kullerte über Max’ Wange und Cosmin fing sie mit dem Daumen auf, als sie das Kinn erreichte.
Plötzlich ließ Max den Rucksack zu Boden gleiten und zog Cosmin in seine Arme. „Es ist heute genau vier Jahre her, Cos-Mi. Ich habe den ganzen Tag versucht, nicht daran zu denken, aber meine Oma saß hier und… auch sie vermisst meine Mam“, sagte er leise.
Cosmin erwiderte die Umarmung. Er fuhr mit dem Daumen sanft über Max’ Lippen und spürte, dass Max’ Trauer auch ihm die Kehle zuschnürte.
Oma Lisa kehrte aus der Küche zurück. Dennoch lösten sich die Jungen nur zögerlich voneinander.
Max linste auf die prall gefüllte Plastiktüte, die seine Oma auf dem Wohnzimmertisch abstellte. „Omi, schon vergessen? Wir sind in zwei Tagen wieder hier!“

Vogelgezwitscher und das Gezirpe der Grillen begrüßte die Jungen, als sie eine Stunde später den Steinbruch erreichten. Die glatten Felswände vor ihnen flimmerten in den Strahlen der Nachmittagssonne und spiegelten sich in einem Teich, dessen Wasseroberfläche hin und wieder von einer kraftlosen Böe gekräuselt wurde.
Max schob das Moped bis zu einem mit Klecksen aus Kerzenwachs übersäten Felsbrocken, der offenbar schon Generationen von Campern als Tisch gedient hatte.
Cosmin ließ seinen Blick im Steinbruch umher wandern. Er konnte nirgendwo eine Menschenseele entdecken und hoffte, dass sie den Steinbruch in den nächsten beiden Tagen für sich allein haben würden. Oder wenigstens in den nächsten beiden Nächten.
Wie schon bei ihrem ersten gemeinsamen Campingausflug zwei Wochen zuvor hatten die Jungen weder Trinkwasser noch Getränke mitgenommen. Das Moped hatte auf der Fahrt ohnehin unter der der Last der beiden Jungen und ihrer randvollen Rucksäcke geächzt.
Deshalb schwang sich Max wieder aufs Moped, nachdem das Zelt stand, um im Supermarkt einer nahegelegenen Kleinstadt Mineralwasser, Saft und einige Flaschen Radler einzukaufen. Cosmin räumte unterdessen ihre Sachen ins Zelt, verband beide Schlafsäcke miteinander und suchte anschließend abgestorbene Äste und Zweige für ein kleines Lagerfeuer im Gehölz, das überall im Steinbruch wucherte.
Da Max’ Einkaufstour länger als erwartet dauerte, unternahm Cosmin, bewaffnet mit dem Kletterführer, später eine erste Erkundungstour entlang der im Halbrund aufragenden Wände.
Schon vor zwei Wochen war ihm eine Route unweit des Hohlweges aufgefallen, der in den Steinbruch hinein führte. Dort ragte in einer Höhe von zehn oder zwölf Metern ein riesiger Felsblock aus der Wand. Fast schien es, als hätte man früher beim Abbau des Gesteins vergessen, ihn ebenfalls abzutragen. Auf der Unterseite des Brockens funkelten zwei einzementierte Bohrhaken, sechs weitere Haken folgten einer geraden Linie bis zum oberen Rand der Felswand. Die Kletterei wäre also gut abgesichert. Cosmin überflog die Routenbeschreibungen im Kletterführer und sah, dass die Route über den etwa anderthalb Meter aus der Wand ragenden Überhang bezeichnenderweise „Luftnummer“ genannt und mit einer glatten VIII bewertet wurde. Bei Cosmins bisherigen Achterrouten hatte stets ein Minus hinter der VIII gestanden.
Er fühlte sich fit genug, sich nun endlich auch an einer Route zu versuchen, bei der die VIII nicht durch das angefügte Minus entwertet wurde.

Max tauchte auf dem teilweise mit Gestrüpp überwucherten Hohlweg auf, der in den Steinbruch hinein führte. Er schob das Moped.
Auf dem Gepäckträger war ein mit Mineralwasser gefüllter 10 Liter Plastikkanister festgeschnallt und im geschulterten Rucksack klirrten Bierflaschen.
Einige Schritte von Cosmin entfernt bockte er das Moped auf und schaute ebenfalls hinauf zum Felsblock.
„Sieht cool aus. Was ist das für 'ne Schwierigkeit?“
Cosmin wandte den Blick vom Überhang ab. „Eine glatte Acht. Würdest du die vorsteigen, Maxi? Wenn ich die im Nachstieg schaffe, könnte ich morgen auch einen Vorstieg versuchen. Es wäre meine erste richtige Acht.“
„Klar, mache ich. Der Überhang sieht aber nicht ganz einfach aus, Cos-Mi“, gab Max zu bedenken.
„Ich gucke zu, wie du das machst. Wenn ich mich nicht allzu blöd anstelle, müsste ich es hin kriegen“, erwiderte Cosmin. Er warf einen beinahe schon sehnsüchtigen Blick hinauf zum Überhang und fühlte bereits ein Kribbeln in den Fingern.

Zunächst kletterten sie jedoch zwei leichtere Routen, um die Muskulatur zu lockern und aufzuwärmen. Erst danach kehrten sie zum mit Felsbrocken übersäten Einstieg in die „Luftnummer“ zurück. Fast schon spielerisch erreichte Max den Überhang und soweit es Cosmin erkennen konnte, würde dieser Teil der Route auch ihm selber keine unlösbaren Probleme bereiten. Max tastete sich an der Unterseite des Felsblocks voran, bis er mit den Fingern die äußere Kante erreichte. Dort klickte er eine Expressschlinge in den zweiten am Überhang einzementierten Bohrhaken ein und tastete sich an der Außenseite des Felsblocks noch etwas höher. Inzwischen klebte sein Körper fast schon waagerecht an der Unterseite des Felsblocks.
Cosmin begann sich bereits zu fragen, ob die „Luftnummer“ nicht vielleicht doch eine Nummer zu groß für ihn war.
„Die Griffe sind okay, die hältst du auch. Jetzt musst du versuchen, einen Fuß hier hoch zu bekommen“, rief ihm Max zu und löste die Beine von den Tritten.
Cosmin hielt den Atem an.
Max ließ die Beine nach unten gleiten, sodass sein Körper in über zehn Metern Höhe senkrecht in der Luft hing. Dann schwang sein rechter Fuß über die Kante und verhakte sich an einer kleinen Zacke. Die linke Hand schnappte nach dem nächsten Griff und flink wie ein Äffchen hangelte Max die letzten paar Meter hinauf bis zum Abseilring am höchsten Punkt der Route.
Cosmin stieß den angehaltenen Atem aus. Die Hangelei an dem Felsblock grenzte an Akrobatik. Würde es ihm ebenfalls gelingen, den Überhang zu bezwingen?
Max blieb am Abseilring, um ihm beim Überwinden der äußeren Kante des aus der Wand ragenden Felsblocks zuzuschauen und notfalls mit Tipps helfen zu können.
Die Kletterei bis zum Überhang hatte bei Max recht einfach ausgesehen und vermutlich war sie es auch. Dennoch rutschte Cosmin schon nach wenigen Metern zum ersten Mal ins Seil, weil ein Tritt unter seinem Fuß wegbrach. Und etwas höher bemerkte er eine weitere kleine Felsplatte, die etwas nachgab, als er nach ihr griff. Zunächst überlegte er, so lange an ihr zu zerren, bis sie ebenfalls wegbrechen würde, ließ es dann aber bleiben. Er würde seine Kraft am Felsblock über ihm benötigen und wollte sie nicht beim Abbrechen morschen Felsgesteins verplempern. Erst mehrere Wochen später sollte Cosmin erfahren, dass sein Leben möglicherweise anders verlaufen wäre, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die morsche Felsplatte abzubrechen.

Er setzte die Kletterei fort, bis sein Körper ebenfalls zehn Meter über dem felsigen Boden am Einstieg baumelte.
„Siehst du rechts die Zacke?“, rief Max zu ihm herunter.
Cosmin nickte nur.
„Dort verklemmst du den rechten Fuß und schiebst dich höher. Alles klar Cos-Mi?“
Zwar nickte Cosmin erneut, doch er fragte sich, wie er den rechten Fuß bis zur Zacke heben sollte. Sie befand sich fast in derselben Höhe wie die Hände, mit denen er sich an kleine Felsvorsprünge klammerte.
Er hievte sich mit einem Klimmzug an beiden Griffen höher, spürte, dass Max im selben Moment das Seil einzog und schwang den rechten Fuß nach oben. Allerdings versuchte er vergeblich, ihn bis zur Zacke zu heben. Ihm fehlte einfach Max’ unglaubliche Gelenkigkeit.
„Zieh nochmal, ich helfe ein bisschen mit“, rief ihm Max von oben zu.
Cosmin zog sich schnaubend und schniefend einige Zentimeter höher und bemerkte, dass auch Max am Seil zog. Doch der rechte Fuß schabte nur an der Kante, eine Handbreit unterhalb der Zacke. Cosmins Finger rutschten von den Griffen und gleich darauf baumelte sein Hintern zehn Meter über dem Boden am Seil.
Cosmin schüttelte die entkräfteten Arme aus und wartete etwa fünf Minuten, bis er sich fit genug für einen neuen Versuch fühlte. Er verrieb Magnesiapuver auf den Händen und packte die griffigen Leisten am Fels. Und wieder schwang er den rechten Fuß nach oben, aber es gelang ihm einfach nicht, den Fuß an der Zacke zu verhaken.

Zehn Minuten und drei weitere vergebliche Versuche später gab Cosmin auf.
„Lass mich ab, Maxi“, rief er nach oben. „Ich bin zu blöde für so was!“
„Cos-Mi, hör auf, so ein Gesicht zu ziehen“, sagte Max, als er kurz darauf neben Cosmin auf dem Boden landete. „Es hat nicht viel gefehlt, echt nicht.“
Cosmin fand, dass eine ganze Menge gefehlt hatte und fühlte sich, als wäre er bei einer Prüfung durchgefallen.
„Das sagst du nur so, Maxi“, murrte er niedergeschlagen.
„Nee wirklich“, sagte Max und kraulte die Zotteln in Cosmins Nacken. „Wir werden ab sofort auch was für deine Beweglichkeit tun. In ein paar Wochen kannst du Spagat und nimmst den Felsklotz da oben im Vorbeigehen mit.“

Prüfungen

Cosmin

Inzwischen hatte der Abend seine Schatten im Steinbruch ausgebreitet, nur die obere Hälfte der Wände auf der Ostseite des Steinbruchs leuchteten noch in den Strahlen der Abendsonne.
Max baute auf dem zum Tisch umfunktionierten Felsbrocken den Kartuschenkocher auf, während Cosmin im Zelt in den Vorräten kramte, um davon etwas für das Abendessen auszuwählen.
Das Handy klingelte.
Cosmin zuckte leise zusammen und starrte auf sein Handy, das er auf dem felsigen Tisch abgelegt hatte.
Auch vom Zelteingang aus sah er, was das Display anzeigte:
„Tata“
„Dein Alter?“ Max’ Frage klang mehr wie eine Feststellung.
Nach dem Reinfall an der „Luftnummer“ hatte sich Cosmins Laune noch nicht so richtig von ihrem Tiefpunkt erholt.
„Ich will jetzt nicht mit ihm reden. Wenn ich ihm erzähle, dass wir hier zelten, rastet er vielleicht doch wieder aus. Oder kommt hier her.“
„Oh Mann, bloß nicht“, stöhnte Max. „Der denkt bestimmt, dass ich dich verführt habe.“
„Und dein Onkel denkt dasselbe von mir.“

Nach dem Abendessen entfachte Max ein kleines Lagerfeuer. Wie es sich die Jungen erhofft hatten, waren sie die einzigen Camper im Steinbruch. So saßen sie nicht nur dicht beieinander und hielten einander in den Armen, Max lehnte seinen Kopf gegen Cosmins Schulter und starrte ins Feuer, als würde dort ein spannender Film laufen.
„Maxi?“
„Hier neben dir.“
„Wo ist deine Mam… wo wurde sie beerdigt?“
Max warf ein paar Zweige ins Feuer und stieß einen Seufzer aus.
„Von ihr ist nur noch etwas Asche übrig, Cos-Mi. Meine Großeltern wollten, dass ihre Urne in Dessau beigesetzt wird. Aber ein Cousin meines Vaters hat in Berlin, nicht weit von unserem Haus, ein Beerdigungsinstitut. Und der hat dann alles organisiert.“
Max lachte freudlos auf. „Der heißt übrigens auch Weller.“ Gleich darauf verfinsterte sich sein Gesicht. „Nichts mehr von ihr übrig ist außer…“
„Tut mir Leid, Maxi.“ Cosmin hätte sich am liebsten für seine Frage geohrfeigt.
„Es ist sehr schön hier“, wechselte er das Thema, um Max nicht noch mehr runter zu ziehen. „Ich kann es kaum erwarten, dass wir zusammen in Rumänien drei Wochen lang zusammen campen.“
Max’ Gesicht hellte sich wieder etwas auf und ein schiefes Grinsen stahl sich auf seine Lippen. „Ich auch nicht. Und weißt du was ich jetzt kaum noch erwarten kann Cos-Mi?“
Cosmin zog Max zu sich heran. „Dass wir uns jetzt noch ein paar Prüfungsaufgaben für Geschichte angucken, richtig?“
„Falsch! Komm mit ins Zelt. Ich verrat’s dir dort.“

Cosmin verzichtete vorerst auf einen weiteren Versuch, den Überhang an der „Luftnummer“ zu bezwingen. Erst im Sommer wollte er einen neuen Anlauf wagen und bis dahin an seiner Gelenkigkeit arbeiten.
Am Sonntag schrieb Cosmin endlich auch seinem Vater und teilte ihm der Nachricht mit, dass er wegen der bevorstehenden Prüfungen sehr beschäftigt sei und ihn anrufen werde, sobald er die Geschichtsprüfung am Mittwoch hinter sich habe. Er erwähnte weder, wo er Unterschlupf gefunden hatte noch ob er irgendwann nach Hause zurückkehren werde. Er genoss es, morgens in Max’ Armen aufzuwachen, auch wenn sie in den Nächten wegen der Nähe der Oma ihre Begierden im Zaum hielten. Zudem konnte er Max besser bei den Prüfungsvorbereitungen helfen, wenn sie zusammen unter einem Dach wohnten.
Cosmin hoffte, so das Zusammentreffen mit dem Vater noch etwas hinaus zu schieben. Auf keinen Fall wollte er schon in der bevorstehenden Woche mit ihm reden. Doch zeigte sich schon wenige Tage später, dass sein Vater nicht so lange warten wollte.

Max

Die Geschichtsprüfung am Mittwoch empfand Max trotz des erhöhten Anforderungsniveaus als überraschend einfach. Vielleicht lag es auch daran, dass Cosmin einmal mehr einen guten Riecher gehabt hatte. Am Samstagabend hatten sie am Lagerfeuer im Steinbruch und an den folgenden Abenden bei Oma Lisa auf der Wohnzimmercouch mindesten zwei Dutzend möglicher Prüfungsfragen durchgekaut, von denen dann mehrere so ähnlich auch auf den Prüfungsbögen auftauchten.
Max schrieb buchstäblich bis zur letzten Minute der vierstündigen Prüfungszeit etwas über die Folgen der Revolution von 1848 für die Bildung eines deutschen Nationalstaates, während Cosmin an der Nachbarbank bereits seit einer halben Stunde Löcher in die Luft starrte.
Nach der 240. Minute sammelte die Geschichtslehrerin Frau Krause, ein rundliches Mütterchen, das aussah, als hätte es einen großen Teil des von ihr unterrichteten Stoffes selber miterlebt, die Prüfungsbögen und Arbeitszettel ein. Cosmin zog seinen Stuhl an Max’ Bank heran und begann, Max zu den Prüfungsfragen Löcher in den Bauch zu fragen. Max ließ Cosmins Fragerei über sich ergehen. Zum einen, weil er wusste, dass Cosmin lieber an der Technik - Prüfung im Klausurraum eine Etage tiefer teilgenommen hätte und nur ihm zuliebe hier saß. Zum anderen benötigte er mindestens eine Drei, um sich die Chance auf einen Notendurchschnitt von 2,5 oder besser auf dem Abschlusszeugnis nicht zu vermasseln und er war neugierig auf Cosmins Einschätzung. Cosmin setzte das Verhör noch fort, als sie später durch verwaiste Schulflure trotteten und meinte schließlich, dass Max’ Prüfungsergebnis nicht nur locker für eine Drei, sondern vielleicht sogar für eine Zwei reichen würde.

Sie traten auf den Vorplatz der Schule hinaus. Ein Regenguss hatte Pfützen auf dem Pflaster hinterlassen, allerdings zeigten sich erste blaue Lücken zwischen den dunklen Haufenwolken.
Max sah, dass Simon, Moritz und Tim noch an den Fahrradständern herum lungerten und lauthals die Lösungen der Prüfungsaufgaben diskutierten. Die drei Jungen der Parallelklasse hatten an der heutigen Technikprüfung teilgenommen.
„Cosmin!“
Max und Cosmin, die sich zu den Jungen der Parallelklasse gesellen wollten, blieben wie angewurzelt stehen. Augenblicklich verstummte auch die Diskussion der Jungen an den Fahrradständern.
Cosmins Vater, gekleidet im Arbeitsoverall, schlurfte ihnen von der Straße entgegen. Max sah, dass für einige Sekunden der Blick aus dessen schwarzen Augen auf ihm ruhte. Es schien Max, als würde sich Cosmins Vater fragen, wie er es geschafft hatte, den Sohn umzupolen. Obgleich kein Hass oder Zorn in diesem Blick lag, spürte Max, dass Cosmins Vater ihn im Moment nicht in der Nähe haben wollte.
„Ich warte bei Simmi und den anderen“, raunte er Cosmin zu und schlenderte zu den Jungen der Parallelklasse.
„Wer ist das? Cosmins Vater?“, fragte Simon, als Max die Fahrradständer erreichte.
Max nickte und warf einen Blick über die Schulter. Cosmin war unschlüssig ein paar Schritte vor dem Ausgang der Schule stehen geblieben.
„Scheiße ja! Er wird versuchen, Cosmin zu beschwatzen und zu sich zurück zu locken.“
Und er wusste nicht, ob Cosmin diese zweite Prüfung des Tages bestehen würde.

Er passt auf dich auf

Cosmin

Cosmin verharrte wenige Schritte vom Ausgang entfernt und fragte sich, woher sein Vater wusste, dass er ihn genau in dieser Minute hier antreffen würden.
„Cosmine!“
Der Vater griff nach Cosmins Schultern und riss ihn an sich. Cosmin spürte Bartstoppeln, die seine Wange pieksten. Nach kurzem Zögern erwiderte er die Umarmung.
Sein Vater umfasste beide Wangen und heftete de Blick auf die fast verheilte Unterlippe.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr es mir weh tut, dass ich dich geschlagen habe. Verzeihst du mir, Cosmine?“
Cosmin nickte schwach und blinzelte sich Nässe aus den Augen, die seinen Blick zu verschleiern drohte.
„Cosmine, warum warst du auf dem Dach? Wolltest du wirklich…?“ Auch in den Augenwinkeln seines Vaters glitzerten Tränen.
Cosmin schüttelte mit dem Kopf. „Ich weiß selber nicht, was mit mir los war. Aber Herr Richter hat bestimmt übertrieben. Ich wusste einfach nicht weiter. Ich dachte, dir wäre es lieber, gar keinen Sohn zu haben als einen, der… mit einem anderen Jungen zusammen sein möchte.“

Sein Vater wandte den Blick ab. Für ein paar Sekunden wanderten die Augen des Vaters hinüber zu den Fahrradständern, verweilten auf Max. Dann kehrte der Blick zu Cosmin zurück, doch es schien, als würde sein Vater durch ihn hindurch schauen.
„Bis ich aus Rumänien weggegangen bin, wusste ich nicht einmal, dass es so etwas gibt. Ich meine, dass ein Mann mit einem anderen zusammen leben möchte… so wie mit einer Frau“, sagte er leise. „Es fällt mir immer noch schwer, das zu verstehen. Aber du bist mein Kind, für das ich alles geben würde, was ich habe.“
Die Augen des Vaters wanderte erneut hinüber zu den Farradständern. Cosmin sah, dass ihnen die Jungen der Parallelklasse verstohlene Blicke zuwarfen, während Max die Augen hinter einen Vorhang aus blonden Haaren versteckte. Simon hatte seinen Arm um Moritz’ Schulter gelegt, als wolle er zeigen, dass Cosmin und Max nicht die einzigen Jungen waren, die auf Jungs standen.
„Er passt auf dich auf“, stellte der Vater fest.
„Und ich auf ihn“, erwiderte Cosmin. „Ohne Max wäre ich unglücklich. Das Leben wäre grau, ohne Farbe.“
„Und Max’ Vater?“
Cosmin wusste aus der Anrufliste des Handys gesehen, dass sein Vater einen Anruf seiner Mutter angenommen hatte. „Ich glaube, er weiß es nicht. Oder hast du meiner Mutter was gesagt?“
„Nein“, entgegnete der Vater und fuhr fort, dass er ihr nur erzählt habe, der Sohn sei nach einem Streit mit ihm zu Max geflüchtet.
Außerdem erfuhr Cosmin, dass sein Vater ein weiteres Mal mit Frau Dr. Meyer telefoniert und so erfahren hatte, wie lange die heutige Prüfung dauern würde
Der Vater schaute kurz auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ich muss wieder zurück auf Arbeit, Cosmine. Danke, dass ihr letzten Donnerstag bei mir gewesen seid. Bitte komme wenigstens mal für ein paar Tage wieder nach Hause. Und wenn Max mitkommen will, ich werde versuchen…“
Er ließ offen, was er versuchen wolle und drückte Cosmin einen Umschlag in die Hand.
Cosmin zögerte ihn anzunehmen.
Will er mich jetzt bestechen?
Wie es schien, erriet sein Vater diesen Gedanken. „Ich möchte, dass du nicht nur auf Max oder seine Großmutter angewiesen bist. Außerdem bekomme ich auch Kindergeld für dich.“
Er zog Cosmin noch einmal in die Arme. "Ich… Cosmine, ich finde es schön, dass er auf dich aufpasst“, sagte er leise. Dann eilte er zu seinem auf der anderen Straßenseite geparkten Dacia.

Cosmin wartete, bis der Dacia in eine Seitenstraße abbog und spähte danach in den Umschlag. Darin steckten erneut vier Fünfziger.
Seufzend steckte er den Umschlag in die Hosentasche und trottete zu den Fahrradständern.
„Und? Willst du wieder zu ihm zurück?“, fragte Max und in seiner Stimme schwang die Sorge mit, Cosmin hätte genau so etwas vor.
„Ich schaue vielleicht morgen mal bei ihm vorbei und spiele Heinzelmännchen“, entgegnete Cosmin.
Max atmete hörbar aus. „Wir spielen zusammen Heinzelmännchen!“
Moritz boxte Cosmin spielerisch in die Seite. „Ich glaube, dein Vater ist ganz okay. Wir wollen übrigens heute Abend bei Simmi im Garten grillen und auf die überstandene Prüfung anstoßen.“
Cosmin tippte auf die Hosentasche, in der die Geldscheine steckten. „Klingt gut. Ich spendiere die Würste!“

Max

In der darauffolgenden Woche überstand Max zwei weitere Prüfungen. Nach der Deutschprüfung am Dienstag ahnte er bereits, dass er froh sein durfte, wenn sein Geschriebsel auf den Arbeitszetteln für eine Drei gereicht hatte. Das bedeutete, dass er sich in der Matheprüfung eine Woche später keinen Patzer leisten durfte, wenn er auch nach dem Sommer zusammen mit Cosmin eine Schulbank drücken wollte. Am Tag darauf erfuhren die Teilnehmer der Geschichtsprüfung am Schulaushang ihre Prüfungsergebnisse. Anders als erhofft, hatte es bei Max nur zu einer Drei gereicht. Cosmin rechnete noch am Schulaushang aus, dass Max einen Durchschnitt von 2,4 erreichen würde, sollte er in der schriftlichen Matheprüfung eine Zwei und den mündlichen Prüfungen in Französisch und Chemie mindestens eine Drei schaffen. Fast schien es, als würde Cosmin sich mehr für Max’ Prüfungsnoten interessieren als für die eigenen. Was freilich kein Wunder war, wenn einem die Einsen scheinbar wie von alleine in den Schoß fielen. Cosmin versprach, erst nach dem Ende der Prüfungen wieder zu seinem Vater zurückzukehren, um bis dahin Max bei den Prüfungsvorbereitungen zu helfen. An diesem Mittwoch hatte Max aber auch ein kleines Erfolgserlebnis. Er bestand die Theorieprüfung in der Fahrschule.

Obwohl Max klar war, dass die Matheprüfung alles andere als ein Spaziergang sein würde, gab es zwei Prüfungen, vor denen er einen ungemein größeren Bammel hatte.
Die erste dieser Prüfungen trieb ihm in nächtlichen Albträumen immer öfter den Angstschweiß auf die Stirn. Nur zwei Wochen nach seinem 18. Geburtstag würde er gegen Tang in den Ring steigen müssen.
Und die zweite Prüfung bereitete ihm nicht weniger Kopfzerbrechen. Spätestens im Juli würde er seinem Vater nicht nur gestehen müssen, dass er in Dessau bleiben wolle, sondern auch, dass seine Liebe zu Cosmin der Grund dafür war.

Leon

Ungefähr zur selben Zeit, zu der Max über den Prüfungsfragen in der Fahrschule brütete, verließ Leon das Büro im Erdgeschoss des Hauses seines Bruders Alex, in dem er seit seiner Rückkehr aus Bratislava arbeitete.
Es lief gut für die Firma. Alex hatte den Auftrag für ein neues Einkaufszentrum im nördlichen Speckgürtel von Berlin ergattert, von der Projektierung und der Baubetreuung bis hin zum späteren Management. Es lief gut auch deshalb, weil sie im wesentlichen an einem Strang zogen.
Außer in einem Punkt.
Alex beabsichtigte allen Ernstes, auch den Stiefsohn in die Firma einzubinden, sobald der sein Architekturstudium beendet haben würde. Zweifellos war es eine gute Idee, einen Architekten an die Firma zu binden.
Aber nicht IHN!
Max’ Wunsch, den Kerl vielleicht sogar zu heiraten, lag Leon wie ein unverdaulicher Brocken im Magen. Doch dazu würde er es nicht kommen lassen.

Während er sich durch den nachmittäglichen Berufsverkehr auf den Straßen Schönebergs kämpfte, wanderten Leons Gedanken zu der Sendung, die er im Zollamt abholen wollte. Er hätte nicht gedacht, dass die Sendung aus Taiwan so schnell eintreffen würde.
Die Idee, sich eine derartige Ware zu besorgen, war ihm gekommen, als er kurz nach Max’ Geständnis von einem Kletterunfall in dem einsamen Steinbruch am Petersberg gelesen hatte. Dort war ein Kletterer wegen eines falsch gesteckten Seilknotens abgestürzt und hatte sich dabei schwer verletzt. Zwei weitere Tage hatte er im Darknet recherchieren müssen, ehe er einen Händler fand, der ihm die gewünschte Ware auch verkaufen konnte.
Im Zollamt hievte ein älterer Beamter das Paket mit der Ware aus Taiwan auf den Tresen, öffnete es und studierte die beiliegenden Dokumente.
„Zwei Seile?“, fragte er erstaunt und begutachtete erst das eine und dann auch das andere Seil. Ein Schäferhund schnüffelte am geöffneten Paket sowie an den beiden Seilen und ließ sich dann gähnend auf die vier Pfoten nieder. „Finden Sie die hier nicht in jedem Sportgeschäft und das auch noch viel billiger?“
Leon stieß unauffällig den angehaltenen Atem aus. „Das sind spezielle Seile für eine Höhlenexpedition“, schwindelte er. „Für die hätte man hier mindestens das Dreifache bezahlt.“
„Verstehe“, sagte der Beamte und sah dabei ganz und gar nicht so aus, als würde er verstehen. Er füllte ein Formular aus und schob es über den Tresen. „Bitte zahlen Sie die Gebühr an der Kasse und holen Sie das Paket danach hier ab.“

Eine Stunde später hockte Leon auf dem Parkettboden seines Wohnzimmers und betrachtete die beiden roten, fünfzig Meter langen Seile und befühlte die Stränge.
Das eine der beiden Seile fühlte sich normal an. Kein Wunder, es handelte sich auch um ein völlig normales Kletterseil, nur dass er dafür das Doppelte von dem bezahlt hatte, was ein vergleichbares Seil hier gekostet hätte. Laut Rechnung hatte das zweite Seil den selben Preis. Doch es war eine Spezialanfertigung. Leon ließ den Strang durch seine Finger gleiten. An beiden Seilenden fühlten sich die ersten vier Meter völlig normal an. Doch dann ertastete er die erste Bruchstelle. Sie war mit bloßem Auge kaum erkennbar. Dort würde das Seil nach Angaben des Händlers schon nach einer Belastung von fünfzig bis sechzig Kilogramm reißen. Wenige Meter weiter ertastete Leon eine weitere Bruchstelle.
Dieses Seil hatte ihn nicht nur den auf den Zolldokumenten ausgewiesenen Betrag gekostet, sondern fast fünftausend Euro in einer Kryptowährung.
Leon seufzte und legte das zweite Seil wieder zusammen. Trotz des enormen Preises hoffte er, dass er dieses Seil nicht benötigen würde, um IHN aus Maxis Leben verschwinden zu lassen.

Du kannst ihm vertrauen

Max

Das erste Maiwochenende stand vor der Tür und auch wenn es Max kaum zu glauben vermochte, inzwischen war es genau ein Jahr her, dass seine Beziehung mit Caroline in die Brüche gegangen war.
Der Termin für das „Pferderennen“ rückte unerbittlich näher. Leon wollte die Wochenenden nutzen, um ihn auf den Kampf mit Tang vorzubereiten. Obwohl er mit Cosmin deshalb das letzte Aprilwochenende in Berlin verbracht hatte, planten sie das erste Maiwochenende ebenfalls in Berlin zu verbringen.

In diesem Jahr fiel der erste Mai auf einen Freitag und sein Vater hatte ihm die Wohnung in Berlin für das lange Wochenende reserviert. Allerdings unter einer Bedingung. Er wollte, dass sich Max und Cosmin anders als am Wochenende zuvor auch mal bei ihm und seiner Frau blicken lassen.
Nach dem langen Maiwochenende standen die letzten schriftlichen Prüfungen bevor. Auf die Englischprüfung am Montag musste sich Max nicht vorbereiten; die meisten Kampfsport - oder Klettervideos, die er sich auf Youtube oder Tik Tok anschaute, waren entweder auf englisch oder hatten englische Untertitel und genügten ihm als Prüfungsvorbereitung. Anders sah es mit der Matheprüfung am Freitag aus. Er würde nicht durchfallen, aber wenn er auf dem Abizeugnis einen Durchschnitt von unter 2,5 erreichen wollte, musste er in der Matheprüfung eine Zwei schaffen.
Fast schien es, als hätte Cosmin vor der Matheprüfung einen noch größeren Bammel als er selber. Nicht etwa, weil Cosmin an den eigenen Fähigkeiten zweifelte, sondern weil ihm ebenfalls klar war, dass Max eine Zwei schaffen musste. Und so schleppte Cosmin am Donnerstagnachmittag bestimmt zehn Kilo Mathebücher und - hefter in seinem Rucksack mit nach Berlin.

Kurz bevor der überfüllte Zug in den Bahnhof Charlottenburg einfuhr, erhielt Max eine Nachricht seines Onkels Leon.
„Erwarte Euch am Bahnsteig in Charlottenburg!“
Cosmin schulterte seinen Rucksack. Er linste auf das Handy in Max’ Hand und ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Wieso holt er uns ab? So weit ist es doch nicht bis zu deiner Wohnung“, murrte er.
„Cos-Mi, vielleicht will Leon einfach nur zeigen, dass er das mit uns akzeptiert“, zischte Max ihm zu, während sie von drängelnden Mitreisenden in Richtung der Waggontüren geschoben wurden.
„Gib ihm einfach mal 'ne Chance, okay?“
Cosmin seufzte leise. „Okay.“

Leon wartete an der Treppe zum Fußgängertunnel, der zu den Parkplätzen des Bahnhofs führte und in den sich gerade die Flut aus Mitreisenden ergoss.
„Alles klaro, kleiner Bruder?“, begrüßte er Max und zog ihn in seine Arme.
„Alles klaro, Onkelchen“, erwiderte Max.
Dann wandte sich Leon Cosmin zu und Max stellte erleichtert fest, dass anders als bisher das Strahlen nicht aus dessen Gesicht schwand.
„Hallöchen, schön dich zu sehen, Cosmin.“
Leon reichte Cosmin die Hand. Etwas steif erwiderte Cosmin die Begrüßung, offensichtlich überrascht von Leons freundlichen Worten.
„Wie ich hörte, hast du dich wacker geschlagen bei der Sache mit deinem Vater.“
Cosmin deutete einem flüchtigen Lächeln auf Max. „Ich hatte einen Freund, der mir dabei geholfen hat.“
Ein warmes Prickeln flutete durch Max’ Brust. Er suchte nach einer Erwiderung. Doch Leon kam ihm zuvor, als wolle er das Thema abhaken.
„Bravo! Und jetzt fahre ich euch nach Hause und setze euch dort ab. Hab gleich einen Termin. Aber dich, kleiner Champ, dich will ich heute noch bei mir vermöbeln. Komm so gegen um fünf zu mir. Und du Cosmin…“, er klopfe Cosmin freundschaftlich auf die Schulter, „… du kannst gerne mitkommen und an meinen Geräten trainieren.“

In Max’ Wohnung gönnten sich die Jungen an der Küchentheke zunächst einen kleinen Imbiss. Zwar herrschte im Kühlschrank und in der Tiefkültruhe gähnende Leere, dafür aber war der Proviantbeutel, den ihnen Oma Lisa mitgegeben hatte, prall gefüllt.
Sie saßen nebeneinander auf Barhockern, unter den Barhockern verhakelten sich ihre Füße ineinander.
„Cos-Mi?“
Cosmin biss genüsslich in das mit Hähnchenfleisch und frischem Salat gefüllte Baguette. Doch Max schien es, es würde er mit den glühenden schwarzen Augen ihn statt des Baguettes verschlingen.
„Hm?“
„Du guckst mich so an, als wäre ich dein Nachtisch.“
Cosmins Lippen wölbten sich, ein zartes Rosa inmitten eines schokoladenfarbenen Brauns und gekrönt von einem Kranz schwarzer Härchen. Von ihnen ging plötzlich eine Anziehungskraft aus, die alle physikalischen Gesetze auf den Kopf zu stellen schien.
Max verfolgte geradezu gebannt, wie Cosmin den Bissen hinunter schluckte.
„Würdest du dich denn von mir vernaschen lassen?“
Statt zu antworten griff Max in Cosmins Nacken und zog Cosmin an sich, bis er dessen volle Lippen auf den eigenen Lippen spürte.
„Vernasch mich!“, japste Max, als sie sich Minuten später voneinander lösten.
Cosmin seufzte leise. „Schon vergessen? Heute Nachmittag wollte irgendwann meine Mutter vorbei kommen und uns was zu essen bringen. Sie findet es vielleicht komisch, wenn sie mich dabei erwischt, wie ich ihren einzigen Stiefsohn vernasche.“
Der Gedanke an die Stiefmutter linderte die Hitze in Max’ Bauch. „Und du willst nicht mit zu Leon kommen?“
„Um zuzugucken, wie er dich vermöbelt? Nee danke. Außerdem willst du danach noch zu deinem Kumpel. Maxi, ich würde gerne…“
Max ertänkte den Rest des Satzes in einem Kuss. „… Matheaufgaben rechnen, ich weiß.“

„Warum hast du Cosmin nicht mitgebracht? Hat der Bengel etwa immer noch Schiss vor mir?“, fragte Leon, als sich Max eine Stunde später im Korridor von Leons Haus die Schuhe von den Füßen streifte.
Max ahnte natürlich, dass Cosmin seine Scheu Leon gegenüber noch nicht so richtig abgelegt hatte.
„Ich glaub’, er hatte keinen Bock, weil ich nachher noch bei Oski vorbei schauen will.“
Vom Korridor führte eine Treppe hinunter in den Keller. Sie betraten den von mehreren vergitterten Lichtschächten erhellten Raum, einem mit modernen Geräten und einem Boxring ausgestatteten Fitnesscenter.
„Und bist du sicher, dass ihr nach dem Sommer zusammen bleiben werdet?“, fragte Leon, während er in seine Trainingssachen stieg und fast kam es Max so vor, als würde ein Lauern in Leons Stimme mitschwingen.
Wie oft soll ich dir das noch zwitschern, Onkelchen?
„So sicher wie das Popcorn im Kino.“
„Also ich verkneife mir Popcorn im Kino… Maxi, auch wenn es dich nervt.“ Leon legte eine Hand auf Max’ entblößte Schulter. „Bevor du dich fest bindest, mit Cosmin zusammen wohnst oder ihn gar heiraten willst, probiere es noch mal mit einer Kirsche. Vielleicht merkst du dann, dass es mit ihr doch mehr Spaß macht, und du ersparst dir und ihm ebenfalls ein späteres Drama.“
Max unterdrückte ein Augenrollen. „Ich hab das in den Winterferien probiert, okay? Ich muss nicht noch mehr Kirschen probieren.“
Leon kramte Boxhandschuhe und Gesichtsschützer aus einem Schrank und deshalb konnte Max nicht erkennen, ob Leon das Gesicht verzog.
„Schon gut, Kleiner.“ Leon wandte sich mit ausdruckslosem Gesicht um und drückte Max Boxhandschuhe und Gesichtsschutz in die Hand. „Dann wäre es gut, wenn ich einen besseren Draht zu Cosmin bekomme. Wenn ihr mal wieder in diesem Steinbruch am Petersberg seid… ich glaube, bei ein paar Klettertouren mit ihm gewöhnen wir uns aneinander.“
Max hauchte seinem Onkel einen Kuss auf die Wange. „Danke Leon!“
Leon antwortete mit einem Augenzwinkern und zögerte plötzlich, sich den Zahnschutz aufs Gebiss zu schieben.
„Ehe ich’s vergesse, schöne Grüße von Tony. Das Pferderennen ist schon am 6. Juni, nur eine Woche nach deinem Geburtstag. Wir müssen beim Training echt einen Zahn zulegen. Am Samstag und Sonntag bin ich mit Huong auf Rügen. Also lass uns endlich anfangen jetzt!“
Leon legte beim Training mehr als nur einen Zahn zu. Immer wieder ließ er sich von Max attackieren, schimpfte lauthals, wenn Max’ Tritte und Schläge ins Leere liefen und umarmte ihn, wenn er von Max nieder geschlagen oder aufs Kreuz gelegt wurde.
Nach fast drei Stunden sanken sie erschöpft und völlig außer Atem auf die Umkleidebank.
„Morgen Vormittag ziehen wir das wieder durch, Champ“, sagte Leon, als sie sich später nach einer Dusche und einem kleinen Imbiss auf dem Gehweg vor Leons Haus voneinander verabschiedeten. „Und lasst euer Reaktionstraining nicht schleifen!“
„Alles klaro Onkelchen“, erwiderte Max und schwang sich aufs Rad. Inzwischen war es fast neun Uhr.

Ein neues Paulinchen

Max

Nach dem Training mit Leon wollte Max wenigstens kurz bei Oskar vorbei schauen, der mal wieder eine sturmfreie Bude hatte und mit ein paar Leuten aus der ehemaligen Klasse in den Mai hinein feierte.
Dort erlebte Max eine unerfreuliche Überraschung. Schon als ihm Oskar die Tür öffnete, schien es, als wäre es Oskar lieber gewesen, Max hätte sich nicht blicken lassen.
„Äh Welli, wir dachten… äh, du kommst gar nicht mehr“, stammelte er und umarmte Max halbherzig.
„Schon gut, Oski. Ich hatte einen schweren Tag und verdufte gleich wieder“, erwiderte Max und schlenkerte die Schuhe von den Füßen. Der Laminatboden des Wohnungsflures war mit mindestens zehn weiteren Paar Schuhen übersät.

Max trat ins Wohnzimmer und sein erster Blick fiel auf die Eckcouch, auf der Charles und Murat lümmelten. Murat hielt ein vielleicht sechzehn Jahre altes Mädchen offenbar türkischer Abstammung in den Armen. Das Mädchen auf Charles’ Schoß erwiderte Max’ Blick mit einem herablassenden Lächeln.
Max ließ seinen Blick weiter über die Beulen an Charles’ nackten Oberarmen schweifen und fragte sich, wie viele Stunden der Kerl jeden Tag auf einer Hantelbank verbrachte.
Er klopfte einen Gruß auf die mit Fliesen beklebte Platte des Wohnzimmertischs. Sie war mit Bierbüchsen, Weinflaschen und Gläsern beladen. „Hi Leute, schön euch zu sehen.“ An Charles gewandt fuhr er fort. „Wie ich sehe, hast du dir ein neues Paulinchen zugelegt Charly?“
Charles, der es hasste, wenn man Charly zu ihm sagte, reagierte mit zusammengebissenen Zähnen auf Max’ Provokation. „Zwischen euch war Schluss, Max“, presste er hervor. Trotz der im Vergleich zum Vorjahr deutlich angeschwollenen Oberarme wagte er es nicht, Max mit „Maxi“ anzureden. „Aber ich muss schon sagen, dass Caro ein viel heißerer Schlitten als Paulinchen ist.“
„Und von dir, Chuck, kann sich manch ein Mann eine Scheibe abschneiden“, ergänzte Caroline mit einem frivolen Lächeln auf den Lippen und schmiegte sich noch fester an Charles.
Obwohl Max’ Interesse an Caroline erloschen war, fühlte er einen leisen Stich in der Brust.
Wieso hatte sie sich so zickig bei mir und mit dem springt sie sofort ins Bett?
Max wandte sich von Charles und Caroline ab. Neben ihm zwängten sich Nicholas und dessen neue Freundin in einem Sessel. Nicholas stemmte sich umständlich aus dem Sessel, um Max mit einer kurzen Umarmung zu begrüßen. Er deutete auf das Mädchen im Sessel.
„Hey, das ist Heidi, ich hab dir ja schon von ihr erzählt.“
Max nickte Heidi einen Gruß zu. „Hi, ich bin Max.“
„Ich weiß“, wisperte das Mädchen. Es schielte etwas, sodass eines ihrer Augen an Max vorbei zu gucken schien, als sie zu ihm aufschaute. „Nick erzählt sehr viel von dir, Max.“
„Toll!“ Max winkte auch Oskars Freundin einen Gruß zu und bemerkte, dass sie ihrer Punkfrisur ein paar weiter Farbtöne hinzugefügt hatte.
Ich habe definitiv die hübscheste Freundin in unserer Runde, grinste er in sich hinein und ließ sich auf einen Stuhl fallen, den Oskar eilig herbei geschafft hatte. Auf der Couch wäre neben Charles mehr als genug Platz für ihn gewesen.
„Was willst’n trinken, Welli?“
„Hast du einen Sprudel Oski? Leon hat mich eben drei Stunden gestriezt.“
„Klar Mann.“ Oskar stapfte aus dem Zimmer und kehrte mit einer Mineralwasserflasche zurück.
„Na dann, auf euch.“ Max prostete den anderen zu und schaute dabei Caroline an, ohne die Augen hinter Haarsträhnen zu verstecken. Sie zeichnete mit den Fingern einen von Charles’ zweifellos beeindruckenden Bizeps nach, als wolle sie Max zeigen, dass es hier jemanden mit weit größerem Oberarmumfang als bei ihm selber gab.

„Wie ich hörte, hast du in den Winterferien ziemlich eins auf den Deckel gekriegt in eurem Budoclub, Max“, grinste Charles und aus den Augenwinkeln sah Max, dass Oskar im Sessel neben ihm erschrocken den Kopf zwischen die Schultern zog.
„So was passiert manchmal, Charly“, winkte Max ab. „Vielleicht sollte ich auch öfter Gewichte stemmen.“
Charles und Murat schauten sich kurz an, als würden sie ein stummes Gespräch führen. Murat wandte sich dann zu Max um.
„Chuck ist jedenfalls ungeschlagen im Armdrücken.“
„Schön für ihn“, erwiderte Max und nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche. Ihm ging plötzlich auf, was die beiden im Schilde führten.
Charly hat das mit dem Armdrücken drauf. Und jetzt will er hier zeigen, wie er meinen Arm auf den Tisch knallt.
Max fühlte sich nach dem Training mit Leon total ausgepowert. Zumal er am Vormittag auf dem Dachboden seiner Oma auch zwei Stunden an den Geräten und mit Cosmin trainiert hatte. Einzig die Finger hatte er heute noch nicht belastet, sah man mal von den morgendlichen Klimmzugserien am Türrahmen ab. Max knuffte Nicholas in die Seite. „Wie läuft’s bei euch so, Nick?“, fragte er, obwohl ihm Nicholas bereits gestern am Telefon erzählt hatte, dass er endlich mit einer Traumfrau zusammen war.

„Ich hab’s dir gleich gesagt, dass Maxi kneifen wird“, flüsterte Caroline Charles ins Ohr, laut genug für alle anderen Ohren im Zimmer.
Max erstarrte.
Jäh fühlte er sich an jenen Moment vor einem halben Jahr erinnert, als Tang ihn nach dem „Pferderennen“ herausgefordert hatte.
Jetzt hatten sie ihn!
Sollte er kneifen, würden das in ein paar Tagen all seine ehemaligen Berliner Mitschüler wissen.
Er schenkte seiner rachsüchtigen Ex - Freundin ein bezauberndes Lächeln.
„Und was machen wir danach? Wer mehr Liegestütze schafft?“
„Da würdest du gewinnen, Max“, sagte Charles und schob Caroline von seinem Schoß. Dann beugte er sich vor und stützte den angewinkelten rechten Arm auf der Tischplatte ab.
Max rückte mit dem Stuhl näher an den Tisch heran umklammerte Charles’ rechte Hand und stützte seinen Arm ebenfalls auf dem Tisch ab.
„Ich sage, wann es los geht“, frohlockte Murat, offenbar schon fest von Charles’ Triumph über Max überzeugt. „Drei - Zwei - Eins - Los!“

Charles powerte sofort los, drücke Max’ Hand in Richtung Tischplatte. Max spürte die Entkräftung in seinem Arm, doch Hand und Finger fühlten sich fit an.
Seine Hand mutierte zur Schraubzwinge, die Finger schlossen sich um Charles’ Hand und quetschten sie, als wollten sie die eingeschlossene Hand zermalmen. Charles keuchte schmerzerfüllt. Noch hielt der Druck gegen Max’ rechten Arm, verstärkte sich sogar. Max biss die Zähne zusammen. Wenige Zentimeter trennten seine Fingerknöchel von der Tischplatte. Er schloss die Finger noch etwas fester, hörte, dass Charles’ Fingerknöchel knackten.
„Merde!“, stieß Charles mit krebsrotem Gesicht aus. Der Druck seines Arms brach in sich zusammen und Max rammte Charles’ Hand so heftig auf die Tischplatte, dass die Gläser und Flaschen klirrten.
„Bist du vollkommen durchgeknallt?!“, japste Charles und rieb sich die malträtierte Rechte.
Max entging nicht, dass in Carolines verächtlichem Blick plötzlich auch Bewunderung hindurch schimmerte.
„Schon seit knapp 18 Jahren“, grinste Max und stand vom Stuhl auf. „Oski, ich mach mich auf die Socken. War schön, mit euch zu plaudern.“

Nicholas erhob sich ebenfalls und zog Heidi mit auf die Füße. Vermutlich befürchtete er mal wieder, dass er als einer von Max’ besten Kumpels Blitzableiter für Charles’ Frust sein könnte.
„Teilen wir uns das Taxi rein, Welli?“
Max klopfte Nicholas auf die Schulter. „Beim nächsten Mal, Nick. Ich bin heute mit dem Rad hier.“

Irgendwas führt er im Schilde

Cosmin

Nachdem Max die Wohnung verlassen hatte, angelte Cosmin ein erst vor einigen Tagen gekauftes Lehrbuch der Baustilkunde aus seinem Rucksack. Mit knapp vierzig Euro war es nicht gerade billig gewesen; allerdings hatte er das Buch vom Gutschein bezahlt, den Max ihm zu Ostern geschenkt hatte. Er trat vom Wohnzimmer auf die überdachte Terrasse hinaus und ließ den Blick über den gepflegten Rasen und die Blumenbeete schweifen.
Cosmin seufzte leise. Es wäre sicher traumhaft, hier mit Max zu leben.
Werden wir auch nach dem Studium noch zusammen sein?
Cosmin wischte die Frage aus seinem Kopf, machte es sich auf einem der Rattanstühle bequem und begann im Buch zu blättern.
Vielleicht war es das Zwitschern der Vögel im Efeu der Grundstücksmauer oder das Summen der Bienen in den Blumenbeeten, bereits nach wenigen Seiten begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu verschwimmen.

„Cosmin… ?“
Cosmin tauchte aus einem Traum auf, der vermutlich erst ab Achtzehn erlaubt war.
Er blinzelte verwirrt. Neben ihm stand seine Mutter, ihre Hand lag auf seiner Schulter.
„Mutter, wie spät…“
Cosmin bemerkte plötzlich die verräterische Beule in der Jogginghose, die sich wie ein Termitenhügel aus seinem Schoß heraus wölbte und bedeckte sie hastig mit der Baustilkunde.
„Es ist kurz vor halb sechs. Ich habe es nicht eher geschafft“, erwiderte sie und setzte sich ebenfalls. Ihr Blick verweilte kurz auf dem Buch. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie ahnte, was das Buch verbergen sollte.
„Falls du etwas essen möchtest, ich habe euch was in den Kühlschrank gestellt und noch mehr im Auto. Vielleicht hilfst du mir, es in die Küche zu bringen.“
„Jetzt gleich?“ Cosmin wollte lieber nicht wissen, wie es aussah, würde er jetzt aufstehen.
Seine Mutter lächelte, als hätte sie seinen Gedanken erraten. „Nachher… Wo ist Maximilian?“
„Bei seinem Onkel. Sie verprügeln sich mal wieder gegenseitig.“
Sie schien erleichtert darüber zu sein. Cosmin ahnte, dass sie mit ihm unter vier Augen über seine Flucht vor dem Vater reden wollte und nicht so richtig wusste, wie sie damit anfangen könne.

„Du willst wissen, warum ich… von zu Hause abgehauen bin, oder?“
Sie tätschelte seine Hand und musterte die inzwischen verheilte Lippe. Er widerstand dem Reflex, die Hand von der Armlehne zurückzuziehen. „Nur, wenn du es mir sagen möchtest, Cosmin.“
„Es ist … ähm ziemlich kompliziert sozusagen.“
„Ich weiß.“
Cosmin schaute verblüfft auf. „Papa hat es dir erzählt?“
Die Mutter schüttelte mit dem Kopf. „Nur, dass ihr einen Streit hattet und ihm die Hand ausgerutscht ist. Er sagte, das tat ihm anschließend genauso weh wie dir.“
„Ahnst du, weshalb wir uns gestritten haben?“, fragte Cosmin und heftete den Blick auf das Buch in seinem Schoß. Sein Herz schien plötzlich auch irgendwo in seinem Hals zu schlagen.
„Ich glaube schon.“
Inzwischen dröhnte der Herzschlag bis zu seinen Ohren. „Sag es!“
Sie ließ ihre Hand auf seiner Hand ruhen. „Du weißt selber, wo dein Vater aufwuchs. Es fällt ihm schwer zu akzeptieren, dass sich auch zwei Männer sehr gern haben können.“
Cosmin schluckte, um das Herzklopfen aus seinem Hals zu bekomme.
„Und du?“
„Cosmin, ich weiß, du bist wegen mir sehr unglücklich gewesen. Das kann ich nicht mehr ändern. Ich möchte einfach nur, dass mein Junge glücklich ist.“
Cosmin löste seinen Blick vom Buch und sah, dass Tränen in den Augen seiner Mutter schimmerten. Er unterdrückte den überwältigenden Drang, seine Mutter zu umarmen, umfasste jedoch ihre zarte Hand.
„Danke Mutter“, sagte er leise.
Jäh durchzuckte ein eisiger Schrecken seine Brust.
„Maxis Vater… ahnt er was?“
Ihre braunen Augen schien jeden Millimeter seines Gesichtes zu erforschen und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. „Er mag dich, Cosmin. Und irgendwann solltet ihr ihm das auch sagen. Ich weiß nicht, wie er es aufnehmen wird. Aber wer mir Sorgen macht ist nicht mein Mann, sondern Alex’ Bruder Leon. Max ist sein kleiner Liebling und wenn er erfährt, dass Max eine Beziehung mit einem anderen Jungen hat, dann…“
Sie seufzte und zuckte ratlos mit der Schulter.
„Er weiß es bereits.“
„Was?!“
Seine Mutter starrte ihn an, als wäre ihm noch eine Nase gewachsen. „Er weiß es? Und er hat euch trotzdem vom Bahnhof abgeholt und trainiert jetzt mit Max?“
„Max hat es ihm erzählt. Vor ein paar Monaten in den Winterferien, als wir hier waren. Max sagt, Leon akzeptiert das mit uns.“
Seine Mutter schien nun auf etwas hinter ihm zu blicken, das sich nicht mehr in diesem Sonnensystem befand.
„Irgendwie kann ich das nicht so richtig glauben“, sagte sie, als ihr Blick zu ihm zurück kehrte.
„Ich auch nicht.“

Nach dem sich seine Mutter von ihm verabschiedet hatte, äugte er in die mit zubereiteten Speisen gefüllte Frischhaltedosen. Zweifellos verwöhnte Oma Lisa ihn und Max mit leckeren Delikatessen. Doch er vermisste etwas die gewohnte rumänische Küche. Seine Mutter wusste offensichtlich immer noch, was er besonders mochte.
Ursprünglich hatte er vorgehabt, mit dem Abendessen auf Max zu warten. Doch beim Anblick der gefüllten Paprikaschoten oder dem Duft der Hackröllchen lief ihm das Wasser so schnell im Mund zusammen, dass er kurz davor war zu sabbern.

Später hockte er sich auf die Couch und blätterte weiter im Buch über Baustile. Max hatte ihm geschrieben, dass er ein halbes Stündchen bei dessen Kumpel Oskar vorbei schauen wolle. Inzwischen war es fast um zehn und Cosmin überlegte, sich jetzt schon eine Dusche zu gönnen, obwohl er sich die lieber zusammen mit Max gegönnt hätte.
Draußen im Flur klappte die Wohnungstür und gleich darauf trat Max ins Wohnzimmer. Das blonde Haar war vom Fahrtwind zerzaust, das Gesicht gerötet, seine blauen Augen strahlten.
Cosmin war plötzlich froh, dass er mit der Dusche gewartet hatte. Er erhob sich von der Couch.
„Ich hab schon gegessen, sorry.“
„Kein Problem, hab mir bei Leon was rein gezogen“, erwiderte Max und nahm Cosmin in seine Arme.
„Was gibt’s denn zu futtern?“, fragte er, nach dem sich ihre Lippen wieder voneinander gelöst hatten.
„Meine Mutter hat Essen für eine ganze Woche angeschleppt. Ich glaube, die frittierten Hähnchenstücken sind für dich.“
„Her damit!“
Während des Essens erzählte Max von der Begegnung mit Caroline und davon, dass sie sich ausgerechnet seinen Widersacher in der ehemaligen Klasse als neuen Lover ausgesucht hatte.
Cosmin war klar, was Caroline im Schilde führte.
Sie will ihn eifersüchtig machen!
„Und? Tat’s weh?“
„Was?“
„Dass deine Ex bei diesem Charly auf dem Schoß saß?“
Max lachte auf und schüttelte den Kopf. „So lange du nicht bei dem auf dem Schoß sitzt, ist es mir egal. Cos-Mi…?“
„Hm?“
„Leon… ich glaube, du könntest dich endlich ein bisschen entspannen, echt! Er will mal wieder vorbei kommen, wenn wir da am Petersberg campen. Auch mit dir klettern. Er meint es total ernst, dass er das mit uns akzeptiert.“
„Ich weiß nicht, Maxi. Diese 180 Grad Wende ist irgendwie komisch…“
„Hey, komm schon, Cos-Mi. Du kannst ihm vertrauen.“
„Okay, ich werd’s versuchen“, lenkte Cosmin ein. Doch insgeheim fragte er sich, was Leon hinter der der freundlichen Fassade verbarg.
Irgendwas führt er im Schilde!
Leon zu vertrauen war vermutlich nicht anderes, als würde ein Kaninchen dem freundlichen Zischeln einer Schlange Glauben schenken.
Max öffnete zwei Flaschen Radler und drückte Cosmin eine davon in die Hand. „Darauf ziehen wir eins rein!“
Er legte den rechten Arm um Cosmins Schulter und kraulte die schwarzen Zotteln, während Cosmin mit der Linken die warme Haut unter Max’ T - Shirt erkundete. Erneut begann eine Beule aus seiner Jogginghose zu wachsen. Zwar hatten sie alle Nächte seit der Flucht vor seinem Vater zusammen verbracht. Doch nachdem Max eines Nachts bei einem Gang zur Toilette um ein Haar seiner Oma in die Arme gelaufen wäre, verkniffen sie es sich, Hitze im Schoß des anderen zu entfachen.
Maxi?"
„Hier!“
„Meine Mutter wollte wissen, warum ich von zu Hause abgehauen bin.“
Max’ rechte Hand verharrte regungslos in Cosmins Locken. „Du hast ihr hoffentlich so was erzählt wie, dass du keinen Bock auf Lernen oder so hast.“
Cosmin schnaubte leise. „Das hätte sie mir natürlich sofort geglaubt. Nee, ich wollte von ihr wissen, was sie vermutet. Maxi, sie ahnte es längst, dass wir uns… dass wir zusammen sind, richtig zusammen.“
„Scheiße!“
„Reg dich ab!“, sagte Cosmin und berichtete von der Unterhaltung mit seiner Mutter.
„Sie macht sich Sorgen wegen Leon? Kapier ich nicht!“ Max’ Blick fiel auf den Hügel, der sich aus Cosmins Schoß erhob. „Aber sie hat Recht. Irgendwann werde ich es meinem Alten sagen müssen, vielleicht wenn wir aus Rumänien zurückkommen. Ich hoffe, er rastet nicht auch so aus wie dein Alter“, fuhr Max nachdenklich fort und begann mit den Fingern der linken Hand zu erforschen, was Cosmins Jogginghose verbeulte.
Cosmin erschauerte unter den zärtlichen Berührungen.
„Cos-Mi, du guckst mich schon wieder an, als wäre ich dein Nachtisch“, grinste Max und streichelte die Beule in Cosmins Schoß.
„Maxi, ich glaub’, ich muss erst einmal unter die Dusche“, sagte Cosmin. Er bemerkte, dass sich seine Stimme plötzlich heiser anhörte.
Max hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen.
„Das trifft sich gut, Cos-Mi, da wollte ich auch gerade hin.“

Rückkehr nach Hause

Max

Obwohl das erste Maiwochenende drei Tage umfasste, schien es Max, als würde es genauso schnell verstreichen wie ein ganz normales Wochenende. Da Leon am Freitagnachmittag mit Huong zum Wochenendausflug auf Rügen aufbrach, übernahm Cosmin am Samstag und am Sonntag an den Vormittagen die Rolle des Sparringpartners. Und nicht wenige Stunden an diesem Wochenende schlüpfte Cosmin in die Rolle eines erbarmungslosen Mathelehrers.

Den Nachmittag des Maifeiertages verbrachten beide Jungen in der Magic Mountain Kletterhalle, wo es Cosmin im zweiten Versuch endlich gelang, eine Route vorzusteigen, bei der seine Freude über die Acht für den Schwierigkeitsgrad durch kein beigefügtes Minus getrübt wurde.

Am Samstagabend überstand Max zusammen mit Cosmin ein Abendessen bei seinem Vater und der Stiefmutter, ohne dass sein Vater den Verdacht schöpfte, mit ihm würde etwas nicht stimmen. Als der Vater erfahren wollte, ob er wieder eine Freundin habe, ließ Max den Kopf hängen und verriet, dass Caroline ihm einen Korb gegeben hätte und nun ausgerechnet mit Intimfeind Charles zusammen sei. Ihm entgingen nicht die verstohlenen Blicke, mit denen ihn seine Stiefmutter während des Abendessens musterte.

Sofern Max die Deutschprüfung nicht verhauen hatte und bei der Matheprüfung nicht durchfiel, musste er in der dritten Maiwoche nur noch die mündlichen Prüfungen in Französisch und Chemie sowie die praktische Prüfung in der Fahrschule überstehen. Deshalb bat er seinen Vater, ihm die Wohnung nicht nur für die Pfingsttage frei zu halten, die in diesem Jahr auf das vorletzte Maiwochenende fielen, sondern auch für die beiden Wochen nach Pfingsten.

Wegen der Englischprüfung am nächsten Morgen begaben sich Max und Cosmin am Sonntagabend nach ihrer Rückkehr aus Berlin auf Max’ Zimmer, kaum dass sich Oma Lisa von ihnen verabschiedet hatte. Nach der Abendtoilette lagen sie auf Max’ Schlafcouch wie satte Katzen nebeneinander. Die Jungen hatten in Berlin die Vorzüge der Übergröße des Bettes im Schlafzimmer ausgiebig zu nutzen gewusst. Max vermutete, dass die vorherigen Mieter seiner Wohnung dieses Bett nicht nur als Schlafstatt angeschafft hatten.
Seine Finger kraulten Cosmins pechschwarze Mähne. Mit den Gedanken war er jedoch schon beim nächsten Wochenende. Leon wollte wegen des unerbittlich näher rückenden Termins für das „Pferderennen“ das Vorbereitungstraining mit ihm fortsetzen. Da die Berliner Wohnung an Feriengäste vermietet war, würde Max bei Leon übernachten. Allerdings hatte er bislang die Pläne für das kommende Wochenende Cosmin gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Max hoffte, dass er Cosmin überreden konnte, sich mit ihm für zwei oder drei Nächte bei Leon einzuquartieren.
„Cos-Mi?“
Cosmin blickte vom Handy auf. Max ahnte, in welchen Internetforen Cosmin gerade herum gestöbert hatte.
„Mm?“
„Nächstes Wochenende… Leon will, dass ich wieder zu ihm komme, weil es bis zum Pferderennen nur noch fünf Wochen sind. Aber wir müssten bei ihm übernachten.“
Fast schien es, als breite sich Erleichterung in Cosmins von der Leselampe beleuchtetem Gesicht aus.
„Am Sonnabend wird mein Vater 37, Maxi.“
„Und du suchst noch ein Geschenk für ihn?“, fragte Max, obwohl er bereits ahnte, was Cosmin auf der Zunge lag.
„Er will abends mit ein paar Kollegen feiern. Ich… ich würde ihm gerne ein bisschen bei der Vorbereitung helfen.“
Für einen Moment stockte Max der Atem. „Du willst wieder zu ihm zurück?“, fragte er besorgt.
„Nur so lange du in Berlin bist.“
Max ließ den Kopf erleichtert aufs Kissen zurück sinken. „Ich werde dich trotzdem vermissen.“
Cosmin hauchte Max einen Kuss auf die Lippen. „Du wirst es überleben.“
Du hättest mir ruhig sagen können, dass du mich auch vermissen wirst.
„Maxi?“
„Pennt gleich ein.“
„Da dieses blöde Pferderennen schon eine Woche früher startet und du es hoffentlich heil überstehst… ich würde meinen 18. Geburtstag gerne in Rumänien feiern.“
„Mit Camelia? Schon vergessen? Die Prinzessin ist verheiratet“, spöttelte Max und tat so, als hätte er die Anspielung auf den brutalen Chinesen überhört.
Cosmin stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Blödmann! Mit dir natürlich, dort im Gebirge. Wir hätten drei Wochen Zeit bis zur Zeugnisausgabe und müssten nicht bis Juli warten.“
„Klingt gar nicht mal so übel. Da ich gewinnen werde, könnten wir gleich am Montag mit Leons Karre los düsen. Und du bist sicher, dass dein Alter nicht wieder ausrastet, wenn du am Wochenende dort bist?“
Cosmin bettete den Kopf auf Max’ Schulter. „Ich glaub’ schon.“

Anders als bei der Englischprüfung geriet Max am Freitag bei der Matheprüfung gehörig ins Schwitzen. Dennoch hoffte er, dass seine Berechnungen auf den Arbeitszetteln für eine Zwei reichen würden. Er hatte jede der Aufgaben gelöst und ein Teil seiner Ergebnisse stimmte mit Cosmins Ergebnissen überein. Und bei den Aufgaben, wo das nicht der Fall war, würde Frau Dr. Meyer vielleicht die zur Zwei fehlenden Punkte in seinem Lösungsweg finden.

Cosmin begleitete ihn am Nachmittag zum Bahnhof. Max würde bereits am darauffolgenden Montag nach Dessau zurückkehren. Doch der Abschied auf dem Bahnsteig fühlte sich für ihn trotzdem fast so an, als würde er zu einer Reise ohne Wiederkehr aufbrechen. Zum ersten Mal seit drei Wochen würde er morgens wieder allein aufwachen…

Cosmin

Erst als der Zug in Richtung Berlin seinen Blicken entschwand, schluckte Cosmin an einem Kloß, der ihm die Kehle zuzuschnüren drohte. Er schulterte seinen mit ein paar Sachen und Büchern gefüllten Schulrucksack und wandte sich zum Gehen. Inzwischen lag die Begegnung mit seinem Vater auf dem Vorplatz der Schule zwei Wochen zurück. Es war auch die Sorge, dass sein Vater erneut ausrasten könnte, die Cosmin bedrückte. So, als würde sie wie ein Zentnergewicht im Rucksack stecken und auf den Schultern lasten, schlurfte er zu den Fahrradständern des Bahnhofsvorplatzes.
Anders als vor drei Wochen wusste er jedoch, wo er notfalls einen Unterschlupf finden konnte. Simon wollte am Abend mit Moritz und ein paar anderen Leuten im Garten der Eltern das Ende der schriftlichen Prüfungen feiern und hatte ihn und Max ebenfalls eingeladen. Außerdem hatte ihm Oma Lisa einen Hausschlüssel in die Hand gedrückt und gesagt, dass er jederzeit zu ihr zurückkehren könne, sollte es erneut zum Streit mit seinem Vater kommen.

Eine Viertelstunde später bog Cosmin in die Seitenstraße zum Plattenbau ein, in dem er mit seinem Vater wohnte. An den Briefkästen vor dem Hauseingang unterhielt sich sein Vater mit Herrn Richter. Wie es schien, kam sein Vater gerade von der Arbeit, denn er war im Arbeitsoverall gekleidet. Als Cosmin das Rad zum Fahrradständer neben der Eingangstreppe schob, bemerkten ihn die beiden Männer und sein Vater brach das Gespräch mitten im Satz ab. Erleichterung und Freude breiteten sich auf seinem Gesicht aus, Herrn Richters buschige Augenbrauen hingegen verbogen sich zu Fragezeichen. Während Cosmin die Eingangstreppe hinauf stieg, fühlte er, wie ihm die offenkundige Freude im Gesicht des Vaters zentnerschwere Lasten von der Schulter nahm und die Beklemmung in seinem Brustkorb löste.
Er nickte Herrn Richter einen Gruß zu.
Sein Vater nahm ihn in die Arme.
„Cosmine, ich hatte solche Angst, dass du mir immer noch böse bist“, flüsterte er auf rumänisch und zog Cosmin mit sich ins Haus.
„Und ich habe immer noch ein bisschen Angst vor dir, Tata“, erwiderte Cosmin.
Herr Richter stapfte hinter ihnen die Treppe hinauf und schien enttäuscht, dass er vergeblich die Ohren spitzte.

Cosmin erwartete, in der Wohnung ein heilloses Chaos vorzufinden. Inzwischen war es länger als eine Woche her, dass er hier nach dem Rechten gesehen hatte. Zwar stapelte sich im Spülbecken und in der Spülmaschine benutztes Geschirr, aber immerhin hatte sein Vater die Versuche aufgegeben, sich selber Maisbrei zu kochen und Töpfe dabei in Kohlegruben zu verwandeln. Das Wohnzimmer sah sogar aus wie ein Wohnzimmer. Auf der Schlafcouch häuften sich nicht wie üblich schmutzige Klamotten inmitten der zerknitterten Bettwäsche, stattdessen war die Couch mit einer Tagesdecke überzogen.
„Du brauchst keine Angst mehr vor mir zu haben, Cosmine. Ich werde so etwas nie wieder machen“, sagte der Vater und nahm eine Packung Eier aus dem Kühlschrank.
„Tata, ich meine auch die Angst davor, was du über mich denkst. Und über Max“, erwiderte Cosmin leise.
Sein Vater stellte die Eierpackung auf der Arbeitsplatte neben dem Herd ab, bedeutete Cosmin, sich zu setzen und nahm ihm gegenüber am Küchentisch Platz.
„Manchmal erzählen sich die Kollegen auf Arbeit Witze über… Schwule.“ Er griff nach Cosmins linker Hand und streichelte sie. „So richtig lachen konnte ich noch nie darüber, weil… bei uns redet man nicht über so etwas. Aber jetzt, es ärgert mich, weil ich das Gefühl habe, sie machen sich auch über meinen Jungen lustig.“

Wo feiern wir deinen 18. Geburtstag?

Cosmin

Cosmin genoss die Wärme, die von der Hand des Vaters in die eigene floss und sich in seinem Körper auszubreiten schien.
„Ihr habt euch gern, ich meine… so wie deine Mutter und ich, so wie wir uns geliebt haben, nicht wahr?“
„Tata, ich weiß jetzt, was es bedeutet, verliebt zu sein. Es gibt natürlich ein paar Unterschiede.“
Cosmin bemerkte, dass sein Vater erbleichte und fuhr hastig fort: „Wir haben uns das nicht ausgesucht, weißt du? Max wollte sogar wieder zurück nach Berlin, um mir aus dem Weg zu gehen“, sagte Cosmin und erzählte davon, welche Folgen der verunglückte erste Kuss gehabt hatte und wie schwer es auch ihm selber gefallen war, seine Gefühle Max gegenüber zu verstehen.
Der Vater seufzte. „Weiß deine Mutter Bescheid?“
Cosmin nickte. „Sie hat es geahnt“, erwiderte er und fuhr fort, dass sie hoffe, Max’ Vater werde Verständnis für ihre Beziehung haben.
„Sie liebt dich immer noch, Cosmin.“ Sein Vater seufzte erneut. "Ihr, also du und Max, ihr werdet es später mal schwer haben. Vielleicht denken die meisten Leute hier gar nicht so viel anders darüber als die Menschen in Porumbita. Cosmine… ?
„Ja?“
„Bleibst du jetzt wieder hier?“ Die Stimme des Vaters klang beinahe ängstlich.
„Darf Max auch weiterhin zu uns kommen?“, antwortete Cosmin mit einer Gegenfrage.
Sein Vater zögerte einen Moment.
„Tata, wir werden uns bestimmt nicht küssen, wenn du dabei bist!“
Der Vater atmete hörbar aus. „Ich werde sicher etwas Zeit brauchen, bis mich auch das nicht mehr stört. Aber ja, er kann natürlich zu uns kommen.“
Cosmin blinzelte Nässe aus den Augen, die seinen Blick verschleierte. Die Zustimmung des Vaters war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte.
„Danke, Tata. Weißt du, ich möchte noch zwei Wochen bei seiner Oma bleiben, bis die Prüfungen zu Ende sind. Aber bis Montag bleibe ich erst einmal hier. Irgendjemand muss dir ja helfen, deine Geburtstagsparty vorzubereiten, oder?“
Ein Lächeln ließ das Gesicht des Vaters aufleuchten. „Danke, mein Junge. Und jetzt…“, er stemmte sich ächzend von seinem Stuhl, „… werde ich uns erst mal ein paar Eier braten. Was anderes habe ich nicht, ich war noch nicht einkaufen heute.“

Cosmin nahm an, dass die spärlichen Vorräte im Kühlschrank aus dem Einkauf stammten, den er eine Woche zuvor für seinen Vater getätigt hatte.
„Ich fahre nachher ins Kaufland und erledige den Einkauf.“ Ohnehin hatte er vorgehabt, Grillwürste für die Party in Simons Garten zu kaufen.

Nach dem Essen startete er den Computer in seinem Zimmer. Er wollte ein paar Fotos vom Handy auf den PC übertragen.
In der Hosentasche meldete sich sein Handy und kündigte einen Videoanruf an.
Maxi?
Cosmin angelte das Handy aus der Hosentasche und sah, dass Sergiu ihn anbimmelte, dem er am Vorabend einige Lösungen zu dessen letzten Mathehausaufgaben zugeschickt hatte.
„Hey, wie geht’s?“, fragte er, als sich Sergius Gesicht auf dem Handydisplay materialisierte.
„Super Cosmin, vor allem wegen der letzten Aufgabe mit diesem Trägheitsmoment. Ich gehöre zu den wenigen im Kurs, die das richtig berechnet haben. Oder besser… du bist einer der wenigen. Wie machst du das? Nicht mal Adi hat das geschafft, und der ist im letzten Semester.“
Cosmin lächelte verlegen. „Das Thema liegt mir irgendwie.“ Er versuchte die Wärme, die sich bei Sergius Worten in seiner Brust ausbreitete und bis in die Ohrenspitzen flutete, halbwegs zu verbergen.
Sergiu blickte kurz hinter sich, als wolle er sich davon überzeugen, dass er allein im Zimmer war.
„Cosmin, du hast mir geschrieben, dass du deinen Geburtstag am 12. Juni in Rumänien feiern willst.“
Ein leiser Schreck fuhr durch Cosmins eben noch mit Wärme gefüllte Brust. Max wäre sicher nicht davon begeistert, würde er die Geburtstagsparty nach Bukarest verlegen. „Wir wollten eigentlich dort im Bucegi - Gebirge feiern, Sergiu“, wandte Cosmin ein.
„Ja ich weiß. Cosmin, ich bin mit ein paar Leute aus meinem Kurs an diesem Wochenende in einer Berghütte. Die ist heißt Caraiman und ist total cool, der Hüttenchef ist ein Cousin meines Vaters. Wir wollen zum Omu Gipfel wandern, das ist der höchste Berg im Bucegi - Gebirge. Kommt doch auch zu der Hütte. Ich reserviere für euch die Plätze und wir feiern deinen Achtzehnten zusammen.“
Die Idee gefiel Cosmin und er würde sie sicher auch Max schmackhaft machen können, zumal es schien, als hätten sie das Problem mit der Eifersucht hinter sich gelassen. Allerdings gab es einen Haken.
„Ist dein Kumpel Adrian auch dabei?“ Mit Sergius Kumpel und Mitbewohner Adrian hatte Cosmin damals im Berliner Hostel keine besonders erfreulichen Erfahrungen gemacht.
Ein Grinsen huschte über Sergius Gesicht. „Der kann es immer noch nicht fassen, dass du eine Aufgabe rechnest, bei der er keinen Stich sieht“, kicherte Sergiu und fuhr fort: „Keine Sorge, es sind nur Jungs und Mädels aus meinem Kurs dabei und vielleicht noch ein paar Freunde. Komm schon Cosmin, es wird dir gefallen. Und deinem Freund auch.“

Die Idee, die Geburtstagsparty in einer auf über 2000 Meter Höhe gelegenen Berghütte steigen zu lassen, gefiel nicht nur Max. Cosmin hatte mit ihm telefoniert, bevor er zur Party im Garten von Simons Eltern aufgebrochen war.
Anders als zu Silvester war die Party, auf der Simon mit ein paar Freunden auf das Ende der schriftlichen Prüfungen anstoßen wollte, eine reine Männerrunde. Doch nur Simon, Moritz und Tim schienen sich über das Ende des größten Prüfungsdrucks freuen zu können. Florian war durch die Physikprüfung gefallen und musste in die Nachprüfung. Und Lukas hingen die Mundwinkel bis zum Kinn, weil ihm Freundin Sara davongelaufen war.

Die frühsommerliche Wärme wich auch nach dem Einbruch der Dämmerung nur zögerlich. Die Jungen blieben deshalb auf der Terrasse vor dem Blockhaus, nachdem sie sich die Bäuche mit Grillwürsten gefüllt hatten. Sie stießen mit Bier oder Radler an und erzählten sich, wie sie im Juni die Wochen bis zur Zeugnisausgabe verbringen wollten.
Simon und Moritz überlegten, ein paar Tage am Balaton in Ungarn zu zelten, Tim wusste nicht so recht, wie er die Wochen totschlagen könnte und Lukas plante, sich auf die Suche nach einer neuen Freundin zu begeben. Florians Gesicht wurde indes immer länger; er würde Physik pauken müssen.
Moritz lümmelte auf dem Campingstuhl neben Cosmin und boxte ihm freundschaftlich in die Rippen.
„Los, raus mit der Sprache, Cosmin. Du wirst Mitte Juni achtzehn. Wo stoßen wir darauf an?“
„Wir wollen zusammen mit ein paar Leuten aus Bukarest in einer Berghütte in den Karpaten feiern, falls sich Max bei diesem blöden Turnier nicht zu Brei schlagen lässt“, erwiderte Cosmin und sah, dass fast allen Jungen die Kinnlade herunter klappte. „Wir können aber nachfeiern, wenn wir wieder hier sind“, fügte er rasch hinzu.
„Oder wir fahren nicht nach Ungarn, sondern noch ein Stückchen weiter bis nach Rumänien“, rief Moritz aufgeregt. „Was meinst du, Simmi?“
Simon rutschte auf seinem Stuhl herum als wolle er sofort aufbrechen. „Das klingt total cool, Ritzi. Ich bin dabei!“
„Sind denn bei den Leuten aus Bukarest auch Mädchen dabei?“, wandte sich Lukas an Cosmin.
„Ich glaub’ schon“, entgegnete Cosmin. „Aber sie sind bereits Studentinnen im zweiten Semester.“
„Wow! Um so besser! Denen muss man wenigstens nicht alles erklären.“
Er klatschte seine flache Hand auf Tims Knie. „Los Timmy, bist du dabei? Wir kutschen mit meiner Karre und teilen uns die Spritkosten. Mann, seit dem mit deiner Melli Schluss ist, bist du solo und das ist fast zwei Jahre her!“
Cosmin schaute überrascht auf. Er war beinahe sicher gewesen, dass Tim ebenfalls auf Jungen stand. Bereits mehrfach hatte er verstohlene Blicke bemerkt, die Tim ihm, Max oder auch anderen Jungen zuwarf.
Tim kratzte sich die Locken. Sie ringelten sich wie bei einem Schwarzafrikaner, nur dass sie in einem silbrigen Blond glänzten, als wurde er das Haar bleichen. Tim erwiderte Cosmins Blick.
„Gibt es denn überhaupt genügend Plätze in dieser Berghütte, Cosmin?“
Cosmin kramte das Handy aus der Tasche seines Shirts und googelte nach Informationen über die Caraiman - Hütte. Er fand auch zahlreiche Fotos, die seine Vorfreude auf eine solche Geburtstagsfeier weiter anfachten. Um sicher zu gehen, schrieb er eine Nachricht an Sergiu.
„Vierzig Plätze, ich schätze mal, da ist genug Platz für uns.“
Er reichte das Handy mit den Fotos herum. Während die Augen von vier Jungen aufleuchteten, zog Florian ein Gesicht, als wäre er zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

Das Handy vibrierte in Simons Hand. „Ich glaube, dein Kumpel aus Bukarest. Da steht was auf rumänisch.“
„Kein Problem, ich kann sechs Plätze für euch reservieren“, übersetzte Cosmin die Nachricht mit einem entschuldigenden Schulterzucken in Florians Richtung.
„Cool!“, rief Simon. „Was haltet ihr davon, wenn wir hier am nächsten Donnerstag darauf anstoßen? Da ist Männertag, Leute!“
Beim Gedanken an den nächsten Donnerstag breitete sich ein warmes Kribbeln in Cosmins Lenden aus. Max und er wollten das lange Wochenende in dem einsamen Steinbruch am Petersberg verbringen und er schickte ein Stoßgebet in den rot glühenden Abendhimmel, dass sie den Steinbruch vier Tage lang für sich allein haben würden.

Du wirst es überleben!

Max

Cosmins Stoßgebet wurde offensichtlich erhört, auch wenn Max nichts vom Stoßgebet wusste, welches Cosmin fünf Tage zuvor bei Simons Gartenparty in den Abendhimmel geschickt hatte.
Die Felswände flimmerten in den Strahlen der Nachmittagssonne und eine schwache Brise kräuselte die Wasseroberfläche des kleinen Teiches, als Max und Cosmin am Mittwoch den Steinbruch erreichten.
Max schaute sich suchend um, während er das Moped über den steinigen Pfad zum Felsblock in der Nähe des Teichufers schob. Nirgendwo konnte er andere Camper oder Kletterer entdecken.

Leon hatte ihm am zurückliegenden Wochenende versprochen, den morgigen Männertag ebenfalls im Steinbruch zu verbringen, allerdings nur, falls sie den Steinbruch für sich alleine haben würden. Max begriff nicht, weshalb sich der Onkel an der Anwesenheit anderer Camper oder Kletterer störte. Aber er hoffte natürlich, dass Leon vorbeischauen und Cosmin die Scheu gegenüber dem Onkel endgültig verlieren würde.

Wie schon vor knapp drei Wochen bauten die Jungen zunächst das Zelt auf. Anschließend düste Max noch einmal mit einem leeren Rucksack los, um im Supermarkt der nahegelegenen Kleinstadt den 10 Liter Kanister mit Mineralwasser zu füllen sowie Getränke und einige Lebensmittel einzukaufen. Die Wetter App des Handys sagte für den Samstagnachmittag die ersten schweren Gewitter des Jahres voraus. Max befürchtete, dass sie das Zelten vorzeitig würden abbrechen müssen und kaufte deshalb nur Vorräte für zwei bis drei Tage ein.

Als er in den Steinbruch zurückkehrte sah er, dass sich Cosmin bis auf den Slip entkleidet hatte und die kleinen Wellen des Teiches dessen in der Sonne bronzen glänzenden Beine umspülten.
Cosmin winkte ihm zu.
Max bockte das Moped auf, flutschte aus den Kleidern und stakste in das kalte, klare Wasser des Teiches.
Er zog Cosmin an sich und beinahe augenblicklich wanderte das warme Kribbeln in seinem Bauch dorthin, wo man es auch sehen und fühlen konnte. Offenbar erging es Cosmin genauso.
Wie lange ist das letzte Mal inzwischen her?
Die beiden Nächte seit seiner Rückkehr aus Berlin hatten sie zwar zusammen in seinem Zimmer verbracht, aber es nicht gewagt, das Feuer in ihren Lenden zu entfachen.
Max’ Hand glitt in Cosmins Slip.
Cosmin wehrte sich nur halbherzig. Ohnehin verriet ihn das Glühen seiner schwarzen Augen ebenso wie eine Versteifung, die sich an Max’ Lenden schmiegte.
„Maxi, was wenn jetzt jemand kommt und uns sieht?“, japste Cosmin, als sich ihre Lippen voneinander lösten.
Max zog Cosmin mit sich in Richtung des Zeltes. „Der wird’s überleben, okay?“

Nachdem am nächsten Morgen Tageslicht Max aus einem schnell verblassenden Traum holte, löste er sich vorsichtig aus Cosmins Armen und schlüpfte aus dem Schlafsack. Er kroch ins Freie und warf einen Blick über die Schulter. Cosmin schnaufte leise und drehte sich auf die andere Seite, ohne aufzuwachen.
Der obere Teil der am Hohlweg angrenzenden Felswand erstrahlte bereits im Schein der Morgensonne, der Steinbruch selber lag noch im Schatten. Max streifte sich den Trainingsanzug über und versenkte zunächst die verräterischen Überbleibsel ihrer nächtlichen Aktivitäten in den Resten des abendlichen Lagerfeuers.
Danach schrieb er Leon, dass sie nach wie vor allein im Steinbruch waren, worauf ihm der Onkel antwortete, dass er in wenigen Minuten aufbrechen und für ein zünftiges Frühstück sorgen würde.
Anschließend arbeitete Max sein morgendliches Fitnessprogramm ab.
Nach einer Katzenwäsche im klaren Wasser des Teiches setzte Max Kaffeewasser auf. Das Fauchen des Gaskartuschenkochers lockte auch Cosmin aus dem Zelt.
„Maxi, ich glaub’, ich lasse den Frühsport heute ausfallen“, gähnte er.
Max grinste in sich hinein. Er ahnte natürlich den Grund für Cosmins Müdigkeit.
„Und was ist damit?“ Er nickte zur Felswand mit der Luftnummer. Der überhängende Felsblock, an dem Cosmin gescheitert war, schien in der Morgensonne zu glühen.
„Komm schon Schlafmütze, zeig dass du kein Schlaffi bist!“

Offenbar reichte der Blick auf den bislang unbezwungenen Felsblock aus, um Cosmins Ehrgeiz anzustacheln. Er begann mit einigen Dehnungsübungen und ließ sich schließlich auf Max’ Campingmatte sinken, um dort ebenfalls die morgendlichen Liegestütze durchzuziehen.

Leon traf ein, kurz nachdem Max und Cosmin ihre erste Route zum Aufwärmen und Lockern der Finger geklettert hatten. Er rumpelte mit dem Skoda - Geländewagen über den Hohlweg und parkte nur wenige Schritte vom Zelt entfernt.
„Los Jungs, helft mir mal, unseren Frühstückstisch aufzubauen“, rief er nach der Begrüßung.
Im geräumigen Gepäckraum des Skoda stapelten sich zusammengeklappte Campingstühle auf einem Campingtisch.

Kurz darauf ließen sie sich frische Brötchen, bestrichen mit Honig oder belegt mit zartem Schinken schmecken. Während des üppigen Frühstücks unter freiem Himmel schien auch Cosmins Unbehagen über Leons Auftauchen im Steinbruch etwas zu schwinden.

„So Jungs!“, sagte Leon und klatschte in die Hände, als sie das Frühstück beendet hatten. „Ich finde, das tolle Frühstück lässt sich am besten bei einer lockeren Sieben verdauen.“
Max bemerkte, dass Leon ihm zuzwinkerte. Das war das vereinbarte Zeichen, dass der Onkel ein paar Routen zusammen mit Cosmin klettern wollte, um dessen Vertrauen zu gewinnen.
Max rieb sich den linken Oberarm und tat so, als hätte er dort Schmerzen.
„Onkelchen, ich glaub’ ich habe mir eben irgendwie den Arm gezerrt. Verdaut ihr an der Sieben ohne mich. Ich würde mir so lange gerne mal den anderen Steinbruch anschauen.“
Leon zuckte mit der Schulter. „Ruh dich aus Kleiner, Cosmin und ich kommen so lange auch ohne dich klar, oder?“, wandte er sich an Cosmin, der ein Gesicht zog, als hätte er Zahnschmerzen.
„Ich glaub schon.“
„Super!“ Leon deutete auf die Büsche am gegenüberliegenden Teichufer. „Ich muss kurz mal Kaffee wegbringen, Leute“, sagte er und erhob sich vom Frühstückstisch.

Kaum war er außer Hörweite, griff Cosmin nach Max’ Arm.
„Maxi!“
„Hm?“
Cosmin schien kurz nach Worten zu suchen. „Mir wäre es lieber, du würdest mich nicht allein mit deinem Onkel lassen und hier bleiben.“
„Oh Mann Cos-Mi, hast du immer noch Schiss vor ihm?“, zischte Max entgeistert.
Cosmin schwieg, doch dessen Gesicht beantwortete die Frage.
Max blickte kurz in Richtung des Teiches und drückte Cosmin einen Kuss auf die Lippen.
„Komm schon Cos-Mi, ich bin nur ein oder zwei Stündchen weg. Du wirst es überleben!“

Cosmin

Cosmin begriff selber nicht, weshalb er sich im Beisein von Leon immer noch wie eine Maus beim Anblick einer Schlange fühlte. Zumal sich Leon offenkundig bemühte, ihr Verhältnis zu entkrampfen.
Nachdem Max hinter einer Biegung der Hohlweges verschwunden war, deutete Leon auf einen mit zahlreichen Bohrhaken gespickten Felswinkel. „Eine Sieben Minus. Genau das Richtige für die Verdauung, Cosmin. Traust du dir, das vorzusteigen oder soll ich das lieber machen?“
Cosmin ließ seinen Blick über die Route schweifen. Sie erschien ihm relativ einfach. Am oberen Ende der Route funkelte ein Abseilring in der Morgensonne.
„Ich denke, das könnte ich vorsteigen“, erwiderte Cosmin und wollte nach dem Seil zu seinen Füßen greifen, doch Leon hielt ihn zurück.
„Warte, ich habe nagelneue Seile im Auto. Die müssten endlich mal eingeweiht werden.“
Sie stapften zurück zum Geländewagen. Im Kofferraum lagen zwei knallrote Seile. Bei einem der Seile waren Enden und Seilmitte mit gelber Farbe markiert, bei dem anderen mit blauer Farbe.
„Was sind das für Seile? Ich habe solche Seile noch nie gesehen“, fragte Cosmin.
Leon schien nicht so richtig zu wissen, welches der beiden Seile er sich aus dem Kofferraum greifen sollte.
„Die habe ich in Bratislava gekauft. Dort sind sie billiger als hier und mindestens genauso gut“, erklärte er und befühlte beide Seilstränge.
„Okay, lass uns mit diesem hier anfangen“, sagte er schließlich und griff nach dem Seil mit den blauen Markierungen.

Kurz darauf stieg Cosmin in die Route ein, die laut Gerds Kletterführer „Kurzer Sprint“ genannt wurde. Allerdings sprintete Cosmin nicht die Felswand hinauf. Stattdessen kletterte er bedächtig nach oben, sorgsam darauf bedacht, nicht auf den schmalen Felsleisten abzurutschen. Die kurzen Abstände zwischen den Bohrhaken linderten zudem seine Nervosität. Klar, er war sicher, dass Leon einen Sturz halten würde, doch darauf ankommen lassen wollte er es trotzdem nicht.
Cosmin erreichte den Abseilring.
„Lass alles hängen. Ich lass dich ab und nehme das Zeug im Nachstieg mit!“, rief ihm Leon zu.
Cosmin nickte und sicherte sich mit einer im Gurt befestigten Schlinge am Abseilring.
„Was ist los, Cosmin?!“
Ich habe Schiss, dass du mich jetzt sausen lässt!
„Ich muss mich nur kurz ausruhen!“, rief Cosmin zurück und erinnerte sich daran, dass Leon im Löbejüner Felsental mehrere seiner Abrutscher aufgefangen und ihn auch abgeseilt hatte.
Da gab es aber auch ein paar Dutzend Zeugen!, warf eine innere Stimme ein.

Plötzlich musste Cosmin daran denken, was ihm Kristin über Kletterunfälle erzählt hatte. Eine der häufigsten Ursachen für tödliche Unfälle war das fehlerhafte Bedienen des Sicherungsgerätes.
Und wie ein Videoclip lief jäh ein anderer Film in seinem Kopf ab. Cosmin sah sich selber bei der Geburtstagsfeier seines Vaters. Er hatte aus dem Internet heruntergeladene Zigeunermusik auf eine CD gebrannt und nun liefen diese rasanten Rhythmen in der altertümlichen Stereoanlage seines Vaters rauf und runter.
Oh Mann, ich bin echt paranoid! Jetzt tue ich schon so, als würde ich meinen Vater nie wieder sehen.
Cosmin wischte die Erinnerung aus seinem Kopf, löste die Sicherungsschlinge aus dem Abseilring.
Er schloss die Augen.
Das Herz schien ihm im Hals zu schlagen, als er sich zurücklehnte.

Nichts passierte.

„Du kannst mich runter lassen!“, rief er Leon zu.
„Alles klar!“
Ein Ruck ging durch das Seil.
Langsam glitt Cosmin an der Felswand nach unten, bis er sanft auf dem mit Geröll übersäten Boden landete.
Leon klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Was war da oben los?“, fragte er und Cosmin sah, dass Leons Gesicht ehrliche Besorgnis verriet.
Cosmin löste mit zittrigen Fingern das Seil aus dem Gurt. „Das Vorsteigen bin ich irgendwie noch nicht so richtig gewöhnt“, schwindelte er.

Erst anderthalb Stunden später kehrte Max von seinem Ausflug in den anderen Steinbruch zurück. Cosmin sicherte Leon inzwischen bei einer anderen Route.
Max gesellte sich zu ihm.
„Na, was hab ich dir gesagt?“, zischelte er ihm ins Ohr. „Du wirst es überleben!“

Ein dummer Zwischenfall

Max

„Du musst echt ein bisschen lockerer werden, wenn wir mit Leon zusammen sind, Cos-Mi.“
Max hockte zusammen mit Cosmin auf einem Felsblock, der in den den kleinen Teich hineinragte und beide Jungen ließen die kleinen Wellen über ihre nackten Füße plätschern.
Die Sonne war hinter den Felswänden verschwunden, die neben dem Hohlweg aufragten. Sie hatte die flimmernde Hitze des Tages mit sich genommen.
Max seufzte leise. Eine Viertelstunde zuvor war Leon mit dem Skoda Geländewagen, der hoffentlich schon in gut drei Wochen ihm gehören würde, über diesen Hohlweg aus dem Steinbruch gerumpelt.
Cosmin hatte ihm eben gestanden, dass er vor Leon immer noch einen Bammel hatte und darum gebeten, ihn nicht wieder allein mit Leon zu lassen.
Es klang fast so, als würde er fürchten, Leon wolle ihm an den Kragen.
Oder gar an die Wäsche?
„Ich merke es ja selber, dass ich mich ziemlich komisch anhöre, Maxi“, murmelte Cosmin. „Aber ich finde es merkwürdig. Er benimmt sich fast so, als wäre ich jetzt auch so was wie sein kleiner Bruder. Vielleicht ist das geschauspielert und er wartet nur auf eine Gelegenheit, um uns auseinander zu bringen.“
„Cos-Mi, er war letztes Wochenende sogar enttäuscht, dass du nicht mit nach Berlin gekommen bist!“
Das war zwar etwas übertrieben, aber zumindest hätte Leon sicher nichts dagegen gehabt, wäre Cosmin mitgekommen.

Er stieg aus den Boxershorts und warf sie achtlos hinter sich. Cosmin starrte entgeistert auf Max’ entblößten Schoß und warf dann einen Blick zum Hohlweg, der in den Steinbruch hinein führte.
„Willst du etwa hier…?“
Max verdrehte die Augen und ließ sich ins klare Wasser gleiten, das ihm bis zur Brust reichte.
„Cos-Mi! Wir sind allein hier! Lass endlich das Höschen runter und komm mit ins Wasser!“
Nun stieg auch Cosmin aus den Shorts und Max sah, dass sich der Bengel in dessen Schoß bereits geregt hatte. Cosmin glitt ebenfalls ins Wasser und landete in Max’ Armen. Max ließ sich nach hinten kippen und zog Cosmin mit sich unter Wasser.
„Hey! Ich bin kein Fisch!“, prustete Cosmin, als er wieder auftauchte und stürzte sich nun seinerseits auf Max.

Eine halbe Stunde tobten sie wie kleine Kinder vor allem in dem Teil des Teiches, in dem sie mit den Füßen keinen Grund mehr fanden und schwimmen mussten. Völlig außer Atem und mit klappernden Zähnen stiegen sie schließlich aus dem kalten Wasser und rubbelten sich gegenseitig mit einem Handtuch trocken. Zumindest für den Moment schien es, als hätte Cosmin seine Sorge, Leon würde ihnen nur etwas vorgaukeln, vergessen.
Wegen des kalten Wassers hatte sich die beinahe ständig in den Schößen der beiden Jungen lauernde Begierde in einem hinteren Winkel ihrer Bäuche verkrochen.
„Wann willst du zurück zu deinem Alten?“, fragte Max, als sie kurze Zeit später, in Jogginganzügen gekleidet, wieder auf dem Felsblock saßen und mit ihren nackten Füßen im Wasser des Teiches planschten.

Cosmin starrte auf das Wasser, das von ihren Füßen gekräuselt wurde. Statt einer Antwort zuckte er mit den Schultern.
„Nächstes Wochenende ist Pfingsten. Meine Wohnung ist frei. Wir könnten auch danach in Berlin bleiben“, ergänzte Max und bemerkte selber den flehenden Tonfall seiner Worte.
„Maxi, nach Pfingsten bleibe ich für ein paar Tage zu Hause. Irgendwann muss ich meinem Vater ja mal zeigen, wie man allein klar kommt.“
Max seufzte leise. Ein paar Tage würde er verschmerzen, zumal Cosmin versprochen hatte, bis zum nächsten Wochenende bei Oma Lisa zu bleiben. Doch schon der nächste Tag machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Cosmin

Auch am nächsten Tag strahlte die Sonne von einem nahezu wolkenlosen Himmel. Trotz des sonnigen Wetters hatten die Jungen den Steinbruch erneut für sich allein. Anders als im „Felsental“ fand Max an den Wänden des Steinbruchs nur wenige Routen, an denen er auch nur annähernd an seine Leistungsgrenze stieß. Cosmins Blick hingegen verirrte sich immer wieder zur „Luftnummer“ mit dem mächtigen, aus der Wand heraus ragenden Felsblock. In den letzten Wochen hatte er mit vielen Dehnungsübungen seine Gelenkigkeit verbessert und hoffte, bereits an diesem Tag den Felsblock zu bezwingen.

Am Nachmittag fühlte sich Cosmin fit genug für einen neuen Versuch und die beiden Jungen stapften zum Einstieg in die Route.
In Cosmins Hosentasche klingelte das Handy.
Cosmin angelte es aus der Hose, das Display zeigte eine unbekannte Nummer.
„Hallo?“
„Cosmin, ich bin Doreen, wir haben uns beim Geburtstag deines Vaters kennengelernt“, ertönte die Stimme einer Frau.
Cosmin erinnerte sich an die rothaarige Frau. Sie war Sekretärin in der Firma, für die sein Vater arbeitete. Mit ihr schien sich der Vater zur Zeit auch über seine Einsamkeit hinweg zu trösten. Cosmin verstand nicht so richtig, wieso die Frau ihn anrief. Während der Geburtstagsfeier seines Vaters hatte er kaum mehr als drei Sätze mit ihr gewechselt.
Sein Atem stockte.
„Ist etwas passiert?“, fragte er erschrocken.
„Nichts Schlimmes, obwohl… Cosmin, dein Vater ist von einer Leiter gerutscht. Ich bin mit ihm im Klinikum. Sein Fuß wird gerade untersucht. Er kann nicht auftreten damit.“
„Muss er etwa im Krankenhaus bleiben?“
„Nein, ich fahre ihn nachher zu euch nach Hause. Er wollte dich nicht behelligen, aber ich glaube, er wird zu Hause Hilfe benötigen.“
„Es ist okay. Ich werde ihm natürlich helfen“, erwiderte Cosmin.
„Was ist los, Cos-Mi?“, fragte Max, nachdem Cosmin das Gespräch beendet hatte.
„Mein Vater“, stöhnte Cosmin und berichtete Max vom Arbeitsunfall seines Vaters. „Er braucht meine Hilfe, Maxi.“
Max zog ein Gesicht, als wäre er zu lebenslanger Schulzeit verdonnert worden. „Du musst zurück zu deinem Alten, oder?“
Cosmin zuckte mit der Schulter
Was blieb ihm anderes übrig?
„Deine Chemieprüfung ist erst in einer Woche, Maxi. Wir üben trotzdem zusammen.“
Max kickte einen Stein gegen die Felswand vor ihnen. „Ich komme nicht zu euch, Cos-Mi. Dein Alter denkt bestimmt, ich hätte dich versaut.“
„Ich glaub’, er versteht, dass ich mit dir zusammen sein will“, sagte Cosmin leise und sah, dass die Finsternis aus Max’ Gesicht schwand.
„Ich werde jeden Nachmittag zu dir kommen, mit dir Chemie pauken und mir von dir beim Training den Hintern versohlen lassen. Außer am Montag. Da muss ich zur Fahrprüfung.“

Zunächst überlegte Cosmin, seinen Vater anzurufen und ihm zu sagen, dass er noch an diesem Nachmittag zurück nach Hause fahren würde. Doch dann entschied er sich dagegen und beschloss, seinen Vater zu überraschen.
Knapp drei Stunden später erreichten die Jungen den Block, in dem Cosmin mit seinem Vater wohnte. Dort verabschiedeten sie sich mit einer halbherzigen Umarmung, was allerdings auch daran lag, dass Herr Richter mal wieder aus dem Fenster zu ihnen hinunter starrte.
Cosmin nickte ihm einen Gruß zu und betrat das Haus. Sein Vater war bereits zu Hause und lauschte den wilden Rhythmen der Zigeunermusik, die Cosmin ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

Er saß in seinem Fernsehsessel. Das rechte Bein hatte er ausgestreckt, der Fuß war mit einem Gipsverband umwickelt. Trotz der lauten Musik schien er vor sich hin zu dösen. Cosmin stellte die Musik ab.
„Tata?“
Sein Vater schreckte aus dem Halbschlaf und riss verblüfft die Augen auf, als er Cosmin erblickte. Er fuhr von seinem Sessel hoch, fiel jedoch mit einem kurzen Aufschrei zurück in den Sessel, weil er dabei den verletzten Fuß belastet hatte.
Cosmin hockte sich neben ihn.
„Ist der Fuß gebrochen?“
„Zum Glück nur gezerrt.“ Der Vater starrte Cosmin an wie ein kostbares Geschenk und strich ihm über die Wange. „Cosmine, du hast mir gefehlt.“
„Ich bleibe jetzt bei dir bis es dir wieder besser geht.“ Cosmin warf einen Blick über die Schulter. Auf dem Küchentisch und der Arbeitsplatte neben der Spüle stand benutztes Geschirr.
„Hast du schon was gegessen?“
„Doreen hat mir auf Firmenkosten ein paar Würstchen spendiert, außerdem hatte ich noch was in der Brotdose.“
Cosmin erhob sich und inspizierte die Vorräte im Kühlschrank und in den Küchenschränken. „Sie ist deine… äh Freundin?“, fragte er, während er in Gedanken eine Einkaufsliste erstellte.
Sein Vater räusperte sich. „Wir treffen uns gelegentlich. Aber es ist keine Liebe, wenn du das meinst, Cosmine.“
Er musterte ihn aus großen, schwarzen Augen, die plötzlich zu funkeln schienen. Cosmin bemerkte, dass der Vater offenbar nach Worten suchte.
„Ihr wart zusammen zelten. Ist der Junge jetzt verärgert, weil du zu mir gekommen bist?“
Cosmin setzte sich an den Küchentisch. Er begann sich Notizen zu machen und hoffte, dass der Vater seine Nervosität nicht bemerkte.
„Max versteht das. Ich meine, dass du mich jetzt hier brauchst.“
Sein Vater räusperte sich erneut. „Er kann gerne zu uns kommen, wenn du ihm bei den Prüfungen helfen willst“, sagte er leise.
Aber auch dir wäre es bestimmt lieber, wenn ihr euch noch nicht über den Weg lauft, vermutete Cosmin.
„Ich werde bis Pfingsten jeden Nachmittag zu ihm fahren, weil wir auch zusammen trainieren wollen. Außer am Montag, da muss ich zur praktischen Prüfung in die Fahrschule.“
„In die Fahrschule…?“, echote sein Vater und starrte ihn wie vom Donner gerührt an. Cosmin hätte sich am liebsten auf die eigene Zunge gebissen. Er hatte bislang mit keinem Wort die Fahrschule erwähnt, um seinen Vater nicht in Verlegenheit zu bringen.
Der Vater starrte Cosmin aus ungläubig aufgerissenen Augen an.
„Du machst… deine praktische Prüfung… in der Fahrschule?“, brachte er mühsam über die Lippen. „Kostet die heutzutage nicht ein paar Tausend Euro?“

Cosmins Gedanken überschlugen sich. Er konnte unmöglich erzählen, dass sein Stiefvater ihm das Geld für die Fahrschule spendiert hatte, während der eigene Vater dazu nicht einmal ansatzweise in der Lage gewesen wäre.
„Meine Mutter hat mir sozusagen was spendiert“, stammelte er. „Ich wollte nicht darüber reden, weil… äh es dir vielleicht weh tut, wenn ich von ihr erzähle.“
"Weißt du Cosmine, wenn ich im Lotto einen Sechser hätte… " Der Vater wandte seinen Blick von Cosmin ab und schaute auf den eingegipsten Fuß, als würde er den Rest des Satzes von dort ablesen.
„Ich würde als erstes dafür sorgen, dass du auf der besten Universität studieren kannst und dir eine Wohnung kaufen, wenn du mit dem Studium fertig bist. Und mit dem was übrig ist, würde ich in Rumänien eine kleine Firma gründen und dort Solaranlagen installieren. Aber mein Geld reicht nicht einmal aus, dir die Fahrschule zu bezahlen.“

Cosmin erhob sich vom Küchentisch, hockte sich wieder neben den Fernsehsessel und legte den linken Arm um die Schulter seines Vaters.
„Du hast immer zuerst an mich gedacht, Tata.“
Cosmin lehnte den Kopf gegen die Schulter des Vaters, Bartstoppeln pieksten seine Stirn.
„Du würdest echt wieder nach Rumänien zurückkehren wollen?“
„Erinnerst du dich an meinen Kollegen Razvan aus Wurzen?“
„Ich glaub’ schon.“
„Razvan erbte vor zwei Jahren das Haus seiner Eltern in Mediasch. Das ist eine Stadt in Transsilvanien. Nun installiert er dort mit der eigenen Firma Solaranlagen. Er verdient damit in einer Woche mehr als ich im ganzen Monat. Ich glaube, wenn du fertig bist mit dem Studium… ich glaube ich werde auch wieder zurück nach Rumänien gehen. Aber nicht nach Porumbita. Ich wünschte…“
Ein Knurren aus den Tiefen von Cosmins Bauch unterbrach die Äußerung des Wunsches.
„Du meine Güte, Junge. Du hast Hunger!“, rief der Vater und deutete auf eine Schublade des Wohnzimmerschranks, in der er das Geld für die Einkäufe aufbewahrte. „Tut mir Leid, aber du müsstest erst mal was einkaufen.“

Wegschauen oder doch eingreifen?

Max

Eine Woche später standen Max und Cosmin wieder einmal in Dessau auf dem Bahnsteig, wo der 15 Uhr Zug auf das Abfahrtssignal für die Reise nach Berlin wartete.
Obwohl Dutzende Reisende die gegenüberliegende Seite des Bahnsteiges bevölkerten, hielten sich die Jungen zum Abschied in den Armen und für einen Moment spürte Max Cosmins Lippen auf seiner Wange.
„Du bist also am Dienstag wieder hier?“, wehte Cosmins Frage an sein Ohr.
„Klar bin ich am Dienstag wieder hier, Cos-Mi! Länger halte ich es ohne dich nicht aus“, erwiderte Max. Er löste sich aus der Umarmung und huschte hinter einem älteren Mann in den Waggon.

Trotz des bevorstehenden Pfingstwochenendes war der Zug nicht überfüllt und Max fand sogar eine freie Sitzgruppe. Er machte es sich auf dem Fensterplatz in Fahrtrichtung bequem und seine Gedanken wanderten zurück zur mündlichen Chemieprüfung an diesem Morgen. Cosmin hatte wie versprochen jeden Nachmittag mit ihm gepaukt, sogar am Montag nach der bestandenen Fahrprüfung. Dennoch war nicht mehr als eine Drei drin gewesen, ebenso wie in der Französischprüfung. Immerhin war ihm in Mathe eine Zwei geglückt und somit eine 2,4 als Notendurchschnitt. Die Freude darüber wurde freilich erheblich dadurch getrübt, dass er die Pfingsttage in Berlin ohne Cosmin verbringen würde. Aber Leon hatte ihn an das „Pferderennen“ erinnert, bis zu dem ihm nur zwei Wochen Zeit blieben. Und er hatte ihm eine faustdicke Überraschung versprochen.

Schon bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof Charlottenburg erlebte Max eine faustdicke Überraschung. Er hatte damit gerechnet, dass er den etwa dreißigminütigen Weg bis zu seinem Haus zu Fuß würde zurücklegen müssen, weil Leon wegen irgendwelcher Termine verhindert war. Doch am Zugang zur Treppe, die in den Fußgängertunnel des Bahnhofs hinunter führte, wartete ein vierschrötiger Kerl mit kahlrasiertem Schädel.
„Mann Oski, was treibst du hier und wer hat dich so zugerichtet?“, fragte Max nach einer kurzen Umarmung und musterte die groben Gesichtszüge des Kumpels. Die Oberlippe war geschwollen und rings um das rechte Auge blühte ein Veilchen.
„Dachte, dass du ein Taxi brauchen könntest, Welli. Und da ich seit einer Woche eine Karre habe, dachte ich, dass ich das mit dem Taxi übernehme.“
Wegen der dicken Lippe wirkte Oskars Grinsen so, als wolle er sich selber küssen.
Max deutete auf Oskars Veilchen. „Und das da?“
„Scheiße Welli. Beim Training!“, fluchte Oskar, während sie die Treppe zur Unterführung hinunter stapften. „Tang hat mich beim Training zerlegt, Welli. Bei einem Scheiß Training, Mann!“, wetterte Oskar weiter. „Vielleicht weil er wusste, dass du und ich, das wir Kumpels sind. Hardy hat ihn endlich aus unserem Budokeller rausgeworfen!“
„Scheiße Oski, das tut mir Leid! Ich schwör’s, in zwei Wochen knöpfe ich ihn mir vor“, versprach Max und sah, dass Oskar die Stirn runzelte. „Dich hat der Arsch auch zerlegt Welli, schon vergessen?“
Die Erinnerung an jenen Tag schnürte Max die Kehle zu. Einen Tag zuvor hatte Cosmin ihm eine reingehauen. „Oski, damals hat Tang meinen schlechtesten Tag des Jahres erwischt, deshalb.“

Oskars neue Karre war ein die Jahre gekommener Polo und parkte vor dem Bahnhof. „Welli, wir müssen schnell noch 'ne Flasche Sprit und was zu knabbern kaufen“, sagte Oskar, als er das Auto startete.
Max winkte ab. „Oski, mein Onkel will morgen Vormittag mit mir trainieren. Für mich nur Radler, sonst verpasst der mir beim Training auch so’n Gesichtstuning“, sagte er mit einem Seitenblick auf Oskars Veilchen.

Eine Viertelstunde später steuerte Oskar den Parkplatz eines Supermarktes an. Er grenzte an eine kleine Parkanlage und gleich dahinter umrandete eine mannshohe Mauer den Pausenhof jener Schule, von der Max vor fast genau vier Jahren wegen mehrerer Schlägereien geflogen war. Einige Grüppchen Jugendlicher bevölkerten die Bänke im Park und Max nahm an, dass sie auch Schüler an seiner ehemaligen Schule waren.
„Du musst noch Futter einkaufen, oder? Kommst du mit rein, Welli?“, fragte Oskar nach dem Einparken.
Max wandte den Blick von seiner alten Schule ab und drückte Oskar einen Zwanziger in die Hand. „Das mit dem Futter hat meine Stiefmutter für mich erledigt. Ich schleiche mal kurz da rüber“, erwiderte er mit einem Kopfnicken zur Schule.

Er schlenderte durch den Park. Vor ihm saßen zwei Jungen auf einer der Parkbänke. Max hätte sie normalerweise nicht weiter beachtet. Doch plötzlich fiel ihm auf, wie dicht die beiden vielleicht zwei Jahre jüngeren Burschen beieinander hockten und dabei Beine, Schulter und Köpfe aneinander schmiegten. Sie schauten sich zusammen etwas auf einem Handy an, das einer der beiden Jungen, ein Wuschelkopf, der Max ein bisschen an Moritz erinnerte, in den Händen hielt.
Er fragte sich, ob er mit Cosmin in den Hofpausen auch so auf der Mauer unterhalb der Kletterwand zusammen gesessen hatte. Man musste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass die beiden nicht nur beste Freunde waren. Einer der beiden, dessen Hautfarbe beinahe genauso dunkel war wie die von Cosmin, schaute vom Handy auf und rollte die Augen. Er warf Max einen Blick zu, der zu signalisieren schien: „Was gibt’s hier zu glotzen, Alter?“
„Bin schon weg!“, grinste Max, als auch der andere Junge aufschaute. Er trat an die Mauer heran und spähte darüber hinweg. Der betonierte Pausenplatz war noch genauso grau und trostlos wie vor vier Jahren und das weiß getünchte Schulhaus dahinter hätte wie die Faust aufs Auge in das Dessauer Plattenbauviertel gepasst, in dem Cosmin wohnte.

An den zwei Fußballtoren wiegten sich zerfetzte Netze im Wind. Im Nachhinein erschien Max der Rauswurf aus dieser Schule fast schon wie eine Belobigung.
„Ihr Schwuchteln solltet euch doch nicht mehr hier blicken lassen, wieso seid ihr trotzdem hier?“, hörte Max jemanden irgendwo hinter ihm brüllen. Johlen und Gelächter brandete auf.

Max fuhr herum und sah einen vornehm gekleideter Kerl, der etwa in seinem Alter sein mochte und mit der geschniegelten Frisur aussah, als käme er geradewegs vom Laufstege einer Modeschau. Der Schnösel hatte den wuschelköpfigen Jungen am Kragen gepackt. Die Oberarme des Burschen waren wahrscheinlich dicker als die Beine des Wuschelkopfs. Dessen fünf Begleiter hingegen sahen wie normale Schläger aus, einer hatte den dunkelhäutigen Jungen im Schwitzkasten. Fast schien es Max, als wäre der Anführer der Horde auch einer der Jungen gewesen, mit denen er sich damals in der alten Schule geprügelt hatte.
Max fragte sich, ob es Sinn hatte, in die Auseinandersetzung einzugreifen. Er würde mit den sechs Typen fertig werden, zumal Oskar aus dem Supermarkt trat und zu ihm herüber schaute. Aber wäre er mit einem Eingreifen den beiden Jungen wirklich eine Hilfe? Heute würde er die Angreifer zwar zusammenstauchen, doch morgen würden sich die Kerle dafür doppelt und dreifach an den Jungen rächen.

„Ich hab dich was gefragt, Schwuchtel!“ Das Klatschen einer Ohrfeige und der Schmerzensschrei des Wuschelkopfes fegten diese Gedanken jäh aus Max’ Kopf.
Mit ein paar Sätzen war er bei dem Schläger.
„Darf ich fragen, was mein Lieblingscousin jetzt schon wieder angestellt hat?“, fragte Max den Schläger und wandte sich kurz zu dem wuschelköpfigen Jungen um, der sich die Wange hielt und Max anstarrte, als hätte er einen Irren vor sich.
„Wolltet ihr heute nicht zu uns kommen, Cousy?“
„Die Schwuchtel ist dein Cousin?“, fragte der Anführer der Horde und ließ einen beiläufigen Blick über Max’ Oberarme schweifen. Vermutlich kam er zu dem Schluss, dass er Max mindestens ebenbürtig war und er außerdem mit den fünf Schlägern an seiner Seite nichts zu befürchten hatte.
„Weißt du Schweinebacke, ich finde es sehr unhöflich, dass du meinen Cousin 'ne Schwuchtel nennst“, sagte Max und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Schläger verlor für einen Moment die Kontrolle über seine Gesichtszüge.
„Schnappen wir uns den Schwanzlutscher!“
Ohne Vorwarnung schlug er zu. Max erwischte die Faust und im nächsten Moment segelte der Kerl über den Kopf des auf der Bank sitzenden Jungen hinweg und schlug zwei Meter dahinter im Gebüsch ein. Max wirbelte mit ausgestrecktem Fuß herum, der gegen das Kinn eines weiteren Angreifers krachte und landete mit der Faust einen Treffer im Bauch eines dritten Burschen. Ein vierter floh, als wäre ihm der Leibhaftige auf den Fersen. Blieb noch der Fünfte. Max riss ihm den Arm, der eben noch den dunkelhäutigen Jungen gehalten hatte, so heftig auf den Rücken dass der Kerl aufschrie. Dann stieß ihn Max von sich und verpasste ihm einen Tritt in den Hintern.

Zwar rafften sich die anderen Kerle wieder auf, doch legten sie den Rückwärtsgang ein.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Max, dass sich die beiden Jungen auf der Bank aneinander klammerten und ihn aus sperrangelweit aufgerissenen Augen anstarrten.
Er zerrte den Gangboss aus dem Gebüsch und sah, dass dessen Geldbörse aus der Gesäßtasche lugte. Der Schläger befand sich nun in einer äußerst misslichen Lage. Max schob ihn vor sich her und hatte ihm den rechten Arm auf dem Rücken derart verdreht, dass der Schläger krumm laufen musste und winselte.
Max schnappte die Geldbörse und sah, dass Osker heran stürmte.
„Welli?!“, rief Oskar entgeistert. „Du wirst doch nicht etwa…?“
„Krieg dich ein Oski“, schnaubte Max und warf die Geldbörse dem Jungen mit dem Wuschelkopf zu. „Los Cousy, mach ein Foto vom Ausweis der Flasche und schick’s mir. Sollte das Schwanzgesicht dich oder deinen Freund noch mal dämlich von der Seite anquatschen, will ich wissen, wo ich ihn finde, um ihm die beschissenen Knochen zu brechen.“
Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Jungen. „Alles klar, Lieblingscousin!“
Während der Junge die ID Karte des Schlägers aus dem Portemonnaise fischte und fotografierte, schien es Max, als würde ihn der dunkelhäutige Junge wie ein lebendig gewordenes Heiligtum anbeten.
„Wo lernt man so kämpfen?“, fragte der Junge.
Max nannte ihm die Adresse seines ehemaligen Martial Arts Clubs und fuhr fort: „Gute Idee! In ein paar Monaten werdet ihr mit den Schwachköpfen alleine fertig.“

Der andere Junge reichte ihm die Geldbörse und Max schob sie dem Schläger zurück in die Gesäßtasche.
„So Schweinebacke“, säuselte er dem Schläger ins Ohr. „Nun entschuldigst du dich noch höflich bei meinem Cousin und seinem Freund.“
Der Gangboss - wegen des auf dem Rücken verdrehten Arm in gebückter Haltung - schniefte und schien nach seinen Kumpanen Ausschau zu halten. Allerdings hatten die sich inzwischen in alle Winde zerstreut.
„Hast du was gehört, Cousy?“, wandte sich Max an den Wuschelkopf.
Der schüttelte mit dem Kopf.
Max riss den Arm des Schlägers noch etwas höher.
„Scheiße Mann, Entschuldigung“, jaulte der Kerl auf und kaum hatte Max den Arm los gelassen, hetzte der Schläger in Richtung Parkplatz davon.

Max fand, dass es nun an der Zeit war, zu verschwinden. Er bewunderte die Jungen dafür, dass sie die Zuneigung füreinander recht offen zur Schau stellten. Aber er wollte vor Oskar nicht unbedingt gefragt werden, ob er vielleicht auch dazu gehörte.
Er zwinkerte den Jungs zu und klopfte dann Oskar auf die Schulter. „Verduften wir Oski, wir wollen nachher noch zu einer Party, okay?“
Sie wandten sich zum Gehen. „Welli, wenn du so drauf bist in zwei Wochen, möchte ich nicht in Tangs Haut stecken.“
Max wollte etwas erwidern, doch dann lauschte er dem Getuschel der beiden Jungen in seinem Rücken.
„Wow! Ist der echt dein Cousin?“
„Ich wünschte, der wäre es.“
„Äh Welli, dir ist schon klar, dass die beiden schwul sind?“, brummte Oskar, als sie außer Hörweite der Jungen waren.
„Ja und? Was ist das Problem, Oski?“
„Naja, ich hätte nicht gedacht, dass du…“
Max legte einen Arm um Oskars Schultern. „Schwul oder nicht, ist doch egal. Die Jungs brauchten Hilfe, oder? Sollten die beiden Bengel wirklich im Budokeller aufkreuzen, will ich, dass du für sie der liebe Onkel bist.“

Überraschung

Max

„Moin Onkelchen“, begrüßte Max seinen Onkel, als er am nächsten Vormittag dessen Haus betrat.
„Hi Champ!“
Leon zog ihn in eine kurze Umarmung und führte ihn ins Wohnzimmer.
Max sah benutztes Geschirr auf der Theke, die das Wohnzimmer von der Küchenzeile trennte. „Ist deine Freundin schon weg?“
„Bei ihr gehen nächste Woche die Prüfungen los. Aber hey, wir haben eh 'ne Menge vor heute. Kaffee?“
Max hatte am Abend zuvor bei Oskars Pfingstparty nur zwei Radler getrunken und sich vor allem am Anblick von Charly und Caroline ergötzt. Die vor ein paar Wochen Frischverliebten hatten bei der Party an verschiedenen Enden von Oskars Couch gesessen. Allerdings fühlte sich Max dennoch gerädert, weil er die halbe Nacht beim Videochat mit Cosmin verbracht hatte.
„Ein großer Pott, wenn’s geht“, erwiderte Max. „Und, was ist denn nun diese großartige Überraschung?“
Leon warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Müsste gleich hier sein“, antwortete Leon und schob Max einen Becher mit dampfendem Kaffee über die Theke.
Max runzelte die Stirn. Es gab gewisse Überraschungen, an denen er kein Interesse hatte. „Leon, wenn die Überraschung weiblich ist…“
„Maxi, krieg’ dich ein“, schnaubte Leon. „Die Überraschung hat absolut nichts mit verkuppeln…“

Es klingelte an der Haustür.
„Wer sagt’s denn, da kommt sie schon!“, grinste er und verschwand im Flur.
Gleich darauf kehrte er zusammen mit einem Schwarzen zurück. Der Mann mochte Mitte Zwanzig sein und nickte Max einen Gruß zu. Das Gesicht des Mannes kam Max bekannt vor und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen: im letzten Herbst beim „Pferderennen“ im U - Boot. Der Schwarze war einer der beiden Wettkämpfer gewesen, die Tang blutig geschlagen hatte.
„Johannes, richtig?“, sagte Max und glitt vom Barhocker, um den Mann zu begrüßen.
„Richtig!“, erwiderte Johannes und ergriff Max’ ausgestreckte Hand. „Aber Hannes für dich, Max. Schön, dich kennenzulernen.“
„Du bist nicht zufällig die versprochene Überraschung?“, fragte Max mit einem Seitenblick auf Leon, der am Kaffeeautomaten einen Becher befüllte.
„Ich hoffe mal, sie ist gelungen“, warf der Onkel ein. „Aber Hannes hat auch noch eine Überraschung für dich, Maxi.“
„Und ich hoffe mal, die ist auch gelungen“, ergänzte Johannes und verpasste Max einen freundschaftlichen Hieb auf die Schulter. „Ich habe nächste Woche vormittags Zeit und wollte dich fragen, was du davon hältst, wenn wir uns ab Montag zusammen auf das Pferderennen vorbereiten.“
Max blieben für ein paar Sekunden die Worte im Halse stecken.
Das Training mit einem zweifachen Landesmeister würde ganz klar seine Chancen erhöhen, dem brutalen Chinesen Tang beim Pferderennen das Fell über die Ohren zu ziehen. Allerdings mischte sich in seine Freude auch ein fetter Wermutstropfen. Er würde nicht wie geplant nach Dessau zurückkehren können und Cosmin möglicherweise erst in einer knappen Woche wiedersehen.
Doch sein Zögern währte nur kurz, dann boxte er gegen die Faust, die Johannes ihm entgegen hielt."
„Ich halte sehr viel davon.“

Wie sie es zuvor verabredet hatten, radelte Max am Montagvormittag zum Haus seines Onkels, um sich dort mit Johannes zu treffen.
Max freute sich auf das Training mit dem früheren sächsischen Landesmeister, obwohl er Cosmin erst am Donnerstag sehen würde. Dessen Vater litt immer noch unter Schmerzen im verstauchten Fuß und Cosmin wollte deshalb bis Donnerstag bei ihm bleiben.
Leon und Johannes stiegen in Leons Fitnesskeller bereits in ihre Trainingssachen, als sich Max zu ihnen gesellte.
Leon beteiligte sich nur eine knappe Stunde am Training; er wollte den Rest des Pfingsttages mit seiner vietnamesischen Freundin verbringen.
Das Training mit Johannes als Sparringpartner erwies sich für Max als eine neue Erfahrung. Zwar war auch Leon noch immer ein ebenbürtiger Gegner, aber Max kannte praktisch alle Angriffs - und Abwehrtechniken seines Onkels. Johannes griff anders an als Leon, arbeitete viel stärker mit den Fäusten. Zudem war er mehr als eine einen halben Kopf größer als Max und brachte mindestens fünfzehn Kilo mehr Muskelmasse auf die Waage. Max bemerkte sehr schnell, dass ihm Johannes’ Fäuste gefährlich werden konnten. Andererseits hatte auch er einige Vorteile. Johannes hielt nicht mit seiner Beweglichkeit oder Reaktionsschnelligkeit mit. Außerdem verschafften ihm Wurftechniken, die er beim Training mit Simon gelernt hatte, einen kleinen Vorteil.

Nach zwei Stunden gönnten sie sich völlig verschwitzt die erste längere Trainingspause. Johannes wischte mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und Max bemerkte, dass der Finalkampf des letzten Pferderennens in dessen Gesicht keine sichtbaren Spuren hinterlassen hatte.
Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und grübelte darüber nach, wieso sich Johannes das Pferderennen überhaupt noch einmal antat. Falls er es nicht ins Finale schaffte, würde er nur die mageren 500 Euro Startgeld mit nach Hause nehmen. Lohnte es sich, dafür eine gebrochene Nase zu riskieren?
„Hannes, warum bist du in zwei Wochen wieder dabei?“
Johannes rieb sich die rechte Faust und ließ seinen Blick über Max’ Oberarme schweifen.
„Eigentlich nur aus einem einzigen Grund, Max. Ich will Tang die Löffel lang ziehen. Dafür sorgen, dass der Kerl dieses Mal nicht mit seinen miesen und unfairen Tricks durchkommt und wieder gewinnt.“
„Wir beide stehen beim Pferderennen vielleicht zusammen im Ring…“
„… und werden uns einen fairen Kampf liefern, Max.“
Ein breites Grinsen huschte über Johannes’ Gesicht. „Den ich natürlich gewinnen werde“, ergänzte er.
Max erwiderte dessen Grinsen. „Hey Hannes, da bringst du jetzt irgendwas durcheinander.“
Johannes lachte auf und verpasste Max einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. „Ich hoffe nicht.“
Das Grinsen verblasste. „Max, solltest du mich aus dem Rennen werfen, will ich, dass du das für mich übernimmst und dem Kerl die Löffel lang ziehst.“
In Max’ Kopf tauchte die Erinnerung an Oskars Veilchen auf.
„Du wärst dann schon der zweite, für den ich ihm die Löffel lang ziehe.“
„Leon sagte, dass du am Freitag 18 wirst, Max. Wollen wir am Vormittag trotzdem nochmal trainieren?“
Max fühlte plötzlich einen kurzen Hitzeschwall durch seinen Bauch branden. Am Donnerstagabend würde Cosmin nach Berlin kommen und bei dem Gedanken an seine letzte Nacht als Siebzehnjähriger flutete die Hitze weiter zu seinem Schoß, wo er sie im Moment ganz und gar nicht gebrauchen konnte.
„Machen wir Hannes! Das wird dann unsere Generalprobe.“

Geburtstagsgeschenk

Cosmin

Cosmin lauschte in Gedanken versunken dem Rattern des Zuges auf den Schienen. Die ältere Dame auf der Bank ihm gegenüber hatte sich vom eintönigen Geräusch in den Schlaf wiegen lassen, ihr Mund stand offen wie ein Scheunentor.
Vielleicht wäre auch Cosmin eingenickt, doch sein Herz hämmerte im Brustkorb, als wolle es ihn auf Biegen und Brechen wach halten. Zum einen lag das daran, dass Cosmin es nicht so richtig vermochte, die Gedanken an die kommende Nacht aus seinem Kopf zu verbannen. Zum anderen graute ihm aber auch vor dem morgigen Tag. Er hätte Max’ 18. Geburtstag am liebsten nur mit ihm allein gefeiert. Stattdessen erwartete Max’ Vater beide Jungen am Nachmittag zu einer Familienfeier, bei der auch Leon anwesend sein würde.
Cosmin begriff nicht, weshalb er sich immer noch so fühlte wie ein Kaninchen beim Anblick einer Schlange, wenn Leon in der Nähe war. Max’ Onkel hatte sich bei der gemeinsamen Kletterei am Himmelfahrtstag vor zwei Wochen zweifellos bemüht, ihr Verhältnis zu entkrampfen.
Und morgen Abend wollten einige von Max’ Kumpel vorbeischauen, um mit ihm auf die Volljährigkeit anzustoßen. In ihrem Beisein kam sich Cosmin wie ein Eindringling vor. Ihm wäre es lieber gewesen, hätten sie zusammen mit den Freunden aus der Dessauer Parallelklasse gefeiert.

Da an ein Schläfchen nicht zu denken war, arbeitete sich Cosmin durch ein Skript zur Technischen Mechanik, das ihm Sergius Bruder Valentin zugeschickt hatte. Er vertiefte sich schließlich so sehr in dieses Skript, dass er um ein Haar das Aussteigen in Charlottenburg verpasst hätte. Im buchstäblich letzten Moment sprang er aus dem Waggon und blickte sich auf dem Bahnsteig um.

Dann sah er ihn in der Nähe der Treppe zur Unterführung und für einen Moment war es, als würde sein Herzschlag aussetzen. Der warme Atem des Frühsommers zauste die blonden Haare des Jungen, und sein Gesicht erstrahlte, als er Cosmin erblickte.
Jäh fragte sich Cosmin, wie er es eine Woche ohne diesen Menschen ausgehalten hatte. Beinahe gleichzeitig stürmten sie los und rissen sich gegenseitig von den Füßen.
„Ich hätte es keinen Tag länger ohne dich ausgehalten“, hauchte ihm Max ins Ohr und plötzlich spürte Cosmin Max’ Lippen auf den eigenen Lippen.

Für einen Moment vergaß Cosmin, dass er sich auf einem mit zahllosen Reisenden bevölkerten Bahnsteig befand. Max’ Zungenspitze strich über seine Lippen und er versuchte, sie in sich hineinzusaugen.
„Da ist ja widerlich. Müssen die das hier machen?“, giftete eine Frauenstimme und die Stimme eines Mannes entgegnete: „Will nicht wissen, was die machen, wenn die alleine sind.“
Vielleicht hatte sein Vater Recht und die Leute hier unterschieden sich in ihrem Denken nicht allzu sehr von den Leuten im fernen Porumbita. Er löste sich von Max’ Lippen und sah aus den Augenwinkeln nur wenige Schritte weiter ein älteres Ehepaar, das von der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs angeekelt zu ihnen herüber starrte.
„Maxi…“
Max lehnte seine Stirn an Cosmins Stirn. „Scheiße Cos-Mi, ich habe es so satt, mich zu verstecken!“, flüsterte er.
„Ich auch“, erwiderte Cosmin leise.

Dennoch verließen sie wie ein normales Freundespaar den Bahnhof.
Zu Cosmins Erleichterung wartete weder Leon noch einer von Max’ Kumpels auf dem Parkplatz des Bahnhofs. Cosmin hätte kein Problem mit dem halbstündigen Fußmarsch bis zu Max’ Haus gehabt. Doch Max sagte ihm mit einem anzüglichen Grinsen auf den Lippen, dass er es eilig habe und zog ihn in ein Taxi.

Bereits im Taxi drohten Max’ zärtliche Berührungen, ihm den Verstand aus dem Kopf zu spülen und als sich endlich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte, fühlte sich Cosmin wie ein Verdurstender beim Anblick einer Wasserflasche.
Er zog Max in seine Arme und sah, dass auch Max’ Augen sich verdunkelten und mit Wollust füllten.
Noch im Wohnungsflur rissen sie sich gegenseitig ihre Kleider vom Leib und wankten zusammen ins Bad, ohne sich voneinander zu lösen.
Als kurz darauf das warme Wasser der Dusche über ihre überhitzten Leiber rann und Max seinen Hals und Nacken mit Küssen überzog, verlor Cosmin auch den Rest seines Verstandes. Es war, als wolle er in Max zugleich hinein stoßen und ihn in sich aufnehmen.
Er glitt mit einem Finger in Max’ Po und Max belohnte ihn mit einem lustvollen Stöhnen, doch dann wand er sich aus Cosmins Umarmung.
„Ich hol’ uns was“, keuchte Max ihm ins Ohr und tapste aus dem Bad. Gleich darauf kehrte er mit einer Cremetube und einem Fläschchen Duftöl zurück. Beides war vermutlich irgendwo im Schlafzimmer versteckt gewesen.
Als endlich auch Max’ Finger in ihn eindrang, vergrub Cosmin seine Zähne in Max’ Schulter, um einen lustvollen Aufschrei zu unterdrücken.

Ohne ihre ineinander verschlungenen Körper abzutrocknen, zogen sie sich gegenseitig ins Schlafzimmer. Cosmin landete auf dem Rücken im Bett und Max fiel wie ein ausgehungertes Raubtier über ihn her. Doch fühlte sich Cosmin nicht als Beute. Er griff nach Max’ Erektion und führte sie dorthin, wo er sie im Moment am dringendsten haben wollte.
Max stieß zu und ein Duett aus Keuchen und Stöhnen erfüllte das Schlafzimmer. Es gipfelte schließlich in einem lustvollen Aufschrei, den nicht einmal Max’ Schulter zu dämpfen vermochte.
Cosmin umklammerte Max mit seinen Armen und versuchte ihn so lange wie möglich in sich zu behalten.
„Cos-Mi, das war besser als das schönste Geburtstagsgeschenk“, hauchte ihm Max ins Ohr und Cosmin seufzte tief, als Max sich von ihm löste, um aus dem Bad ein Handtuch zu holen.
Während Max ihm die feuchten Hinterlassenschaften dieses Geburtstagsgeschenks von Bauch und Po wischte, meldete sich endlich sein Verstand zurück.
Er zog Max wieder in seine Arme und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. „Das war eigentlich nicht als Geburtstagsgeschenk gedacht.“

Max

Da Cosmin noch schlief, zog Max am nächsten Tag das morgendliche Fitnessprogramm in seinem Wohnzimmer durch. Auch wenn er völlig normal laufen und bei den Dehnungsübungen die Beine mühelos zum Spagat spreizen konnte, spürte er bei den Liegestützen in seinem Hintern, womit sie die halbe Nacht zugebracht hatten.
In Max’ Erinnerung blitzte die silberfarbene Schatulle auf, die zusammen mit seinen Wünschen am Dessauer Muldufer vergraben war. Er hätte nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erwartet, dass ihm Cosmin diesen speziellen Wunsch mit einer solchen Hingabe erfüllen würde.

Er startete den Kaffeeautomaten und gönnte sich anschließend eine Dusche, um sich den Schweiß vom Leib zu spülen, den die nächtlichen Aktivitäten und das morgendliche Fitnesstraining dort hinterlassen hatten.
Nur im Slip und mit einem über die Schulter geworfenen Handtuch bekleidet hockte sich Max danach an die Küchentheke.
Cosmin betrat das Wohnzimmer. Beim Anblick der schlanken, ebenfalls nur mit einem Slip bekleideten Gestalt stockte ihm kurz der Atem.
„Maxi, du guckst, als ob ich deine Geburtstagstorte bin“, grinste Cosmin. Max glitt vom Stuhl und zog Cosmin in seine Arme.
„Happy Birthday, Stiefbruderherz“, hauchte ihm Cosmin ins Ohr. Er zog ihm das Handtuch von der Schulter und strich mit den Fingern über das entblößte Schlüsselbein. Dort hatte Max nach dem Duschen mehrere Bissspuren bemerkt.
„Tut mir Leid, Maxi. Vielleicht sollte ich einen Beißschutz verwenden, wenn wir wieder… äh so was machen.“
„Nö, vergiss den Beißschutz. Ich find’s cool, Dracula.“
„Dann halte mal kurz still, ich hab ein Halsband für dich“, kicherte Cosmin. Er hielt ein silbernes Kettchen in der Hand und befestigte es an Max’ Hals.
„Ich hoffe, es gefällt dir, Maxi. Das Foto im Anhänger hat auch eine Rückseite.“

Max öffnete den Anhänger und äugte auf das Foto. Es zeigte ihre beiden lachenden Gesichter, die Wangen wie bei siamesischen Zwillingen miteinander verschweißt. Cosmin löste behutsam das Foto und wendete es. Max schielte erneut auf den Anhänger. Er zeigte dasselbe Foto und dennoch verriet die Rückseite etwas, das die Vorderseite nicht zeigte. Beide Gesichter befanden sich innerhalb eines Herzens, das dem Schriftzug „Love“ entsprang.
Das Foto verschwamm vor Max’ Augen. „Das ist wunderschön, Cos-Mi“, flüsterte er dem Freund ins Ohr. Obwohl Max wusste, dass er Cosmin mit diesen Worten aus für ihn völlig unbegreiflichen Gründen in Verlegenheit bringen würde und sie deshalb normalerweise vermied, ergänzte er: „Ich liebe dich, Cos-Mi.“
Seine Stirn schmiegte sich an Cosmins Stirn, die Augen der Jungen hielten einander gefangen. Max fühlte, dass Cosmin mit Worten rang, die ihm über die Lippen kommen wollten.
Max verschloss Cosmins Lippen mit einem sanften Kuss. Er trug diese Worte jetzt in dem kleinen Anhänger an seinem Hals.
„Frühstück!“, rief er, um Cosmin aus der Verlegenheit zu helfen.
„Und ist es okay für dich, wenn ich nachher nochmal für ein paar Stunden mit Hannes trainiere?“, fragte Max, während er für Cosmin einen Becher mit Kaffee befüllte.
Cosmin verdrehte die Augen. „Klar ist das okay. So lange ihr nur trainiert.“
Er kramte in seinem Rucksack und Max nahm an, dass sich Cosmin bereits ein Lehrbuch heraussuchte, in dem er in der Zwischenzeit schmökern wollte. Stattdessen trat er mit einem Kärtchen in der Hand an den Tresen heran und schob es Max zu. „Alles Gute zum Geburtstag von der Fahrschule, Maxi. Deine Fahrerlaubnis. Nun brauchst du nur noch ein Auto.“
Max winkte ab. „Das verdiene ich mir in einer Woche beim Pferderennen.“

Noch eine Geburtstagsüberraschung

Cosmin

„Es gibt etwas, das wir euch sagen möchten“, eröffnete Max’ Vater etwas steif die Familienfeier am Nachmittag. Er erhob sich von der Couch, ohne die Hand seiner Frau loszulassen. Cosmin bemerkte, dass Max, der neben ihm an dem zur Tafel ausgezogenen Tisch saß, unauffällig die Augen verdrehte. Ihm fiel auch auf, dass der Blick seiner Mutter auf ihm ruhte.
„Leon, der Champagner“, sagte Max’ Vater.
Trotz der frühen Nachmittagsstunde hatte die als Haushaltshilfe der Familie tätige Frau die Tafel nicht nur mit Kaffeegeschirr gedeckt, sondern auch sechs Champagnergläser auf den Tisch gestellt. Leon runzelte die Stirn und nahm den Arm von der Hüfte seiner zierlichen vietnamesischen Freundin, um nach der Champagnerflasche zu greifen. Cosmin vermutete, dass er ebenfalls nicht wusste, was ihnen Max’ Vater und seine Mutter sagen wollten. Zumal sie darauf mit teurem Champagner anstoßen würden.
„Alex, ich möchte das sagen.“
Seine Mutter zog ihren Mann auf die Couch zurück. Fast schien es Cosmin, als würde ihm seine Mutter einen entschuldigenden Blick zuwerfen, so als hätte sie ein schlechtes Gewissen.
„Maximilian und Cosmin, ihr beide bekommt in etwas weniger als sieben Monaten Geschwister.“
„Geschwister?“, riefen Max und Cosmin wie aus einem Mund und starrten sich entgeistert an.
„Geschwister?“, fragte nun auch Leon.

Allmählich dämmerte Cosmin, warum seine Mutter von Geschwistern redete.
„Du bekommst Zwillinge?“
Seine Mutter lächelte, es war das warme Lächeln, das ihn als Kind beinahe jeden Abend in den Schlaf begleitet hatte.
„In ein paar Wochen erfahren wir, ob ihr zwei Brüder oder zwei Schwestern bekommt, oder vielleicht eine Schwester und einen Bruder.“
Cosmin erwiderte ihr Lächeln. Wärme flutete bei dem Gedanken an die zwei kleinen Wesen, die im Moment wahrscheinlich kleiner als die eigenen Daumen waren, durch seinen Brustkorb. Aus den Augenwinkeln sah er, dass ein Lächeln auch Max’ Gesicht verzauberte. In den Zwillingen würde Blut fließen, dass auch in seinen Adern floss. Aber in ihnen würde ebenso Blut fließen, das durch Max’ Adern floss.
Leon schien die Nachricht noch zu verdauen.
„Leon, wir wollten darauf anstoßen“, riss Max’ Vater dessen Bruder aus den Gedanken.
„Sorry Alex, aber das ist echt ein Hammer. Mein Glückwunsch“, sagte er und befüllte die sechs Gläser mit dem Champagner.
Sie stießen auf das Wohl der Zwillinge an.

Max’ Vater erhob erneut sein Glas. „Und jetzt auf dein Wohl Maximilian. Ich bin sehr stolz auf deine Abschlussnote und Cosmin dankbar dafür, dass er dir dabei geholfen hat. Viel Glück beim Start ins Studium, mein Sohn. Ich hoffe, dass in einem Jahr nicht nur Cosmins künftige Frau mit uns an deinem Geburtstagstisch sitzt, sondern dass auch dir endlich die Richtige über den Weg läuft.“
Cosmin fühlte sich, als würde plötzlich sein Herzschlag aussetzen. Er war überrascht, dass Max’ Vater offenbar immer noch glaubte, er wäre mit Camelia zusammen. Doch es war vor allem die Vorstellung, Max könne seinen nächsten Geburtstag mit dieser „Richtigen“ feiern, die seinen Atem stocken ließ. Auch Max’ Gesicht war zu einer Totenmaske erstarrt. Max umklammerte das Champagnerglas in seiner Hand dermaßen fest, dass die Fingerknöchel weiß hervor traten. Zwischen zusammengebissenen Zähnen brachte er ein „Vielen Dank, Vater“ hervor.

Cosmin fing einen Blick von Leon auf. Fast schien es, als hätte Max’ Onkel für einen Moment seine wahren Gedanken offenbart. Der Blick war so eisig, dass Cosmin das Blut in den Adern zu gefrieren drohte.
Offenbar hatte auch seine Mutter Leons Reaktion mitbekommen. Ihr erschrockener Blick wechselte mehrmals zwischen ihm und Leon hin und her.
Max’ Vater bemerkte nichts davon, was er mit seinen Worten ausgelöst hatte. Er leerte sein Glas, stand von der Couch auf und begab sich in die Küche. Gleich darauf kehrte er mit einer Fruchttorte zurück, auf der 18 Kerzen flackerten.
Er stellte die Torte auf dem Tisch ab und bedeutete Max, die Kerzen auszupusten. Als Spitzensportler hätte Max dafür locker ein Atemzug genügen müssen, doch Max benötigte vier oder fünf Versuche, ehe auch die letzte Kerze erlosch.

Als später die Torte bis auf das letzte Stück verspeist war, erhob sich Max von seinem Stuhl. „Sorry Leute, aber wir müssen langsam. Nachher kommen noch Oski, Nick und ein paar andere Leute bei uns vorbei.“
Cosmin seufzte leise. Zwar war er erleichtert, dass er die Familienfeier so gut wie überstanden hatte, aber die Party mit Max’ Kumpels lag noch vor ihm. Zudem überraschte es ihn, dass bislang weder Leon noch Max’ Vater ein Geburtstagsgeschenk auch nur erwähnt hatten.

Seine Mutter nahm ihn zum Abschied in ihre Arme. „Ich weiß, dass du dir immer ein Schwesterchen oder Brüderchen gewünscht hast, als du klein warst. Es tut mir Leid, Cosmin. Ich hoffe, du wirst die Zwillinge trotzdem gerne haben.“
Cosmin schluckte und erwiderte zögernd ihre Umarmung. „Ich liebe die beiden jetzt schon, Mutter.“
Leon und Max’ Vater begleiteten die Jungen zum Parkplatz auf dem Hinterhof des Hauses, wo sie ihre Fahrräder abgestellt hatten. Unterwegs legte Leon einen Arm um Cosmins Schulter, als hätte des den eisigen Blick an der Geburtstagstafel nie gegeben. „Ich frage mich echt, wem die Zwillinge mehr ähneln werden, dir oder Maxi. Aber was ich jetzt schon weiß… eure Geschwister werden verdammt süße Zwillinge. Was glaubst du, Cosmin?“
Ich glaube, dass du mir was vormachst, Leon!, erwiderte Cosmin in Gedanken und zuckte mit der Schulter, in der Hoffnung, so Leons Arm etwas schneller wieder loszuwerden. „Ich lass mich überraschen.“
Sie gesellten sich zu Max und seinem Vater, die an Leons Skoda Geländewagen warteten.

„Es gibt eine Planänderung, Champ“, grinste Leon und deutete auf das Auto.
„Weil ich nicht will, dass du dich auf diesem idiotischen Turnier prügelst, um das Auto zu gewinnen, Maximilian. Fahr vorsichtig damit“, ergänzte Max’ Vater.
„Du schenkst mir das Auto?“, fragte Max fassungslos.
„Leon und ich zusammen.“ Sein Vater drückte Max einen großen Umschlag in die Hand. „Hier ist alles drin, was du brauchst, um das Auto auf deinem Namen zuzulassen. Die Versicherung für ein Jahr ist inklusive.“
Max schien kurz mit sich zu ringen. Plötzlich ergriff er die Schultern seines Vaters und zog sie zu sich heran. „Danke Vater.“
Max’ Vater war offenbar völlig überrascht von der Umarmung und benötigte einige Sekunden, ehe er sie erwiderte.

„Obwohl ich finde, dass die Geschwister das schönere Geschenk sind“, grinste Max, als er sich aus den Armen des Vaters löste. „Aber an dem idiotischen Turnier nehme ich trotzdem teil. Da gibt es ein paar offene Rechnungen.“
Max umarmte auch Leon. „Danke großer Bruder. Auch dafür, dass du seit 18 Jahren für mich da bist.“
Einen Moment lang fragte sich Cosmin erneut, ob sich Max vielleicht doch eines Tages zwischen ihm und Leon würde entscheiden müssen. Er begriff nicht, weshalb Leon so tat, als hätte er die Beziehung zwischen ihm und Max akzeptiert, obwohl das offensichtlich nicht der Fall war.

Die Jungen verabschiedeten sich von Max’ Vater und von Leon, verstauten ihre Fahrräder im Geländewagen und gleich darauf steuerte Max das Auto durch die Zufahrt zum Hinterhof hinaus auf die Straße.
Cosmin schmunzelte, weil Max dabei auf die vorausfahrenden Autos starrte, als würde er eine knifflige Matheaufgabe lösen.
„Cos-Mi, hör auf so zu gucken!“
„Du siehst süß aus, wenn du Auto fährst“, kicherte Cosmin.
Plötzlich verbogen sich Max’ Lippen zu einem anzüglichen Grinsen.
„Maxi?“
„Ich überlege gerade, wie es ist, wenn wir es mal hier im Auto ausprobieren“, feixte Max.
Cosmin spürte jäh ein Ziehen in den Lenden. Er schnaubte leise und beschloss, vorsichtshalber das Thema zu wechseln, um Max nicht vom Straßenverkehr abzulenken.
„Was hältst du davon, dass wir bald dieselben Geschwister haben werden?“
Es stinkt mich an!", erwiderte Max mit einem Lächeln im Gesicht, das ganz und gar nicht zu den harschen Worten passen wollte.
„Wieso denn das?!“, rief Cosmin schockiert.
„Weil wir noch sieben Monate auf die Zwillinge warten müssen. Cos-Mi, die Zwillinge werden auch so ein bisschen wie unsere eigenen Kinder sein.“

Zwei Tage später, am Sonntag, fuhren die Jungen mit Max’ neuem Auto nach Dessau zurück. Während der Skoda mit gemächlichen 120 Stundenkilometern über die Autobahn zuckelte und Max den aus dem Autoradio tönenden Rhythmen lauschte, schmiegte sich Cosmin in den bequemen Beifahrersitz und versuchte wach zu bleiben.
Was sich als gar nicht so einfach erwies, da sie auch in der vorangegangenen Nacht die Vorzüge des großen Bettes im Schlafzimmer von Max’ Wohnung ausgiebig genutzt hatten.
Cosmins Gedanken trudelten zurück zu Max’ Geburtstagsparty. Max’ Berliner Kumpel waren nur wenig länger als zwei Stunden geblieben, weil zur selben Zeit ein Sommerfestival am Brandenburger Tor stattgefunden hatte. Allerdings hatte auch Max’ Ex- Freundin Caroline zu den Gratulanten gehört, was Cosmin etwas beunruhigte. Offenbar war sie wohl doch nicht bereit, die Finger von Max zu lassen. Cosmin hoffte, dass sich das ändern würde, sobald sie erfuhr, an wen Max vergeben war…

„Hey, aussteigen!“
Cosmin blinzelte verwirrt und sah, dass Max den Skoda vor Oma Lisas Haus eingeparkt hatte.
Wie es schien, hatte Max’ Oma die Jungen von ihrem Wohnzimmer aus bemerkt.
Sie trat aus dem Haus, eilte hinaus auf die Straße und betrachtete kopfschüttelnd das Auto. „Du meine Güte, was für ein Geburtstagsgeschenk.“ Die Oma umarmte Max. „Nochmals alles Gute zum 18. Geburtstag, Junge“.
Dann nahm sie auch Cosmin in die Arme.

Wie immer nach einer längeren Abwesenheit betrat Max zunächst das Zimmer mit den Sachen seiner Mutter. Währenddessen half Cosmin der Oma, den Wohnzimmertisch zu decken und die Kerzen auf einer Erdbeertorte anzuzünden.
„Und? Hast du noch andere Geschenke bekommen?“, wandte sich Oma Lisa an Max, als sie später zusammen am Wohnzimmertisch saßen. Anders als bei der Geburtstagsfeier vor zwei Tagen hatte Max die Kerzen auf der Torte mit einem Atemzug ausgepustet. Neben der Geburtstagstorte lag ein Tankgutschein über 100 Euro, den ihm seine Oma spendiert hatte.
„Das hier ist das wertvollste Geschenk.“
Max löste das silberne Kettchen von seinem Hals und reichte es seiner Oma.
Cosmin lächelte verlegen, seine Ohren schienen jäh zu glühen.

Wieder einmal saßen sie beide so dicht nebeneinander auf der Couch, als wären sie am Gesäß und an den Beinen zusammen gewachsen. Seit dem er Max vor zwei Tagen das Kettchen um den Hals gelegt hatte, zeigte das Foto im Anhänger die herzförmige Seite.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Oma. Fast schien es Cosmin, als würden in ihren Augenwinkeln kleine Tränen schimmern.
„Das ist ein wunderschönes Geschenk“, sagte sie und gab Max das Kettchen zurück.
„Das fand ich auch“, erwiderte Max mit einem kurzen Seitenblick zu Cosmin.
„Und dann wären da noch die Zwillinge, von denen ich dir erzählt habe. Weißt du Omi…“, Max’ Augen lösten sich vom Gesicht seiner Oma und schienen nun etwas Wundervolles zu erblicken, „… ich stelle mir gerade vor, wie ich und Cos-Mi, wie wir zusammen die Zwillinge aus der Kinderkrippe oder aus dem Kindergarten abholen. Ich würde gerne wissen, wer von uns beiden mal ihr Lieblingsbruder sein wird.“
„Wolltet ihr nicht hier studieren? Eure Geschwister werden in Berlin in den Kindergarten gehen“, warf Oma Lisa ein und Max sah plötzlich aus, als wäre er aus seinem wundervollen Traum gerissen worden.
„Daran… habe ich überhaupt noch nicht gedacht“, stammelte er.
Cosmin tätschelte Max’ Arm. „Wir haben noch etwas Zeit, bis wir uns für ein Studium bewerben müssen, Maxi. Wir überlegen uns etwas, wenn wir aus Rumänien zurück sind.“
„Wann seid ihr denn aus Rumänien zurück?“
„Am 2. Juli bekommen wir die Reifezeugnisse und am dritten ist der Abschlussball, Tante Lisa“, antwortete ihr Cosmin. „Ich schätze, spätestens Ende Juni sind wir wieder hier.“
Oma Lisa seufzte leise. „Am 26. Juni fliege ich mit Cal zu seinen Großeltern nach Kalifornien und werde dort bis zum September bleiben. Wenn ihr zurückkommt, werde ich nicht mehr hier sein.“

Ein Pferderennen im Boxring

Max

Max konnte sich nicht erinnern, dass er je einen derartigen Bammel vor einem Pokalturnier oder einer Meisterschaft gehabt hatte wie an diesem Samstagnachmittag, als er zusammen mit Leon und Cosmin zum „U - Boot“, einem ehemaligen Theater im Osten Berlins, aufbrach. Dort würde in nicht einmal zwei Stunden das sogenannte „Pferderennen“ beginnen. Nicht selten starteten bei diesem Kampfsportturnier auch eher zweitklassige Wettkämpfer, die sich mit der Startprämie zufrieden gaben. Doch heute würde er höchstwahrscheinlich gegen einen Chinesen antreten müssen, der beim letzten Pferderennen schon in der ersten Minute den früheren zweifachen sächsischen Landesmeister Johannes k.o. getreten hatte.

Wettkampfregeln gab es so gut wie keine. Es galt, den Gegner irgendwie zu bezwingen. Flog man dreimal aus dem Ring oder schaffte es nicht innerhalb von zehn Sekunden zurück in den Ring, war das ebenfalls wie ein k.o.
Wer in den beiden Vorrunden zwei Kämpfe verlor, schied aus. Dem Sieger winkte ein Preisgeld von 5000 Euro. Wie beim Pferderennen konnte man auf seinen Favoriten setzen, wobei man je nach Quote ein hübsches Sümmchen gewinnen konnte. Max und Leon hatten beim letzten Pferderennen im Herbst zweihundert Euro auf den Chinesen Tang gesetzt und 3400 Euro eingestrichen.
Zocker konnten die Kämpfe auch im Videostream verfolgen und mit Kryptowährungen auf die Finalpaarung oder den Sieger setzen.

Der Zahn der Zeit hatte sichtbare Spuren am Verputz des zweigeschossigen Theaters hinterlassen. Es zwängte sich zwischen mehrstöckigen Mietskasernen und vor dessen Eingang hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Da Max als Wettkämpfer am Turnier teilnahm, musste er sich nicht in die Schlange einreihen, ebenso wenig Leon und Cosmin.
Während sie sich einen Weg durch das Gedränge der Zuschauer bahnten, um zu den Logenplätzen in der ersten Reihe zu gelangen, spähte Max zur Bühne. Der Boxring wurde von mehreren Halogenflutern angestrahlt und von auf Gestellen montierten Kameras ins Visier genommen. Drei Wettkämpfer unterhielten sich mit Tony, dem Veranstalter des Turniers, einem vielleicht vierzigjährigen Mann mit Pferdeschwanz. Die Wettkämpfer, unter ihnen ein Mann mit Babygesicht, der „Das O“ genannt wurde, hatten auch am Pferderennen im Herbst teilgenommen. Max vermutete, dass so wie Johannes auch das O nur deshalb nochmal am Pferderennen teilnahm, um sich für die blutige Niederlage gegen Tang beim letzten Turnier zu rächen. An einem Computerterminal hockte ein schlacksiger junger Mann, von dem Max nur wusste, dass er Kalle hieß.
Tony bemerkte nun auch Max, Leon und Cosmin und winkte sie zu sich.
Während Cosmin sich an seinem Platz begab, stieg Max hinter seinem Onkel das Treppchen hinauf zur Bühne.

„Willkommen Leute und alles Gute noch zum 18. Geburtstag, Max. Schön, dass wir dich heute dabei haben“, rief Tony und schüttelte beiden die Hand.
Max lächelte säuerlich. „Ich konnte es nicht erwarten, heute dabei zu sein.“
Er nickte den anderen einen Gruß zu. Das O erwiderte den Gruß mit einem freundlichen Lächeln. Nils, der im selben Club trainierte wie Max, hielt ihm die Faust zum Fistbump hin und Steve, ein Hühne von knapp zwei Metern, tat so, als wäre Max Luft für ihn. Vor etwas mehr als vier Jahren hatte er Max im Finale eines Pokalturnier nur durch einen hinterhältigen Griff ins lange Haar besiegt. Ein Jahr später dagegen war er von Max gleich zweimal geschlagen worden, bei einem Pokalturnier und den Jugendmeisterschaften im Kickboxen.
Johannes und ein weiterer Wettkämpfer traten zusammen mit Max’ ehemaligen Trainer Hardy aus dem hinter der Bühne gelegenen Umkleideraum. Hardy umarmte erst Leon, dann auch Max.
„Ich gebe zu, Max, ich setze je fünfzig Euronen auf dich, auf Hannes und auf Tang. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn du Tang einseifst“, grinste er.
„Du solltest die drei Scheine besser alle auf mich setzen“, grinste Max zurück.
„Oder noch besser auf mich“, sagte Johannes. Er boxte Max kumpelhaft in die Seite. „Schön dich zu sehen, auch wenn ich dich nachher vielleicht ordentlich einseifen muss.“ Er deutete auf den anderen Wettkämpfer, einen sehnigen jungen Mann, der eher wie ein Marathonläufer aussah. "Das ist Marc. Er trainiert in unserem Club und will sich heute sein Stipendium aufbessern.
„Jepp, den Tausender für den Finaleinzug würde ich schon gerne mitnehmen“, ergänzte Marc.
„Sorry Leute, ich muss mich so langsam mal umziehen“, sagte Max. Er sah, dass Cosmin etwas verloren zwischen all den schwatzenden Zuschauern auf dem Plastikstuhl in der ersten Reihe hockte und zu ihm herüber starrte.
„Onkelchen“, Max nickte in Cosmins Richtung, „es wäre gut, wenn du Cosmin ein bisschen aufklärst, wie das heute hier so ablaufen wird.“
„Wer ist der junge Wilde?“, wollte Tony wissen.
„Mein Stiefbruder und mein Freund“, antwortete Max und ließ bewusst offen, was genau mit Freund gemeint war.
„Okay, ich kümmere mich um ihn“, versprach Leon und wandte sich zum Gehen.

Max betrat den Umkleideraum und jäh fühlte er sich, als wäre sein Magen mit Eiswürfeln gefüllt. Nur ein paar Schritte vor ihm stieg Tang in seinen Wettkampfanzug. Die Lippen des Chinesen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln, als er Max bemerkte. „Ich hoffe, du besser in Form heute als damals im Februar.“
„Du wirst es erleben, Tang“, erwiderte Max und zauberte ein charmantes Lächeln in sein Gesicht. „Ich denke, ich werde dir heute das Fliegen beibringen.“
Tang schnaubte verächtlich und rammte Max beim Hinausgehen.
„Was für ein Arsch“, sagte ein etwa dreißigjähriger muskulöser Mann mit schwarzem Vollbart,. „Mein Name ist Gül, ich bin erst vor ein paar Monaten nach Berlin gezogen und trainiere jetzt auch bei Hardy. Du bist Max, nehme ich an.“
„Hi Gül, so isses. Du hast die Startnummer vier, oder?“
„Und du die zwei, Max. Das bedeutet, im zweiten Kampf der Vorrunde muss ich es mit dir aufnehmen.“
„Und ich mit dir.“
Sie unterhielten sich, während sie sich umzogen und Max erfuhr, dass Gül nach längerer Arbeitslosigkeit aus Hamburg nach Berlin gezogen war, weil ihm ein Cousin einen Job als Türsteher angeboten hatte.
Sie schlenderten zusammen auf die Bühne. Max’ Blick wanderte hinunter zur ersten Reihe. Cosmin schaute zu ihm herauf, als würde er einer Hinrichtung beiwohnen müssen. Leon unterhielt sich mit Oskar und Nicholas, die es offenbar doch noch geschafft hatten, Tickets für eine der hinteren Reihen zu ergattern.
Max stieg von der Bühne und begrüßte seine Berliner Kumpels. Nicholas wedelte mit dem Wettzettel, auf dem Informationen über die acht Wettkämpfer und ihre Startnummern vermerkt waren.
„Welli, ich und Oski, wir wollen jeder einen Fuffi auf dich setzen. Ist das 'ne gute Idee?“
Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Gedränge hinter sich. „Charly und Murry sind auch hier. Die wollen bestimmt sehen, wie du von dem Chinesen geschlachtet wirst.“
Max schaute zu den hinteren Rängen, konnte jedoch Charles und Murat im Gedränge nicht entdecken.
Oskar tätschelte Max’ Schulter. „Ich setze auf dich, so wie du die beiden Jungs vor zwei Wochen aus der Scheiße geholt hast war der Hammer, Mann… ich soll dich übrigens von ihnen grüßen, Welli. Die waren schon zweimal beim Training.“
Max versuchte seine Freude darüber, dass er die beiden Jungen beim Training in seinem Kampfsportklub wiedersehen würde, nicht allzu offen zur Schau zu stellen. „Grüß sie zurück Oski. Ich tippe übrigens auch auf die Nummer zwei.“
Das war seine eigene Startnummer.
„Champ, dein Tipp fürs Finale!“, raunte ihm Leon zu.
„Die zwei gegen die acht mit der zwei als Sieger.“
Die Startnummer acht gehörte Tang.
Leon seufzte. „Ich setze zehn Bitcents. Wenn du dich geirrt hast, streiche ich dir für zehn Jahre die Geburtstagsgeschenke.“
„Vertrau mir Onkelchen!“

Max ließ sich auf Leons Stuhl fallen und legte einen Arm um Cosmins Schulter, der wie ein Häufchen Elend auf seinem Stuhl hockte.
„Alles klaro, Cos-Mi?“
Cosmin griff nach der Hand auf seiner Schulter. „Ich habe Schiss, dass der Tang dich ins Koma prügeln will, Maxi.“
Max gab sich locker. „Dann musst du mich da raus holen, okay? Aber vergiss das mit dem Koma, heute verzehnfachst du dein Taschengeld.“
Cosmin hatte ihm erzählt, dass er seine Ersparnisse von 200 Euro riskieren werde und sich notfalls Geld für die Rumänienreise borgen müsse.
Auf der Bühne trat Tony ans Mikrofon.
„Okay, ich muss los, Cos-Mi.“
Max verbog die Lippen zu einem anzüglichen Grinsen. „Und keine Sorge. Heute Nacht liege ich nicht im Koma, sondern mit dir im Bett“, zischte er Cosmin zu.

Er begab sich zum für die Startnummer zwei reservierten Stuhl und gleich darauf begann Tony, jeden der heutigen Wettkämpfer vorzustellen. Zwar erwähnte Tony Max’ Pokale und die gewonnene Jugendmeisterschaft. Aber Max nahm an, dass sich inzwischen auch seine wenig schmeichelhafte Niederlage beim Trainingskampf gegen Tang herum gesprochen hatte. Gegen ihn sprach zudem, dass er seit einem Jahr kein regelmäßiges Training in einem Kampfsportverein vorweisen konnte.

Anschließend sammelten mehrere Helfer auf der Bühne die Wetteinsätze an einem langen Tisch ein.
Max begegnete dort auch Charles und Murat. Charles sagte ihm mit einem süffisanten Lächeln, dass sie liebend gern auf ihn gesetzt hätten, ihnen aber das Risiko, den Einsatz zu verlieren, zu groß gewesen sei. Max dankte Charles für den Wetteinsatz, weil nach dem Ende des Turniers das Geld auch in seiner Tasche landen würde.
Es dauerte fast eine Stunde, ehe die Helfer alle Wetteinsätze kassiert und Computernerd Kalle die Quoten an eine Tafel geschrieben hatte.
Tang galt mit einer Quote von knapp 1:2 als Favorit, dahinter folgte Johannes mit 1:6. Sogar dem O trauten die Zuschauer mit etwa 1:11 eher einen Sieg zu als Max. Die Quote von etwas über 1:20 versprach einen satten Gewinn - falls Max das Rennen gewinnen würde.

Tony verkündete nun die Paare, die in den acht Kämpfen der Vorrunde aufeinander treffen würden.
Im ersten Kampf der Vorrunde würde Max mit seinem alten Widersacher Steve im Ring stehen.
In der Vorrunde würde er außerdem mit Gül aufeinander treffen.
Max und Steve traten zusammen mit Hardy und einem weiteren Kampfrichter in den Ring. Seit ihn Steve vor vier Jahren im Finale besiegt hatte, trug Max bei seinen Kämpfen stets ein eng anliegendes Stirnband.

Tony schlug den Ring Gong.
Zunächst arbeitete sich Steve an Max’ Deckung ab. Als Max kurz vor dem Ende der 1. Runde Steves rechter Fuß entgegen flog, ließ er sich in einen Spagat fallen und fegte dabei mit einer Drehung Steves linken Fuß von der Matte. Steve verlor für einen Moment den Bodenkontakt und ruderte mit den Armen, statt mit ihnen den Oberkörper zu decken. Max schnellte nach oben und landete nun mit seinem rechten Fuß einen Treffer in Steves ungedecktem Gesicht. Steve schlug mit dem Gesicht nach oben auf der Matte ein. Tang wäre nun vermutlich mit einem Knie in Steves Gesicht gelandet. Max sah, dass Steve benommen blinzelte. Hardy hatte bereits begonnen, Steve anzuzählen, doch Steve schaffte es nach sieben Sekunden, wieder auf die Beine zu kommen.

Auch in den folgenden drei Runden gelang es Steve nicht, an Max’ Deckung vorbeizukommen. Offensichtlich zahlte sich das Reaktionstraining mit Cosmin aus. Max wehrte Steves Schläge und Tritte mühelos ab und landete mehrere Treffer, die ihm den Sieg nach Punkten einbrachten.
Immerhin verneigte sich Steve nach dem Kampf nicht nur vor den Ringrichtern, sondern auch vor Max.

Im nächsten Kampf standen sich Nils und Gül gegenüber. Max hätte auf Gül als Sieger getippt, zumal der Türke viel kräftiger aussah als Nils. Doch am Ende gewann Nils knapp nach Punkten.
Anschließend trat Johannes gegen seinen Teamkollegen Marc an. Marc mochte vielleicht ein guter Leichtathlet sein. Im Ring hatte er gegen Johannes keine Chance.

Der vierte Kampf versprach spannend zu werden. Tang hatte das O beim letzten Pferderennen übel zugerichtet. Das normalerweise recht gemütliche Babygesicht des O glich jetzt eher dem Gesicht der Mörderpuppe Chucky, als es zusammen mit Tang in den Ring stieg. Das O hatte nicht nur eine Karriere als Kickboxer hinter sich sondern galt auch als guter Wrestler. Allerdings erwies sich Tang als äußerst beweglich und reaktionsschnell. Sobald das O ihn packen wollte, verschwand Tang aus der Reichweite der zupackenden Pranken des O. Immerhin schien es, als hätte das O daraus gelernt, dass ihn Tang beim letzten Turnier mit einem Kopfstoß in die Weichteile außer Gefecht gesetzt hatte. Er hielt Tang auf Distanz. In der vierten und letzten Runde gelang es ihm sogar, Tangs zutretenden Fuß zu schnappen und fast sah es so aus, als wolle das O Tang aus dem Ring werfen. Doch Tang zog sich plötzlich an den Pranken des O, die seinen rechten Fuß gepackt hatten, näher an das O heran und verpasste ihm mit dem linken Fuß einen Treffer ins Babygesicht. Das O kippte nach hinten und schaffte es immerhin auf dem Bauch zu landen, um das Gesicht zu schützen. Tang landete mit dem Knie zuerst auf dem O, packte dessen rechten Arm und riss ihn so heftig nach oben, dass das O aufschrie. Zehn Sekunden später war der Kampf beendet und das O geschlagen.
Anschließend fegte Steve Max’ Klubkollegen Nils aus dem Ring.

Wenig später trat Max zum zweiten Mal an, dieses Mal gegen Gül. Max hatte bereits bei Güls erstem Kampf bemerkt, dass der Türke zwar Muskeln, aber Schwächen bei der Beweglichkeit hatte. Er sparte seine Kraft für die nächste Runde auf und schlug Gül nach Punkten aufgrund einiger gut gezielter Konter. Da sich das O im darauf folgenden Kampf von seiner Niederlage gegen Tang etwas erholt hatte und Marc aus dem Rennen warf, würde Max in der nächsten Runde gegen das O kämpfen müssen.

Im letzten Kampf der Vorrunde traf Tang auf Johannes. Max’ Hoffnung, dass Johannes dieses Mal den Spieß umdrehen und Tang besiegen würde, erfüllte sich nicht. Zwar attackierte er Tang mit wuchtigen Schlägen, denen der Chinese jedoch geschickt auswich und sie mit gut gezielten Tritten konterte, sobald er Lücken in Johannes’ Deckung fand. Zweimal gelang es Tang, Johannes’ Faust zu packen und ihn auf die Matten zu werfen. Allerdings hatten Max und Johannes bei ihrem Training das schnelle Abrollen nach der Landung auf den Matten geübt. Tangs Knie schlug nicht in Johannes’ Gesicht oder Oberkörper ein, sondern in der Matte. Nach vier Runden kürten die Ringrichter Tang zum Sieger nach Punkten.
Nach diesem Kampf verkündete Tony, wer in der nächsten Runde gegen wen antreten musste und kündigte eine einstündige Pause an.

Das Finale

Max

Die meisten der Zuschauer strömten während der Wettkampfpause aus dem Saal hinaus auf den Hinterhof, wo eine Dönerbude und ein Imbiss auf Kundschaft warteten.
Max hockte sich auf einen im Moment freien Stuhl neben Leon und Cosmin. Leon reichte ihm eine Wasserflasche und einen Proteinriegel.
„Lief ganz gut bis jetzt“, meinte Leon und erklärte, was er von den bisherigen Kämpfen hielt und was Max noch verbessern müsse, um Tang zu schlagen.
Max hörte zwar zu, doch versteckt hinter einer Gardine blonder Haare schaute er zur Bühne. Tang hockte dort einsam auf einem der für die Wettkämpfer reservierten Plätze. Er fischte mit zwei Stäbchen Nudeln aus einer Frischhaltedose und saugte sie genüsslich in seinen zu einem herablassenden Grinsen verzogenen Mund, während sein Blick unverwandt auf Max gerichtet war.
„Max, dieser Tang will dich bestimmt krankenhausreif prügeln“, raunte ihm Cosmin zu, dessen Augen ebenfalls von einer Gardine verhüllt wurden, nur dass diese Gardine aus pechschwarzen Zotteln bestand.
„Keine Bange, Cos-Mi. Das schafft der nicht.“

Hardy und Johannes gesellten sich zu ihnen. Johannes berichtete von seinem Kampf mit Tang und wies Max auf Schwächen des Chinesen hin, die er entdeckt zu haben glaubte. Fast schien es, als ahne er, wer im Finale gegen Tang antreten müsse. Sofern Johannes in seinem nächsten Kampf nicht gegen Nils verlor, was reichlich unwahrscheinlich war, würden er und Max vielleicht schon im übernächsten Kampf aufeinander treffen.

Punkt 18 Uhr schlug Tony den Ring Gong zum ersten Kampf der nächsten Runde. Er endete bereits nach zwei Minuten, weil Tang den um einen halben Kopf größeren Steve mit einer Serie gut gezielter Tritte aus dem Ring prügelte und sich Steve anschließend weigerte, in den Ring zurückzukehren.

Danach stieg Max zum dritten Mal bei diesem Turnier in den Ring, zusammen mit dem O. Das runde Gesicht des O erinnerte nun nicht mehr an die Mörderpuppe Chucky, sondern wieder an ein Baby kurz vorm Bäuerchen. Das O startete eher lustlos ein paar Attacken, die Max problemlos abwehrte und mit einigen Treffern beantwortete.
Nach der Verbeugung am Ende des Kampfes packte das O Max’ Schulter. „Mach Tang fertig, Max!“, zischte er ihm zu. „Wenn einer den Kerl heute stoppen kann, dann du!“
„Alles klar, O. Drück’ mir die Däumchen, okay?“
„Wird erledigt“, grinste das O und stapfte von der Bühne.

Wie erwartet warf Johannes anschließend Max’ Clubkamaraden Nils aus dem Rennen.
Somit waren nur noch Max und Tang mit drei Siegen sowie Johannes mit zwei Siegen und einer Niederlage im Rennen.
Tony trat mit drei Umschlägen in der rechten Hand ans Mikrofon.
„Ich glaube, wir haben bis jetzt ein tolles Rennen gesehen Leute. Für die nächste Runde gibt es mal wieder drei Möglichkeiten. Kalle…“
„Ja?“, fiepste der schlacksige Typ am Computerterminal und erhob sich.
„Du bist jetzt unser Zufallsgenerator und wirst uns erzählen, wer als nächstes im Ring steht.“
Kalle griff nach einem der Umschläge und öffnete ihn umständlich.
„Zwei gegen sechs“, fiepste er mit seiner Kleinkinderstimme ins Mikrofon und flüchtete zurück zu seinem Computerterminal, wo er den hochroten Kopf hinter einem Monitor versteckte.
„Was für ein Highlight, Leute! Johannes gegen Max, unserem Jüngsten im heutigen Rennen. Wird es Max gelingen, Johannes aus dem Rennen zu werfen oder erteilt Johannes unserem Jüngsten eine Lektion? Was meint ihr, Leute?“
Max hörte, dass ein paar Leute mit „Johannes!“ Rufen versuchten, einen Sprechchor anzustimmen. Vermutlich hatten sie auf Johannes gesetzt oder online auf seine Finalteilnahme gewettet. Doch die Rufe ebbten rasch ab.

Nach einer vielleicht fünfzehnminütigen Pause stiegen Max und Johannes zusammen mit den Kampfrichtern in den Ring. Leon hielt es nicht auf seinem Stuhl in der ersten Reihe aus. Er kletterte mit einer Wasserflasche in der Hand auf die Bühne und begab sich zur Ecke des Boxrings, in der Max mit ein paar Dehnungsübungen die Muskeln auf den bevorstehenden Kampf vorbereitete.
Aber auch Johannes hatte mit Marc einen Einpeitscher an seiner Ecke des Boxrings.
Tony schlug den Ring Gong.

Zunächst schien es, als würden Max und Johannes ein Tänzchen mit erhobenen Fäusten aufführen.
Doch plötzlich bombardierte Johannes Max’ Deckung mit Faustschlägen. Max war von der Wucht der Attacke völlig überrascht und taumelte einen Schritt zurück.
„Maxi, du verprügelst vier Boxsäcke auf einmal! Hannes hat nur zwei Fäuste!“, rief ihm Leon zu.
Max sah sich plötzlich beim Training auf Oma Lisas Dachboden, wo er eine halbe Stunde lang Boxsäcke mit Schlägen und Tritten derart heftig traktierte, dass sie wild umher schaukelten und er selber dabei wie ein Derwisch zwischen ihnen umher tanzte.
Blitzschnell tauchte Max unter Hannes Fäusten ab, wirbelte herum und ließ aus der Hocke den rechten Fuß in die Höhe schnellen. Der Fuß klatschte gegen Johannes’ linke Wange. Johannes riss die behandschuhten Fäuste hoch, um das Gesicht zu decken, doch nun fand Max’ linke Faust ihr Ziel in Johannes’ Rippen. Max wirbelte von links nach rechts und wieder zurück, immer wieder fanden seine Fäuste oder die Füße eine ungedeckte Stelle. Johannes taumelte rückwärts, bis er in die Seile kippte.
Hardy begann ihn auszuzählen. Einen Moment lang schien es, als würde Johannes versuchen, sich aufzuraffen, doch dann blickte er auf und schüttelte den Kopf.
Jubel brandete auf, begleitet von Pfiffen derer, die auf Johannes gewettet hatten. Kaum hatte Hardy Max zum Sieger gekürt, hechtete Leon über die Seile und riss Max an sich.
„Du warst unglaublich, Champ. Oh Mann, ich fass’ es nicht, wie du Hannes erledigt hast!“
Max war noch immer etwas außer Atem und schnaubte leise.
„Ich fass’ es auch nicht“, sagte jemand und legte eine Hand auf Max’ Schulter. Max fuhr herum und blickte in Johannes’ verschwitztes Gesicht. Die linke Wange war geschwollen, die Oberlippe aufgeplatzt. Dennoch lächelte Johannes. „Ich gönne dir diesen Sieg, Junge. Nun hoffe ich, dass du Tang eine Lektion erteilst. Wirf den Kerl aus dem Ring!“
Max erwiderte Johannes’ Lächeln. „Ich versprech’s, Hannes.“ Er deutete auf die geschwollene Wange. „Das da und das mit deiner Lippe tut mir Leid.“
Hannes lachte auf. „Hey Mann, wir sind so was gewöhnt, oder?“
„Ich würde heute gerne drauf verzichten“, erwiderte Max.
Vor allem auf eine geplatzte Lippe, grinste er mit einem Blick hinunter zur ersten Reihe in sich hinein. Cosmin saß auf dem Stuhl, als hätte er Hummeln unter dem Hintern. Offenbar zog es ihn hinauf zur Bühne und es fehlte ihm der Mut, weil sich am Ring nun auch die meisten Wettkämpfer tummelten.

Außer Tang. Der Chinese saß auf seinem Stuhl im hinteren Teil der Bühne. Er fummelte an seinen Boxhandschuhen und starrte Max aus den geschlitzten Augen an. Max entging nicht, dass das überhebliche Grinsen aus dessen Gesicht verschwunden war.
Tony kündigte eine halbstündige Pause und den anschließenden Finalkampf mit Max und Tang als Finalisten an.
Max wich vor dem Gedränge am Ring zurück, hockte sich auf den freien Stuhl neben Cosmin und nahm einen tiefen Zug aus seiner Wasserflasche.
Cosmin schaute ihn mit einem unergründlichen Blick an.
Max wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Was ist los, Cos-Mi?“
Cosmin räusperte sich. „Ich habe immer noch Schiss davor, dass was Schlimmes mit dir passiert, Maxi.“
„Ich pass auf mich auf, okay? Cos-Mi?“
„Hm…?“
Max legte seinen rechten Arm um Cosmins Schulter. „Komm nachher mit hoch zum Ring. Ich will, dass du in meiner Nähe bist, wenn ich gegen Tang kämpfen muss.“
Cosmin wollte etwas erwidern, doch nun gesellten sich Oskar und Nicholas zu ihnen. Nicholas schien einen Moment lang zu überlegen, was Max’ Arm auf Cosmins Schulter verloren hatte. „Welli, hätte ich gewusst, wie gut du drauf bist, hätte ich’n Hunderter auf dich gewettet“, rief er.
„Hab’ ich dir doch gesagt“, schnaubte Oskar.
„Ja klar, aber Charly war total sicher, dass Welli heute hier geschreddert wird.“
„Den sein beschissener Einsatz, der wird geschreddert“, warf Max ein.

Leon trat an Max’ Stuhl heran. „Komm mit hoch zum Ring, Champ. Hannes, das O und ich, wir basteln gerade an einem Schlachtplan.“
Max erhob sich und zog Cosmin mit auf die Füße. „Mein Bruderherz darf mit basteln.“

Eine Viertelstunde später stiegen Max, Tang und die beiden Kampfrichter in den Ring.
Tony schlug den Ring Gong.
Max ahnte, dass sich Tang nicht mit einer Verbeugung vor den Kampfrichtern und dem Gegner aufhalten würde. Der Chinese hob ab und sein rechter Fuß wäre ihm ins Gesicht gekracht, hätte Max eine Verbeugung auch nur angedeutet. Max tauchte unter Tangs Fuß ab, um dessen linken Fuß von der Matte zu fegen, doch Tang brachte sich mit einem Backflip in Sicherheit. Sofort setzte Max nach und hob nun selber mit dem Fuß ab. Tang wehrte den Tritt mit dem Fuß ab und versuchte mit den Fäusten, einen Treffer zu landen. Auf diese Chance hatte Max gewartet. Er wich mehreren Hieben aus und näherte sich dabei den Seilen des Rings. Und so wie er es unzählige Male mit Cosmin und Simon geübt hatte, packte er Tangs Unterarm, riss den Chinesen von den Füßen und nutzte die eigene Schulter als Katapult. Tang segelte über ihn hinweg in die Seile und fand sich plötzlich außerhalb des Rings wieder. Max hörte nicht nur Cosmin und Leon jubeln; auch die anderen Wettkämpfer hatten sich in seiner Ecke versammelt und johlten.
Tang hechtete wutschnaubend über die Seile, noch ehe Hardy beginnen konnte, ihn auszuzählen. Wie ein Berserker ging er auf Max los, versuchte ihn mit Tiefschlägen oder Tritten in die Weichteile zu treffen. Wieder zahlte sich das Reaktionstraining aus, Tangs Attacken gingen ins Leere und einmal bekam Max Tangs zutretenden Fuß zu fassen und der Chinese landete auf dem Hosenboden. Max wollte nachsetzen, doch der Pausengong funkte dazwischen.
Es schien Max, als würden plötzlich zehn Leute auf einmal auf ihn einreden. Er ließ sich auf einen Stuhl von Leon herbei geschafften Stuhl sinken und nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche. Ohnehin konnte er wegen des Zahnschutzes nur nuscheln. In der Ecke gegenüber rieb Tang mit den freiliegenden Fingern über die Boxhandschuhe, als würde er sie einfetten.
Die Pause endete.

Leon gab Max einen sanften Schubs. „Wirf ihn noch zweimal aus dem Ring, Champ und der Kerl ist blamiert bis auf die Knochen.“
Genau das habe ich vor Onkelchen, erwiderte Max in Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Tangs Bewegungen.

Offenbar hatte Tang seine Taktik geändert. Er zielte nun mit den Fäusten auf Max’ Gesicht. Max jubelte insgeheim. Tang schien es geradezu darauf anzulegen, aus dem Ring zu fliegen. Er wich den Schlägen aus, wehrte sie ab oder ließ sie in die Deckung krachen. Tang hütete sich dieses Mal, den Seilen zu nahe zu kommen. Aber als Max endlich zupacken konnte, warf er sich den Chinesen auf die Schulter. Mit einem Satz war Max an den Seilen und stieß Tang von der Schulter.
Der Saal tobte.
Pfiffe derjenigen, die auf Tang gesetzt hatten, wetteiferten mit Jubelrufen.

Max blinzelte. Seine Augen tränten, als würde er Zwiebeln schneiden und verschleierten seinen Blick. Während Tang in den Ring hechtete, versuchte er mit dem in Boxhandschuhen steckenden Handrücken die Tränen aus den Augen zu wischen.
„Maxi… !“, brüllten Leon und Cosmin wie aus einer Kehle.
Max sah einen nebelhaften Schemen auf sich zu fliegen. Gleich darauf schlug eine Ferse in seiner Stirn ein. Verzweifelt versuchte Max, Tränen und Sterne wegzublinzeln.
Faustschläge trafen seine Rippen. Plötzlich fühlte Max, dass er den Boden unter den Füßen verlor und nun selber über die Seile segelte.
Er hörte Hardy zählen.
Hastig rappelte sich Max auf. Er versuchte durch den Tränenschleier hindurch zu erkennen, wo sich der Ring befand, torkelte zu den Seilen. Kaum stand er im Ring, sah er wieder den nebelhaften Schemen auf sich zu fliegen. Nun war es Max, der sich mit einem Backflip in Sicherheit brachte. Vermutlich hätte ihn Tang trotzdem erwischt, doch der Pausengong bewahrte ihn davor.

„Verdammt Maxi, was ist los?!“, schrie ihn Leon an und zerrte ihn auf den Stuhl.
„Kann nischt schehen“, nuschelte Max und fühlte, wie ihm die Tränen aus den Augen rollten.
„Scheiße!“, fluchte Leon. „Dieser Wichser hatte irgendwas, so was wie Pfefferspray vielleicht?“
„Isch hab nischt schowasch geschehen.“
„Maxi!“ Plötzlich fühlte Max eine sanfte Berührung auf seiner Schulter. „Du hast meine Schläge oder Tritte auch mit Augenbinde abgewehrt“, raunte ihm Cosmins Stimme ins Ohr.
Hardy hockte sich vor Max auf die Matte.
„Was ist mit deinen Augen los, Max?“
„Isch weisch nischt. Die tränen wie Schau.“
„Vielleicht solltest du besser nicht weiter kämpfen. Er wird dich fertig machen!“
Max fuhr vom Stuhl hoch. „Misch macht der nischt fertisch!“, schnaubte er und wankte zwei Schritte. Dann verharrte er auf der Stelle und konzentrierte sich auf die gegenüberliegende Ecke und den Schatten, der sich von dort näherte.

Der Gong ertönte.
Wie ein Drache aus Nebel stürzte der Schatten auf ihn zu, fuhr die Tatzen aus.
Jetzt!
Max packte eine der Tatzen. Wieder mutierte seine Schulter zum Katapult. Er stieß den etwa achtzig Kilo schweren Nebeldrachen von der Schulter, hoffte, dass er sich bei der Flugrichtung des Drachen nicht verschätzt hatte.
Jäh brandete Jubel auf.
Arme rissen ihn von den Füßen.
Leons Arme.
Sie zerwurstelten die Frisur unter dem Stirnband.
„Sieg, mein kleiner großer Champ. Du hast den Kerl dreimal aus dem Ring geworfen“, schrie Leon, um den Krawall im Saal zu übertönen.
„Habsch doch geschagt, misch macht der nischt fertsch“, nuschelte Max und fühlte plötzlich, wie die Anspannung der letzten Tage von ihm abfiel wie ein reifer Apfel. Immer noch mit den Tränen kämpfend ließ den Kopf gegen Leons Schulter sinken.

Reise in die Karpaten

Cosmin

Eigentlich hatten Max und Cosmin geplant, schon einen Tag später nach Dessau zurückzukehren, um am Montagvormittag Cosmins Fahrerlaubnis von der Fahrschule abzuholen, das Gepäck in Max’ Skoda zu verstauen und am Nachmittag in Richtung Rumänien aufzubrechen.
Doch das Problem mit Max’ Augen durchkreuzte die Pläne der Jungen. Zwar hatte nach dem Pferderennen eine von Leon gerufene Notärztin Max’ Augen gespült und versichert, dass die Reizung der Augen bald nachlassen werde. Doch erst am Montagmorgen wagte es Max, sich ans Lenkrad seines Autos zu setzen. Was genau die Reizung der Augen ausgelöst hatte, vermochte auch die Ärztin nicht zu sagen. Sie vermutete, dass Chili in Max’ Augen gelangt war. Die Frage, wie es Tang bewerkstelligt hatte, Max mit Chili um ein Haar außer Gefecht zu setzen, konnte wahrscheinlich nur der Chinese selber beantworten.

Cosmin wollte die letzte Nacht vor der Abreise nach Rumänien zu Hause bei seinem Vater verbringen, der noch bis zum Ende der Woche krankgeschrieben war. Vermutlich würde er den Rest des Tages nicht nur mit Packen verbringen, sondern auch mit Einkäufen und Essen kochen für seinen Vater.

Sie erreichten den Plattenbau, in dem er mit seinem Vater wohnte. Cosmin bemerkte, dass Max erbleichte und mit einem Blick auf die Eingangstür sah Cosmin den Grund dafür.
Sein Vater stand zusammen mit Herrn Richter an den Briefkästen. Die beiden Männer unterbrachen ihr Schwätzchen und beäugten neugierig den Skoda. Max’ blitzender Geländewagen passte zur grauen Fassade des Plattenbaus wie ein Schneemann zum Strand einer Tropeninsel.
Die Jungen wagten es wegen der neugierigen Blicke der Männer nicht, sich zum Abschied zu umarmen.
Max tätschelte Cosmins Knie. „Ich hol dich morgen um zehn ab, okay?“
„Okay.“

Cosmin stieg aus dem Auto und angelte den Rucksack von der Rücksitzbank. Kaum hatte er die Tür zugeworfen, brauste Max davon.
Sein Vater und Herr Richter starrten ihn an, als wäre er mit einem Ufo gelandet.
Er nickte Herrn Richter einen Gruß zu und bevor er einen Ton sagen konnte, zog ihn sein Vater in die Arme.
„War das nicht dein Stiefbruder? Ist das sein Auto?“, drängelten sich Herrn Richters Fragen in die Umarmung. Cosmin löste sich aus den Armen des Vaters.
„Er ist vor einer Woche achtzehn geworden“, erwiderte er, als wären damit alle Fragen beantwortet und wandte sich an den Vater.
„Wie geht es dir, Tata?“
Sein Vater zog ihn mit sich ins Haus. Er humpelte nur noch leicht. „Besser. Ich nehme an, in einer Woche kann ich wieder arbeiten.“

In der Wohnung setzten sie sich an den Küchentisch. Zwar häufte sich auf der Schlafcouch im Wohnzimmer ein Berg Wäsche, doch ansonsten sah das Wohnzimmer so aus, als würde der Vater versuchen, halbwegs Ordnung zu halten.
Er stellte zwei Tassen auf den Tisch und befüllte sie mit dampfenden Kaffee.
„Dein Freund… Max… er hätte ruhig mit rein kommen können, Cosmine. Dieses schöne Auto hat er zum Geburtstag von seinem Vater bekommen, nicht wahr?“
Cosmin ahnte, welche Gedanken sich gerade durch den Kopf des Vaters bohrten.
„Sein Onkel hat die Hälfte dazu gegeben. Außerdem verdient Max sein eigenes Geld. Er hat vorgestern bei dem Boxturnier 5000 Euro Siegprämie gewonnen und dazu fast 4000 Euro, weil er zweihundert auf sich selber gewettet hat.“
Dem Vater klappte die Kinnlade herunter. „Der Junge hat 9000 Euro an einem Tag verdient? Ich muss dafür fast ein halbes Jahr arbeiten. Trotzdem…“
Er erhob sich und schlurfte zum Wohnzimmerschrank. Mit einem Umschlag kehrte er zurück. „Ich möchte, dass du etwas Geld hast, wenn ihr beide in Rumänien seid.“

Cosmin versteifte sich und fischte einen prall gefüllten Umschlag aus einer Tasche seines Sweatshirts. „Ich habe gestern auch zweihundert Euro riskiert und genug Geld für die Reise, Tata.“
Sein Vater starrte mit glänzenden Augen auf den Umschlag. „Da sind… 4000 Euro drin?“
„Knapp 4100 Euro“, grinste Cosmin.
„Ich sollte euch meine Lottoscheine ausfüllen lassen“, seufzte sein Vater und schob den eigenen Umschlag in Cosmins Richtung. „Das ist rumänisches Geld. Ungefähr fünfhundert Euro. Außerdem wirst du am Freitag achtzehn, mein Junge. Und ich möchte nicht…“

Cosmin stand vom Stuhl. Er drückte seinen Vater an sich. „Ich bin froh, dass ich so einen Vater wie dich habe.“
„Und ich bin froh, dass ich so einen Sohn wie dich habe.“
„Obwohl ich keine Freundin habe, sondern einen… ?“ Cosmin verschluckte den Rest des Satzes.
Sein Vater stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn du ohne ihn nicht glücklich sein kannst… Weißt du, inzwischen mache ich mir mehr Sorgen darüber, wie andere über euch beide denken, sein Vater zum Beispiel.“
Cosmin nickte schwach. Ihn quälten dieselben Sorgen. Max wollte seinem Vater noch vor dem Beginn des Studiums gestehen, dass er sich in den eigenen Stiefbruder verliebt hatte…

Max

Max hatte Cosmin eingeschärft, Punkt zehn Uhr mit Sack und Pack vor dem Eingang des Plattenbaus auf ihn zu warten. Er scheute sich immer noch vor einer Begegnung mit Cosmins Vater, der ihn gewiss dafür verantwortlich machte, dass der Sohn vom rechten Pfad abgekommen war.

Doch als Max das Auto vor dem Plattenbau einparkte, in dem die Munteanus wohnten, rutschte ihm das Herz schneller in die Hose als er blinzeln konnte. Cosmin wartete zwar mit seinem Gepäck an der Eingangstreppe, allerdings wartete er nicht alleine dort. Neben ihm stand sein Vater, und der verfolgte aus den schwarzen Augen, wie Max das Auto in die Parklücke rangierte.
Der will mir 'ne Moralpredigt halten, vermutete Max.
Auch das noch!
Cosmin und sein Vater traten mit dem Gepäck an den Skoda heran. Max stieg aus und versuchte, halbwegs locker zu bleiben.
Plötzlich ergriff Cosmins Vater seine rechte Hand.
„Pass gut auf meinen Jungen auf, Max“, sagte er und Max benötigte einige Sekunden, um diese Worte zu verdauen.
„Herr Munteanu, das klingt jetzt sicher total kitschig, aber wenn es nicht anders ginge, würde ich für Cosmin mein Leben geben.“
Und dann passierte etwas, womit Max am allerwenigsten gerechnet hatte - Cosmins Vater zog ihn in eine kurze Umarmung.
„Danke, Max“, sagte er leise und umarmte anschließend auch Cosmin.

„Was hab ich dir gesagt, Maxi!“, sagte Cosmin, als sie kurz darauf über die Muldebrücke in Richtung der Autobahn fuhren. „Mein Vater kommt jetzt damit klar.“
„Mann Cos-Mi, ich wusste gar nicht, dass dein Alter so krass drauf ist. Hoffe, dass mein Alter auch so drauf ist, wenn er das mit uns erfährt.“
Cosmin erwiderte nichts. Er starrte Max an, als würde er versuchen herauszufinden, was sich hinter den blauen Augen versteckte.
„Du würdest echt dein Leben für mich geben?“, fragte Cosmin leise.
Max musste nicht nach einer Antwort suchen. „Logisch. Wärst du nicht mehr da, wäre mein Leben eh zu Ende.“
Cosmins Finger glitten über Max’ rechte Hand, die das Lenkrad hielt. „Maxi…“
„Mm…?“
„Ich werde auch aufpassen. Auf dich und auf mich. Ich will, dass du dein Leben behältst!“

Natürlich wäre es besser gewesen, hätten sich die Jungen während der Fahrt am Lenkrad abwechseln können. Doch Cosmins nagelneue Fahrerlaubnis war erst ab Freitag gültig.
Max hielt besser durch, als er es erwartet hatte. Erst irgendwo hinter Prag legten sie eine längere Pause ein und füllten sich die Bäuche an einer Autobahnraststätte mit Baguettes aus Oma Lisas Proviantbeutel. Am späten Nachmittag erreichten sie Ungarn und etwa einhundert Kilometer vor Budapest fanden sie ein an der Autobahn gelegenes Motel, in dem sie übernachteten.

Am nächsten Morgen setzten sie die Reise fort und überquerten gegen 14 Uhr die rumänische Grenze. Max hatte erwartet, dass jenseits der Grenze das 21. Jahrhundert enden würde. Zumal ihm Cosmin viel darüber erzählt hatte, wie es in diesem Dorf namens Porumbita aussah - nämlich so, als wäre dort vor zweihundert Jahren die Zeit stehen geblieben. Stattdessen durchzog eine moderne Autobahn mit zahlreichen Raststätten das Hügelland und führte an Städten vorbei, die sich kaum von mitteleuropäischen Städten unterschieden.

Als später am Horizont Bergketten auftauchten, an deren Flanken sich in der Sonne funkelnde Schneefelder schmiegten, erklärte ihm Cosmin, dass sie Transsylvanien erreicht hätten. Finstere Burgen und undurchdringliche Wälder suchte Max vergebens und als sie zum Tanken und Ausspannen an einer Raststätte hielten, deutete nichts darauf hin, dass die Menschen in dieser Gegend nachts von Vampiren heimgesucht wurden. Weit und breit schien Max der einzige Mensch mit Bissspuren am Hals zu sein und die hatte ihm Cosmin in der vergangenen Nacht im Motel verpasst.

Die Sonne tauchte bereits hinter bewaldeten Berggipfeln ab, als sie endlich das Städtchen Predeal im Herzen der Karpaten erreichten. Cosmin hatte André, dem Eigentümer der gebuchten Gästewohnung, kurz zuvor geschrieben, dass sie in wenigen Minuten eintreffen würden.

Andrés Gästehaus lag an der Fernverkehrsstraße nach Bukarest, die mitten durch das Städtchen führte und von zahlreichen Hotels und Restaurants gesäumt wurde. Er erwartete die Jungen bereits an der Toreinfahrt und winkte ihnen zu, sobald er den Skoda mit Dessauer Kennzeichen erspäht hatte.
Max wusste von Gerd, dass André seit ein paar Jahren mit dessen Frau in Rumänien lebte. André war an die sechzig Jahre alt und durch das dunkelbraune, zerzauste Haar schimmerte am Scheitel die gebräunte Kopfhaut durch. Den muskulösen Armen sah man an, dass er noch immer regelmäßig Sport trieb. Er lotste sie auf einen gepflasterten Hof. Dort parkte neben einem blauen VW Kleinbus mit deutschem Kennzeichen auch ein weißer Clio mit rumänischem Kennzeichen.

Max streckte nach dem Aussteigen die vom langen Sitzen verspannte Muskulatur und nahm einen tiefen Atemzug der frischen Gebirgsluft.
„Willkommen Leute! Lasst mich raten“, rief André, nachdem er das Tor zur Einfahrt geschlossen hatte und drückte Max’ rechte Hand. „Du bist der Spitzenkletterer Max. Und du…“
Er wandte sich zu Cosmin um. „… du bist Cosmin, der schon nach drei Monaten die erste Acht gemeistert hat, richtig?“
Cosmin lächelte verlegen. „Nicht ganz richtig. Es waren vier Monate.“
„Oops“, grinste André und führte die Jungen zu einem zweigeschossigen Fachwerkhaus mit zwei separaten Eingängen.
„Im Moment ist hier nicht viel los“, erklärte André, während er die linke Eingangstür aufschloss. „Meine Frau hat für euch die große Ferienwohnung vorbereitet. Keine Bange, Jungs… ohne Aufpreis.“

Sie betraten ein behaglich eingerichtetes Wohnzimmer mit einer Sitzgruppe. Der Wohnzimmertisch war bereits für zwei Personen gedeckt. Vom Wohnzimmer führte ein Durchgang zu einer kleinen Küche. Als sie einen Blick ins Schlafzimmer warfen, versuchte Max so gut es ging seine Freude über das geräumige Doppelbett im Zaum zu halten. Er sah, dass es Cosmin genauso ging.
„Meine Frau hat euch auch ein Abendessen in den Kühlschrank gestellt. Sie ist vorhin nach Sibiu abgereist und muss dort für ein paar Tage das Haus unseres Sohnes hüten.“
„Ihr Sohn lebt auch in Rumänien?“, fragte Cosmin verblüfft.
„Für euch bin ich Andy, Cosmin“, sagte André und fuhr fort: „Er ist Lehrer und unterrichtet online deutsch. So und jetzt will ich euch erst einmal in Ruhe ankommen lassen. Habt ihr für morgen etwas vor, außer euch von der langen Fahrt zu erholen?“
Max warf Cosmin einen vielsagenden Blick zu.
Den ganzen Tag zusammen im Bett bleiben, oder?
Cosmin räusperte sich. „Hier in der Nähe soll es eine berühmte Burg geben.“
„Ah ja…“, bestätigte André. „Die Dracula Burg Bran, in der Dracula zwar nie gehaust hat, die aber trotzdem sehenswert ist. Ich habe morgen nicht viel zu tun. Wenn ihr wollt, fahren wir zusammen dort hin und anschließend führe ich euch durch Kronstadt, das ist die Hauptstadt dieses Bezirks.“
„Das wäre sehr nett von Ihnen… äh dir“, erwiderte Cosmin.
Max schwieg lieber. Sein Bedarf an Sightseeing würde wahrscheinlich schon nach der Besichtigung einer Burg mehr als gedeckt sein. Aber Cosmin zuliebe war er vielleicht auch bereit, eine Stadtbesichtigung über sich ergehen zu lassen.

Aufstieg ins Gebirge

Cosmin

Nach dem Abendessen verzog sich Max ins Schlafzimmer. Cosmin nahm an, dass er dort die verspannten Muskeln mit Liegestützen und Dehnungsübungen traktierte und säuberte in der Küche das benutzte Geschirr.
Inzwischen war es fast 22 Uhr und er fühlte, dass ihm die zweitägige Autofahrt wie Blei in den Knochen steckte.
Cosmin entkleidete sich bis auf den Slip und öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür, für den Fall, dass Max am Türrahmen hing. Statt am Türrahmen zu hängen vollführte er Beuger und Strecker im Handstand. Cosmin fragte sich, wie es Max schaffte, dabei nicht umzukippen.
„Maxi, ich geh schon mal unter die Dusche..“
Max ließ sich auf die Füße fallen und riss die Augen auf, als sein Blick auf ihn fiel.
So wie es Cosmin erwartet hatte, verdunkelte augenblicklich aufkeimende Begierde das Blau in Max’ Augen.
„Komisch, da wollte ich auch gerade hin“, grinste er und zog Cosmin an seinen verschwitzen Körper.
Cosmin japste leise auf, als Max’ rechte Hand in seinen Slip glitt und saugende Küsse am Hals Stromstöße hinunter zu seinen Lenden jagten.
„Maxi, die Dusche ist im Bad“, keuchte Cosmin. Er begann nun ebenfalls, mit seinen Fingern die rasch anwachsende Länge der Erektion in Max’ Slip zu erforschen, während sie sich gegenseitig ins Bad zogen. Als sie es endlich bis zur Dusche geschafft hatten, spülte das heiße Wasser nicht nur den Schweiß von ihren überhitzten Körpern. Es spülte auch den letzten Rest an Scham aus ihren Köpfen…

Zwei Tage später brachte André die Jungen mit dem Kleinbus in eine nahegelegene Ortschaft namens Busteni, die von weit über 1000 Meter hohen, felsigen Steilhängen überragt wurde. Hin und wieder rissen die Wolken auf und gaben die Sicht auf schneebedeckte Gipfel frei. Auf einem der Gipfel thronte ein riesiges Kreuz. Soweit Cosmin wusste, war es im 1. Weltkrieg gefallenen rumänischen Soldaten gewidmet. Der Gipfel hieß Caraiman, genauso wie die Berghütte, in der er morgen seinen 18. Geburtstag feiern wollte.

Auf einem Forstweg, der in den Wald am Fuße der Steilwände hinein führte, stoppte André den Van.
Er half den Jungen beim Schultern der schweren Rucksäcke und deutete auf eine Orientierungstafel, hinter der ein Pfad in den Wald hinein führte.
„Dort beginnt der Aufstieg. Ihr habt etwa 1200 Höhenmeter vor euch. Ach ja, fast hätte ich’s vergessen.“
Er fischte eine große Spraydose aus dem Handschuhfach.
Max runzelte die Stirn. „Mückenspray?“
Andre lachte auf und versenkte die Dose in einer Seitentasche von Max’ Rucksack. „Gegen Riesenmücken.“
Sein Lachen verstummte. „Hier gab es vor zwei Jahren einen tödlichen Zwischenfall mit einer Bärin. Kleine Vorsichtsmaßnahme.“
Die Jungen bedankten sich bei ihm. Er hatte ihnen nicht nur einen kostenlosen Shuttleservice spendiert, sondern gestern auch alle Eintrittsgelder bezahlt.
„Wir sehen uns in zwei Wochen“, rief er ihnen zu und brauste dann auf dem Forstweg zurück in die Stadt.
„Cooler Typ“, sagte Max und spähte in den Wald vor ihnen, als würde er nach Bären Ausschau halten.
Cosmin nickte und warf einen Blick auf sein Handy. Moritz hatte ihm geschrieben, dass er und die drei anderen Jungen der Parallelklasse sich kurz vor der rumänische Grenze befanden und sie spätestens morgen Mittag die Berghütte erreichen würden.
Max studierte bereits die Informationstafel, auf der eindringlich und in mehreren Sprachen vor Bären gewarnt wurde.
„Cos-Mi?“
„Hm…?“
„Ich hoffe, du hast dir gemerkt, wo das Bärenspray steckt.“

Nach einer dreistündigen Kraxelei, bei der besonders steile oder abschüssige Stellen mit Stahlseilen gesichert waren, erreichten sie ein Hochplateau. Dort erblickten sie das Ziel ihrer Wanderung, die auf über 2000 Meter Höhe gelegene Caraiman Berghütte. Nebelschwaden zogen träge an ihr vorbei und waberten weiter über das mit einigen Schneefeldern überzogene Hochplateau.
Die Kabine einer Seilbahn schwebte hoch über ihren Köpfen durch die Nebelschwaden hinauf zur Bergstation.
Der Anblick der nur wenige Hundert Meter entfernten Berghütte ließ Cosmins Herz höher schlagen. Zwar waren sie keinen Bären begegnet, aber nach der Kraxelei mit einem fast zwanzig Kilogramm schweren Rucksack fühlten sich seine Beine an, als wären sie unterwegs um fünfzig Jahre gealtert.

Auf der Terrasse vor der Berghütte saßen mehrere Frauen und Männer an einem der Tische und wärmten sich mit Tee aus einer Thermoskanne auf.
Einer der Männer erhob sich, als Cosmin und Max an den Tisch heran traten.
„Salut, seid ihr die zwei Kletterer aus Deutschland?“, fragte er auf rumänisch. Er mochte knapp fünfzig Jahre alt sein und dem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht sah man an, dass der Mann in einer rauen Umgebung lebte.
„Hallo, ja genau. Mein Freund Sergiu Benea hat Plätze für uns reserviert. Sind Sie der Hüttenwart?“
„Höchstpersönlich. Ich bin Bogdan.“ Der Mann schüttelte beiden Jungen die Hand. „Ich zeige euch das Zimmer, kommt mit Jungs!“

Das „Zimmer“ bestand aus drei Doppelstockbetten, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem kleinen Kanonenofen. Der Hüttenwart Bogdan hatte Cosmin erzählt, dass die anderen beiden Doppelstockbetten für die vier Jungen aus Deutschland reserviert waren, die morgen eintreffen würden. Sofern nicht allzu viele unangemeldete Wanderer in der Hütte ein Obdacht für die kommende Nacht suchten, würden sie das Zimmer wenigstens in dieser Nacht mit niemanden teilen müssen.
Cosmin streckte sich ächzend auf dem Hochbett aus, das er in Beschlag genommen hatte. Max warf einen Blick aus dem Fenster. Cosmin sah von seinem Bett aus, dass sich der Nebel zusehends lichtete und den Blick auf die schroffen Berghänge freigab. Max konnte es offenbar kaum erwarten, sich die Felswände aus nächster Nähe anzuschauen.
„Maxi, ich brauch noch eine kleine Pause und komme dann mit.“
Max wandte sich vom Fenster ab und strich Cosmin verschwitzte Zotteln aus der Stirn.
„Kein Stress, okay? Ruh dich aus, morgen ist dein großer Tag.“

Max

Am nächsten Morgen löste sich Max vorsichtig aus Cosmins Armen, um ihn nicht aufzuwecken. Auf leisen Sohlen tapste er ins Bad, das sich draußen auf dem Korridor befand. Cosmin schnarchte leise vor sich hin, als Max ins Zimmer zurückkehrte. Vermutlich steckte dem Freund noch der Aufstieg zur Hütte und die anschließende Wanderung zum gewaltigen Gipfelkreuz des Caraiman in den Knochen.
Max hockte sich neben das Bett und ließ seinen Blick eine Zeitlang auf Cosmins Gesicht ruhen, wobei er dem Drang widerstand, die eigenen Lippen mit den leicht geöffneten Lippen des Freundes zu verschmelzen.
Herrgott, ich liebe diesen Kerl!
Max erhob sich und begann, die morgendliches Liegestütze durchzuziehen.
„Maxi…?“
„Hey Schlafmütze!“
Max sprang auf die Füße, schnappte etwas vom Tisch und hockte sich neben das Bett. Cosmin stützte den Kopf auf den angewinkelten rechten Arm und lächelte verlegen.
„Muss ich heute auch Frühsport machen?“
„Na logisch“, grinste Max. Er hauchte Cosmin einen Kuss auf den Mund und öffnete seine rechte Hand.
„Alles Gute zum 18. Geburtstag, Stiefbruderherz.“
Cosmin starrte unschlüssig auf das kleine Päckchen in Max’ Hand.
„Maxi, wir hatten gesagt, keine Geschenke! Dafür darf ich mir wünschen, was du heute mit mir zusammen machen musst.“
„Das darfst du trotzdem. Komm schon, Cos-Mi, mach’s auf!“
Fast so, als würde Cosmin befürchten, in dem Päckchen könne sich ein mit einem Giftstachel bewaffnetes Krabbeltier befinden, öffnete er das Päckchen. Darin befand sich jedoch kein Skorpion, sondern ein silbernes Kettchen mit Anhänger, wie es Max seit zwei Wochen am eigenen Hals trug. Max hatte zunächst überlegt, für Cosmin ein goldenes Kettchen zu kaufen, es aber dann gelassen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.
Cosmin betrachtete das Foto im Anhänger. Die Gesichter beider Jungen wurden ebenfalls von einem Herzen eingerahmt, das dem Schriftzug „Love“ entsprang. Max hatte das Selfie ein halbes Jahr zuvor im Park des Berliner Klinikums geschossen.
Ein Lächeln verzauberte Cosmins eben noch angespanntes Gesicht und Max fragte sich, warum Cosmin zunächst gezögert hatte, das Geschenk zu öffnen.
Cosmin wendete das Foto im Anhänger. Anders als das Foto in Max’ Anhänger war die Rückseite weiß.
„Ich dachte, den Platz lasse ich für zwei andere Leute frei“, erklärte Max und zuckte mit der Schulter.
Cosmins Lächeln wurde noch etwas breiter. „Du meinst die Zwillinge, stimmt’s?“
„Stimmt!“, grinste Max und half Cosmin, die Halskette anzulegen.
„Und nun raus mit der Sprache. Du hast heute einen Wunsch frei“, säuselte Max in Cosmins linkes Ohr. Er glitt mit einer Hand unter Cosmins Shirt strich mit den Fingern über die heiße Haut darunter.
„Maxi, ich…“
Cosmin stöhnte leise auf, als Max das Shirt etwas höher schob und seine Zungenspitze über Cosmins kastanienbraunen Bauch gleiten ließ, vom helleren Strich, den die Stichverletzung hinterlassen hatte, bis hinunter zum Bund der Boxershorts.
„Sag, was ich machen soll, Cos-Mi.“
Max knabberte an der Beule, die wie ein einsamer Berg aus der Vorderseite der Shorts ragte.
„Ich will, dass wir beide heute eine Wanderung bis zum höchsten Gipfel hier machen“, japste Cosmin hastig und griff mit einer Hand in Max’ Haare, während die andere den Nacken packte, was nicht so richtig zum eben geäußerten Wunsch passen wollte.
„Machen wir“, versprach Max und tastete mit den Zähnen die Beule in Cosmins Shorts ab. „Nächster Wunsch!“
Cosmin hob sein Gesäß, sodass sich die Beule in den Shorts gegen Max’ Gesicht presste.
„Ich will, dass du endlich die Tür abschließt!“

Partygäste

Cosmin

Die Wanderung zum über 2500 Meter hohen Gipfel des Omu dauerte länger, als Cosmin angenommen hatte. Sie führte über ein ausgedehntes, mit Felsbrocken gespickte Hochplateau, das über weite Strecken immer noch mit verharschtem Schnee bedeckt war. Die Jungen begegneten nur wenigen Wanderern. Manchmal fanden sie einen Rastplatz unweit der fast senkrecht abfallenden Steilwände. Dann hockten sie auf einem Felsbrocken, die Köpfe aneinander gelehnt, um so die Aussicht in das über 1500 Meter tiefer gelegene Tal zu genießen.

Vielleicht hätten sie sich auch auf dem Rückweg noch einige längere Pausen gegönnt, zumal sich über den Bergen ein strahlend blauer Himmel bis zum fernen Horizont spannte. Doch inzwischen waren nicht nur Moritz, Simon, Tim und Lucas in der Berghütte eingetroffen, auch Sergiu hatte sich gemeldet und gefragt, wo denn das Geburtstagskind abgeblieben sei.

Als sie hinter einer Bergkuppe die Berghütte erblickten, blieb Cosmin stehen und griff nach Max’ Arm. „Warte Maxi!“
„Cos-Mi, es ist fast schon um fünf“, sagte Max, blieb aber ebenfalls stehen und runzelte die halb unter einer Kapuze versteckte Stirn.
Cosmin blickte kurz um sich und zog Max in seine Arme. Augenblicklich verschwanden die Runzeln aus Max’ Stirn. „Danke, dass du mir den Wunsch mit dieser Wanderung erfüllt hast, Maxi. Es war wunderschön. Weißt du, am liebsten würde ich das an meinem 19. Geburtstag wieder machen. Mit dir, meine ich.“
Max’ Lippen spielten mit Cosmins Lippen. „Nur wir beide?“, fragte er, als sich ihre Lippen voneinander lösten.
„Nur wir beide“, erwiderte Cosmin.
„Dann bin ich dabei!“, grinste Max und nickte in Richtung der Berghütte. „Cos-Mi, wenn wir weiter so rumtrödeln, findet die Party dort ohne uns statt.“

Wie es schien, hatten die Jungen der Parallelklasse bereits mit Sergiu und seinen Leuten Bekanntschaft geschlossen. Die Tische auf der Terrasse der Hütte hatten sie zu einem langen Tisch zusammen gestellt und neun oder zehn Jungen und mindestens genauso viele Mädchen saßen dort lachend und laut scherzend beieinander.

Moritz, Simon, Tim und Lucas winkten ihnen zu, als sich Cosmin und Max der Berghütte näherten. Sergiu stand lächelnd auf und ging ihnen ein Stück entgegen. Cosmin sah, dass Sergiu die Freude über das Wiedersehen nach acht Monaten in riesigen Lettern im Gesicht geschrieben stand. Er trug das dunkle Haar etwas länger als bei ihrer Begegnung im letzten Herbst und beim Anblick des gepflegten Dreitagebartes fragte sich Cosmin, wie sich die dunklen Bartstoppeln beim Schmusen anfühlten.
Hastig, fast schon erschrocken, wischte er den Gedanken beiseite. Max rasierte sich die wenigen Fusseln vom Kinn und Cosmin mochte es, sich an die weiche Haut dieses Gesichtes zu schmiegen.

„Salut Cosmin, herzlichen Glückwunsch zum 18. Ich bin wahnsinnig froh, dich wiederzusehen“, rief Sergiu auf englisch und zog ihn kurz an sich.
„Salut Sergi, ich wollte gerade dasselbe sagen“, entgegnete Cosmin, erleichtert darüber, dass Sergiu auf englisch redete, um Max nicht auszuschließen. Aber auch froh darüber, dass die Umarmung nur kurz währte. Inzwischen hatte sich seine Beziehung zu Max in ungeahnte Höhen aufgeschwungen und was er im Moment am wenigsten gebrauchen konnte, war ein Absturz in ein Tal aus Eifersucht und Tränen.
Sergiu ergriff Max’ rechte Hand. „Hi Max, ich freue mich, dich kennenzulernen“, sagte er und Cosmin bemerkte erleichtert, dass Max Sergius Lächeln erwiderte.
„Hi Sergiu, mir geht’s genauso.“

Sie traten zusammen an den Tisch heran. Cosmin und Max begrüßten zunächst die Kumpel aus der Parallelklasse. Auch sie gratulierten Cosmin zum 18. Geburtstag und beschenkten ihn mit Sekt, der den Abend wahrscheinlich nicht überleben würde.
Moritz verpasste Cosmin einen sanften Hieb in die Rippen. „Mann, ich fass’ es nicht, wie total cool es hier ist“, rief er - ebenfalls auf englisch - und erntete zustimmendes Gemurmel seiner Klassenkameraden.
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Mir geht’s wie dir“, erwiderte er.
Sergiu stellte nun auch die anderen Leute am Tisch vor. Die meisten studierten wie Sergiu Architektur. Sie erfuhren von Sergiu, dass Cosmin der fleißige Helfer bei vielen ihrer Hausaufgaben gewesen war, was jäh die Zahl der Mädchen verdoppelte, die Cosmin verstohlene und zugleich vielsagende Blicke zuwarfen.

Sergiu wandte sich an Max. „Darf ich dir deinen Bruder für eine Weile ausspannen? Ich möchte so viel mit ihm quatschen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.“
Vermutlich sah Max Cosmins leises Erschrecken. Er zwinkerte ihm zu und klopfte Sergiu auf die Schulter.
„Danach will ich ihn aber zurück“, sagte er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen. Er zog sich einen Stuhl an den Tisch und setzte sich neben Simon.

Sergiu führte Cosmin zu einen freien Stuhl neben dem eigenen Platz. Cosmin bemerkte, dass ihm Sergius Nachbarin zulächelte. „Ich weiß gar nicht, wie viele Punkte im Mathekurs ich dir zu verdanken habe, Cosmin. Ich bin Daniela, aber meine Freunde nennen mich Dani.“
„Hi Dani“, erwiderte Cosmin und war plötzlich froh, dass man ihm nicht ansah, wenn er vor Verlegenheit errötete.
„Äh, Dani und ich…“, Sergiu kratzte sich das dunkelbraune Haar, als wäre auch er verlegen, „… wir sind seit ein paar Wochen zusammen.“
Sie hatten die Unterhaltung bis jetzt auf englisch geführt und so nutzte Cosmin sofort die Gelegenheit, um bei Max eine mögliche Eifersucht schon im Keim zu ersticken.
„Sergi, du hast mir nie erzählt, was für eine hübsche Freundin du hast!“
Cosmin linste zwischen schwarzen Zottel hindurch zur anderen Seite des Tisches. Max unterhielt sich angeregt mit Simon, vermutlich über die Kämpfe beim Pferderennen. Er nippte an einem Weinglas und schien sich nicht für Sergius Liebschaften zu interessieren. Doch es gab jemanden, der sehr wohl ihrem Gepräch lauschte. Tims Augen klebten ein paar Sekunden lang an Sergius Gesicht, obwohl neben ihm eine der Studentinnen auf ihn einredete und dabei immer näher an den blonden Lockenkopf heran rückte. Und auch bei Lucas hatte eine der Studentinnen ihren Anker ausgeworfen, aber anders als Tim schien sich Lucas diese Chance nicht entgehen lassen zu wollen.
„Wir sind ja auch erst seit kurzem zusammen“, hörte Cosmin Sergius Antwort. Sein Blick kehrte zu Sergiu zurück und ertappte ihn bei einem verstohlenen Blick hinüber zur anderen Seite des Tisches.
Ich glaub’s nicht!
Cosmin ahnte was gerade passierte.
Zwischen Sergiu und Tim knistert es!
Daniela bemerkte offensichtlich nichts davon, dass ihr Freund möglicherweise gerade auf ein anderes Gleis geriet. Sie bedankte sich mit einem Lächeln für Cosmins Kompliment und nippte an einem mit Wein gefüllten Glas .
„Also Cosmin, als erstes soll ich dich von Vali grüßen“, sagte Sergiu und Cosmin entging nicht, dass Sergius Blick immer mal zur anderen Tischseite huschte. „Er hält einen Platz an unserer Uni für dich frei.“
Cosmin wollte etwas erwidern, doch Sergiu reichte ihm ein Glas Wein und seufzte: „Ich weiß, keine Chance!“

Sie stießen mit ihren Gläsern an und dann begannen sie sich gegenseitig Löcher in den Bauch zu fragen. Sergiu interessierte sich scheinbar für alles, was bei Cosmin in den zurückliegenden acht Monaten passiert war. Cosmin versuchte so gut es ging, Max aus den Antworten herauszuhalten und Sergiu mit Fragen über das Studentenleben an der Bukarester Uni abzulenken. Das Frage und Antwort Spiel endete erst, als der Hüttenwart Bogdan auf die Terasse hinaus trat und meinte, dass es an der Zeit wäre, das Festmahl zuzubereiten.
„Was für ein Festmahl?“, fragte Cosmin verwirrt. Sergiu hatte ihm erzählt, dass an der Hütte nur einfache Speisen angeboten wurden.
Ein Grinsen huschte über Sergius Gesicht. „Das ist unser Geschenk an dich. Wir haben Fleisch und so etwas mit hier hoch geschleppt und die Mädels werden jetzt daraus das Festessen zaubern.“

Tatsächlich erhoben sich zusammen mit Dani auch mehrere der anderen Mädchen. Sie begleiteten Bogdan zurück in die Hütte.
Cosmin dachte daran, wie schwer sein Rucksack beim Aufstieg zur Hütte auf den Schultern gelastet hatte.
„Das ist echt nett, Sergi. Ihr habt das alles bis hier hoch geschleppt?“
„Na ja, ich gebe zu, wir haben die Seilbahn genommen. Wir wollten uns die Kraft für morgen aufheben. Ihr kommt doch mit zum Klettersteig, oder?“
„Klar, machen wir!“ Cosmin und Max hatten heute unter anderem auch die nahezu senkrechte Steilwand bestaunt, die der Klettersteig in halber Höhe durchquerte. Der mit Gras bedeckte Pfad war oft schmaler als eine Treppenstufe und fast durchgängig mit Stahlseilen gesichert.
„Sergi…?“
Sergius Blick kehrte von der anderen Seite des Tisches zurück.
„Ja?“
„Ich bin ein bisschen erstaunt, wie viele Mädchen hier sind. Studieren bei euch so viele Mädchen Architektur?“
Sergiu lachte kurz auf und nickte unauffällig in Lucas’ Richtung, der inzwischen einen Arm um die Schulter seiner Nachbarin gelegt hatte, während der Stuhl neben Tim wieder frei war.
„Als die Mädchen im Kurs hörten, dass wir sechs junge Männer aus Deutschland hier treffen würden, wollten plötzlich auch welche mitkommen, die noch nie bei solchen Ausflügen dabei waren. Aber ich glaube, bei dem Mann mit den blonden Streifen im Haar und dem Kleinen mit der großen Brille würden sie sich die Zähne ausbeißen, oder?“
„Sie verstecken nicht, wie gern sie sich haben“, sagte Cosmin leise und hob den Blick. Moritz hatte sich inzwischen zu den übrigen drei Bukarester Studenten gesellt und unterhielt sich lauthals mit ihnen. Cosmin fing einen Blick von Max auf, der wie eine stumme Liebkosung über seine Wangen strich.
Dann wandte sich Max wieder Simon zu und an den Gesten der beiden sah Cosmin, dass die beiden immer noch über das Pferderennen plauderten.

„Eure vier Freunde wollen am Sonntag weiter in Richtung Schwarzes Meer fahren.“ Es hörte sich so an, als wäre Sergiu nicht gerade glücklich darüber. „In manchen Gegenden Rumäniens wäre es besser, wenn zwei Männer das mit dem sich gern haben nicht so offen zu zeigen.“
Cosmin nickte schwach. Porumbita gehörte zu diesen Gegenden. „Ich weiß…“, sagte er und bemerkte, dass Sergiu ihn mit einem nachdenklichen Blick musterte.

Geburtstagsparty auf 2000m

Max

Die Terrasse der Berghütte bot eine grandiose Aussicht auf das Tal und die gegenüberliegende Gebirgskette. Die kleine Stadt weit unten im Talgrund lag bereits vollständig im Schatten der Berge, als mehrere Mädchen der Bukarester Studentengruppe Steaks, Würste und verschiedene Salate servierten.
Es war Max nicht entgangen, dass Cosmins Freund Sergiu zwar mit einem Mädchen hier war, sich jedoch auch für den blonden Lockenkopf Tim zu interessieren schien.
Warum nicht?
Solange er seine Finger von Cosmin lässt, ist das okay, fand Max.
Cosmin setzte sich während des Abendessens neben ihn. Doch die Freude, das Geburtstagskind nun endlich an seiner Seite zu haben, währte nur kurz.
Nach dem Essen wurde Cosmin gleich von zwei Mädchen ans andere Ende des Tisches entführt. Angeblich wollten sie mit ihm über irgendwelche Statikprobleme fachsimpeln. Aber Max bemerkte auch, dass sie den Freund zugleich mit ihren Blicken verschlangen.
Rechts von ihm hatte die Blondine ihre zuvor unterbrochenen Versuche, bei Tim zu landen wieder aufgenommen. Auf der anderen Seite des Tisches unterhielten sich Simon und Moritz mit einigen Jungen und Mädchen der Bukarester Truppe und kosteten den in Mineralwasserflaschen abgefüllten Hauswein.

Sergiu setzte sich auf den freien Stuhl links neben ihm. Offenbar hatte seine Freundin schon ein Gläschen zu viel getrunken. Als sie sich auf Sergius Schoß setzen wollte, wäre sie um ein Haar auf dem Hosenboden gelandet, hätte Sergiu ihr nicht schnell unter die Arme gegriffen. Ein weiteres Pärchen gesellte sich zu ihnen. Der junge Mann zog für sich und seine Freundin zwei Stühle heran.
„Max, das sind Constantin und seine Freundin Ruxandra. Beide haben hier die meisten Felswände durchstiegen und führen uns morgen im Klettersteig“, stellte Sergiu das Pärchen vor.
„Hi Max“, rief Constantin und reichte Max die rechte Hand. „Sag Costi zu mir, das ist kürzer. Wir führen nur die sechs Leute, die sich morgen an den Klettersteig ran trauen. Du und Cosmin, ihr habt sicher keine Führung nötig, aber ich würde mich freuen, wenn ihr euch an uns ran hängt. Ich möchte dir eine kleine, ziemlich versteckte Schutzhütte für Kletterer zeigen, in der ihr übernachten könnt und ein paar Tipps zu den Routen geben, die ihr klettern wollt.“
„Hey, das klingt gut, Costi“, erwiderte Max und erhob sein Glas, als er sah, dass die anderen mit ihm anstoßen wollten.
„Stimmt es, dass du Zehnerwege kletterst?“, fragte Ruxandra und schaute Max dabei an, als hätte sie vergessen, dass ihr Freund neben ihr saß.
Max winkte ab. „Nur, wenn ich einen wirklich guten Tag erwische. Ihr beide habt hier echt schon die Big Walls geklettert?“

In der darauffolgenden halben Stunde erfuhr Max von Constantin und Ruxandra viele Dinge, die Gerd in seinem Kletterführer über Rumänien unerwähnt gelassen hatte.
Und ihm fiel nebenbei noch etwas anderes auf. Sergiu vermochte es nicht so richtig, seinen Ärger darüber zu verbergen, dass nur zwei Stühle weiter die Blondine bei Tim zur Landung ansetzte. Zusammen mit seiner angetrunkenen Freundin ergriff er nach ein paar Minuten die Flucht und suchte sich einen Platz am anderen Ende des Tisches. Er schien nicht zu bemerken, dass ihm dabei Tims Blicke folgten.

Nach der Unterhaltung mit Constantin verließ Max die Terasse und folgte ein paar Dutzend Schritte dem Wanderweg, der aus dem Tal zur Berghütte führte. Inzwischen spannte sich über den Bergen ein überwältigender Sternenhimmel in der klaren Luft.
Hinter ihm knirschten Schritte. Max hoffte, dass es Cosmin endlich gelungen war, sich von den beiden wissbegierigen Studentinnen loszueisen.
„Max? Alles klar?“, ertönte Simons Stimme.
„Alles klaro, Simmi. Und bei euch?“
„Coole Party. Wir wollen morgen mit ein paar Leuten bis zu diesem Berg wandern, auf dem ihr heute gewesen seid. Obwohl…“, Simon deute mit einem Kopfnicken hinter sich, „… bei Timmi und Luk bin ich mir nicht so sicher, ob die wirklich mitkommen werden.“
„Und ihr wollt am Sonntag abhauen?“
Simon blickte sich um. „Hätte ich geahnt, wie geil es hier ist, wären wir länger geblieben“, seufzte Simon und erzählte, dass sie am Montagabend die Küste des Schwarzen Meeres erreichen wollten, wo sie eine Ferienwohnung gebucht hatten.

Erneut knirschten Schritte auf dem mit Kieseln übersäten Pfad. Simon wandte sich um und boxte Max in die Seite. „Okay, ich verzieh mich wieder“, grinste er.
„Hey!“ Ein Arm legte sich um Max’ Hüfte. Schwarze Zotteln kitzelten seine linke Wange.
„Cos-Mi, gleich weiß jeder, warum ich mich nicht für die Mädchen dort interessiere“, sagte Max mit einem Kopfnicken zur Berghütte und zog Cosmins Schulter noch etwas dichter zu sich heran.
„Oder warum ich nicht mit den beiden süßen Mädels auf ihr Zimmer gegangen bin“, kicherte Cosmin. „Sie wollten, dass wir im Bett über Physik weiter reden.“
Bei dem Gedanken daran, was sich die Mädchen von Cosmin erhofft hatten, fühlte Max einen leisen Stich in der Brust.
„Und du wolltest nicht?“
Für einen Moment fühlte Max heiße Lippen auf seiner linken Wange.
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich in festen Händen bin und dass diese Hände meinem Stiefbruder gehören.“

Cosmin

Im Morgengrauen meldete sich Cosmins Blase. Wegen der geplanten Klettersteigtour durch eine fast 1000 Meter hohe Steilwand hatte Cosmin am Abend nur wenige Gläser Wein getrunken, ihn jedoch mit Mineralwasser verdünnt. Er glitt vom Hochbett und sah, dass von den drei Doppelstockbetten des Zimmers eines ungenutzt geblieben war. Wo auch immer Lucas und Tim die Nacht verbrachten, im vorab gebuchten Zimmer war es jedenfalls nicht. Und im anderen Doppelstockbett schlief niemand im oberen Bett, dafür kuschelten sich im unteren Bett Moritz und Simon aneinander.

Nach der Rückkehr vom Waschraum warf Cosmin einen Blick aus dem Fenster. Das Tal döste noch im Schatten der Berge, während die Gipfel bereits in das goldene Licht des anbrechenden Tages eintauchten.
Cosmin kletterte nicht in das Hochbett zurück. Er schnappte sich von dort lediglich Kissen und Steppdecke. Dann strich er die Haare von Max’ linkem Ohr, der im unteren Bett das Gesicht im Kissen vergraben hatte.
„Maxi, rutsch mal ein bisschen beiseite“, hauchte Cosmin ihm ins Ohr.
So, als hätte Max darauf gewartet, zog er Cosmin an sich und eng umschlungen verbrachten sie den Rest der Nacht.

Drei Stunden später hatten sich fast alle Leute am langen Tisch auf der Terrasse der Berghütte versammelt. Einige Mädchen der Bukarester Studentengruppe halfen dem Hüttenwart Bogdan und seiner Frau, den Frühstückstisch zu decken.

Lucas, Tim sowie zwei Mädchen ließen sich auch während des Frühstücks nicht blicken und so brachen anschließend Simon und Moritz sowie drei Pärchen aus der Bukarester Gruppe ohne die vier zum Omu Gipfel auf, den Cosmin und Max am Vortag bestiegen hatten.

Ursprünglich hatten sich drei Jungen und ebenso viele Mädchen der Studentengruppe an der Klettersteigtour durch die Steilwand beteiligen wollen, unter anderem auch Sergius Freundin Daniela.
Von der Terrasse konnte man einen Teil der Steilwand sehen. Vielleicht bekamen es einige Leute mit der Angst zu tun oder sie hatten am Abend ein Glas Wein oder Sekt zu viel getrunken - außer Cosmin und Max schulterten nur Sergiu, Constantin und dessen Freundin Ruxandra die Rucksäcke, um zu dieser Steilwand zu wandern.
Es erwies sich als Glücksfall, dass Max und Cosmin die Tour zusammen mit den den drei Leuten aus Bukarest unternahmen. Zum einen fanden sie auf einem Schneefeld kurz vor Beginn des Klettersteiges frische Bärenspuren und Bären hielten sich von größeren Menschengruppen fern. Zum anderen starteten einige der Kletterrouten, die beide Jungen in der Wand durchsteigen wollten, unweit des Klettersteiges. Constantin und Ruxandra erklärten ihnen den jeweiligen Routenverlauf und führten sie zu einer Stelle, von der aus die Jungen eine zwischen Tannen versteckte Schutzhütte am Fuße der Steilwand sehen konnten. Gerd hatte sie in seinem Kletterführer mit keiner Silbe erwähnt, was wahrscheinlich daran lag, dass sie erst vor wenigen Jahren von rumänischen Alpinisten erbaut worden war. Angesichts der Gefahr, im Wald einem Bären zu begegnen, hatten sich Max und Cosmin bereits gefragt, ob das Campen im Zelt nicht zu riskant sein könne. Zudem erzählten ihnen Constantin und Ruxandra, wo in der Nähe der Schutzhütte Quellwasser aus dem Erdreich sprudelte.

Für Cosmin war die Tour auf dem schmalen Pfad in der Steilwand zugleich ein Test, wie er damit klar kam, dass sich an manchen Stellen mehrere Hundert Meter nahezu senkrechter, von Grassteifen durchzogener Fels unter seinen Füßen befand.

Am Abend ging die Geburtstagsparty in ihre Verlängerung. Inzwischen waren auch Tim und Lucas sowie die beiden Mädchen wieder aufgetaucht. Wie am Abend zuvor saßen die jungen Leute am langen Tisch auf der Terrasse der Berghütte. Der Hüttenwart Bogdan hatte dort einen Standgrill aufgebaut, auf dem Röllchen aus Hackfleisch, sogenannte Mici, brutzelten.

Einige der Mädchen beluden den Tisch mit Broten, hausgemachtem Käse und Salaten. Sergiu und Daniela stellten mehrere mit Wein gefüllte Mineralflaschen dazu. Cosmin entging nicht der säuerliche Blick, den Sergiu dabei der Blondine auf Tims Schoß zuwarf.
Simon und Moritz hatten sich offensichtlich mit all den Leuten angefreundet, die heute bei ihrer Wanderung dabei gewesen waren. Sie stießen mit ihnen auf die erfolgreiche Besteigung des Berges an, den Cosmin mit Max bereits gestern erklommen hatten.

Max blätterte auf der Suche nach neuen Herausforderungen zusammen mit Constantin und Ruxandra in Gerds Rumänien - Kletterführer.
Cosmin bemerkte die beiden Mädchen, die gestern Abend versucht hatten, ihn zu verführen. Sie visierten bereits die freien Stühle neben Cosmin an, doch Sergiu kam ihnen zuvor.
Er hockte sich auf einen der freien Stühle, befüllte zwei Gläser mit Wein und Mineralwasser und reichte Cosmin eines der Gläser.
„Ich beneide dich ein bisschen, Cosmin“, seufzte er, als sie mit den Gläsern anstießen.
„Hmm… wieso?“
Sergiu deutete mit einem Nicken auf Max. „Ich hätte nicht geglaubt, dass es so etwas gibt. Dein Freund… er passt auf dich auf, als würde davon sein Leben abhängen. Ich habe das heute auf dem Klettersteig beobachtet. Er hat dich keine Sekunde aus den Augen gelassen. Ich wünschte…“
Sergiu verstummte und nippte an seinem Wein.
Cosmin lächelte verlegen. Inzwischen wusste vermutlich jeder hier am Tisch, dass Max mehr als nur ein Freund für ihn war. Er tätschelte Sergius Arm. „Und Dani… sie liebt dich doch, oder?“
Sergiu zuckte mit der Schulter. „Es ist ganz okay mit ihr, Cosmin. Aber ob man das Liebe nennen kann? Ich weiß es nicht.“
Cosmin spähte durch die Gardine aus schwarzen Locken zur gegenüberliegenden Seite des Tisches. Tim schien mit der Blondine auf seinem Schoß beschäftigt zu sein. Doch für einen Moment entglitt ihm sein Blick und huschte zu Sergiu hinüber.
Cosmin fragte sich, ob Sergius Trübsinn etwas mit Tim zu tun haben könnte. Und falls es zwischen den beiden wirklich gefunkt hatte, warum sie es dann bei heimlichen Blicken beließen.
Er beschloss, das Thema zu wechseln.
„Was macht eigentlich dein Kumpel Adrian?“
Unverhohlene Erleichterung breitete sich auf Sergius Gesicht aus. „Er ist mit dem Bachelor fertig und zieht nächste Woche aus. Falls ihr doch noch nach Bukarest kommen wollt… danach hätte ich die Wohnung für mich allein.“
Cosmin hob bedauernd die Schulter und schaute zu Max hinüber. Als hätte Max ein inneres Radar, hob er im selben Moment den Blick, der zu fragen schien, ob alles klar sei.
Cosmin nickte und wandte sich wieder an Sergiu. „Ich würde Maxi nicht weg kriegen von hier. Wie ist das mit der Miete? Kannst du dir Wohnung noch leisten, wenn du allein darin wohnst?“
Ein schiefes Grinsen huschte über Sergius Gesicht. „Vielleicht kann ich ja dich doch noch überreden, an unserer Uni in Bukarest zu studieren und Wohnung und Miete mit mir zu teilen.“
Daniela stellte ihnen einen mit duftenden Mici gefüllten Teller vor die Nase und ersparte es Cosmin für den Moment, dieses Angebot abzulehnen.