Die Luftnummer
Cosmin
Nach dem Mittagessen begann Cosmin im Zimmer, das ihm Max’ Oma überlassen hatte, den Rucksack für den geplanten Campingausflug zum Steinbruch am Petersberg zu packen. Anders als an den Vortagen strahlte die Sonne von einem blankgeputzten Himmel und die Wettervorhersage versprach für das Wochenende einen ersten Vorgeschmack auf den kommenden Sommer. Während Cosmin die auf dem Sofa zurechtgelegten Sachen in den Rucksack stopfte, vibrierte in der Hosentasche sein Handy, das ihm die Lehrerin am Vormittag zurückgegeben hatte. Cosmin hatte zunächst überlegt, Max’ Handy weiter zu nutzen. Vor allem weil er ahnte, dass sein Vater ihn schon bald anrufen würde.
Er will versuchen, sein Versprechen zu halten. Aber was, wenn dieser Versuch misslingt?
Cosmin hatte Bammel vor dem Gespräch mit dem Vater. Trotzdem benutzte er wieder das eigene Handy. Er würde ohnehin nicht ewig vor diesem Gespräch davon laufen können, zumal er die Vertrautheit seines eigenen Zimmers etwas vermisste.
Wie es Cosmin befürchtet hatte, war die Nachricht von seinem Vater:
„Cosmine, bitte melde dich. Ich mache mir Sorgen.“
Cosmin fuhr mit der Zungenspitze über seine Unterlippe. Er konnte immer noch fühlen, was die die Hand seines Vaters dort angerichtet hatte.
„Ich schreibe dir morgen“, murmelte er und schulterte den gepackten Rucksack.
Anschließend spähte er in Max’ Zimmer und fand es verlassen vor. Max war demnach bereits fertig mit Packen und Cosmin vermutete, dass er unten im Wohnzimmer auf ihn wartete.
Er stieg die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Max saß zusammen mit Oma Lisa auf der Couch und es schien, als würden sie sich gegenseitig festhalten.
Cosmin verharrte unschlüssig auf der untersten Treppenstufe, weil er sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam.
Oma Lisa bemerkte offenbar Cosmins Verlegenheit. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen trocken und erhob sich von der Couch. „Ich habe Baguettes und Pizza für euch. Ich packe alles schnell noch ein“, sagte sie und eilte in die Küche.
Cosmin sah, dass es auch in Max’ Augen glitzerte.
„Maxi?“
Max erhob sich nun ebenfalls und griff nach seinem Rucksack, der am Wohnzimmertisch lehnte.
„Ist was passiert?“, fragte Cosmin besorgt. Eine Träne kullerte über Max’ Wange und Cosmin fing sie mit dem Daumen auf, als sie das Kinn erreichte.
Plötzlich ließ Max den Rucksack zu Boden gleiten und zog Cosmin in seine Arme. „Es ist heute genau vier Jahre her, Cos-Mi. Ich habe den ganzen Tag versucht, nicht daran zu denken, aber meine Oma saß hier und… auch sie vermisst meine Mam“, sagte er leise.
Cosmin erwiderte die Umarmung. Er fuhr mit dem Daumen sanft über Max’ Lippen und spürte, dass Max’ Trauer auch ihm die Kehle zuschnürte.
Oma Lisa kehrte aus der Küche zurück. Dennoch lösten sich die Jungen nur zögerlich voneinander.
Max linste auf die prall gefüllte Plastiktüte, die seine Oma auf dem Wohnzimmertisch abstellte. „Omi, schon vergessen? Wir sind in zwei Tagen wieder hier!“
Vogelgezwitscher und das Gezirpe der Grillen begrüßte die Jungen, als sie eine Stunde später den Steinbruch erreichten. Die glatten Felswände vor ihnen flimmerten in den Strahlen der Nachmittagssonne und spiegelten sich in einem Teich, dessen Wasseroberfläche hin und wieder von einer kraftlosen Böe gekräuselt wurde.
Max schob das Moped bis zu einem mit Klecksen aus Kerzenwachs übersäten Felsbrocken, der offenbar schon Generationen von Campern als Tisch gedient hatte.
Cosmin ließ seinen Blick im Steinbruch umher wandern. Er konnte nirgendwo eine Menschenseele entdecken und hoffte, dass sie den Steinbruch in den nächsten beiden Tagen für sich allein haben würden. Oder wenigstens in den nächsten beiden Nächten.
Wie schon bei ihrem ersten gemeinsamen Campingausflug zwei Wochen zuvor hatten die Jungen weder Trinkwasser noch Getränke mitgenommen. Das Moped hatte auf der Fahrt ohnehin unter der der Last der beiden Jungen und ihrer randvollen Rucksäcke geächzt.
Deshalb schwang sich Max wieder aufs Moped, nachdem das Zelt stand, um im Supermarkt einer nahegelegenen Kleinstadt Mineralwasser, Saft und einige Flaschen Radler einzukaufen. Cosmin räumte unterdessen ihre Sachen ins Zelt, verband beide Schlafsäcke miteinander und suchte anschließend abgestorbene Äste und Zweige für ein kleines Lagerfeuer im Gehölz, das überall im Steinbruch wucherte.
Da Max’ Einkaufstour länger als erwartet dauerte, unternahm Cosmin, bewaffnet mit dem Kletterführer, später eine erste Erkundungstour entlang der im Halbrund aufragenden Wände.
Schon vor zwei Wochen war ihm eine Route unweit des Hohlweges aufgefallen, der in den Steinbruch hinein führte. Dort ragte in einer Höhe von zehn oder zwölf Metern ein riesiger Felsblock aus der Wand. Fast schien es, als hätte man früher beim Abbau des Gesteins vergessen, ihn ebenfalls abzutragen. Auf der Unterseite des Brockens funkelten zwei einzementierte Bohrhaken, sechs weitere Haken folgten einer geraden Linie bis zum oberen Rand der Felswand. Die Kletterei wäre also gut abgesichert. Cosmin überflog die Routenbeschreibungen im Kletterführer und sah, dass die Route über den etwa anderthalb Meter aus der Wand ragenden Überhang bezeichnenderweise „Luftnummer“ genannt und mit einer glatten VIII bewertet wurde. Bei Cosmins bisherigen Achterrouten hatte stets ein Minus hinter der VIII gestanden.
Er fühlte sich fit genug, sich nun endlich auch an einer Route zu versuchen, bei der die VIII nicht durch das angefügte Minus entwertet wurde.
Max tauchte auf dem teilweise mit Gestrüpp überwucherten Hohlweg auf, der in den Steinbruch hinein führte. Er schob das Moped.
Auf dem Gepäckträger war ein mit Mineralwasser gefüllter 10 Liter Plastikkanister festgeschnallt und im geschulterten Rucksack klirrten Bierflaschen.
Einige Schritte von Cosmin entfernt bockte er das Moped auf und schaute ebenfalls hinauf zum Felsblock.
„Sieht cool aus. Was ist das für 'ne Schwierigkeit?“
Cosmin wandte den Blick vom Überhang ab. „Eine glatte Acht. Würdest du die vorsteigen, Maxi? Wenn ich die im Nachstieg schaffe, könnte ich morgen auch einen Vorstieg versuchen. Es wäre meine erste richtige Acht.“
„Klar, mache ich. Der Überhang sieht aber nicht ganz einfach aus, Cos-Mi“, gab Max zu bedenken.
„Ich gucke zu, wie du das machst. Wenn ich mich nicht allzu blöd anstelle, müsste ich es hin kriegen“, erwiderte Cosmin. Er warf einen beinahe schon sehnsüchtigen Blick hinauf zum Überhang und fühlte bereits ein Kribbeln in den Fingern.
Zunächst kletterten sie jedoch zwei leichtere Routen, um die Muskulatur zu lockern und aufzuwärmen. Erst danach kehrten sie zum mit Felsbrocken übersäten Einstieg in die „Luftnummer“ zurück. Fast schon spielerisch erreichte Max den Überhang und soweit es Cosmin erkennen konnte, würde dieser Teil der Route auch ihm selber keine unlösbaren Probleme bereiten. Max tastete sich an der Unterseite des Felsblocks voran, bis er mit den Fingern die äußere Kante erreichte. Dort klickte er eine Expressschlinge in den zweiten am Überhang einzementierten Bohrhaken ein und tastete sich an der Außenseite des Felsblocks noch etwas höher. Inzwischen klebte sein Körper fast schon waagerecht an der Unterseite des Felsblocks.
Cosmin begann sich bereits zu fragen, ob die „Luftnummer“ nicht vielleicht doch eine Nummer zu groß für ihn war.
„Die Griffe sind okay, die hältst du auch. Jetzt musst du versuchen, einen Fuß hier hoch zu bekommen“, rief ihm Max zu und löste die Beine von den Tritten.
Cosmin hielt den Atem an.
Max ließ die Beine nach unten gleiten, sodass sein Körper in über zehn Metern Höhe senkrecht in der Luft hing. Dann schwang sein rechter Fuß über die Kante und verhakte sich an einer kleinen Zacke. Die linke Hand schnappte nach dem nächsten Griff und flink wie ein Äffchen hangelte Max die letzten paar Meter hinauf bis zum Abseilring am höchsten Punkt der Route.
Cosmin stieß den angehaltenen Atem aus. Die Hangelei an dem Felsblock grenzte an Akrobatik. Würde es ihm ebenfalls gelingen, den Überhang zu bezwingen?
Max blieb am Abseilring, um ihm beim Überwinden der äußeren Kante des aus der Wand ragenden Felsblocks zuzuschauen und notfalls mit Tipps helfen zu können.
Die Kletterei bis zum Überhang hatte bei Max recht einfach ausgesehen und vermutlich war sie es auch. Dennoch rutschte Cosmin schon nach wenigen Metern zum ersten Mal ins Seil, weil ein Tritt unter seinem Fuß wegbrach. Und etwas höher bemerkte er eine weitere kleine Felsplatte, die etwas nachgab, als er nach ihr griff. Zunächst überlegte er, so lange an ihr zu zerren, bis sie ebenfalls wegbrechen würde, ließ es dann aber bleiben. Er würde seine Kraft am Felsblock über ihm benötigen und wollte sie nicht beim Abbrechen morschen Felsgesteins verplempern. Erst mehrere Wochen später sollte Cosmin erfahren, dass sein Leben möglicherweise anders verlaufen wäre, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, die morsche Felsplatte abzubrechen.
Er setzte die Kletterei fort, bis sein Körper ebenfalls zehn Meter über dem felsigen Boden am Einstieg baumelte.
„Siehst du rechts die Zacke?“, rief Max zu ihm herunter.
Cosmin nickte nur.
„Dort verklemmst du den rechten Fuß und schiebst dich höher. Alles klar Cos-Mi?“
Zwar nickte Cosmin erneut, doch er fragte sich, wie er den rechten Fuß bis zur Zacke heben sollte. Sie befand sich fast in derselben Höhe wie die Hände, mit denen er sich an kleine Felsvorsprünge klammerte.
Er hievte sich mit einem Klimmzug an beiden Griffen höher, spürte, dass Max im selben Moment das Seil einzog und schwang den rechten Fuß nach oben. Allerdings versuchte er vergeblich, ihn bis zur Zacke zu heben. Ihm fehlte einfach Max’ unglaubliche Gelenkigkeit.
„Zieh nochmal, ich helfe ein bisschen mit“, rief ihm Max von oben zu.
Cosmin zog sich schnaubend und schniefend einige Zentimeter höher und bemerkte, dass auch Max am Seil zog. Doch der rechte Fuß schabte nur an der Kante, eine Handbreit unterhalb der Zacke. Cosmins Finger rutschten von den Griffen und gleich darauf baumelte sein Hintern zehn Meter über dem Boden am Seil.
Cosmin schüttelte die entkräfteten Arme aus und wartete etwa fünf Minuten, bis er sich fit genug für einen neuen Versuch fühlte. Er verrieb Magnesiapuver auf den Händen und packte die griffigen Leisten am Fels. Und wieder schwang er den rechten Fuß nach oben, aber es gelang ihm einfach nicht, den Fuß an der Zacke zu verhaken.
Zehn Minuten und drei weitere vergebliche Versuche später gab Cosmin auf.
„Lass mich ab, Maxi“, rief er nach oben. „Ich bin zu blöde für so was!“
„Cos-Mi, hör auf, so ein Gesicht zu ziehen“, sagte Max, als er kurz darauf neben Cosmin auf dem Boden landete. „Es hat nicht viel gefehlt, echt nicht.“
Cosmin fand, dass eine ganze Menge gefehlt hatte und fühlte sich, als wäre er bei einer Prüfung durchgefallen.
„Das sagst du nur so, Maxi“, murrte er niedergeschlagen.
„Nee wirklich“, sagte Max und kraulte die Zotteln in Cosmins Nacken. „Wir werden ab sofort auch was für deine Beweglichkeit tun. In ein paar Wochen kannst du Spagat und nimmst den Felsklotz da oben im Vorbeigehen mit.“