Hier noch einmal das letzte Kapitel des 1. Teils, den ich jetzt „Der Nebel am Anfang des Regenbogens“ nennen würde 
Komplikationen
Cosmin
Cosmin griff sich an den Kopf, als sie eine Viertelstunde später das Wohnzimmer in Max’ Wohnung betraten und er sah, was Max unter den Weihnachtbaum gelegt hatte.
„Maxi!“, schnaubte er. „Du schenkst uns ein Kondom zu Weihnachten?“ Jedes der beiden Kondome lag auf einem Zettel, auf dem Max unter den Namen „Max“ beziehungsweise „Cosmin“ in großen Lettern „VIEL VERGNÜGEN!!!“ gekritzelt hatte.
Max verzog seine Lippen zu einem Grinsen. „Mit Pizzageschmack“.
Cosmin verdrehte die Augen. „Du bist verrückt! Dein Onkel hat einen Wohnungsschlüssel. Was, wenn er hier war?“
Max’ Grinsen erlosch, jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Er blickte um sich, als würde er nach Spuren Ausschau halten, die ein heimlicher Besucher hinterlassen hatte.
„Warum sollte er? Leon ist mit seiner Kirsche beschäftigt“, sagte er, sammelte trotzdem die beiden Kondome und Zettel ein und ließ sie im Wohnzimmerschrank unter einem Stapel Wäsche verschwinden. Einem anderen Fach entnahm er eine abschließbare Schatulle aus glänzendem Metall, an der zwei Schlüssel baumelten, einen kleinen Spaten und zwei Briefumschläge. Die Briefumschläge legte er auf dem Tisch ab, Schatulle und Spaten verstaute er unter dem Weihnachtsbaum.
Cosmin griff nach dem Umschlag, den Max mit „Cosmin“ beschriftet hatte. Er enthielt nichts weiter als einen leeren Briefbogen.
„Hübsches Geschenk“, murmelte Cosmin. „Was sollen wir jetzt damit machen? Uns gegenseitig Briefe schreiben?“
Max setzte sich auf die Couch und zog Cosmin neben sich. „Jeder schreibt auf, was er sich für’s nächste Jahr am meisten wünscht, wir kleben den Umschlag zu und stecken ihn in die Kiste da“, erklärte Max und deutete mit einem Kopfnicken auf die Schatulle unter dem Weihnachtsbäumchen. „Die verbuddeln wir in Dessau, wo sie kein anderer findet. Und Ende nächsten Jahres gucken wir zusammen, ob unsere Wünsche in Erfüllung gegangen sind.“
„Maxi, irgendwie klingt das nach Kindergarten.“
Max legte seinen rechten Arm um Cosmins Schulter und zog ihn zu sich heran, bis sich ihre Köpfe berührten.
„Komm schon Cos-Mi! Das ist mein Wunsch zu Weihnachten.“
Cosmins Blick verfing sich in Max’ strahlend blauen Augen. Mit der Linken umfasste Cosmin Max’ Taille. „Okay, weil Weihnachten ist. Aber wir schreiben nichts Versautes, klar?“
„Das hatte ich auch nicht vor, Cos-Mi. Aber so wie du mich anguckst, denkst du grad’ an was Versautes.“
Cosmin spürte Max’ Hand, die sich an seinem Nacken in die schulterlangen Zotteln grub und fuhr mit seiner rechten Hand durch Max’ samtweiches Haar. „Du guckst mich aber auch so an, Maxi“, sagte er und erst fanden ihre Lippen, dann auch ihre Zungen zueinander. Sie trennten sich erst, als sie von Cosmins Handy in ihrem zärtlichen Spiel gestört wurden.
„Das ist bestimmt von meinem Vater!“, japste Cosmin. Er hatte ihm heute bereits mehrere Nachrichten, zuletzt vor dem Besuch bei Max’ Vater geschrieben und bislang keine Antwort erhalten.
Hastig öffnete er WhatsApp und fand neben neuen Nachrichten von Sergiu und Moritz auch endlich eine Nachricht seines Vaters.
„Mein Junge, ich bin noch mit Tante Alina und Onkel Vasile in Turnu Magurele im Krankenhaus. Unsere Mutter wurde heute vom Rettungsdienst auf die Intensivstation gebracht. Wir können im Moment nur hoffen und beten. Es ist schön, dass du Weihnachten nicht allein bist.“
Max schien zu bemerken, dass sich Cosmins Mundwinkel beim Lesen der Nachricht gesenkt hatten.
„Was ist los, Cos-Mi?“, fragte er und kraulte Cosmins Nacken.
„Ich glaube, die Mutter meines Vaters macht es nicht mehr lange. Er hängt sehr an ihr.“ Cosmin fiel selber auf, dass er das Wort „Oma“ nicht verwendet hatte. Dieses Wort mochte zu einer Frau wie Max’ Großmutter passen. Für die alte und bucklige Greisin aus Porumbita empfand Cosmin einfach nur Mitleid.
„Bist du sehr traurig deswegen?“, fragte Max.
Cosmin lehnte seinen Kopf gegen Max’ Schulter. „Ich hab’s dir ja schon mal erzählt. Ich kenne sie nicht weiter und letzten Sommer hatte sie meinen Vater bestimmt zwanzig Mal gefragt, wer ich bin. Mein Vater, er wird sehr traurig sein, falls sie… stirbt.“
Cosmin tippte eine kurze Antwort an seinen Vater ins Handy, um ihn zu trösten und versenkte anschließend seinen Blick in Max’ blaue Augen. „Reden wir lieber von was anderem. Hast du schon einen Wunsch, den du aufschreiben wirst?“
„Hab ich!“, erwiderte Max ohne zu zögern. „Und du?“
Cosmins Blick wanderte von Max’ rechtem Auge zum linken und wieder zurück. „Ich glaub’ schon…“
Max
Max hatte gehofft, dass er zusammen mit Cosmin am zweiten Weihnachtsfeiertag nach Dessau würde zurückkehren können, vor allem weil er es kaum erwarten konnte, seine Cousine Hazel wiederzusehen und sich von ihrem kleinen Bruder Cal übers Knie legen zu lassen. Zusammen mit ihren Eltern verbrachten Hazel und Cal die Weihnachtszeit bei Oma Lisa in Dessau.
Doch Schwester Carmen war alles andere als zufrieden, als sie am ersten Weihnachtsfeiertag den Verband von Cosmins Oberkörper entfernte und die Wunde betrachtete. Wie schon bei ihren vorangegangenen Krankenbesuchen stand Max am Kopfende der Couch und schaute ihr beim Verarzten der Stichwunde zu. Auch ohne irgendwelche medizinischen Kenntnisse sah Max, dass die Heilung der Wunde keine Fortschritte gemacht hatte. Aus der Wunde sickerten ein paar Tropfen einer honigfarbenen Flüssigkeit und die Rötung der Wundränder hatte sich eher etwas verstärkt.
Das schlechte Gewissen brachte Max’ Ohrenspitzen zum Glühen. Sie hatten auch am Vorabend nicht die Finger voneinander lassen können.
Cosmin verfolgte aus vor Schreck geweiteten Augen, dass Schwester Carmen aus ihrer Arzttasche eine Spritze nahm.
„Ich habe eigentlich gar keine Schmerzen“, sagte er schwach, doch als die Schwester ein Desinfektionsmittel an der Wunde verrieb, biss er vor Schmerzen die Zähne und kniff auch die Augen zusammen.
„Die Schmerzen werden wieder kommen, wenn sich die Wunde entzündet“, sagte sie forsch und fuhr mit sanfterer Stimme fort: „Keine Angst, die Spritze piekst nur ein bisschen.“
Obwohl Max bereits einige blutige Kämpfe hinter sich hatte, wandte er sich ab, als Schwester Carmen auch mehrere Ampullen mit Blut aus Cosmins Arm befüllte.
Anschließend umwickelte sie Cosmins Oberkörper mit einem neuen Verband und entnahm ihrer Tasche einen Blister mit einigen dicken Pillen.
„Das ist ein Breitband- Antibiotika“, wandte sie sich an Max, weil Cosmin offenbar noch nicht so richtig ansprechbar war und erklärte ihm, wie lange und wie oft Cosmin die Pillen mit wie viel Wasser zu schlucken hatte. Sie notierte sich die Handynummern der Jungen und sagte, dass sie auch am nächsten Tag kommen werde und dass Cosmin den Tag im Liegen auf der Couch oder im Bett verbringen solle.
Sie reichte Max ihre Visitenkarte. „Falls dein Bruder Fieber oder Schüttelfrost bekommt oder sich schwindlig fühlt, rufst du mich sofort an!“, schärfte sie ihm ein, ehe sie die Wohnung verließ.
Max holte ein Glas Wasser, setzte sich zu Cosmin auf die Couch und strich ihm verschwitzte Locken aus der Stirn. Zumindest im Moment fühlte sich Cosmins Stirn nicht wärmer an als die eigene.
„Alles okay, Cos-Mi?“
Allmählich schien die Farbe in Cosmins Gesicht zurück zu kehren. „Ich glaub, ich kann kein Blut sehen“, stöhnte Cosmin und griff nach der Pille, die Max ihm reichte.
Wenig später traf seine Stiefmutter ein. Inzwischen bereitete sie ihnen das Essen jeden Tag in Max’ Küche zu. Max vermutete, dass sie es genoss, wenn Cosmin ihr dabei zuschaute und sie mit ihm ungestört reden konnte. Wie üblich verzog sich Max währenddessen in seinen Fitnesskeller. Eine der Trainingspausen nutzte er, um mit Cal und Hazel per Video zu chatten. Sein Cousin war nicht nur traurig darüber, dass es zumindest in den Weihnachtsferien kein Kampftraining mit Max geben würde, zumal er eine Reihe neuer Tricks gelernt hatte. Cal beschwerte sich auch darüber, dass man die Fratzen auf den Boxsäcken nicht mehr erkennen konnte und er keine Gelegenheit haben würde, sich mal eine echte Stichwunde anzuschauen.
Hazel hingegen fand es süß, dass Max und Cosmin nicht nur beste Freunde sondern jetzt auch Brüder waren. Als Max ihr vom Verlobungsring erzählte, den Cosmin zwar fast nie am Finger trug, doch ständig in der Hosentasche mit sich führte, fehlten ihr wahrscheinlich zum ersten Mal seit Max zurückdenken konnte die Worte.
Am Ende der Trainingseinheit rief Max seinen Onkel an und berichtete ihm davon, dass Cosmins Genesung ins Stocken geraten war und er deshalb bei seinem Stiefbruder bleiben müsse. Max konnte es geradezu hören, wie Leon auf der anderen Seite der Leitung die Augen verdrehte. Aber Leon versprach ihm, am nächsten Tag nachmittags vorbei zu kommen, um mit ihm das Reaktionstraining fortzusetzen.
Als Max nach dem Training das Wohnzimmer betrat sah er, dass seine Stiefmutter die Wohnung bereits verlassen hatte und Cosmin auf rumänisch mit jemanden chattete. Es duftete nach gegrilltem Hähnchenfleisch und Max hätte vor dem Duschen nur einen Blick in die Pfannen und Schüsseln geworfen, ohne Cosmin bei dessen Unterhaltung zu stören. Doch irgendwie schien es, als würde sich Cosmin ertappt fühlen und das weckte Max’ Neugier.
„Dein Alter?“
Cosmin wand sich und drehte das Handy so, dass Max keinen Blick drauf werfen konnte.
„Äh nee, mehr so’n Kumpel“, druckste Cosmin und ehe er das Videogespräch weg klicken konnte, huschte Max an seine Seite und sah, dass Cosmins Gesprächspartner ein attraktiver, dunkelhaariger Bursche war, zwei oder drei Jahre älter als er selber. Ein leiser Stich fuhr durch seine Brust, obwohl er annahm, dass das Gespräch der beiden völlig harmlos war.
„Äh Maxi, das ist Sergiu… aus Bukarest, aber eigentlich aus Sibiu sozusagen. Er studiert Architektur“, stammelte Cosmin auf englisch und wandte sich auch auf englisch an seinen Chatpartner auf dem Handydisplay. „Das ist Max, mein bester Freund. Er ist auch mein Stiefbruder.“
Max versuchte gar nicht erst, die Lippen zu einem Lächeln zu verbiegen. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Sergiu. Cosmin redet sehr viel von dir. Lasst euch nicht stören, ich muss erst einmal unter die Dusche“, sagte er und verließ das Wohnzimmer. Eine heiße Dusche würde hoffentlich auch helfen, diesen idiotischen Anfall von Eifersucht aus seinem Hirn zu spülen.
Wünsche vergraben
Cosmin
Cosmin hätte sich am liebsten geohrfeigt. Ihm fiel es selber auf, dass er sich wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb benommen hatte.
Ich rede viel von Sergiu? Genau genommen rede ich gar nicht von ihm!
Cosmin hatte die Eifersucht, die in Max’ Worten an Sergiu mitschwang, geradezu mit den Händen greifen können.
Dabei hatte er Sergiu lediglich die Lösung von dessen Mathe - Hausaufgaben erklärt und sich auch ein bisschen in Sergius Bewunderung dafür gesonnt, dass er bereits Mehrfachintegrale berechnen konnte.
„Das ist der Freund, mit dem du in dem Hostel gewesen bist, oder?“, ertönte Sergius Stimme aus dem Handy.
Cosmin nickte schwach. Er befürchtete, dass ihm Sergiu an der Nasenspitze ansehen würde, was zwischen ihm und Max lief, wenn er das Gespräch nicht von Max weg lenkte oder noch besser - ganz beendete. „Ja genau. Er hat trainiert. Nach dem Duschen essen wir normalerweise.“
Sergiu schien den Wink mit dem Zaunpfahl zu überhören. „Er sieht echt gut aus, bestimmt fliegen die Mädchen auf den, stimmt’s?“
Nicht nur die Mädchen!, erwiderte Cosmin in Gedanken.
„Hm ja, aber er bildet sich nichts drauf ein. Sergiu, Max kommt gleich vom Duschen zurück.“
„Alles klar, Cosmin. Danke für deine Hilfe. Und ich schätze, Vali, mein Bruder, würde sich freuen, dich zutreffen. Besuche ihn mal an der Hochschule, wenn du wieder in Dessau bist. Gute Besserung! Pass auf dich auf!“
„Mach ich, danke Sergiu.“
Sergius Gesicht verschwand vom Handydisplay. Gleich darauf betrat Max das Wohnzimmer, nur mit einer Trainingshose bekleidet. Um die nackten Schultern hatte er ein Badetuch gelegt, das die Nässe von den blonden Strähnen auffing.
„Maxi, wir haben über seine Mathehausaufgaben geredet. Ich habe ein paar davon für ihn gerechnet“, erklärte Cosmin und wieder hörte sich seine Stimme an, als würde er ein Schuldeingeständnis von sich geben.
Max setzte sich zu Cosmin auf die Couch und strich mit dem Finger über Cosmins Wange.
„Du rechnest Matheaufgaben für jemanden der schon studiert? Das ist echt krass! Sorry, wenn ich eifersüchtig geguckt hab. Wie geht’s dir, Cos-Mi?“
Cosmin spürte einen Schwall Wärme, der sich in seiner Brust ausbreitete und hin zur Hand floss, die sein Gesicht streichelte.
„Alles okay, Maxi.“
„Cos-Mi?“
Hm?"
„Nachher kommt Leon zum Training.“
Auch das noch!
„Er will dasselbe wie ich, dass dir bei diesem blöden Kampf mit Tang nichts passiert“, seufzte Cosmin und überlegte fieberhaft, wie er trotz der Bettruhe einer Begegnung mit Max’ Onkel aus dem Weg gehen könne. „Ich verzieh mich nach dem Essen ins Schlafzimmer.“
Max nickte und hob entschuldigend die Hände.
„Echt doof, dass er so komisch zu dir ist. Wir lassen Decke und Kissen hier liegen. Ich tu so, als würde ich jetzt auf der Couch pennen.“
„Gute Idee!“, sagte Cosmin, obwohl er nicht glaubte, dass sich Leon von dem Bettzeug auf der Couch täuschen ließ.
"Und jetzt bleib liegen, ich decke den Tisch.
"Max küsste Cosmin auf die Wange und glitt von der Couch.
Noch ehe Max den Küchenbereich erreichte, klingelte Cosmins Handy. Max fuhr zu Cosmin herum und verdrehte die Augen.
„Sag jetzt nicht, das ist diese Prinzessin…“
Cosmin schüttelte den Kopf. „Mein Vater. Vielleicht ist seine Mutter… ?“
Er verschluckte den Rest und nahm das Gespräch an. Das Gesicht seines Vaters erschien auf dem Display und Cosmin atmete erleichtert aus, als er sah, dass sich sein Vater allein in Onkel Radus Gästewohnung aufhielt.
„Cosmine, was ist mit dir? Geht es dir besser?“
„Hallo Tata, ich bin okay. Wahrscheinlich darf ich nach Weihnachten nach Dessau zurück“, mogelte er. „Wie geht es deiner Mutter?“
Sein Vater zuckte mit den Schultern. „Nicht besser, Cosmine“, sagte er und erzählte, dass er vor ein paar Minuten mit Tante Alina und Onkel Vasile nach Porumbita zurückgekehrt war und am nächsten Tag noch einmal ins Krankenhaus fahren würde. Den Abend wollte er bei Onkel Radu verbringen. Ein leiser Schrecken durchfuhr Cosmin, als ihm sein Vater sagte, dass der Onkel für sich und Camelia zwei Flugtickets nach Leipzig gebucht hatte, um sie in den Winterferien in Dessau zu besuchen.
„Und? Hast du was zu Weihnachten bekommen?“
Cosmin hielt das Handy so, dass sein Vater einen Blick auf den Weihnachtsbaum werfen konnte. Darunter hatten sie neben der Schatulle und dem kleinen Spaten auch die Gutscheine und zwei Beutel mit den selbstgebackenen Plätzchen seiner Mutter abgelegt.
„Mutter hat uns Plätzchen gebacken und Max’ Vater hat jedem von uns einen Gutschein geschenkt“, antwortete er, verschwieg aber im Moment lieber den Wert des Gutscheins. Er wollte nicht, dass sich sein Vater noch schlechter fühlte, als er es wegen der sterbenskranken Mutter ohnehin schon tat.
„Was ist das für ein silbernes Ding da unter dem Baum?“
Cosmin erklärte seinem Vater, dass sie ihre größten Wünsche für das nächste Jahr aufschreiben, in der Schatulle einschließen und die Schatulle an einem geheimen Ort vergraben wollten, und ein Jahr später nachschauen würden, ob die Wünsche in Erfüllung gegangen waren.
„Wie du weißt, haben wir im nächsten Jahr die Abiturprüfungen und werden uns für einen Studienplatz bewerben“, ergänzte Cosmin, um auszuschließen, dass beim Vater auch nur der Hauch eines Verdachtes aufkeimte, was seine größten Wünsche waren.
Er blickte kurz zu Max hinüber, der begonnen hatte, den Mittagstisch zu decken. Als sein Blick zum Handy zurückkehrte, sah er, dass ihn sein Vater aus den großen schwarzen Augen anstarrte.
„Schreib nichts auf, was dir wirklich wichtig ist, Cosmine“, sagte sein Vater so, als wolle er ihn vor einem kommenden Unheil warnen.
Cosmin versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. „Wieso nicht? Das mit dem größten Wunsch ist doch der Sinn dieser Sache…“ … auch wenn sie kindisch ist, fügte er in Gedanken hinzu.
„Cosmine, wenn wir so was machen, dann schreiben wir auf, was um Gottes Willen nicht passieren soll und begraben es.“
Die Stimme seines Vaters klang so eindringlich, dass Cosmin einen Augenblick lang überlegte, einen Wunsch aufzuschreiben, der ohnehin nicht in Erfüllung gehen würde, wie etwa, dass der Vater endlich die ersehnte Million im Lotto gewinnen würde.
„Das ist doch nur Aberglaube, Tata“, sagte er und hielt das Handy so, dass sein Vater Max sehen konnte. „Maxi deckt schon den Tisch. Mutter hat uns vorhin das Essen gekocht.“
„Grüße Max von mir. Ich bin froh, dass ihr euch wieder so gut versteht.“
„Was ist los, Cos-Mi? Du guckst so komisch?“, fragte Max, nach dem Cosmin das Gespräch mit seinem Vater beendet hatte.
So sehr sich Cosmin auch bemühte, die abergläubische Warnung seines Vaters aus dem Kopf zu wischen, sie war hartnäckig wie ein Fettfleck im Hemd, dessen Ränder man auch nach der zehnten Wäsche noch erkennen konnte. Cosmin deutete auf die Schatulle unter dem Weihnachtsbaum. „Mein Vater sagt, er würde aufschreiben, was nicht passieren soll und es vergraben, aber nicht seine größten Wünsche.“
Max schnaubte kurz. „Ich wette, dein Alter bekreuzigt sich, wenn ihm 'ne schwarze Katze über’n Weg läuft.“
Cosmin kicherte leise. „Du wirst es nicht glauben, das macht er wirklich.“
Max
Fünf Tage später, einen Tag vor Silvester kehrten Cosmin und Max nach Dessau zurück. Einen Tag vorher hatte Schwester Carmen Cosmins Verband durch ein Wundpflaster ersetzt und Cosmin geraten, spätestens nach einer Woche die Wunde noch einmal von einem Arzt untersuchen zu lassen.
Max’ Vater hatte angeboten, die Jungen nach Dessau zu fahren, aber Oma Lisa kam ihm zuvor und holte Max und Cosmin in Berlin ab. Sie hatte nichts dagegen, dass Max bis zum Ende der Ferien bei Cosmin bleiben wollte. Allerdings verlangte sie, dass Max sein alltägliches Trainingsprogramm auf ihrem Dachboden vormittags durchzog, um anschließend das von ihr zubereitete Mittagessen mitzunehmen.
Am Abend unternahmen die Jungen einen Ausflug in das Einkaufszentrum in der Nähe des Rathauses.
Während sich Cosmin in einem Bücherladen und einem Schreibwarengeschäft umschaute, erstand Max kurz vor Ladenschluss des Sportgeschäftes eine Campingmatratze und einen Schlafsack. Cosmin hatte ihm erzählt, was dessen Vater davon hielt, wenn zwei Männer in einem Bett schliefen. Zwar breitete Max Matratze und Schlafsack anschließend in Cosmins Zimmer aus, aber er hatte nicht vor, darauf zu schlafen.
Nach dem Abendessen in der kleinen Küche der Munteanus kramte Max aus seinem Rucksack die Schatulle. Er entnahm ihr nur Cosmins Briefumschlag. Sein eigener Umschlag verblieb fest verschlossen in der Schatulle. Max hatte ihm längst anvertraut, was er sich im kommenden Jahr am meisten wünschte.
Cosmin griff nach dem Briefumschlag, legte ihn auf seinen Schreibtisch und blickte Max fragend an. „Hast du keinen Wunsch?“
„Der liegt schon in der Kiste. Los, Cos-Mi, schreib was auf! Morgen müssen wir das Ding verbuddeln.“
„Was hast du geschrieben, Maxi?“
„Geheim! Du erfährst es in einem Jahr.“
Cosmin schnappte sich die Federmappe und den Umschlag und wandte sich zum Gehen.
„Hey, wo willst du hin?“, fragte Max und schnappte nach Cosmins Arm.
Cosmin grinste schief. „In die Küche. Ich weiß genau, dass du versuchst mitzulesen, was ich schreibe. Aber das ist auch geheim. Du erfährst es erst in einem…“
Cosmins Handy klingelte.
„Mein Vater!“, rief Cosmin. Er setzte sich so, dass Max’ improvisiertes Nachtlager in den Sichtbereich der Handykamera geriet und nahm das Gespräch an.
Auch wenn Max abgesehen vom Wörtchen „Maxi“ kein einziges Wort von dem verstand, was Cosmin sagte, ahnte er, dass dessen Vater schlechte Neuigkeiten hatte. Geduldig wartete er das Ende des Gespräches ab. Dann trat er neben Cosmin und legte ihm den Arm um die Schulter.
„Was ist los, Cos-Mi?“
Cosmin griff nach Max’ Hand, die auf seiner Schulter lag. „Viele Grüße von meinem Vater. Er ist froh, dass du auf mich aufpasst und sagt, du brauchst nicht auf dem Boden schlafen. Du kannst auch sein Sofa benutzen.“
Max versuchte Gedanken an die kommende Nacht beiseite zu schieben. „Das ist sehr großzügig. Was ist mit seiner Mutter?“
Cosmin seufzte leise. „Seine Mutter ist vor einer Stunde gestorben. Er wird bis zu ihrer Beerdigung in Rumänien bleiben und in der nächsten Woche mit dem Bus kommen.“
„Tut mir Leid, Cos-Mi.“
„Mir auch, Maxi.“
Cosmin
Allerdings tat Cosmin vor allem sein Vater Leid, der sehr an der nun verstorbenen Mutter gehangen hatte. Die Großmutter im fernen Porumbita war für ihn selber eine fremde, alte Frau gewesen.
„Maxi, ich verzieh mich in die Küche. Ich muss überlegen, was ich aufschreibe.“
Cosmin sah, dass Max ein Gesicht zog, als hätte er Zahnschmerzen. Wahrscheinlich hatte Max bei seinem Wunsch nicht eine Sekunde überlegen müssen.
Ich muss auch nicht überlegen! Aber was, wenn an diesem komischen Aberglauben etwas dran ist?
Cosmin setzte sich an den Küchentisch, stützte die Stirn auf den angewinkelten Arm und starrte auf das leere Briefpapier.
Er entnahm seiner Federmappe einen Stift, den er vorhin im Schreibwarenladen gekauft hatte. Obwohl er sich beinahe schon wie ein Idiot dabei fühlte, wollte er mit diesem Stift dem eigenen Aberglauben ein Schnippchen schlagen.
Er beschriftete den Umschlag ein weiteres Mal mit „Cosmin“, doch die Schrift blieb unsichtbar. Anschließend beleuchtete er den Schriftzug mit einer am oberen Ende des Stiftes eingebauten UV- Lampe und auf dem Umschlag erglomm bläulich leuchtend sein eigener Name.
Nun griff er nach einem normalen Kugelschreiber und schrieb Wünsche auf, die ohnehin nicht in Erfüllung gehen würden.
„Mein Vater soll im Lotto gewinnen und Millionär werden. Und ich möchte genauso stark sein wie Maxi.“ Darunter fügte er zwei Wörter hinzu:
„Bitte wenden !!!“
Und dann begann er mit unsichtbarer Schrift all das aufzuschreiben, was er sich für das kommende Jahr am sehnlichsten wünschte…
Bewaffnet mit einem in Max’ Rucksack verborgenen Spaten marschierten beide Jungen am nächsten Nachmittag zum nahen Flussufer.
Ihnen wehte ein laues Lüftchen um die Nase; es schien, als wäre dem Winter nach ein paar frostigen Tagen Ende November bereits die Puste ausgegangen. Sie bahnten sich den Weg durch meterhohes Dornengestrüpp bis zu einer alleinstehenden Weide. Der Baum stand weit genug vom Ufer entfernt, sodass die beiden Jungen nicht befürchten mussten, dass eine Hochwasserwelle die in der Schatulle aufbewahrten Wünsche mit sich reißen würde.
Max übernahm das Ausschachten einer kleinen, vielleicht dreißig oder vierzig Zentimeter tiefen Grube, während Cosmin Ausschau nach unerwünschten Zeugen hielt. Um den Inhalt der angeblich wasserdichten Schatulle vor der Nässe im Boden zu schützen, umhüllte Max sie mit mehreren Plastiktüten, bevor er sie in den Boden versenkte. Er reichte Cosmin einen der beiden Schlüssel.
„Weißt du, Cos-Mi, ich wünschte, ich wüsste, was du dir gewünscht hast.“
Würde Max einen heimlichen Blick in die Schatulle riskieren? Cosmin versuchte lieber nicht daran zu denken, was für ein langes Gesicht Max beim Lesen der mit einem normalen Stift geschriebenen „Wünsche“ ziehen würde.
„Maxi, versuch’ nicht heimlich da rein zu schauen. Ich habe meine Wünsche gut versteckt!“
Max nahm Cosmin in die Arme und zog ihn zu sich heran.
„Wir zusammen gucken da rein, in genau einem Jahr, du bei mir und ich bei dir, versprochen?“
Cosmin nickte. „Versprochen!“
Versteckt unter einer Schicht Erde, getarnt von Grasnarben und markiert mit mehreren faustgroßen Steinen ließen die Jungen ihre Wünsche am Ufer der Mulde zurück.
Ende des ersten Teils
Ein paar Worte zum Schluss
Ich fand, dass sich das Ende des alten Jahres gut für einen „Cut“ eignet.
Die zu Beginn der Geschichte in der Handlungsvorschau gestellte Frage ist ja nun beantwortet. Aber die Geschichte kann hier natürlich nicht enden. Zumal sich gerade neue Gewitterwolken am Horizont zusammen ballen. Schon in wenigen Wochen wollen Onkel Radu und Camelia den Sack zuziehen, in dem Cosmin dummerweise immer noch zappelt. Und wie lange soll das noch funktionieren, die Beziehung im Verborgenen zu führen?
Der zweite Teil der Geschichte schließt nahtlos am ersten Teil an.
Was Sexszenen betrifft, werde ich mich auch weiterhin nicht einer Selbstzensur unterwerfen. Aber ich werde wie schon im ersten Teil nicht ins Pornographische abdriften. Ich denke, dass man diese Szenen Jugendlichen ab 16 Jahren ohne Gewissensbisse zumuten kann.
Max und Cosmin steht auch im nächsten Teil eine Achterbahnfahrt der Gefühle bevor. Nun plane ich nicht, eine unendliche Geschichte zu schreiben. Doch ich möchte die beiden schon noch eine Weile begleiten und will ihnen eigentlich erst von der Pelle weichen, nachdem ich an ihrem schönsten Tag im Leben teilhaben durfte.