Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Die Handlung im 2. Teil

Max weiß nun, dass Cosmin, der geliebte Freund zugleich der zuvor so verhasste Stiefbruder ist. Und er weiß, dass er den Menschen gefunden hat, mit dem er sein Leben verbringen möchte.

Die beiden Jungen halten ihre innige Beziehung geheim.

Max wagt es nicht, sich seinem Onkel Leon anzuvertrauen, der ihm nach dem Tod der Mutter nicht nur ein großer Bruder gewesen war sondern ebenso Mutter und Vater. Der Onkel zeigt zu deutlich seine Abneigung gegenüber schwulen Männern.

Aber auch Cosmin verheimlicht dem Vater die Beziehung zu Max. Kein Wunder, denn sein Vater stammt aus einer Gegend in Rumänien, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen ein Tabu sind.

Sowohl Max’ Onkel als auch Cosmins Vater finden irgendwann selber heraus, dass es nicht nur Freundschaft ist, die Max und Cosmin verbindet. Werden sie die Beziehung der beiden Jungen akzeptieren oder sie ablehnen, vielleicht sogar versuchen, diese Beziehung zu zerstören?

Und dann gibt es noch einen Verlobungsring, den Cosmin ständig in der Hosentasche mit sich herum trägt. Den anderen Ring trägt Camelia, ein atemberaubend hübsches Mädchen im fernen Rumänien, an ihrer linken Hand. Camelia träumt ebenfalls von einer Zukunft zusammen mit Cosmin und sie ist bestimmt nicht bereit, sich von Max aus diesem Traum heraus reißen zu lassen…

(FSK 16)

Hier noch einmal das letzte Kapitel des 1. Teils, den ich jetzt „Der Nebel am Anfang des Regenbogens“ nennen würde :slightly_smiling_face:

Komplikationen

Cosmin

Cosmin griff sich an den Kopf, als sie eine Viertelstunde später das Wohnzimmer in Max’ Wohnung betraten und er sah, was Max unter den Weihnachtbaum gelegt hatte.
„Maxi!“, schnaubte er. „Du schenkst uns ein Kondom zu Weihnachten?“ Jedes der beiden Kondome lag auf einem Zettel, auf dem Max unter den Namen „Max“ beziehungsweise „Cosmin“ in großen Lettern „VIEL VERGNÜGEN!!!“ gekritzelt hatte.
Max verzog seine Lippen zu einem Grinsen. „Mit Pizzageschmack“.
Cosmin verdrehte die Augen. „Du bist verrückt! Dein Onkel hat einen Wohnungsschlüssel. Was, wenn er hier war?“
Max’ Grinsen erlosch, jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Er blickte um sich, als würde er nach Spuren Ausschau halten, die ein heimlicher Besucher hinterlassen hatte.
„Warum sollte er? Leon ist mit seiner Kirsche beschäftigt“, sagte er, sammelte trotzdem die beiden Kondome und Zettel ein und ließ sie im Wohnzimmerschrank unter einem Stapel Wäsche verschwinden. Einem anderen Fach entnahm er eine abschließbare Schatulle aus glänzendem Metall, an der zwei Schlüssel baumelten, einen kleinen Spaten und zwei Briefumschläge. Die Briefumschläge legte er auf dem Tisch ab, Schatulle und Spaten verstaute er unter dem Weihnachtsbaum.
Cosmin griff nach dem Umschlag, den Max mit „Cosmin“ beschriftet hatte. Er enthielt nichts weiter als einen leeren Briefbogen.
„Hübsches Geschenk“, murmelte Cosmin. „Was sollen wir jetzt damit machen? Uns gegenseitig Briefe schreiben?“
Max setzte sich auf die Couch und zog Cosmin neben sich. „Jeder schreibt auf, was er sich für’s nächste Jahr am meisten wünscht, wir kleben den Umschlag zu und stecken ihn in die Kiste da“, erklärte Max und deutete mit einem Kopfnicken auf die Schatulle unter dem Weihnachtsbäumchen. „Die verbuddeln wir in Dessau, wo sie kein anderer findet. Und Ende nächsten Jahres gucken wir zusammen, ob unsere Wünsche in Erfüllung gegangen sind.“
„Maxi, irgendwie klingt das nach Kindergarten.“
Max legte seinen rechten Arm um Cosmins Schulter und zog ihn zu sich heran, bis sich ihre Köpfe berührten.
„Komm schon Cos-Mi! Das ist mein Wunsch zu Weihnachten.“
Cosmins Blick verfing sich in Max’ strahlend blauen Augen. Mit der Linken umfasste Cosmin Max’ Taille. „Okay, weil Weihnachten ist. Aber wir schreiben nichts Versautes, klar?“
„Das hatte ich auch nicht vor, Cos-Mi. Aber so wie du mich anguckst, denkst du grad’ an was Versautes.“
Cosmin spürte Max’ Hand, die sich an seinem Nacken in die schulterlangen Zotteln grub und fuhr mit seiner rechten Hand durch Max’ samtweiches Haar. „Du guckst mich aber auch so an, Maxi“, sagte er und erst fanden ihre Lippen, dann auch ihre Zungen zueinander. Sie trennten sich erst, als sie von Cosmins Handy in ihrem zärtlichen Spiel gestört wurden.
„Das ist bestimmt von meinem Vater!“, japste Cosmin. Er hatte ihm heute bereits mehrere Nachrichten, zuletzt vor dem Besuch bei Max’ Vater geschrieben und bislang keine Antwort erhalten.
Hastig öffnete er WhatsApp und fand neben neuen Nachrichten von Sergiu und Moritz auch endlich eine Nachricht seines Vaters.

„Mein Junge, ich bin noch mit Tante Alina und Onkel Vasile in Turnu Magurele im Krankenhaus. Unsere Mutter wurde heute vom Rettungsdienst auf die Intensivstation gebracht. Wir können im Moment nur hoffen und beten. Es ist schön, dass du Weihnachten nicht allein bist.“

Max schien zu bemerken, dass sich Cosmins Mundwinkel beim Lesen der Nachricht gesenkt hatten.
„Was ist los, Cos-Mi?“, fragte er und kraulte Cosmins Nacken.
„Ich glaube, die Mutter meines Vaters macht es nicht mehr lange. Er hängt sehr an ihr.“ Cosmin fiel selber auf, dass er das Wort „Oma“ nicht verwendet hatte. Dieses Wort mochte zu einer Frau wie Max’ Großmutter passen. Für die alte und bucklige Greisin aus Porumbita empfand Cosmin einfach nur Mitleid.
„Bist du sehr traurig deswegen?“, fragte Max.
Cosmin lehnte seinen Kopf gegen Max’ Schulter. „Ich hab’s dir ja schon mal erzählt. Ich kenne sie nicht weiter und letzten Sommer hatte sie meinen Vater bestimmt zwanzig Mal gefragt, wer ich bin. Mein Vater, er wird sehr traurig sein, falls sie… stirbt.“
Cosmin tippte eine kurze Antwort an seinen Vater ins Handy, um ihn zu trösten und versenkte anschließend seinen Blick in Max’ blaue Augen. „Reden wir lieber von was anderem. Hast du schon einen Wunsch, den du aufschreiben wirst?“
„Hab ich!“, erwiderte Max ohne zu zögern. „Und du?“
Cosmins Blick wanderte von Max’ rechtem Auge zum linken und wieder zurück. „Ich glaub’ schon…“

Max

Max hatte gehofft, dass er zusammen mit Cosmin am zweiten Weihnachtsfeiertag nach Dessau würde zurückkehren können, vor allem weil er es kaum erwarten konnte, seine Cousine Hazel wiederzusehen und sich von ihrem kleinen Bruder Cal übers Knie legen zu lassen. Zusammen mit ihren Eltern verbrachten Hazel und Cal die Weihnachtszeit bei Oma Lisa in Dessau.
Doch Schwester Carmen war alles andere als zufrieden, als sie am ersten Weihnachtsfeiertag den Verband von Cosmins Oberkörper entfernte und die Wunde betrachtete. Wie schon bei ihren vorangegangenen Krankenbesuchen stand Max am Kopfende der Couch und schaute ihr beim Verarzten der Stichwunde zu. Auch ohne irgendwelche medizinischen Kenntnisse sah Max, dass die Heilung der Wunde keine Fortschritte gemacht hatte. Aus der Wunde sickerten ein paar Tropfen einer honigfarbenen Flüssigkeit und die Rötung der Wundränder hatte sich eher etwas verstärkt.
Das schlechte Gewissen brachte Max’ Ohrenspitzen zum Glühen. Sie hatten auch am Vorabend nicht die Finger voneinander lassen können.
Cosmin verfolgte aus vor Schreck geweiteten Augen, dass Schwester Carmen aus ihrer Arzttasche eine Spritze nahm.
„Ich habe eigentlich gar keine Schmerzen“, sagte er schwach, doch als die Schwester ein Desinfektionsmittel an der Wunde verrieb, biss er vor Schmerzen die Zähne und kniff auch die Augen zusammen.
„Die Schmerzen werden wieder kommen, wenn sich die Wunde entzündet“, sagte sie forsch und fuhr mit sanfterer Stimme fort: „Keine Angst, die Spritze piekst nur ein bisschen.“
Obwohl Max bereits einige blutige Kämpfe hinter sich hatte, wandte er sich ab, als Schwester Carmen auch mehrere Ampullen mit Blut aus Cosmins Arm befüllte.
Anschließend umwickelte sie Cosmins Oberkörper mit einem neuen Verband und entnahm ihrer Tasche einen Blister mit einigen dicken Pillen.
„Das ist ein Breitband- Antibiotika“, wandte sie sich an Max, weil Cosmin offenbar noch nicht so richtig ansprechbar war und erklärte ihm, wie lange und wie oft Cosmin die Pillen mit wie viel Wasser zu schlucken hatte. Sie notierte sich die Handynummern der Jungen und sagte, dass sie auch am nächsten Tag kommen werde und dass Cosmin den Tag im Liegen auf der Couch oder im Bett verbringen solle.
Sie reichte Max ihre Visitenkarte. „Falls dein Bruder Fieber oder Schüttelfrost bekommt oder sich schwindlig fühlt, rufst du mich sofort an!“, schärfte sie ihm ein, ehe sie die Wohnung verließ.
Max holte ein Glas Wasser, setzte sich zu Cosmin auf die Couch und strich ihm verschwitzte Locken aus der Stirn. Zumindest im Moment fühlte sich Cosmins Stirn nicht wärmer an als die eigene.
„Alles okay, Cos-Mi?“
Allmählich schien die Farbe in Cosmins Gesicht zurück zu kehren. „Ich glaub, ich kann kein Blut sehen“, stöhnte Cosmin und griff nach der Pille, die Max ihm reichte.
Wenig später traf seine Stiefmutter ein. Inzwischen bereitete sie ihnen das Essen jeden Tag in Max’ Küche zu. Max vermutete, dass sie es genoss, wenn Cosmin ihr dabei zuschaute und sie mit ihm ungestört reden konnte. Wie üblich verzog sich Max währenddessen in seinen Fitnesskeller. Eine der Trainingspausen nutzte er, um mit Cal und Hazel per Video zu chatten. Sein Cousin war nicht nur traurig darüber, dass es zumindest in den Weihnachtsferien kein Kampftraining mit Max geben würde, zumal er eine Reihe neuer Tricks gelernt hatte. Cal beschwerte sich auch darüber, dass man die Fratzen auf den Boxsäcken nicht mehr erkennen konnte und er keine Gelegenheit haben würde, sich mal eine echte Stichwunde anzuschauen.
Hazel hingegen fand es süß, dass Max und Cosmin nicht nur beste Freunde sondern jetzt auch Brüder waren. Als Max ihr vom Verlobungsring erzählte, den Cosmin zwar fast nie am Finger trug, doch ständig in der Hosentasche mit sich führte, fehlten ihr wahrscheinlich zum ersten Mal seit Max zurückdenken konnte die Worte.
Am Ende der Trainingseinheit rief Max seinen Onkel an und berichtete ihm davon, dass Cosmins Genesung ins Stocken geraten war und er deshalb bei seinem Stiefbruder bleiben müsse. Max konnte es geradezu hören, wie Leon auf der anderen Seite der Leitung die Augen verdrehte. Aber Leon versprach ihm, am nächsten Tag nachmittags vorbei zu kommen, um mit ihm das Reaktionstraining fortzusetzen.
Als Max nach dem Training das Wohnzimmer betrat sah er, dass seine Stiefmutter die Wohnung bereits verlassen hatte und Cosmin auf rumänisch mit jemanden chattete. Es duftete nach gegrilltem Hähnchenfleisch und Max hätte vor dem Duschen nur einen Blick in die Pfannen und Schüsseln geworfen, ohne Cosmin bei dessen Unterhaltung zu stören. Doch irgendwie schien es, als würde sich Cosmin ertappt fühlen und das weckte Max’ Neugier.
„Dein Alter?“
Cosmin wand sich und drehte das Handy so, dass Max keinen Blick drauf werfen konnte.
„Äh nee, mehr so’n Kumpel“, druckste Cosmin und ehe er das Videogespräch weg klicken konnte, huschte Max an seine Seite und sah, dass Cosmins Gesprächspartner ein attraktiver, dunkelhaariger Bursche war, zwei oder drei Jahre älter als er selber. Ein leiser Stich fuhr durch seine Brust, obwohl er annahm, dass das Gespräch der beiden völlig harmlos war.
„Äh Maxi, das ist Sergiu… aus Bukarest, aber eigentlich aus Sibiu sozusagen. Er studiert Architektur“, stammelte Cosmin auf englisch und wandte sich auch auf englisch an seinen Chatpartner auf dem Handydisplay. „Das ist Max, mein bester Freund. Er ist auch mein Stiefbruder.“
Max versuchte gar nicht erst, die Lippen zu einem Lächeln zu verbiegen. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen, Sergiu. Cosmin redet sehr viel von dir. Lasst euch nicht stören, ich muss erst einmal unter die Dusche“, sagte er und verließ das Wohnzimmer. Eine heiße Dusche würde hoffentlich auch helfen, diesen idiotischen Anfall von Eifersucht aus seinem Hirn zu spülen.

Wünsche vergraben

Cosmin

Cosmin hätte sich am liebsten geohrfeigt. Ihm fiel es selber auf, dass er sich wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb benommen hatte.
Ich rede viel von Sergiu? Genau genommen rede ich gar nicht von ihm!
Cosmin hatte die Eifersucht, die in Max’ Worten an Sergiu mitschwang, geradezu mit den Händen greifen können.
Dabei hatte er Sergiu lediglich die Lösung von dessen Mathe - Hausaufgaben erklärt und sich auch ein bisschen in Sergius Bewunderung dafür gesonnt, dass er bereits Mehrfachintegrale berechnen konnte.
„Das ist der Freund, mit dem du in dem Hostel gewesen bist, oder?“, ertönte Sergius Stimme aus dem Handy.
Cosmin nickte schwach. Er befürchtete, dass ihm Sergiu an der Nasenspitze ansehen würde, was zwischen ihm und Max lief, wenn er das Gespräch nicht von Max weg lenkte oder noch besser - ganz beendete. „Ja genau. Er hat trainiert. Nach dem Duschen essen wir normalerweise.“
Sergiu schien den Wink mit dem Zaunpfahl zu überhören. „Er sieht echt gut aus, bestimmt fliegen die Mädchen auf den, stimmt’s?“
Nicht nur die Mädchen!, erwiderte Cosmin in Gedanken.
„Hm ja, aber er bildet sich nichts drauf ein. Sergiu, Max kommt gleich vom Duschen zurück.“
„Alles klar, Cosmin. Danke für deine Hilfe. Und ich schätze, Vali, mein Bruder, würde sich freuen, dich zutreffen. Besuche ihn mal an der Hochschule, wenn du wieder in Dessau bist. Gute Besserung! Pass auf dich auf!“
„Mach ich, danke Sergiu.“
Sergius Gesicht verschwand vom Handydisplay. Gleich darauf betrat Max das Wohnzimmer, nur mit einer Trainingshose bekleidet. Um die nackten Schultern hatte er ein Badetuch gelegt, das die Nässe von den blonden Strähnen auffing.
„Maxi, wir haben über seine Mathehausaufgaben geredet. Ich habe ein paar davon für ihn gerechnet“, erklärte Cosmin und wieder hörte sich seine Stimme an, als würde er ein Schuldeingeständnis von sich geben.
Max setzte sich zu Cosmin auf die Couch und strich mit dem Finger über Cosmins Wange.
„Du rechnest Matheaufgaben für jemanden der schon studiert? Das ist echt krass! Sorry, wenn ich eifersüchtig geguckt hab. Wie geht’s dir, Cos-Mi?“
Cosmin spürte einen Schwall Wärme, der sich in seiner Brust ausbreitete und hin zur Hand floss, die sein Gesicht streichelte.
„Alles okay, Maxi.“
„Cos-Mi?“
Hm?"
„Nachher kommt Leon zum Training.“
Auch das noch!
„Er will dasselbe wie ich, dass dir bei diesem blöden Kampf mit Tang nichts passiert“, seufzte Cosmin und überlegte fieberhaft, wie er trotz der Bettruhe einer Begegnung mit Max’ Onkel aus dem Weg gehen könne. „Ich verzieh mich nach dem Essen ins Schlafzimmer.“
Max nickte und hob entschuldigend die Hände.
„Echt doof, dass er so komisch zu dir ist. Wir lassen Decke und Kissen hier liegen. Ich tu so, als würde ich jetzt auf der Couch pennen.“
„Gute Idee!“, sagte Cosmin, obwohl er nicht glaubte, dass sich Leon von dem Bettzeug auf der Couch täuschen ließ.
"Und jetzt bleib liegen, ich decke den Tisch.
"Max küsste Cosmin auf die Wange und glitt von der Couch.
Noch ehe Max den Küchenbereich erreichte, klingelte Cosmins Handy. Max fuhr zu Cosmin herum und verdrehte die Augen.
„Sag jetzt nicht, das ist diese Prinzessin…“
Cosmin schüttelte den Kopf. „Mein Vater. Vielleicht ist seine Mutter… ?“
Er verschluckte den Rest und nahm das Gespräch an. Das Gesicht seines Vaters erschien auf dem Display und Cosmin atmete erleichtert aus, als er sah, dass sich sein Vater allein in Onkel Radus Gästewohnung aufhielt.
„Cosmine, was ist mit dir? Geht es dir besser?“
„Hallo Tata, ich bin okay. Wahrscheinlich darf ich nach Weihnachten nach Dessau zurück“, mogelte er. „Wie geht es deiner Mutter?“
Sein Vater zuckte mit den Schultern. „Nicht besser, Cosmine“, sagte er und erzählte, dass er vor ein paar Minuten mit Tante Alina und Onkel Vasile nach Porumbita zurückgekehrt war und am nächsten Tag noch einmal ins Krankenhaus fahren würde. Den Abend wollte er bei Onkel Radu verbringen. Ein leiser Schrecken durchfuhr Cosmin, als ihm sein Vater sagte, dass der Onkel für sich und Camelia zwei Flugtickets nach Leipzig gebucht hatte, um sie in den Winterferien in Dessau zu besuchen.
„Und? Hast du was zu Weihnachten bekommen?“
Cosmin hielt das Handy so, dass sein Vater einen Blick auf den Weihnachtsbaum werfen konnte. Darunter hatten sie neben der Schatulle und dem kleinen Spaten auch die Gutscheine und zwei Beutel mit den selbstgebackenen Plätzchen seiner Mutter abgelegt.
„Mutter hat uns Plätzchen gebacken und Max’ Vater hat jedem von uns einen Gutschein geschenkt“, antwortete er, verschwieg aber im Moment lieber den Wert des Gutscheins. Er wollte nicht, dass sich sein Vater noch schlechter fühlte, als er es wegen der sterbenskranken Mutter ohnehin schon tat.
„Was ist das für ein silbernes Ding da unter dem Baum?“
Cosmin erklärte seinem Vater, dass sie ihre größten Wünsche für das nächste Jahr aufschreiben, in der Schatulle einschließen und die Schatulle an einem geheimen Ort vergraben wollten, und ein Jahr später nachschauen würden, ob die Wünsche in Erfüllung gegangen waren.
„Wie du weißt, haben wir im nächsten Jahr die Abiturprüfungen und werden uns für einen Studienplatz bewerben“, ergänzte Cosmin, um auszuschließen, dass beim Vater auch nur der Hauch eines Verdachtes aufkeimte, was seine größten Wünsche waren.
Er blickte kurz zu Max hinüber, der begonnen hatte, den Mittagstisch zu decken. Als sein Blick zum Handy zurückkehrte, sah er, dass ihn sein Vater aus den großen schwarzen Augen anstarrte.
„Schreib nichts auf, was dir wirklich wichtig ist, Cosmine“, sagte sein Vater so, als wolle er ihn vor einem kommenden Unheil warnen.
Cosmin versuchte, nicht die Augen zu verdrehen. „Wieso nicht? Das mit dem größten Wunsch ist doch der Sinn dieser Sache…“ … auch wenn sie kindisch ist, fügte er in Gedanken hinzu.
„Cosmine, wenn wir so was machen, dann schreiben wir auf, was um Gottes Willen nicht passieren soll und begraben es.“
Die Stimme seines Vaters klang so eindringlich, dass Cosmin einen Augenblick lang überlegte, einen Wunsch aufzuschreiben, der ohnehin nicht in Erfüllung gehen würde, wie etwa, dass der Vater endlich die ersehnte Million im Lotto gewinnen würde.
„Das ist doch nur Aberglaube, Tata“, sagte er und hielt das Handy so, dass sein Vater Max sehen konnte. „Maxi deckt schon den Tisch. Mutter hat uns vorhin das Essen gekocht.“
„Grüße Max von mir. Ich bin froh, dass ihr euch wieder so gut versteht.“

„Was ist los, Cos-Mi? Du guckst so komisch?“, fragte Max, nach dem Cosmin das Gespräch mit seinem Vater beendet hatte.
So sehr sich Cosmin auch bemühte, die abergläubische Warnung seines Vaters aus dem Kopf zu wischen, sie war hartnäckig wie ein Fettfleck im Hemd, dessen Ränder man auch nach der zehnten Wäsche noch erkennen konnte. Cosmin deutete auf die Schatulle unter dem Weihnachtsbaum. „Mein Vater sagt, er würde aufschreiben, was nicht passieren soll und es vergraben, aber nicht seine größten Wünsche.“
Max schnaubte kurz. „Ich wette, dein Alter bekreuzigt sich, wenn ihm 'ne schwarze Katze über’n Weg läuft.“
Cosmin kicherte leise. „Du wirst es nicht glauben, das macht er wirklich.“

Max

Fünf Tage später, einen Tag vor Silvester kehrten Cosmin und Max nach Dessau zurück. Einen Tag vorher hatte Schwester Carmen Cosmins Verband durch ein Wundpflaster ersetzt und Cosmin geraten, spätestens nach einer Woche die Wunde noch einmal von einem Arzt untersuchen zu lassen.
Max’ Vater hatte angeboten, die Jungen nach Dessau zu fahren, aber Oma Lisa kam ihm zuvor und holte Max und Cosmin in Berlin ab. Sie hatte nichts dagegen, dass Max bis zum Ende der Ferien bei Cosmin bleiben wollte. Allerdings verlangte sie, dass Max sein alltägliches Trainingsprogramm auf ihrem Dachboden vormittags durchzog, um anschließend das von ihr zubereitete Mittagessen mitzunehmen.

Am Abend unternahmen die Jungen einen Ausflug in das Einkaufszentrum in der Nähe des Rathauses.
Während sich Cosmin in einem Bücherladen und einem Schreibwarengeschäft umschaute, erstand Max kurz vor Ladenschluss des Sportgeschäftes eine Campingmatratze und einen Schlafsack. Cosmin hatte ihm erzählt, was dessen Vater davon hielt, wenn zwei Männer in einem Bett schliefen. Zwar breitete Max Matratze und Schlafsack anschließend in Cosmins Zimmer aus, aber er hatte nicht vor, darauf zu schlafen.
Nach dem Abendessen in der kleinen Küche der Munteanus kramte Max aus seinem Rucksack die Schatulle. Er entnahm ihr nur Cosmins Briefumschlag. Sein eigener Umschlag verblieb fest verschlossen in der Schatulle. Max hatte ihm längst anvertraut, was er sich im kommenden Jahr am meisten wünschte.
Cosmin griff nach dem Briefumschlag, legte ihn auf seinen Schreibtisch und blickte Max fragend an. „Hast du keinen Wunsch?“
„Der liegt schon in der Kiste. Los, Cos-Mi, schreib was auf! Morgen müssen wir das Ding verbuddeln.“
„Was hast du geschrieben, Maxi?“
„Geheim! Du erfährst es in einem Jahr.“
Cosmin schnappte sich die Federmappe und den Umschlag und wandte sich zum Gehen.
„Hey, wo willst du hin?“, fragte Max und schnappte nach Cosmins Arm.
Cosmin grinste schief. „In die Küche. Ich weiß genau, dass du versuchst mitzulesen, was ich schreibe. Aber das ist auch geheim. Du erfährst es erst in einem…“
Cosmins Handy klingelte.
„Mein Vater!“, rief Cosmin. Er setzte sich so, dass Max’ improvisiertes Nachtlager in den Sichtbereich der Handykamera geriet und nahm das Gespräch an.
Auch wenn Max abgesehen vom Wörtchen „Maxi“ kein einziges Wort von dem verstand, was Cosmin sagte, ahnte er, dass dessen Vater schlechte Neuigkeiten hatte. Geduldig wartete er das Ende des Gespräches ab. Dann trat er neben Cosmin und legte ihm den Arm um die Schulter.
„Was ist los, Cos-Mi?“
Cosmin griff nach Max’ Hand, die auf seiner Schulter lag. „Viele Grüße von meinem Vater. Er ist froh, dass du auf mich aufpasst und sagt, du brauchst nicht auf dem Boden schlafen. Du kannst auch sein Sofa benutzen.“
Max versuchte Gedanken an die kommende Nacht beiseite zu schieben. „Das ist sehr großzügig. Was ist mit seiner Mutter?“
Cosmin seufzte leise. „Seine Mutter ist vor einer Stunde gestorben. Er wird bis zu ihrer Beerdigung in Rumänien bleiben und in der nächsten Woche mit dem Bus kommen.“
„Tut mir Leid, Cos-Mi.“
„Mir auch, Maxi.“

Cosmin

Allerdings tat Cosmin vor allem sein Vater Leid, der sehr an der nun verstorbenen Mutter gehangen hatte. Die Großmutter im fernen Porumbita war für ihn selber eine fremde, alte Frau gewesen.
„Maxi, ich verzieh mich in die Küche. Ich muss überlegen, was ich aufschreibe.“
Cosmin sah, dass Max ein Gesicht zog, als hätte er Zahnschmerzen. Wahrscheinlich hatte Max bei seinem Wunsch nicht eine Sekunde überlegen müssen.
Ich muss auch nicht überlegen! Aber was, wenn an diesem komischen Aberglauben etwas dran ist?
Cosmin setzte sich an den Küchentisch, stützte die Stirn auf den angewinkelten Arm und starrte auf das leere Briefpapier.
Er entnahm seiner Federmappe einen Stift, den er vorhin im Schreibwarenladen gekauft hatte. Obwohl er sich beinahe schon wie ein Idiot dabei fühlte, wollte er mit diesem Stift dem eigenen Aberglauben ein Schnippchen schlagen.
Er beschriftete den Umschlag ein weiteres Mal mit „Cosmin“, doch die Schrift blieb unsichtbar. Anschließend beleuchtete er den Schriftzug mit einer am oberen Ende des Stiftes eingebauten UV- Lampe und auf dem Umschlag erglomm bläulich leuchtend sein eigener Name.
Nun griff er nach einem normalen Kugelschreiber und schrieb Wünsche auf, die ohnehin nicht in Erfüllung gehen würden.
„Mein Vater soll im Lotto gewinnen und Millionär werden. Und ich möchte genauso stark sein wie Maxi.“ Darunter fügte er zwei Wörter hinzu:
„Bitte wenden !!!“
Und dann begann er mit unsichtbarer Schrift all das aufzuschreiben, was er sich für das kommende Jahr am sehnlichsten wünschte…

Bewaffnet mit einem in Max’ Rucksack verborgenen Spaten marschierten beide Jungen am nächsten Nachmittag zum nahen Flussufer.
Ihnen wehte ein laues Lüftchen um die Nase; es schien, als wäre dem Winter nach ein paar frostigen Tagen Ende November bereits die Puste ausgegangen. Sie bahnten sich den Weg durch meterhohes Dornengestrüpp bis zu einer alleinstehenden Weide. Der Baum stand weit genug vom Ufer entfernt, sodass die beiden Jungen nicht befürchten mussten, dass eine Hochwasserwelle die in der Schatulle aufbewahrten Wünsche mit sich reißen würde.
Max übernahm das Ausschachten einer kleinen, vielleicht dreißig oder vierzig Zentimeter tiefen Grube, während Cosmin Ausschau nach unerwünschten Zeugen hielt. Um den Inhalt der angeblich wasserdichten Schatulle vor der Nässe im Boden zu schützen, umhüllte Max sie mit mehreren Plastiktüten, bevor er sie in den Boden versenkte. Er reichte Cosmin einen der beiden Schlüssel.
„Weißt du, Cos-Mi, ich wünschte, ich wüsste, was du dir gewünscht hast.“
Würde Max einen heimlichen Blick in die Schatulle riskieren? Cosmin versuchte lieber nicht daran zu denken, was für ein langes Gesicht Max beim Lesen der mit einem normalen Stift geschriebenen „Wünsche“ ziehen würde.
„Maxi, versuch’ nicht heimlich da rein zu schauen. Ich habe meine Wünsche gut versteckt!“
Max nahm Cosmin in die Arme und zog ihn zu sich heran.
„Wir zusammen gucken da rein, in genau einem Jahr, du bei mir und ich bei dir, versprochen?“
Cosmin nickte. „Versprochen!“
Versteckt unter einer Schicht Erde, getarnt von Grasnarben und markiert mit mehreren faustgroßen Steinen ließen die Jungen ihre Wünsche am Ufer der Mulde zurück.

Ende des ersten Teils

Ein paar Worte zum Schluss

Ich fand, dass sich das Ende des alten Jahres gut für einen „Cut“ eignet.
Die zu Beginn der Geschichte in der Handlungsvorschau gestellte Frage ist ja nun beantwortet. Aber die Geschichte kann hier natürlich nicht enden. Zumal sich gerade neue Gewitterwolken am Horizont zusammen ballen. Schon in wenigen Wochen wollen Onkel Radu und Camelia den Sack zuziehen, in dem Cosmin dummerweise immer noch zappelt. Und wie lange soll das noch funktionieren, die Beziehung im Verborgenen zu führen?
Der zweite Teil der Geschichte schließt nahtlos am ersten Teil an.

Was Sexszenen betrifft, werde ich mich auch weiterhin nicht einer Selbstzensur unterwerfen. Aber ich werde wie schon im ersten Teil nicht ins Pornographische abdriften. Ich denke, dass man diese Szenen Jugendlichen ab 16 Jahren ohne Gewissensbisse zumuten kann.
Max und Cosmin steht auch im nächsten Teil eine Achterbahnfahrt der Gefühle bevor. Nun plane ich nicht, eine unendliche Geschichte zu schreiben. Doch ich möchte die beiden schon noch eine Weile begleiten und will ihnen eigentlich erst von der Pelle weichen, nachdem ich an ihrem schönsten Tag im Leben teilhaben durfte.

Prolog zum 2. Teil

Max

Max starrte verwundert auf die Wohnungstür, vor der er stand. Er hätte sich eigentlich auf der anderen Seite dieser Tür befinden müssen, im Zimmer seines besten Freundes und Stiefbruders Cosmin. Dort hatten sie auf dessen Couch gesessen, die Köpfe aneinander gelehnt, einer in den Armen des anderen.
Die Klingel schien nicht zu funktionieren, also klopfte er, zaghaft zunächst, dann etwas forscher.
Ein Mann öffnete und Max’ Herzschlag setzte aus, als er sah, wer ihm die Tür geöffnet hatte.
„Hör auf, nach ihm zu suchen, kleiner Champ“, sagte sein Onkel Leon mit einem breiten Grinsen auf den Lippen. „Er ist weg!“
„Nein!“, rief Max verzweifelt. Er drängte sich an Leon vorbei und stürmte in die Wohnung.
„Cos-Mi! Wo bist du?“
Max riss die Tür zu Cosmins Zimmer auf und blieb wie angewurzelt stehen. Das Zimmer war düster und leer, Tapetenfetzen hingen von den Wänden. Spinnweben wiegten sich im Wind, der durch die geborstenen Scheiben des Fensters ins Zimmer wehte.

„Ich bin hier bei dir, Maxi“, drang Cosmins Stimme wie aus weiter Ferne an sein Ohr.

Der Lichtschein eines Leselämpchens wischte die Düsternis beiseite. Max saß plötzlich auf der Couch, die wieder dort war, wo sie hingehörte - in Cosmins Zimmer. Cosmin lag ausgestreckt auf der Couch, den Kopf hatte er zusammen mit einem Kissen auf Max’ Schoß gebettet und so verrenkt, dass sich ihre Blicke trafen und für einen Moment einander zu streicheln schienen. Doch gleich darauf schlossen sich Cosmins Augen und sein Kopf sank zurück auf Max’ Schoß.
Max vergrub seine linke Hand in Cosmins schulterlange, pechschwarze Zotteln.
Seit dem tragischen Unfalltod seiner Mutter vor mehr als dreieinhalb Jahren plagten ihn beinahe täglich solche Albträume, in denen ausgerechnet die Menschen spurlos verschwanden, die er liebte. Nach ihrem Tod hatte er den Verlust der Mutter immer wieder in Träumen durchleben müssen, später war es manchmal auch Leon gewesen, der plötzlich verschwand. Doch in den letzten Monaten träumte er häufig davon, dass er vor dieser Wohnungstür stand und die Wohnung dahinter verlassen vorfand.
Max warf einen Blick auf Cosmins Handy, das auf dem Nachtschränkchen lag. Es zeigte 19:56 Uhr an. In gut vier Stunden würde das neue Jahr anbrechen.
Seine Gedanken wanderten zurück zur Silvesterparty im vergangenen Jahr mit der Berliner Clique und einigen Mädchen bei seinem Berliner Kumpel Oskar. Auch damals hatte Max jemanden in den Armen gehalten - Caroline, das hübscheste Mädel an seiner alten Schule in Berlin. Mehr als eineinhalb Jahre waren sie ein Paar gewesen. Hätte ihm jemand erzählt, dass er nur ein Jahr später einen Jungen in den Armen halten würde, er hätte dafür nur ein müdes Lächeln übrig gehabt. Oder aber einen Tritt in den Hintern des Erzählers.
Max ließ seinen Blick über Cosmins mädchenhafte Gesichtszüge gleiten. Mit den lockigen, verstrubbelten Haaren und der schokoladenbraunen Haut sah Cosmin aus, als hätte er die siebzehneinhalb Jahre seines bisherigen Lebens im indischen Dschungel verbracht. Doch andererseits, mit einem Turban würde er auch als Märchenprinz aus Tausendundeiner Nacht durchgehen, der irgendwie in das Hier und Jetzt geraten war.
Inzwischen begriff es Max selber nicht mehr, dass er zweimal vor diesem Menschen die Flucht ergriffen hatte.
Zuerst im August, als er erfahren hatte, dass sein Vater und seine Stiefmutter den unbekannten Stiefbruder für ein paar Tage ins Haus holen wollten. Er war daraufhin nach Dessau zu seiner Großmutter Lisa geflohen. Sie hatte ihn nicht nur mit offenen Armen bei sich aufgenommen, sondern es auch geschafft, ihn hier für sein zwölftes Schuljahr auf einem Gymnasium anzumelden.
Dort, in seiner neuen Klasse war Max dem „Zigeunerjungen“ Cosmin begegnet, von dem seine Mutter das letzte Gemälde vor ihrem Tod gemalt und mit dem sich Max schon damals in seiner Fantasie angefreundet hatte. Nun wurden sie auch im echten Leben Freunde, auch wenn bald schon Gefühle mitmischten, die Freunde in der Regel nicht füreinander empfinden.
Seine zweite Flucht zurück nach Berlin lag gerade mal zweieinhalb Wochen zurück. Er hatte zufällig herausgefunden, dass der geliebte Freund zugleich der verhasste Stiefbruder war. Cosmin hatte sich daraufhin auf die Suche nach ihm begeben und war dabei in Berlin von zwei Mistkerlen nicht nur beraubt, sondern auch mit einem Messer verletzt worden. Immerhin verheilte endlich die Wunde. Heute hatte sich Cosmin bereits getraut, mit dem Rad bis zu Oma Lisa zu fahren.
Max’ Gedanken kehrten zu seinem Albtraum zurück, dessen Bilder sich rasch verflüchtigten.
Vielleicht waren diese Albträume so etwas wie ein Fingerzeig auf Hürden, die sie beide im neuen Jahr würden überwinden müssen? Cosmin zappelte wie eine Fliege in einem Netz, das ein Möchtegern - Schwiegervater ausgeworfen hatte. Schon in sechs Wochen würde der Kerl mit Tochter Camelia aus Rumänien anrücken, um die Schlingen des Netzes noch fester zuzuziehen.
Aber auch in Max’ Familie brauten sich dunkle Wolken zusammen. Sein Onkel Leon, der für Max stets der große Bruder gewesen war, ahnte bereits, dass etwas zwischen ihm und Cosmin lief.
Max’ Blick fiel erneut auf Cosmins Handy. Inzwischen war es fast halb neun und es wurde somit langsam Zeit, Cosmin aus dessen Träumen zu holen…

Cosmin

„Nein!“
Nach dem Silvester - Abendessen bei Max’ Großmutter genoss es Cosmin, lang ausgestreckt auf der Couch zu liegen und vor sich hin zu dösen, auch um dem Bauch die Möglichkeit zu geben, in Ruhe das Festessen zu verdauen. Statt nur auf einem Kissen ruhte sein Kopf auch auf Max’ Schoß. Cosmin verrenkte den Hals, bis er Max’ Gesicht sehen konnte und bemerkte, dass Max mal wieder in einem Albtraum feststeckte.
„Cos-Mi! Wo bist du?“
Cosmin tätschelte Max’ Hand, um ihn aus dem Albtraum herauszuholen. „Ich bin hier bei dir, Maxi.“
Max blinzelte und für ein paar Sekunden verfingen sich ihre Blicke ineinander. Max’ Stirn glättete sich.
Cosmin ließ den Kopf wieder zurück sinken, doch nur langsam verblasste dieses engelsgleiche, von schulterlangen, hellblonden Haaren eingerahmte Gesicht des Freundes vor seinen Augen.
Natürlich wusste er inzwischen, was Max in solchen Albträumen erlebte. Ähnliche Träume hatten auch ihn selber gequält, als seine Mutter ihn und seinen Vater vor über dreieinhalb Jahren sitzen gelassen hatte.
Als ob ich ihn verlassen könnte.
Cosmin würde natürlich nicht verschwinden, schon gar nicht spurlos. Er war geradezu süchtig nach diesem Menschen.
Das Leben wäre freilich viel unkomplizierter, hätte einer von uns beiden das Licht der Welt als Mädchen erblickt.
Sein Vater stammte aus Porumbita, einem Dorf im südlichsten Zipfel Rumäniens, in dem fast ausschließlich Romi lebten. Cosmin vermutete, dass die Leute dort gleichgeschlechtliche Pärchen wie Aussätzige behandelten. Sofern es sie dort überhaupt gab. Cosmin fragte sich, ob auch sein Vater ihn und Max wie Aussätzige behandeln würde, sollte er herausfinden, was sie füreinander empfanden.
Sie versuchten, diese Gefühle geheim zu halten und anders als Moritz und Simon vermieden sie es, Händchen oder einander in den Armen zu halten, wenn sie nicht allein waren.
Moritz und Simon waren zwei Jungen aus der Parallelklasse. Cosmin hatte schon einige Male beobachtet, dass die beiden auf den Hofpausen Zärtlichkeiten auch im Beisein ihrer Mitschüler austauschten. Wussten die Eltern der beiden von dieser Beziehung? Und wenn ja, wie sahen Eltern oder Geschwister die Beziehung der beiden? Würden Moritz und Simon auch nach der Schule zusammen bleiben?

Zumindest auf einige der Fragen würde Cosmin vielleicht noch heute eine Antwort erhalten. Moritz und Simon hatten ihn und Max zu ihrer Silvesterparty eingeladen. Cosmin war sicher gewesen, dass Max ablehnen würde. Doch vielleicht suchte auch Max nach Antworten und war einverstanden, zusammen mit Moritz, Simon und ein paar anderen Jungen der Parallelklasse und ihren Mädchen auf das neue Jahr anzustoßen.

Silvesterparty

Cosmin

Moritz und Simon veranstalteten ihre Silvesterparty in der Gartenlaube von Simons Eltern. Sie lag in einer Kleingartenanlage am anderen Ufer der träge dahin fließenden Mulde. Max und Cosmin überquerten mit ihren Rädern eine nur für Fußgänger und Radfahrer zugängliche Brücke und folgten einem von vereinzelten Lampen beleuchteten Weg, der durch die Gartenanlage führte. Offenbar hatte das ungewöhnlich milde Wetter auch andere Leute zum Feiern in die Gärten gelockt. Cosmin zählte fünf Gärten, in denen Partys stiegen und mitunter auch Böller zündeten, ehe sie den von Simon in einer WhatsApp - Nachricht beschriebenen Garten mit der Nummer 32 erreichten.
Ein gepflasterte Weg führte zu einem mit Lichterketten geschmückten Blockhaus, aus dem ein mit dumpfen Musikrhythmen untermaltes Stimmengewirr drang. Vor dem Blockhaus parkten an die zehn Fahrräder, einige reihten sich auf dem Weg aneinander, andere lehnten an den Stämmen der Obstbäume.
Die Jungen stellten ihre Räder mit dazu und Max öffnete die Tür. Sie führte direkt in einen mit Kiefernholzmöbel und einem dreisitzigen Sofa eingerichteten Wohnraum. In einem kleinen Kaminofen tanzten Flammen über glühenden Holzscheiten.
Sechs Jungen und drei Mädchen saßen an einem langen, mit Flaschen und Gläsern voll gestellten Tisch und begrüßten sie mit „Hallo“ - Rufen oder einem Trommeln auf der Tischplatte. Abgesehen von einem Pärchen kannte Cosmin alle Anwesenden von Simons Geburtstagsrunde im Bierzelt des Weihnachtsmarktes. Er erwiderte die Begrüßung mit einem Klopfen auf die Tischplatte.
Simon, ein kräftig gebauter Bursche, in dessen dunkle Kurzhaarfrisur sich mehrere blonde Streifen mischten, erhob sich. „Max, Cosmin… toll, dass ihr hier seid. Rutscht mal etwas zusammen, Leute!“
Sein Freund Moritz, ein drahtiges Bürschlein mit einer Hornbrille, die ein bisschen an ein Fahrrad mit hellbraunen Rädern erinnerte, holte zwei Klappstühle, baute sie zwischen seinem und Simons Platz auf und winkte Max und Cosmin zu sich heran.
Max stellte zwei Flaschen Schampus auf den Tisch und nickte einen Gruß in die Runde. „Nennt mich Max, nicht Maxi. So heißt mein Meerschweinchen.“
Einige der Jugendlichen kicherten, andere schienen es Max abzunehmen, dass er nicht wie sein Meerschweinchen genannt werden wollte. Moritz zog Cosmin unterdessen neben sich auf einen der beiden Klappstühle. „Mann Cosmin, ich bin echt happy, euch zu sehen“, sagte er. „Und ich habe bestimmt tausend Fragen.“
Cosmin grinste.
Ich habe mindestens ebenso viele Fragen!
„Was wollt ihr trinken?“, fragte Simon, während sich Max auf den Klappstuhl neben Cosmin setzte.
Max warf Cosmin einen kurzen Blick zu. „Radler?“
Cosmin nickte. „Radler!“
Simon reichte beiden eine Flasche Radler und wandte sich an Max. „Lukas, Tim und Florian kennst du ja von den Hofpausen“, sagte er und deutete auf das Mädchen neben Lukas, eine Schwarze mit Rastalocken. „Luks Freundin Sara.“
Cosmin entging nicht, dass Sara nicht nur ihm wie schon vor drei Wochen im Bierzelt des Weihnachtsmarktes, sondern auch Max verstohlene Blicke zuwarf. Vielleicht rätselte sie, wer von beiden eher als Lukas’ Nachfolger in Frage kommen könnte. Auch das Mädchen neben Florian, einem Jungen mit einem bis auf ein kleines Pferdeschwänzchen ausrasierten Hinterkopf, schien sich im Moment mehr für Cosmin als für ihren Freund Florian zu interessieren. Simon vermied es, sie vorzustellen. Vor einigen Wochen waren Max und Cosmin nahe dran gewesen, wegen Maja miteinander Schluss zu machen, obwohl keiner der beiden ein Auge auf sie geworfen hatte.
Zuletzt deutete Simon auf das Pärchen an seiner rechten Seite. „Mein Cousin Hannes und Dora, seine Freundin. Hannes ging bis zur Zehnten auch in unsere Klasse, wohnt jetzt aber in Zerbst. Wir trainieren noch zusammen hier im Judoclub und stoßen heute auch auf seine bestandene Dan - Prüfung vor Weihnachten an.“
Cosmin bemerkte, dass Max aufhorchte. „Ihr seid im Judoclub?“
Hannes verpasste Simon einen kumpelhaften Hieb in die Rippen. „Ich hab den schwarzen Gürtel und trotzdem legst du mich übers Knie, Simmi!“ An Max gewandt fuhr er fort: „Jeder bei uns im Club hat schon von dir gehört, Max. Ich glaube nicht, dass bei uns jemand mit elf Idioten gleichzeitig fertig geworden wäre wie du damals im Stadtpark.“
Max zuckte mit der Schulter und warf Cosmin einen vielsagenden Blick zu. Ein Lächeln huschte über Cosmins Gesicht. An jenem Tag hatte ihre Freundschaft begonnen.
„Ich hatte einen guten Tag erwischt, Hannes“, sagte Max und fragte ihn etwas über die bestandene Dan - Prüfung.
Cosmin ahnte, dass sich das Gepräch von Max, Simon und Hannes jetzt erst einmal nur um Judogürtel und Würfe drehen würde und stieß mit Moritz auf Max’ Rückkehr nach Dessau an.
„Ich kann das mit dir und Max irgendwie immer noch nicht so richtig fassen… dass ihr auch Stiefbrüder seid. Tut es noch weh?“, sagte Moritz und deutete mit einem Kopfnicken auf Cosmins Bauch. Cosmin fiel auf, dass nun nicht nur an Moritz’ rechtem sondern auch am linkem Ohrläppchen ein Sternchen funkelte.
Er schüttelte leicht den Kopf. „Nee, das reicht nicht mal mehr für eine Krankschreibung.“
„Darf ich dich fragen, wie ihr raus gefunden habt, dass ihr Stiefbrüder seid. Und wie du Max in Berlin gefunden hast?“
„Warum nicht?“, erwiderte Cosmin und erzählte vom Anruf seiner Mutter, den Max angenommen und dabei gemerkt hatte, dass er mit der eigenen Stiefmutter sprach. Er beschrieb den Schock über Max’ anschließende Flucht zurück nach Berlin, berichtete von seiner Suche nach Max und wie er vor Leons Haus von zwei Kerlen überfallen und mit einem Messer verletzt worden war. Als er davon erzählte, wie ihn Max im Rollstuhl durch den Park des Krankenhauses geschoben hatte, leuchteten Moritz’ Augen auf.
„Ich würde mich von Simmi auch gerne mal im Rollstuhl durch die Gegend schieben lassen“, kicherte Moritz, aber sein Grinsen erstarb sofort wieder. „Oder nee, auf einen Messerstich hätte ich keinen Bock! Und dann wart ihr bei deiner Mutter und Max’ Vater?“
Moritz klappte die Kinnlade herunter, als er erfuhr, dass Max in Berlin eine Wohnung besaß. Und weil Max Angeberei nicht mochte, verschwieg Cosmin lieber, dass Max nicht nur der Eigentümer der Wohnung, sondern des kompletten Wohnhauses war. Cosmin warf durch den Vorhang aus schwarzen Zotteln, der ihm über die Stirn fiel, einen Blick in die Runde. Rechts neben ihm redeten Max, Simon und Hannes immer noch über ihren Kampfsport. Doch die anderen Jungen, aber auch Maja und Sara schienen eher an Cosmins Erzählung interessiert zu sein. Es gab freilich einige Fragen, deren Antworten er nicht vor allen Leuten ausbreiten wollte.
Er stieß Max an. „Ich geh’ ein bisschen frische Luft schnappen.“
Max begriff offenbar, dass sich Cosmin ungestört mit Moritz unterhalten wollte und nickte auch Moritz zu. „Alles klaro Cos-Mi. Mach dein Ding. Ich quatsch’ noch ein bisschen mit Simon und Hannes.“
Moritz erhob sich. „Und ich muss mal auf’n Topf.“
Doch statt die Außentoilette zu benutzen, hockte er sich zusammen mit Cosmin auf eine Gartenbank vor der Blockhütte. Eine Weile sahen sie zusammen weißen Schäfchenwolken zu, die an der Sichel des Mondes vorbei zogen.
„Ahnen eure Eltern, dass ihr… zusammen seid?“, fragte Moritz leise.
„Noch nicht“, erwiderte Cosmin und erzählte von seiner Sorge, dass sich seine Beziehung zu Max nicht ewig verheimlichen ließ, zumal sie zusammen in Berlin studieren und wohnen wollten. Er erwähnte auch seine Angst vor Max’ Onkel Leon, der bereits einen Verdacht geschöpft hatte.
„Wie ist es bei dir und Simmi? Wissen eure Eltern Bescheid?“
Moritz ließ die Schulter hängen und seufzte.
„Simmis Familie ist total locker. Ich gehöre fast schon mit dazu. Aber meine Eltern… sie glauben, Simmi hätte mich … verführt. So’n Schwachsinn! Ich war total scharf auf ihn! Er darf sich nicht bei mir zu Hause blicken lassen. Bestimmt sind sie so, weil ich ein Einzelkind bin und sie mal Großeltern werden wollen. Simmis Eltern sind schon Großeltern. Vielleicht sind sie deshalb so locker. Bis ich achtzehn wurde, musste ich immer spätestens um zehn zu Hause sein.“
„Du bist schon achtzehn?“, fragte Cosmin verblüfft. Moritz sah nicht älter aus als fünfzehn oder sechzehn.
„Bloß gut, bereits seit Oktober. Sonst müsste ich jetzt schon zu Hause sein.“
Cosmin fragte sich einmal mehr, ob sein Vater sich auch so verhalten würde wie Moritz’ Eltern. Er selber würde erst in fünf Monaten achtzehn werden. „Und habt ihr einen Plan, wie es bei euch nach dem Abi weiter geht?“
So, als würde der Mond jäh etwas stärker leuchten, hellte sich Moritz’ Miene wieder auf. „Wir wollen beide nach Leipzig an die HTWK. Simmi will Bauingenieur werden und ich will was mit Technik studieren.“
„Klingt gut. Viel Glück, Moritz.“
Eine Zeitlang hingen beide ihren Gedanken nach, doch Cosmin spürte, dass Moritz weitere Fragen auf der Zunge lagen.
Schließlich räusperte sich Moritz. „Maja hat Florian erzählt, dass ihr beide auch… äh, dass jeder von euch auch ein Mädchen hat. Ist da was dran?“
Cosmin tastete nach dem Verlobungsring in seiner Hosentasche. „Ein bisschen was. Max war lange mit einem Mädel aus Berlin zusammen, hat aber im Frühjahr Schluss gemacht.“
„Und du?“, bohrte Moritz weiter.
„Und ich… da gibt es noch ein kleines Problem“, erklärte Cosmin und fischte den Ring aus seiner Hose.
Moritz’ Augen weiteten sich. „Was ist das?“
„Mein Verlobungsring sozusagen“, seufzte Cosmin und erzählte, wie er in den Sommerferien in die Verlobung mit Camelia hinein geschlittert war und dass sein schwerreicher Möchtegern - Schwiegervater nebst Braut schon in knapp sechs Wochen hier anrücken würde.
„Weiß Max davon?“
Cosmin nickte. „Wir verduften in den Winterferien zusammen nach Berlin.“
„Ich weiß nicht, hoffentlich irre ich mich, Cosmin…“ Moritz wurstelte in seiner ohnehin zerwurstelten Frisur herum. „Aber die Sache mit deiner Camelia klingt irgendwie nach neuem Ärger.“

Das alte Jahr endet

Max

Max hatte vor allem Cosmin zuliebe zugestimmt, zu Simons Silvesterparty zu fahren. Doch jetzt genoss er die Unterhaltung mit Simon und Hannes, auch wenn einige Fragen, die er eigentlich Simon hatte stellen wollen, vorerst unbeantwortet bleiben würden. Cosmin und Moritz verbrachten mehr als eine halbe Stunde zusammen im Freien. Max hoffte, dass Cosmin etwas darüber erfahren würde, wie Simon und Moritz mit ihrer Beziehung klar kamen und wie Eltern und Geschwister der beiden darauf reagierten. Zumindest für Simons Cousin Hannes schien diese Beziehung kein Problem zu sein.
„Hey Ritzi, hat aber lange gedauert…“, grinste Simon, als Moritz und Cosmin auf ihre Plätze zurückkehrten. „Was hältst du davon, wenn wir einmal in der Woche zusammen mit Max und Cosmin trainieren?“
Er wandte sich an Cosmin. „Falls das okay für dich ist, Cosmin.“
Cosmin knuffte Max in die Seite. „Ich bin dir wohl nicht mehr gut genug?“
Einen Moment überlegte Max, ob sich Cosmin, der ihn bislang auch als Sparringspartner beim Kampfsporttraining unterstützt hatte, vielleicht wirklich übergangen fühlte.
"Cos-Mi, ich… "
„Hey, das war ein Scherz, okay?“, sagte Cosmin und tätschelte Max’ Arm. „Wir brauchen beide mal etwas Abwechslung… beim Training.“
„Mir geht’s genauso!“, kicherte Moritz und Simon beugte nach hinten und versuchte, hinter Max’ und Cosmins Rücken Moritz’ Ohr zu erwischen. „Das habe ich gehört, Ritzi.“
Kurz nach elf klingelte Cosmins Handy. Es war nicht das erste Handy, das bei dieser Silvesterparty bimmelte. Vermutlich hätte sich nicht einmal Max gefragt, wer am anderen Ende der Leitung sein könne. Doch Cosmin starrte plötzlich sein Handy an, als könne es wie eine entsicherte Granate in die Luft fliegen.
„Onkel Radu!“, stöhnte er, fischte den Ring aus seiner Tasche und streifte ihn hastig über den Mittelfinger der linken Hand. Dann stolperte er aus dem Raum. Sämtliche Gespräche waren verstummt und zehn Augenpaare verfolgten, wie sich hinter Cosmin die Tür schloss.
Tim, ein blonder Lockenkopf, fand als erster seine Sprache wieder. „Was ist mit Cosmin? Wieso steckt der sich zum Telefonieren einen Ring an den Finger?“
Max bemerkte, dass nicht nur Tim Fragezeichen in den Augen hatte, sondern dass vor allem die beiden Mädchen auf der anderen Seite des Tisches an seinen Lippen hingen und auf eine Antwort warteten.
„Seine Verlobte, oder?“, fragte Moritz.
„So ungefähr, ich glaub’, sein künftiger Schwiegervater!“, schnaubte Max. Der Gedanke daran, dass Cosmin wie ein Fisch an der Angel einer verdammt hübschen Braut und eines schwerreichen Möchtegern - Schwiegervaters zappelte, drohte ihm den Verstand zu rauben. Er wandte sich zum ersten Mal an diesem Abend an Maja. „Ich hab’s dir doch geflüstert, eine Prinzessin aus Rumänien hat sich diesen Bengel gekrallt.“
Maja zog ein Gesicht, als würde sie versuchen, eine knifflige Matheaufgabe zu lösen. Vermutlich hatte sie angenommen, dass Max und Cosmin ein Pärchen waren und fragte sich gerade, an wen Cosmin eigentlich vergeben war.
„Er ist verlobt?“, wollte nun auch Lukas’ Freundin Sara wissen.
Max gab sich alle Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Offenbar wurde die Liste mit Cosmins Verehrerinnen immer länger.
Dass dieser stille Bursche bereits verlobt ist, hättest du wohl nicht erwartet, Schätzchen, oder?
Bleib bei deinem Lukas!
Max zuckte mit der Schulter. „Nicht mehr lange. Wenn es nach der Süßen geht, ist er bald schon verheiratet!“
Es sei denn, ich schaffe es irgendwie, ihn aus diesem Schlamassel zu ziehen.
Erst eine halbe Stunde später kehrte Cosmin zurück und schlurfte auf seinen Platz, als hätte er ein exzessives Krafttraining hinter sich. Wieder waren sämtliche Gespräche verstummt und es schien, als würde jeder im Raum auf eine Erklärung warten. Offenbar bemerkte Cosmin die im Raum schwebenden Fragezeichen. Er räusperte sich.
„In Rumänien ist jetzt schon Neujahr“, sagte er, ohne auch nur anzudeuten, weshalb er nun den Ring wieder in der Hosentasche verschwinden ließ.
Max fand, dass es an der Zeit war, all die Fragezeichen hinweg zu fegen.
„Weiter machen, Leute!“, rief er und langsam lebte das Stimmengewirr im Raum wieder auf.

„Am Freitag wird die Mutter meines Vaters beerdigt“, raunte Cosmin Max nach einer Weile zu. „Er lässt sein Flugticket verfallen und will Anfang nächster Woche mit dem Bus zurückkommen.“
Moritz hatte offensichtlich zugehört. „Deine Oma ist gestorben? Tut mir Leid, Cosmin.“
„Danke Moritz. Aber naja, ich kannte sie kaum“, erwiderte Cosmin.
Max deutete auf die Hosentasche, in der Cosmins Verlobungsring steckte. „Und dein Onkel Radu und seine Camelia?“
Cosmin seufzte leise. „Maxi, ohne dich wüsste ich nicht, was ich machen soll. Ich wünschte, ich wäre letzten Sommer hier geblieben.“
Max stupste unter dem Tisch mit seinem Bein gegen Cosmins Knie. „Bleib locker, Cos-Mi, die Hochzeit findet ohne dich statt.“
Doch zugleich fragte er sich, ob Cosmin im Februar wirklich den Mut aufbringen würde, die Sache mit Camelia zu beenden. Er fühlte einen leisen Stich in der Brust bei dem Gedanken, was Cosmin und Camelia vielleicht anstellten, wenn beide allein in Cosmins Zimmer waren.
Würde Cosmin Küsse mit einem Mädchen vielleicht doch schöner finden als die Knutscherei mit ihm?
Kurz vor zwölf Uhr strömten die Jugendlichen hinaus in den Garten. Tim und Florian stellten ein paar leere Flaschen auf, aus denen Silvesterraketen ihre kurze Reise in den nächtlichen Himmel antreten sollten.
Das Wetterleuchten eines Feuerwerkes flammte am Himmel über der Stadt auf.
Simon verteilte Becher für den Sekt und Moritz begann die letzten Sekunden des Jahres rückwärts zu zählen. „Noch sechzig Sekunden… noch fünfzig…“
Bei „Null“ ließen Hannes, Max und Lukas die Sektkorken knallen, während Cosmin Tim und Florian dabei half, die Silvesterraketen zu zünden
Auch aus einigen der anderen Gärten stiegen Raketen in den Himmel und rissen für ein paar Augenblicke die Gartenanlage aus der Dunkelheit.
Die Mädchen und Jungen stießen miteinander an und danach tauschten vier Pärchen Wünsche und Küsse aus. Tim stand etwas abseits und schien sich an einer halbvollen Sektflasche festzuhalten. Cosmin warf verstohlene Blicke auf Simon und Moritz, einer hielt den anderen in den Armen. Sie flüsterten sich irgend etwas zu. Dann wanderte Cosmin mit den Augen weiter zu Max, bis sich ihre Blicke ineinander verfingen. Max wünschte sich nichts sehnlicher, als diesen Jungen an sich zu ziehen. Aber vor all den anderen?
Max schlenderte zu Cosmin und erhob seinen mit Sekt gefüllten Becher. „Darauf, dass unsere Wünsche in Erfüllung gehen!“
Cosmin lächelte unsicher. Vielleicht kam es auch ihm etwas seltsam vor, dass sich ringsum die Pärchen zärtlich umarmten und küssten, während sie selber nur mit Pappbechern anstießen?
Cosmins Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen. „Vor allem die Wünsche, die ich versteckt habe“, sagte er und es klang fast so, als hätte er Max ein Geheimnis anvertraut. Freilich verstand Max nicht, was Cosmin mit versteckten Wünschen meinte. All die in einer Schatulle aufbewahrten Wünsche, die sie am Nachmittag am Ufer der Mulde vergraben hatten?
Das Glühen in Cosmins Augen schwächte sich etwas ab. Er wandte sich zu Tim um. „Auch dir viel Glück, Tim.“
Tim war offensichtlich froh, dass Cosmin ihn angesprochen hatte.
„Kann’s gebrauchen. Für euch dasselbe“, erwiderte er und füllte in allen drei Bechern Schampus aus seiner Flasche nach.
Max prostete ihm ebenfalls zu. Doch zugleich fragte er sich, was bei Tim schiefgelaufen war. Wieso stand er hier allein herum? Zwar sah man Tims Gesicht noch an, dass er in der Pubertät mit Akne zu kämpfen gehabt hatte, aber dennoch war Tim ein gutaussehender Kerl. Max kannte keinen anderen Jungen, dessen Haupt von solch silbrig blonden Ringellöckchen gekrönt wurde. Das Klingeln des Handys beendete sein Kopfzerbrechen darüber, weshalb Tim keine Freundin hatte und ob er vielleicht gar nicht auf Mädchen stand.
Ein leiser Schreck zuckte durch seinen Brustkorb, als er sah, wer ihn mit einem Videoanruf zu erreichen suchte: „Bruderherz Leon“.
Sollte ich mich nicht freuen, wenn er anruft?
Max bemerkte, dass Cosmin zurückwich, als wolle er dem Sichtbereich der Handykamera entkommen. Offenbar ahnte er, wer ihn gerade anklingelte.
Max seufzte leise.
Wie schön wäre es, wenn er Leon bei der Sache mit Cosmin hinter sich wüsste.
Doch diesen Wunsch hatte er vergessen aufzuschreiben.

Besser kann ein neues Jahr gar nicht beginnen

Max

„Hi Onkelchen!“, begrüßte Max seinen Onkel und hielt das Handy so, dass Leon die vier Pärchen sehen konnte, aber nicht Cosmin und Tim.
„Wo treibst du dich 'rum, Kleiner? Silvesterparty?“, fragte Leon und ließ seinen Blick umher schweifen.
"Ja, im Garten von einem Kumpel. Hinter mir sind die, die jemanden zum 'rum knutschen haben und wir drei… " Max wendete ganz kurz das Handy, sodass Leon einen Blick auf Cosmin und Tim werfen konnte, „… wir sind solo hier.“
„Maxi, guckst du manchmal in den Spiegel?“, schnaubte sein Onkel. „Du müsstest an jedem Finger eine haben! Aber das klappt nicht, weil du lieber deinem komischen Stiefbruder hinterher glotzt!“
„Ich glotze ihm nicht hinterher!“, brauste Max auf.
„Okay, okay, ich wollte dir eigentlich nur alles Gute im neuen Jahr wünschen. Themawechsel. Dein Training… in nicht mal sechs Monaten will dieser Chinese Tang Hackfleisch aus dir machen und deinen Sparringspartner darfst du noch nicht aufs Kreuz legen. Wie… ?“
„Ich habe hier mit jemandem gequatscht, der vor kurzem die erste Dan - Prüfung im Judo bestanden hat“, fiel ihm Max ins Wort. „Er will ein oder zweimal in der Woche mit mir trainieren.“ Das war zwar etwas gemogelt, aber er nahm an, dass sich auch Simon schon bald mit einem schwarzen Gürtel würde schmücken können.
„Das klingt gut, Champ. Bei so einem Kerl kannst du auch sicher sein, dass er nicht mit anderen Kerlen 'rum machen will.“
„Ach so?“ Max drehte das Handy so, dass Simon und Moritz hinter ihm ins Sichtfeld der Handykamera gerieten. „Er knutscht gerade seinen Freund, mit dem er schon zwei Jahre zusammen ist.“
Leon jaulte leise auf und griff sich an die Stirn. „Gibt es in dem Nest auch ein paar normale Leute?“
„Reingelegt Onkelchen“, sagte Max und ließ nun Simons Cousin Hannes und dessen Freundin Dora in Leons Sichtfeld gleiten. „Es ist dieser Mann hier.“ Und mit gedämpfter Stimme ergänzte er: „Die Kleine neben ihm hat sogar echte Titten. Wie läuft’s bei dir? Bist du noch in denselben festen Händen?“
Soweit Max wusste, war Leons neueste Eroberung eine Vietnamesin, die an einer Berliner Uni Medizin studierte. Leons Gesicht hellte sich wieder etwas auf.
„Ich könnte mich an sie gewöhnen, Maxi. Übrigens hat sie in Vietnam eine süße Schwester in deinem Alter.“
„Das hast du mir schon mal erzählt.“
Leon seufzte hörbar. „Maxi, ich meine es ernst. Du solltest endlich wieder nach einer Ausschau halten, die so scharf aussieht wie eine deiner Verflossenen.“
„Leon…“
„Okay, Themawechsel. Ein paar Tipps, wie du mit dem Judoka trainieren könntest…“
Anders als bei Leons vorangegangenen Ratschlägen lauschte Max, ohne insgeheim die Augen zu verdrehen oder den Onkel genervt zu unterbrechen. Zehn Minuten später verabschiedeten sie sich voneinander. Inzwischen waren alle anderen Jugendlichen in den Bungalow zurückgekehrt.
Max betrat den Bungalow. Der reichlich geflossene Sekt zeigte zumindest bei der Lautstärke der Gespräche Wirkung. Jetzt saßen die drei Mädchen zusammen und ihr Gekicher ging im lautstarken Disput der Jungen unter. Cosmin und Moritz saßen etwas abseits. Ihr Gespräch verstummte, als sich Max zu ihnen gesellte. Max bemerkte, dass in Cosmins Augen Trübsinn schimmerte, der nicht so recht zur ausgelassenen Stimmung der anderen passen wollte.
Moritz tätschelte Cosmins Schulter und rückte mit dem Stuhl dichter an Simon heran.
„Was ist los, Cos-Mi?“ Max unterdrückte den Drang, Cosmin in seine Arme zu ziehen.
„Du sollst endlich aufhören, mir hinterher zu glotzen, hm?“
„Das kann er vergessen!“, zischte Max zurück. Eine tiefe Falte zerfurchte Cosmins Stirn.
„Maxi, er wird es nicht zulassen, dass wir nach der Schule zusammen bei dir wohnen.“
„Schon vergessen? Das ist meine Wohnung!“, brauste Max so laut auf, dass für einen Moment die Gespräche der anderen verstummten.
„Sorry Leute, das musste ich jetzt mal los werden. Macht weiter!“, rief Max den anderen zu und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Und nach der Schule ist es auch deine Wohnung, Cos-Mi.“
„Es ist deine Wohnung, aber du bist sein kleiner Liebling und er ist dein großer Bruder.“
Cosmin schien noch etwas sagen zu wollen, griff jedoch nach seinem Pappbecher und starrte hinein, als würde darin etwas über seine Zukunft geschrieben stehen.
Max schenkte sich etwas Sekt nach, doch statt ihn zu trinken, starrte nun auch er auf die Luftbläschen, die aus dem Sekt aufstiegen. Am Vormittag hatte er fast drei Stunden auf dem Dachboden seiner Großmutter auf Boxsäcke eingetreten oder eingeschlagen, sich am Reck und am Barren verausgabt und an den Kletterwänden herum gehangelt. Anders als bei den anderen Jungen wirkte der Alkohol bei ihm wie eine Schlaftablette.
„Maxi?“
Max riss die Augen auf, die sich unbemerkt geschlossen hatten.
„Hm?“
Die Sorgenfalte auf Cosmins Stirn war verschwunden. Nun verzauberte ein Lächeln sein Gesicht. „Du bist eingepennt!“
Er wandte sich an Moritz und Simon. „Ich hab’s euch ja gesagt, Max hält höchstens bis Mitternacht durch.“
„Max könnte auch hier pennen“, sagte Simon, doch Max war bereits vom Stuhl aufgestanden. „Ich penne lieber im eigenen Bett“, erwiderte er und hoffte, dass ihm die anderen diese Lüge abkauften. Am liebsten schlief er dort, wo auch Cosmin schlief.
Simon und Moritz erhoben sich ebenfalls.
„Bleibt es dabei, sehen wir uns Freitag um vier beim Training?“, fragte Simon und Max stupste ihm in die Seite. „Klar! Und danach ziehen wir uns auf deinen Achtzehnten 'ne Pizza rein.“

Cosmin

Minuten später ließen sie die Kleingartenanlage hinter sich und erreichten die Brücke über die Mulde. Max bremste ab, schwang sich vom Rad und lehnte es gegen das Brückengeländer.
Cosmin glitt ebenfalls vom Rad und nickte zu den Lichtern der Stadt, die den Himmel über dem anderen Flussufer erhellten. „Eigentlich wohne ich dort drüben“, sagte er, doch als er Max’ Blick bemerkte, breitete sich ein Kribbeln in seinen Lenden aus. Er lehnte sein Fahrrad nun auch an das Geländer, ohne seinen Blick von Max abzuwenden.
So, als würde einer von der Schwerkraft des anderen angezogen, gingen sie aufeinander zu. Max umfasste mit beiden Händen Cosmins Gesicht. „Cos-Mi“ hauchte er und noch mehr als sonst klang das „Cos-Mi“ wie eine zarte Liebkosung, wie ein in zwei Silben eingeschlossener Kuss. Cosmin umfasste mit der linken Hand Max’ Hüfte, mit der rechten Hand strich er samtweiche, blonde Haarsträhnen aus Max’ Stirn.
„Wir sind in fünf Minuten zu Hause, Maxi“, sagte er und zog mit der Linken Max noch etwas fester an sich.
„Ich kann’s kaum erwarten“, erwiderte Max und erstickte Cosmins Antwort mit einem Kuss. Eine Minute lang ließen sie ihre Zungen miteinander spielen, dann lösten sich ihre Lippen voneinander.
„Cos-Mi, einen wichtigen Wunsch habe ich vergessen aufzuschreiben. Und den wollte ich los werden, bevor wir wieder drüben sind“, sagte Max und nickte zum anderen Flussufer.
„Welchen?“
„Ich möchte, dass wir uns nicht auseinander bringen lassen, egal ob das Leon versucht. Oder deine Camelia und ihr Alter. Oder dein Alter, oder meiner. Ich werde dir immer hinterher glotzen…“
„Das trifft sich gut“, erwiderte Cosmin und küsste Max’ Lippen. „Weil… ich werde dir auch immer hinterher glotzen. Ähm…Maxi?“
Cosmin zog Max noch etwas fester in seine Arme und spürte an seinen Lenden Max’ Erregung.
„Hm…?“
„Ich habe auch einen Wunsch, aber den erfährst du, wenn wir bei mir zu Hause sind.“

Max

„Cos-Mi, du guckst mich an, als wäre ich dein Sonntagsbraten.“
In der Wohnung der Munteanus streiften sich die Jungen die Schuhe von den Füßen und hängten ihre Jacken an die Flurgarderobe. Max war unfähig, dabei den Blick von Cosmins schwarzen Augen zu lösen. Und er wollte es auch gar nicht. Die Glut in diesen schwarzen Augen schien ein Feuer in ihm zu entfachen. Seine Müdigkeit hatte er offenbar in Simons Gartenlaube zurück gelassen.
ax zog Cosmin in seine Arme und spürte, dass auch in Cosmins Lenden ein Feuer loderte.
„Maxi…?“
Max spürte heiße Lippen, die mal an seinem Hals entlang wischten und mal an ihm saugten.
„Hm…?“, machte er und bemerkte selber, dass es sich wie ein Stöhnen anhörte.
„Auch wenn du mein Sonntagsbraten bist und heute erst Donnerstag ist… Darf ich dich jetzt schon fressen?“
„Los! Friss mich!“, japste Max und wie auf ein Kommando zogen sie sich gegenseitig zur Couch in Cosmins Zimmer. Noch ehe sie die Couch erreichten, landeten ihre Hoodies und Unterhemden auf dem Fußboden.
Sie zogen die Couch aus.
Max packte Cosmins Hüften, ließ sich auf den Rücken fallen und zog Cosmin dabei mit sich auf die Couch. Während ihre Zungen im Mund des anderen jeden noch so verborgenen Winkel erkundeten, rieben sich die Schöße der Jungen zuckend aneinander, als würden sie unter Strom stehen.
Max öffnete den Reißverschluss an Cosmins Jeans, gleichzeitig fummelte Cosmins rechte Hand an den Knöpfen auf der Vorderseite von Max’ Jeans. Und endlich glitt sie dorthin, wo Max Cosmins Hand haben wollte.
Er fühlte, dass die Erregung wie eine Sturzflut jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf spülte. Max zerrte Cosmin die Jeans samt Slip über die Pobacken und zum ersten Mal seit zwei Monaten strich er mit den Fingern über die Öffnung zwischen diesen Backen.
Augenblicklich erstarrten Cosmins Finger in Max’ Schoß.
„Maxi… nicht“, keuchte Cosmin.
Ein Teil des Verstandes kehrte in Max’ Kopf zurück, zusammen mit einem Anflug von Enttäuschung. Sie hatten erst einmal Analverkehr gehabt. Mit dem Ergebnis, dass anschließend der Gang aufs Klo für sie beide tagelang eine Tortur gewesen war.
„Jaja, ich weiß… du musst kacken“, seufzte Max. Seine Finger traten widerwillig den Rückzug an.
„Maxi…“
Cosmin streifte ihm Jeans und Boxershorts von den Beinen, wälzte ihn auf den Rücken und begrub ihn unter sich.
„Cos-Mi, pass auf deine Wunde auf“, keuchte Max, als Cosmin begann, mit den Lippen zunächst seine Brust und dann den Bauch mit saugenden Küssen zu überziehen. Als Cosmins Lippen die Stelle erreichten, an der Max am empfindlichsten war, pulverisierte die aufschäumende Wollust in Max’ Lenden jeglichen Anflug der Enttäuschung, die er eben noch verspürt hatte. Er griff stöhnend in Cosmins Zotteln und fand, dass ein Jahr gar nicht besser beginnen konnte…

Macht ihr auch… Sex?

Max

„Oh Mann, das ist ein Fitnesscenter nur für dich?“ Simon schaute sich mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen um. Er durchwanderte neben Max und gefolgt von Cosmin und Moritz den geräumigen Dachboden von Oma Lisas Haus.
„Die Geräte hier…“, Max wischte mit der Hand durch die Luft, " … sie sind zum Teil noch aus der Zeit, als meine Mam und ihr Bruder zur Schule gingen. Sie waren Geräteturner, so wie jetzt meine Cousine Hazel. Sie trainiert auch hier, wenn sie in Dessau ist. Nur Laufband, Kraftstation und Stepper, die sind neu."
Nach dem Bereich mit den Turn- und Fitnessgeräten erreichten sie in der Mitte des Dachbodens eine Stelle, an der mehrere große und zwei kleinere Boxsäcke von der Decke herunter hingen.
Simon verpasste einem der Boxsäcke einen Hieb und rieb sich gleich darauf die Faust. „Was ist da drin?“
Max grinste und tätschelte Simons Schulter. „Du hast den Sack mit Sand erwischt!“
„Wozu brauchst du sechs Boxsäcke“, fragte Moritz.
„Ich zeig’s dir, wenn wir trainieren“, erwiderte Max und wollte den hinteren Bereich des Dachbodens ansteuern, in dem nicht nur die mit Holzplatten verkleideten Dachschrägen und der Giebel mit kunterbunten Klettergriffen übersät waren, sondern auch die Decke.
„Was soll das hier darstellen?“
Max wandte sich um und sah, dass Moritz versuchte, einen Sinn in den auf allen Boxsäcken gemalten Kritzeleien zu finden. „War das mal so was wie ein Gesicht?“
„Erraten, das war mal mein Gesicht“, antwortete Cosmin und warf Max einen Blick zu. „Ich will nicht wissen, wie oft er mir die blöde Fresse eingetreten oder eingeschlagen hat.“
Max war mit einem Satz bei Cosmin und tat etwas, das er bisher noch nie im Beisein anderer gewagt hatte. Er nahm Cosmin in die Arme und küsste dessen Wange. „Ich dachte immer, mein Stiefbruder hat Schweißfüße, stinkt aus dem Maul und ist hässlich wie ein Warzenfrosch.“
Cosmin kicherte leise. „Laubfrosch hätte besser gepasst, ich habe keine Warzen.“
„Und deine Schnute stinkt nicht, sie ist zum Anbeißen“, grinste Max und wandte sich an Simon und Moritz, ohne sich von Cosmin zu lösen. Zumal nun auch Simon einen Arm um Moritz’ Schulter gelegt hatte. „Dabei ist mein Stiefbrüderchen für mich der liebste und schönste Mensch. Deshalb also hab ich die Gesichter übermalt. Sonst könnte ich nicht mehr rein treten.“
Simon trat an den mit Sand gefüllten Boxsack heran. Max vermutete zunächst, dass er sich die überkritzelte Fratze darauf etwas genauer anschauen wollte. Doch stattdessen schob Simon Moritz etwas beiseite.
„Rein treten?“
Er nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang den Boxsack an.
"Simon nicht, du musst… ", rief Max, doch Simons rechter Fuß krachte bereits in den Sandsack.
„Oh Shit…“, jaulte Simon auf und hüpfte auf einem Bein herum, während er den rechten Fuß festhielt. Die anderen Jungen sprangen zu ihm, um ihn zu stützen.
„Simmi, was ist los?“, rief Moritz erschrocken und griff nach Simons rechten Fuß.
„Verrenkt?“, fragte Max und wollte sich Simons Arm um die Schulter legen, doch Simon winkte ab. „Alles okay, Leute“, sagte er und setzte den rechten Fuß auf. Er humpelte ein paar Schritte und kehrte im gewohnten Gang zu den anderen zurück.
Beinahe ehrfurchtsvoll wanderte sein Blick über den Sandsack. „Schwein gehabt. Aber wie geht das, Max?“
„Übung, mein Onkel Leon hat so was schon mit mir geübt, da hatte ich noch einen Nuckel im Mund.“
Max entging nicht, dass Cosmin bei der Erwähnung Leons das Gesicht verzog, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen.
„Komm schon Max, zeig’s mir“, bat Simon.
Max zuckte mit der Schulter. Er war nicht darauf aus, Simon mit irgendwelchen Kunststücken zu beeindrucken. Andererseits hoffte er, von Simon Techniken zu lernen, die er selber noch nicht kannte.
Max schlenkerte kurz mit den Beinen, holte etwas Anlauf und dann schlug sein rechter Fuß derart heftig in das überkritzelte Gesicht ein, dass der Boxsack gegen seinen zwei Meter entfernt hängenden Nachbarn knallte.
Simon bracht nur ein „Wow!“ über die Lippen, während Moritz dem benachbarten Boxsack ausweichen musste.
„Trainierst du auch für Wettkämpfe?“, fragte Simon, als sie kurz darauf den Umkleidebereich mit einer Bank und zwei Kleiderschränken erreichten. Vor Max’ innerem Auge fügten sich Erinnerungen wie Puzzlestücke zu einem Film zusammen. Er sah den Chinesen Tang, der ihn vor zweieinhalb Monaten nach blutigen Siegen bei einem „Pferderennen“ genannten Turnier am liebsten sofort in den Ring gezerrt hätte. Dabei war die Teilnahme an solchen Turnieren, bei denen man wie bei Pferderennen auf seinen Favoriten setzen und eine Stange Geld gewinnen oder auch verlieren konnte, erst ab achtzehn erlaubt. Max wischte sich die Haare aus der Stirn. Hätte er Tangs Herausforderung vielleicht doch zurückweisen sollen?
„Im Moment geht’s bei mir nur darum, dass mich so’n Chinese im Juni nicht in meine Einzelteile zerlegt“, antwortete Max und erzählte, wie der Chinese unter anderem einen zweifachen sächsischen Landesmeister beim letzten „Pferderennen“ schon in den ersten Sekunden des Kampfes blutig geschlagen hatte.
Simon setzte sich auf die Bank und begann, aus seinen Straßensachen zu steigen. „Ich weiß nicht… dein Sport scheint ziemlich brutal zu sein.“
„Und dieser Tang genießt es, Leute blutig zu schlagen“, warf Cosmin ein.
Simon blickte überrascht auf. „Du warst auch dort?“
„Nee, ich habe den Livestream auf dem Computer gesehen.“
„Anschauen würde ich es mir vielleicht auch mal“, sagte Simon.„Aber in den Ring steigen? Nee! Dieses Pferderennen erinnert ein bisschen an einen alten Film mit Van Damme, Bloodsport heißt der.“
Max hockte sich neben Simon auf die Bank. „Von Van Damme hängen in meinem Berliner Club bestimmt zehn Poster an den Wänden. Ich kenne Bloodsport. Tang ist genauso nett wie der koreanische Killer in diesem Film.“
„Tolle Gegner! Womit fangen wir an, Max?“, fragte Simon und stieg in seine Trainingshose.
Max deutete auf die dicken Matten, die den kompletten Fußboden der Kletterecke bedeckten. „Dort können wir uns gegenseitig aufs Kreuz legen.“ Er entnahm einem Schrank zwei Gesichtsschützer sowie zwei Paare Boxhandschuhe, die Finger und Handflächen frei ließen. „Das sind Handschuhe, wie wir sie beim Training verwenden. Damit kann man zufassen und auch mal die Nase treffen, ohne sie platt zu machen“, erklärte Max und reichte Simon ein Paar. „Zeig mir die Würfe für den schwarzen Gürtel und dann kombinieren wir sie mit Tritten und Schlägen.“
Simon wälzte unschlüssig das Paar Handschuhe in den Händen. „Wenn du so zu trittst wie eben bei dem Sandsack, lande ich im Rollstuhl.“
„Keine Bange, erstens sind wir nicht im Wettkampf und zweitens zeige ich dir, wie man Tritte abwehrt“, erwiderte Max und wandte sich zu Cosmin und Moritz um. Die beiden Jungen wanderten inzwischen unter einer mit Klettergriffen bestückten Zwischendecke entlang und Cosmin versuchte Moritz offenbar davon zu überzeugen, dass man auch an solchen Griffen hangeln konnte.
„Will Moritz mal probieren?“, fragte Max und deutete auf die Giebelwand.
„Ich glaub’, klettern ist nicht mein Ding“, erwiderte Moritz und Cosmin ergänzte mit einem Kopfnicken zur Umkleidebank: „Wir sind eure Zuschauer heute.“

Cosmin

Während Cosmin zusammen mit Moritz an Max’ Kletterwänden entlang schlenderte, fühlte er beim Anblick der bunten Klettergriffe ein Kribbeln in den Fingern. Die Stichverletzung schmerzte nicht mehr und hatte sich geschlossen. Cosmin wagte es jedoch noch nicht, mit dem Kletter- oder Fitnesstraining zu beginnen.
Nach ihrem kleinen Spaziergang machten sie es sich auf der Umkleidebank bequem, um Max und Simon bei ihren Wurfübungen zu beobachten. Max schien die Rauferei mit Simon zu genießen.
Cosmin seufzte leise. Ihm fiel jäh auf, wie sehr er das gemeinsame Kampftraining mit Max vermisste, wenngleich er dabei oft recht unsanft auf dem Hintern gelandet war. Er vermisste ihr gemeinsames Krafttraining, er vermisste ebenso ihre Kletterei in der Kletterhalle. Am Dienstag würde sein Hausarzt die Fäden ziehen und Cosmin hoffte, dass er danach wieder mit dem Training würde beginnen können.
Cosmin wusste nicht allzu viel vom Kampfsport. Doch es war offensichtlich, dass Max mit seinem Kampfstil, einer Mischung aus Kickboxen, Judo und Karate, Simon haushoch überlegen war. Nur wenn Max und Simon lediglich Judogriffe trainierten, gelang es Simon hin und wieder, Max am Boden festzunageln. Vielleicht wäre ihm nicht einmal das gelungen, hätte Max sich nicht schon am Vormittag bei seinem alltäglichen, etwa zweistündigen Krafttraining verausgabt.
Nach einiger Zeit begann Cosmins Interesse für die Rauferei der beiden Jungen zu erlahmen und Moritz schien es ebenso zu gehen. Cosmin bemerkte, dass Moritz hinter vorgehaltener Hand gähnte.
„Moritz, kann ich dich was fragen?“
Moritz zuckte mit der Schulter. „Kommt auf die Frage an.“
„Macht ihr miteinander auch… äh Sex?“
Cosmin sah, dass sich Moritz versteifte und fügte hastig hinzu: „Manchmal denke ich, dass das bei uns nicht normal ist. Max und ich, immer wenn wir allein zusammen sind… denken wir an so etwas.“
Moritz entspannte sich. „Also ich finde das total normal, Cosmin“, kicherte er. „Ich will lieber nicht zu viel rum plappern, weil mir Simmi sonst die Löffel lang zieht. Du weißt ja jetzt, wo Simmis Eltern ihren Garten haben. Wenn es nicht so kalt ist, fahren wir ein oder zweimal in der Woche nach der Schule hin, da stört uns keiner.“
So einen Garten hätte ich auch gerne, grinste Cosmin in sich hinein. Zumal schon in ein paar Tagen sein Vater aus Rumänien zurückkehren würde. Danach würde es für ihn und Max schwierig werden, diesen beinahe ständig präsenten Hunger aufeinander zu stillen.
„Erzähl das aber nicht weiter, muss nicht jeder wissen, was wir da machen“, zischte ihm Moritz zu.
„Geht klar“, erwiderte Cosmin, doch seine Gedanken drifteten ab in die Gartenlaube, in der sie zwei Tage zuvor Silvester gefeiert hatten. Er sah sich mit Max nach der Schule in der Laube dasselbe machen, was Simon und Moritz dort ein oder zweimal wöchentlich miteinander anstellten und fühlte, dass sich ein warmes Kribbeln in seinen Lenden ausbreitete.
Max’ Großmutter betrat den Dachboden und hastig wischte Cosmin das Bild der Gartenlaube aus seinem Kopf.
Sie trug eine Schüssel, auf der sich Mandarinen - und Ananasstücke, Weintrauben und andere Früchte häuften. Sie schaute mehrere Sekunden lang zu, wie sich Max und Simon gegenseitig aufs Kreuz legten und schüttelte lächelnd den Kopf. Dann trat sie an die Umkleidebank heran. Einmal mehr verglich Cosmin Max’ Großmutter mit der nun verstorbenen Mutter seines Vaters. Die eigene Oma war ein gebeugtes, zahnloses Mütterchen gewesen, während Oma Lisa aussah, als wäre sie dem Cover eines Modemagazins entstiegen. Zudem glänzte sie mit einer Figur, als würde auch sie regelmäßig auf ihrem Dachboden trainieren.
„Cosmin, ich habe ein paar Vitamine für euch. Sag deinem verrückten Bruder, dass er mal eine Pause machen soll.“
Sie stellte die Schüssel zwischen Moritz und Cosmin ab.
„Danke, Tante Lisa. Ich werd’s ihm sagen“, erwiderte Cosmin. Sie nickte Moritz zu und verließ den Dachboden.
„Mann, ist die cool!“, sagte Moritz und schnappte sich eine Handvoll von den Weintrauben.
„Ja, das ist sie.“
Aber Cosmin fragte sich auch, ob sie so cool bleiben würde, wenn sie erfuhr, was wirklich zwischen ihm und Max lief.

Hat du Angst vor Plüschkatzen?

Cosmin

Nach seinem einstündigen Training mit Simon lud Max die anderen Jungen in ein Fastfood - Restaurant ein. Die Runde hätte Cosmins Taschengeld für einen Monat verschlungen, doch Max ließ sich von den gepfefferten Preisen nicht abschrecken. Beim letzten „Pferderennen“ im Oktober hatte er einen guten Riecher gehabt und auf den späteren Sieger, den Chinesen Tang gesetzt. Von den über 3000 Euro Wettgewinn war immer noch weit mehr als die Hälfte übrig.
Nach dem sie ihre Bäuche mit Pizza gefüllt hatten, verabschiedeten sich die Jungen vor dem Restaurant voneinander.
„Cosmin, ist es okay für dich, wenn ich dir Max einmal in der Woche ausspanne? Das Training war echt der Hammer“, wandte sich Simon an Cosmin.
Cosmin zuckte mit der Schulter. Er trainierte normalerweise nur an zwei Tagen in der Woche mit Max und würde nie verstehen, wieso sich Max jeden Tag zwei Stunden oder mehr bis zur Erschöpfung abrackerte.
„Klar ist es okay“, erwiderte Cosmin und warf Max, der sich bereits auf sein Rad geschwungen hatte, einen Blick zu. "Von dir kann Max vielleicht auch was Neues lernen, ich kann nur… "
„Quatsch’ keinen Unsinn, Cos-Mi!“, fuhr ihm Max ins Wort. „Du bist der beste Sparringspartner, den ich je hatte, okay?“
„War das ernst gemeint, dass ich der beste Sparringspartner bin, den du je hattest?“, fragte Cosmin, als sie etwas später in Cosmins Zimmer zusammen auf der Couch saßen. Max’ Kopf lehnte an Cosmins Schulter, Cosmins Finger kämmten Max’ samtweiche Haare.
Max blickte kurz auf. „Der beste und der schönste.“
Ein Lächeln kräuselte Cosmins Lippen.
„Maxi?“
„Hm?“
„Mal ehrlich, als du mit Simon auf der Matte gerungen hast, hattest du… äh… du weißt schon…“
Max kicherte. „Einen Steifen?“
„…“
„Cos-Mi, ich hab’s dir schon tausend Mal gesagt, es gibt nur einen Kerl, der mich anmacht und der bringt grade meine tolle Frisur durcheinander.“
„Und Simon?“
„Cos-Mi!“, schnaubte Max und runzelte die Stirn. „Selbst wenn Simon auf Kerle steht… ich glaube nicht, dass er beim Judotraining 'ne Latte kriegt. Man kann nicht jemanden auseinander nehmen, wenn man ihm zugleich ans Höschen will, okay?“
„Aber bei mir kriegst du beim Training manchmal ne… äh… Latte.“
"Dich will ich ja auch nicht auseinander nehmen. Und außerdem… " Max’ Hand glitt plötzlich zu der Stelle an Cosmins Jeans, an der sich eine Beule gebildet hatte, „… bin ich nicht der einzige, der 'ne Latte kriegt, wenn wir beide zusammen trainieren.“
Cosmin zog Max an sich. Zunächst liebkosten sich nur die Lippen der Jungen, dann auch ihre Zungen. Cosmins Hand, die eben noch Max’ Frisur zerwurstelt hatte, erkundete nun die Beule, die sich auch aus Max’ Jeans erhob.
Wie auf ein Kommando standen beide Jungen auf und zogen die Couch aus. Cosmin breitete Laken und Bettdecken darauf aus und ging ins Bad, um ein Badetuch zu holen. Als er aus dem Bad zurück kehrte, hatte sich Max bereits auf dem Bett ausgestreckt, nur noch mit dem von einer Erektion deformierten Slip bekleidet.
Vergeblich versuchte Cosmin so zu tun, als würde ihn Max’ Anblick kalt lassen.
„Maxi, du hast schon wieder versaute Gedanken.“
Max grinste süffisant. „Ach ja, und du? Was willst du hier mit einem Handtuch? Gibt’s in diesem Zimmer irgendwo ne Dusche?“
Cosmin warf das Handtuch auf Max’ Schoß und stieg ebenfalls aus seinen Sachen.
„Maxi, du sabberst im Bett“, kicherte er und legte sich, ebenfalls nur noch im Slip bekleidet, neben Max.
Max’ Grinsen verblasste. Er bettete Cosmins Kopf auf seinem rechten Arm, mit der linken Hand streichelte er die inzwischen fast verheilte Stichwunde auf Cosmins Bauch. „Du wirst da eine Narbe behalten.“
Cosmin seufzte leise. „Es gibt Schlimmeres.“
Für einen Moment schnürte ihm die Erinnerung an die Leere nach Max’ überstürzter Flucht aus Dessau die Kehle zu.
Max zog Cosmin an sich. „Es tut mir Leid, Cos-Mi. Ich hatte versprochen, dich immer zu beschützen und als diese Mistkerle…“
Cosmins Hand glitt in Max’ Slip und mit den Lippen brachte er Max zum Verstummen.

Max

Sanft, ohne überschäumende Begierde und ohne jede Eile brachten sich die Jungen gegenseitig zum Gipfel der Lust. Seit zwei Wochen hatten sie jede Nacht miteinander verbracht. Und so verspürten sie nicht ständig die Heißhungerattacken wie zu Beginn der Adventszeit, als sie nirgendwo ungestört den Hunger aufeinander hatten stillen können.
Sie genossen es, beim gemeinsamen Abstieg von diesem Gipfel sich aneinander zu schmiegen und störten sich nicht an der klebrigen Nässe, die ihre Bäuche miteinander verschweißte. Cosmin hatte seinen Kopf in Max’ Armbeuge gebettet und zeichnete mit den Fingern die Muskelstränge auf Max’ Oberarm nach. Sie schauten einander an, als würden sie versuchen, jeden Winkel im Kopf des anderen zu erforschen.
Max strich verschwitzte Zotteln aus Cosmins Stirn, dann kraulten seine Finger das unter der filzigen Mähne versteckte linke Ohr mit der kleinen L– förmigen Narbe am Ohrläppchen. Sein Blick löste sich von Cosmins kohlrabenschwarzen Augen und glitt über die Wangen hinweg zu den Lippen.
Das also ist der Mensch, mit dem ich mein Leben verbringen möchte.
Jäh fiel ihm ein, dass es in einem weit entfernten Nest in Rumänien ein zweifellos sehr hübsches Mädchen gab, das genau dasselbe plante. Wie immer, wenn er daran dachte, fühlte er einen Stich in der Brust.
Wie es schien, hatte auch er selber eine Verehrerin, die sich offenbar immer noch Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit ihm machte. Seine Ex Caroline verbrachte die Weihnachtsferien mit ihren Eltern in Florida und hatte ihm von einem Nacktbadestrand Selfies geschickt. Die Fotos gewährten Einblicke, die sie ihm während ihrer anderthalbjährigen Beziehung stets verwehrt hatte. Zudem hatte Caroline den Fotos ziemlich eindeutige Kommentare hinzugefügt. Aber anders als Cosmin mit seiner Camelia hatte Max mit Caroline Schluss gemacht.
„Cos-Mi?“
„Hm?“
„Diese Camelia und der Kerl, der gerne dein Schwiegerpapa werden will, die kommen an dem Dienstag vor den Winterferien, richtig?“
Cosmin zuckte kurz mit der Schulter.
„Richtig! Und am Freitag verschwinden wir nach Berlin. Dann kann sich Onkel Radu einen anderen suchen, der sein Schwiegersohn werden möchte. Warum fragst du?“
Max’ Blick verfing sich in Cosmins Augen.
„Ich verstecke dich sozusagen bei mir in Berlin. Aber bis wir zusammen verduften… diese Camelia, sie wird mit dir 'rumknutschen wollen. Ich meine, du wirst sie richtig küssen müssen.“
Es war, als würde die Bräune in Cosmins Gesicht verblassen.
„Ich… ich weiß nicht… vielleicht“, stammelte Cosmin und wandte seinen Blick ab, als wolle er ungestört darüber nachdenken.
Max seufzte hörbar auf. „Es hört sich jetzt bestimmt bescheuert an, aber ich glaube, das würde ich nicht mit ansehen können…“
…Weil ich eifersüchtig wäre und auch Schiss davor hätte, dass du die Knutscherei mit ihr geiler findest als das Knutschen mit mir.
Doch das ließ Max unausgesprochen.
Cosmin starrte aus weit aufgerissenen Augen zur Zimmerdecke. Dann kehrte sein Blick zu Max zurück. Er griff in Max’ Nacken und zog ihn zu sich heran, bis sich ihre Lippen berührten. Erst Minuten später lösten sie sich voneinander.
„Maxi, das Thema hatten wir doch schon“, sagte Cosmin leise. „Da ist nichts mehr. Kann sein, dass ich sie küsse. Aber das ist dann so, als würde ich…“, er deutete auf eine Plüschkatze, die vom Kleiderschrank auf die Jungen hinunter starrte, „… als würde ich diese Miezekatze da küssen. Hast du etwa Angst vor Plüschkatzen?“

Nachsitzen!

Max

Drei Tage später, am ersten Montag des neuen Jahres, endeten die Ferien. Für Max und Cosmin würde am nächsten Tag auch die Zeit der gemeinsamen Nächte enden.
Cosmin hatte Max überreden können, am Wochenende die Nase ins Physikbuch zu stecken. Beide hatten vor den Weihnachtsferien eine Leistungskontrolle in Physik geschwänzt und Cosmin rechnete fest damit, dass die Physiklehrerin Frau Dr. Meyer sie nicht ungeschoren davon kommen lassen würde.
Ein kalter Wind blies ihnen nasse Schneeflocken ins Gesicht, als sie am Morgen den Plattenbau verließen und auf die Straße hinaus traten. Max schob sein Rad, während Cosmin neben ihm wie üblich zu Fuß zur Schule trottete. Nach etwas mehr als fünf Minuten erreichten sie das Rathaus. Die Treppe zum Eingangsportal des Rathauses war seit mehr als drei Monaten an den Schultagen ihr morgendlicher Treffpunkt gewesen und würde es schon bald wieder sein.
Max unterdrückte einen Seufzer. Der Gedanke daran, dass er wieder allein morgens aufwachen würde, schien sich wie eine zentnerschwere Last auf sein Gemüt zu legen. Er warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf Cosmin. Obwohl sich Cosmin die Kapuze seiner Jacke fast bis zur Nase herunter gezogen hatte, sah Max, dass auch Cosmin trübsinnigen Gedanken nachhing.
Wenige Minuten später erreichten sie das Schulhaus, ein Backsteingebäude mit gläsernem Anbau, nur ein paar Hundert Meter vom Markt entfernt. Sowohl auf dem Vorplatz der Schule als auch in der Eingangshalle mussten sie sich einen Weg durch das Gewimmel der ins Schulhaus strömenden Schüler bahnen und erst in der oberen Etage mit den Klassenräumen der Abiturstufe ebbte der Lärm etwas ab.
Sie erreichten die Flurgarderobe vor ihrem Klassenzimmer.
Durch die halb offen stehende Tür drang lautstarkes Stimmengewirr. Max erkannte sofort, dass eine der Stimmen zu Chris, einem eingebildeten Schnösel und seinem Erzfeind in der Klasse gehörte. Bevor Max in diese Klasse gekommen war, hatte sich Chris als Klassenboss aufgespielt und war schon in der ersten Schulwoche im Sportunterricht von Max entthront worden. Während sie ihre vom Schneeregen durchnässten Jacken in der Flurgarderobe aufhingen versuchte Max, einige der Gesprächsfetzen aufzufangen.
Offenbar hatte Chris seinen Kumpanen etwas Witziges erzählt, Max hörte nun das Gewieher von Anton, Cem und Richard. Cosmin wollte in Richtung des Klassenraums los stapfen, doch Max hielt ihn zurück.
„Warte kurz!“, zischte er ihm zu.
„… hat der Süße von Tziggi jetzt einen anderen Süßen in Berlin gefunden und kommt nicht mehr zurück?“, ertönte Antons Stimme und Chris platzte in das Gelächter der anderen: „Dann wird es höchste Zeit, dass wir uns Tziggi mal vorknöpfen.“
Max bemerkte, dass Cosmin neben ihm erstarrte und die Zähne zusammen biss. Mit „Tziggi“, einer Verzerrung des Wortes „Zigeuner“, war Cosmin von diesen Kerlen gehänselt worden, bis Max dem ein Ende gesetzt hatte.
Max drängte sich an Cosmin und zwei Mädchen der Klasse vorbei, die ebenfalls den Raum betreten wollten und stieß die Tür auf. Augenblicklich verstummten die Gespräche der bereits anwesenden Mädchen und Jungen. Anton lümmelte auf einer Bank, an der Norman und Michel saßen und die sich offenbar nicht getrauten, den Kerl von ihrer Bank hinunter zu schubsen. An der Nachbarbank fläzte Chris, flankiert von Cem und Richard und hatte seine Beine auf der Tischplatte ausgestreckt.
Mit drei Sätzen war Max bei Anton und packte dessen feistes, von Stoppeln übersätes Kinn. „Weißt du, warum ich mir keinen Süßen in Berlin suche und lieber hier bei euch bleiben will, Schwanzgesicht?“, fragte Max mit einer Stimme, die wie eine Rasierklinge die Stille im Raum zerschnitt. In Antons Gesicht zuckte es, seine vor Schreck geweiteten Augen richteten sich auf Max’ freie Hand.
„N… nein“, stotterte Anton.
„Du hast so ein süßes Backpfeifengesicht, fast so süß wie das von dem da“, sagte Max mit einem Kopfnicken in Chris’ Richtung und im selben Moment klatschte Max’ linke Hand auf Antons rechte Wange.
Anton jaulte auf, doch Max fuhr davon unbeeindruckt fort: „Wer macht’s jetzt auf deiner linken Seite, du selber oder soll ich das mit der Backpfeife übernehmen?“
„Ich mach das“, heulte Anton und Watsch!, verpasste er sich mit der linken Hand selber eine Backpfeife.
„Naja, das musst du noch ein bisschen üben, Süßer!“, sagte Max und mit einer blitzschnellen Bewegung wirbelte er zu Chris herum, packte dessen Shirt und kickte im selben Moment den Stuhl unter Chris’ Hintern beiseite.
„Hab ich grade dieses ‚Tziggi‘ gehört, Arschgesicht?“
Chris fand sich plötzlich in einer äußerst misslichen Lage wieder, die Beine lagen noch auf der Tischplatte und sein Hintern hing mehr als einen halben Meter über dem Dielenboden; sein Oberkörper wurde von Max’ rechter Hand gehalten, die sich in Chris’ Pullover gekrallt hatte. Er ruderte mit beiden Händen in der Luft und als er versuchte, sich an Max’ Unterarm festzuhalten, hob Max die Linke.
„Wag es nicht, mich anzufassen, Flöte!“, zischte Max ihm zu und Chris’ Hände ruderten neuerlich in der Luft herum auf der Suche nach irgend einem Halt. Das nach Parfüm oder Rasierwasser duftende Gesicht war puterrot angelaufen und zu einer Fratze des Schreckens und des Hasses verzerrt.
„Ich hab dich was gefragt! Raus mit der Sprache, wenn du nicht willst, dass ich loslasse.“
Max spürte eine Hand auf seiner Schulter.
„Maxi, hör auf, lass ihn!“, raunte ihm Cosmin ins Ohr.
Chris japste etwas, sein Gesicht wechselte die Farbe und war plötzlich weiß wie die Tafelkreide.
Max rümpfte die Nase und zog ihn auf die Füße. „Geh und mach dich sauber!“
Chris fluchte leise, riss sich von Max los und stapfte aus dem Raum, als hätte er einen Stock im Hintern.
Noch immer war es mucksmäuschenstill im Raum. Max fing einige verstohlene Blicke auf. Er schnappte seinen Schulrucksack, den er vor der Attacke auf Antons Kinn auf die eigene Schulbank geworfen hatte und wandte sich an die Klasse.
„Ihr könnt jetzt weitermachen!“
Cosmin hatte bereits begonnen, Mathebuch, Hefter und Federmappe auf seiner Seite der Schulbank zu platzieren. „Maxi“, zischelte er ihm ins Ohr. „Manchmal, da krieg’ sogar ich Schiss vor dir.“
Max’ eben noch von Zornesfalten zerfurchte Stirn glättete sich.
„Ich hab auch Schiss, Cos-Mi. Wegen dir“, antwortete er leise.
Zum Beispiel davor, was passiert, wenn dieses aufdringliche Mädel aus Rumänien anrückt. Das ist bestimmt heißer als die Plüschkatze auf deinem Kleiderschrank.
Aber das behielt er für sich und überhörte Cosmins genuschelte Erwiderung.
Kurz nachdem Max sein Mathezeug aus dem Rucksack gekramt hatte, schrillte die Klingel und die Klassenleiterin Frau Dr. Meyer betrat den Raum.
Die Lehrerin begrüßte die Klasse und wünschte allen Erfolg im neuen Jahr und bei den anstehenden Abiturprüfungen. Dann ließ sie ihren Blick über die beiden im Halbrund um den Lehrertisch angeordneten Bankreihen schweifen. Für einen Moment verharrte der Blick auf Max und Cosmin. Max entging nicht das Lächeln, das in diesem Moment über ihr hübsches Gesicht huschte.
Sie freut sich, dass ich wieder hier bin! Vielleicht lässt sie uns die geschwänzte Physik- Leistungskontrolle durchgehen?
Ihr Blick glitt weiter zur Bank von Chris und Anton. Sie runzelte die Stirn.
„Was ist mit Chris?“, wandte sie sich an Anton.
Antons Gesicht schien in Flammen zu stehen, zumal sich mehr als zwanzig Augenpaare auf ihn richteten. Er rieb sich die rechte Wange. „Ich glaube, er hat Bauchschmerzen oder so und musste aufs Klo.“
Irgendwo links von Max lebte Getuschel auf. Es erstarb jedoch sofort, als Frau Dr. Meyer ihren Kopf hob. Ihr Blick kehrte zu Max und Cosmin zurück.
„Ihr beide bleibt bitte nach Unterrichtsschluss heute Mittag hier im Raum.“
Max ahnte, dass sie wegen der Schulschwänzerei wohl doch nicht ungeschoren davon kommen würden.
Dann begann die junge Lehrerin ohne weiteres Herumreden mit dem Unterricht.
Chris kehrte erst etwa nach der Hälfte der ersten Doppelstunde zurück und Max war sicher, dass der zuvor eine andere Jeans getragen hatte…

Cosmin

In der dritten Doppelstunde dieses Schultages stand Chemie im Fachkabinett der oberen Etage auf dem Stundenplan. Nach dem Chemieunterricht kehrten Max und Cosmin wie von Frau Dr. Meyer verlangt in den Klassenraum zurück. Die Lehrerin saß bereits an ihrem Tisch und schrieb etwas ins Klassenbuch.
Sie blickte auf, als die Jungen den Raum betraten und deutete auf deren Schulbank. „Setzt euch! Wie geht es dir, Cosmin?“
Cosmin wusste bereits, dass sie am Wochenende mit Oma Lisa telefoniert und dabei vermutlich auch von seiner Stichverletzung erfahren hatte. Er spürte Mitgefühl und Sympathie im Blick der Lehrerin. „Ich hab es überstanden, glaub ich. Morgen werden die Fäden gezogen.“
Frau Dr. Meyer seufzte leise.
„Du bist ein sehr tapferer junger Mann, Cosmin.“
Ihr Blick wanderte zu Max weiter.
„Ich bin froh, dass du zurück gekommen bist, Maximilian. Eure unentschuldigten Fehltage habe ich nicht im Klassenbuch vermerkt. Cosmin wird dir sicher helfen, den verpassten Stoff nachzuholen. Dennoch kann ich unentschuldigtes Fehlen nicht unter den Tisch fallen lassen, schon gar nicht bei einer Leistungskontrolle.“
Sie zückte zwei Arbeitsblätter. „Das ist die Leistungskontrolle, die alle anderen am Donnerstag vor den Ferien geschrieben haben. Bitte setzt euch auseinander. Ihr habt jetzt 45 Minuten Zeit, die Aufgaben auf dem Arbeitsblatt zu lösen.“
Max warf Cosmin einen dankbaren Blick zu. Vermutlich war er nun heilfroh über die Physik - Nachhilfe vom Wochenende. Dann schnappte Max seinen Rucksack und wechselte zur Bank, an der normalerweise Michel und Norman saßen.
Cosmin benötigte lediglich dreißig Minuten für die Aufgaben. Er hatte am Wochenende mit Max das Thema Wechselstrom gepaukt und mit ihm ähnliche Aufgaben wie die in der Leistungskontrolle gestellten Aufgaben gerechnet. Während Frau Dr. Meyer an ihrem Tisch in irgendwelchen Berechnungen vertieft war, wanderte Cosmins Blick, verborgen hinter einem Vorhang aus schwarzen Zotteln, zwei Bänke weiter. Max’ Gesicht glühte, doch immerhin tippte er etwas in seinem Taschenrechner und übertrug das Ergebnis auf sein Arbeitsblatt. Soweit Cosmin erkennen konnte, hatte Max schon weit mehr als die Hälfte der Aufgaben gelöst.

„Cos-Mi, ohne dich hätte ich bei dieser Physikarbeit total alt ausgesehen“, sagte Max, als sie eine Viertelstunde später das Schulhaus verließen.
„Maxi, ohne dich hätte ich wieder mal ein Problem mit den Idioten aus unserer Klasse“, erwiderte Cosmin und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Ein eisiger Wind trieb wie schon am Morgen nasse Schneeflocken vor sich her, die auf den Rasenflächen etwas Matsch hinterließen. „Wann kommst du zu mir?“
Max zog sein Rad aus dem Fahrradständer und seine Lippen verbogen sich zu einem anzüglichen Grinsen. „Du kannst es nicht erwarten, oder?“
„Maxi!“, schnaubte Cosmin. „Du denkst schon wieder an was Versautes! Wir wollten Hausaufgaben zusammen machen.“
Allerdings verspürte Cosmin ein Kribbeln, das sich beim Gedanken an die kommende Nacht in seinem Bauch ausbreitete. Es würde die vorläufig letzte Nacht werden, die sie zusammen in einem Bett verbringen konnten.
„Ich schätze, so gegen fünf“, antwortete Max auf Cosmins Frage und schwang sich auf sein Rad.

Ungebetene Geschenke

Cosmin

Nach einem Mittagessen, das aus den Resten eines am Wochenende selbst zubereiteten Kartoffelsalates und einigen Wiener Würstchen bestand, griff sich Cosmin am Schreibtisch seines Zimmers die drei Bände einer Mathe - Lehrbuchreihe für das Ingenieurstudium. Diese Bände waren ein ziemlich teures Geschenk von Max’ Großmutter und als Ersatz für das Mathebuch gedacht, das er bei dem Raubüberfall in Berlin zusammen mit seinem Rucksack eingebüßt hatte.
Er fand im zweiten Band das Thema, an dem er schon im verloren gegangenen Buch gearbeitet hatte und versank in einer Welt aus komplizierten Gleichungen. Erst mit dem Bimmeln seines Handys tauchte Cosmin daraus wieder auf und stellte erstaunt fest, dass seine Nase fast anderthalb Stunden im Mathebuch gesteckt hatte. Das Handydisplay zeigte „Die Mutter“ an.
Cosmin überlegte einen Moment lang, den Anruf zu ignorieren. Er war nach den Weihnachtsferien nicht mehr so abweisend seiner Mutter gegenüber und hatte sogar versucht zu verstehen, warum sie ihn und seinen Vater verlassen hatte. Allerdings nervte es ihn, dass sie nun jeden Tag wissen wollte, wie es ihm ginge. Schließlich tippte sein Finger die grüne Taste auf dem Display an.
„Mutter, ich habe dir doch schon gesagt, ich habe morgen den Termin beim Hausarzt. Und ich bin jetzt gerade bei den Hausaufgaben.“, sagte er um klarzustellen, dass er keinen Bock auf ein langes Telefonat hatte.
„Schon gut, ich habe das mit morgen nicht vergessen. Cosmin, hattet ihr Ärger mit eurer Lehrerin wegen der geschwänzten Tage?“
Das hatte ich dir doch erzählt! Auch meine Lehrerin wollte, dass ich versuche, Maxi zurück nach Dessau zu holen.
Er berichtete seiner Mutter, dass sie wegen der geschwänzten Tage heute nachsitzen und eine Physikarbeit nachschreiben mussten. „Bei mir wird es eine Eins, glaub ich. Und Maxi hat sich auch gut geschlagen“, endete er seinen Bericht.
„Ich bin stolz auf dich, Cosmin. Auch Maximilians Vater hatte sich Sorgen gemacht, dass ihr Ärger bekommen könntet. Wann kommt dein Vater morgen zurück?“
„Der Bus ist gegen um acht in Leipzig und von dort nimmt Papa einen Zug. Mutter, echt. Gleich kommt Max und bis dahin wollte ich mit meinen Hausaufgaben fertig sein“, schwindelte Cosmin. Die paar Hausaufgaben würde er zusammen mit Max in einer halben Stunde abgearbeitet haben.
Das Seufzen seiner Mutter drang aus dem Handy. „Versprichst du mir, dass du mich morgen nach dem Arzttermin anrufst?“
noch vor drei Wochen hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, so etwas zu versprechen. „Okay, ich rufe dich morgen an.“
„Grüße Maximilian von mir. Mach’s gut, Junge.“
Cosmin ahnte, dass ihr so etwas wie „Kleiner Liebling“ auf der Zunge gelegen hatte. „Mach’s gut, Mutter.“
Er legte auf und warf sich auf die Couch. Die Stimme seiner Mutter hatte einmal mehr Kindheitserinnerungen aufgewirbelt. Zugleich aber auch die Erinnerung an den Schock über ihr Verschwinden. Und vor nunmehr genau drei Wochen hatte er wieder einen solchen Schock durchlebt - hier in diesem Zimmer. Max hatte erfahren, dass er, Cosmin, der verhasste Stiefbruder war und war wütend und verzweifelt zugleich aus dem Zimmer gestürmt.
Ihm fiel Moritz’ Warnung vom Silvesterabend ein: Camelias Auftauchen hier in Dessau könne zu erneuten Problemen mit Max führen. Und Max hatte ihm gesagt, dass er ihm beim Knutschen mit Camelia nicht zuschauen könne. Cosmin versuchte sich Max beim Küssen mit dessen Ex - Freundin Caroline vorzustellen und der Gedanke daran fühlte sich an wie eine Schraubzwinge, die ihm die Luft aus den Lungen presste.
Ich könnte mir das auch nicht anschauen. Es würde viel zu sehr weh tun.
Cosmin hatte allerdings nicht den Hauch einer Idee, wie er der Knutscherei mit Camelia aus dem Weg gehen könne, auch wenn das für ihn nicht mehr war als das Knutschen mit seiner Plüschkatze.
Cosmin richtete sich jäh auf. Er würde morgen dieses jämmerliche Schauspiel beenden und seinem Vater sagen, dass er die Verlobung mit Camelia aufheben wolle. Notfalls würde er sich Geld borgen, um diesem selbstgefälligen Möchtegern - Schwiegervater die Kosten für die Stornierung der Flugtickets zu erstatten.
Sein Entschluss stand fest - es würde keine Knutscherei mit Camelia mehr geben!
Als Cosmin kurz darauf Max die Wohnungstür öffnete, nahm er ihn in die Arme, kaum dass er ihn in die Wohnung gezogen hatte.
„Cos-Mi, was ist in dich gefahren?“, japste Max, nachdem sich ihre Lippen voneinander lösten.
„Maxi, wollte dir sagen, dass ich keine Plüschkatze küssen werde.“

Bereits am nächsten Tag zerbröselte Cosmins Entschluss, die Sache mit Camelia ein für allemal zu beenden, wie ein Blatt verkohltes Papier.
Nach Schulschluss versprach Max, ihn am späten Nachmittag abzuholen und zum Arzt zu begleiten. Offenbar konnte er es genauso wenig wie Cosmin erwarten, dass der Arzt grünes Licht für ihr Kampftraining und für ihre Ausflüge in die Kletterhalle geben würde.
Anschließend schlug Cosmin bereits im Treppenflur des Plattenbaus ein überwältigender Geruch nach Schafsfleisch entgegen. Sein Vater war also bereits in der Wohnung und betätigte sich als Koch.
Kaum hatte Cosmin die Wohnungstür geöffnet, stürmte ihm sein Vater aus der Küche entgegen und zog ihn in seine Arme. „Cosmine, mein Junge, ich bin so froh dich zu sehen.“ Er betastete vorsichtig Cosmins Bauch auf der rechten Seite. „Tut es noch weh?“
„Hallo Tata, mach dir keine Sorgen. Es war nur ein Kratzer.“
„Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen, dass ich dich allein gelassen habe.“
Sein Vater kratzte sich das pechschwarze Haar, in das sich seit der Scheidung auch einige graue Strähnen darunter mischten. „Ich bin Max sehr dankbar, weil er bei dir geblieben ist. Der Ärmste… er hat hier all die Tage in deinem Zimmer auf dem Boden geschlafen. Die Matte war sicher unbequem. Er hätte doch bei mir auf der Couch…“
„Tata!“ Cosmin fand, dass es Zeit für einen Themawechsel war. „Maxi ist so was vom Campen mit seinem Onkel gewöhnt. Mein Beileid, wegen deiner Mutter.“
Schlagartig verdüsterte sich das Gesicht seines Vaters. „Sie wäre im Februar achtzig geworden“, jammerte er. Cosmin tätschelte den Arm des Vaters. „Wenigstens hast du sie nochmal gesehen.“ Er bemerkte dicke Luft, die aus der kleinen Küche in den Korridor wehte. „Äh Tata… ich glaube, du musst mal in deine Pfanne gucken.“
„Oh Gott!“, rief sein Vater erschrocken und sauste wie ein geölter Blitz in die Küche zurück.
Cosmin betrat sein Zimmer. Sein erster Blick fiel auf die Matte in der Mitte des Zimmers und den darauf ausgebreiteten und natürlich unbenutzten Schlafsack. Sie hatten ihren Zweck erfüllt und er konnte nun beides weg räumen.
Plötzlich erstarrte er.
Auf seinem Schreibtisch lagen mehrere Verpackungen, eine davon enthielt offenbar ein nagelneues Notebook, eine kleinere ein ebenso nagelneues Handy, das ohne Vertrag mindestens eintausend Euro kostete. Die dritte Verpackung enthielt zu allem Überfluss ein Tablet.
Hatte die alte, in Lumpen gekleidete Mutter seines Vaters Bargeld gehortet und es nun ihren Kindern hinterlassen?
Cosmin stolperte in die Küche, wo sein Vater Maisbrei und Hackfleischröllchen auf zwei Teller schaufelte. „Tata, wieso kaufst du mir dieses überteuerte Zeug. Ich bin mit meinem Handy zufrieden und brauche kein Tablet!“
"Das hat mir dein künftiger Schwiegervater für dich mitgegeben. Camelia beschwerte sich, dass sie dich auf ihrem Handy nur verschwommen sieht, wenn ihr miteinander telefoniert, weil dein Handy schwach ist. Jetzt könnt ihr… "
„Tata!“ Cosmin sank auf einen Küchenstuhl. „Ich will diese Sachen nicht. Ich will auch keinen Schwiegervater und ich werde nicht heiraten. Zumindest nicht in diesem Jahr. Onkel Radu und Camelia können im Februar zu Hause bleiben.“
Nun ließ sich auch sein Vater auf einen Küchenstuhl sinken. Er starrte Cosmin entgeistert an und schien nach Worten zu suchen. „Ich kann nicht… ich kann Radu nicht absagen. Herrgott nochmal, Cosmin! Bevor ich nach Rumänien geflogen bin hast du mir gesagt, dass du dich auf Camelia freust.“
Ja, als ich so verzweifelt war, weil Max nicht mal mehr mit mir reden wollte.
„Tata, ich habe es mir anders überlegt.“
Sein Vater knetete die Hände. „Hast du etwa eine andere gefunden?“
„Ich habe keine Freundin, wenn du das meinst“, erwiderte Cosmin. Das war immerhin nicht gelogen.
„Es geht nicht.“ Cosmins Vater schüttelte den Kopf. „Ich könnte mich nie wieder in Porumbita sehen lassen. Cosmine, Onkel Radu ist Millionär, reicher als die meisten Deutschen und ich glaube nicht, dass du hier irgendwo ein schöneres Mädchen als Camelia findest. Du würdest…“
Cosmin war nahe dran, sich die Haare zu raufen.
„Hör auf!“, fuhr er seinen Vater an. „Es interessiert mich nicht, was du und Onkel Radu… was ihr euch ausgedacht habt oder wie reich er ist. Ich suche mir selber jemanden, mit dem ich leben will, kapiert?! Und wenn sie trotzdem kommen - Max ist in den Winterferien in Berlin. Ich kann ihn oder meine Mutter fragen, ob ich auch nach Berlin kommen darf.“
„Cosmin!“ Sein Vater schaute ihn erst zornig und dann beinahe schon flehend an. „Ihr seid im letzten Sommer so ein schönes Paar gewesen. Vielleicht wart ihr nur etwas lange getrennt und die Liebe kommt zurück, wenn ihr euch im Februar wiederseht. Und wenn nicht, kannst du doch immer noch nach Berlin fahren. Bitte, tu es mir zuliebe.“
Cosmin stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenn ich nach Berlin abhaue, kriegst du doch auch Probleme mit Onkel Radu.“
Sein Vater knetete immer noch die Hände. „Wahrscheinlich ja, aber ich kann dich ja nicht festbinden und das würde er vielleicht verstehen. Du dürftest dich wahrscheinlich nie wieder in Porumbita sehen lassen.“
„Das habe ich auch nicht vor. Und diese Geschenke kann sich Onkel Radu sonst wohin stecken.“
Maxi, tut mir Leid. Ich werde wohl doch sehen wie es sich anfühlt, eine Plüschkatze zu küssen.

Cosmins Flötentöne

Cosmin

Der Hausarzt der beiden Munteanus hatte nichts dagegen, dass Cosmin das Training wieder aufnehmen wollte. Die Stichwunde war so gut wie verheilt, aber es würde auf der rechten Seite von Cosmins ansonsten dunkelbraunem Bauch unterhalb der Rippen ein etwa zehn Zentimeter langer, senkrechter hellbrauner Strich zurück bleiben.
Bereits am Morgen des darauffolgenden Tages klingelte ihn sein Handywecker eine Viertelstunde früher als sonst aus dem Bett. Zeit, die Cosmin nach dreiwöchiger Unterbrechung für sein morgendliches Fitnessprogramm nutzten wollte. Offenbar hatte die lange Trainingspause seine Muskulatur nicht erschlaffen lassen. Beinahe locker zog er drei Fünfzehner - Serien Klimmzüge am Griffbrett über dem Rahmen der Zimmertür durch und schaffte gleich darauf auch drei weitere Serien mit fünfzig Liegestützen. Anschließend spähte er von der Küche aus ins Wohnzimmer. Der hintere Teil des Raumes erinnerte mit der Bettcouch eher an ein Schlafzimmer. Sein Vater schnarchte leise vor sich hin. Er würde erst am nächsten Tag wieder auf Arbeit müssen. Da bei dem Matschwetter die Montage von Solaranlagen auf Hausdächern wahrscheinlich nicht möglich war, würde ihn der Chef im Lager am Stadtrand arbeiten lassen. Oft genug kehrte Cosmins Vater an solchen Tagen zeitiger als üblich heim und verbrachte manchmal auch die Pausen zu Hause.
Cosmin seufzte leise, während er die Kaffeemaschine befüllte. Es würde in den nächsten Tagen sehr schwierig werden, mit Max irgendwo ungestört zusammen zu sein. Anders als Moritz und Simon konnten sie nicht notfalls in eine halbwegs beheizbare Gartenlaube ausweichen, um ihren Hunger aufeinander zu stillen.

Schon wenige Stunden später folgte die zweite Bewährungsprobe. Mittwochs stand in der zweiten Doppelstunde Sport auf dem Stundenplan. Max genoss beim Sportlehrer Herrn Recke praktisch Narrenfreiheit. Während Herr Recke die anderen Schüler der Klasse oftmals entweder mit Ausdauerübungen und Gymnastik striezte oder aber sie mit stundenlangen Völkerballspielen langweilte, durfte sich Max bei gutem Wetter an der Kletterwand am Rande des Pausenhofes verausgaben oder sich bei schlechtem Wetter in der Halle selber Geräte zum Trainieren aussuchen. Cosmin als Max’ bester Freund und Seilpartner in der Kletterhalle genoss dieselbe Vorzugsbehandlung.
Da an diesem Mittwoch ein Hauch von Frühling über den Sportplatz wehte, führte Herr Recke die Klasse zur Aschenbahn.
„Ladies and Gentlemen“, begann er den Unterricht. „Unsere Sportskanonen Max und Cosmin werden an der Kletterwand vier Seile einhängen. Es geht rechts los, ihr benutzt die blauen Griffe und Tritte. Männer, die es bis oben schaffen, ohne ins Seil zu rutschen, haben sich schon mal eine Drei verdient, Ladies eine Zwei. Dann geht’s links daneben mit grün weiter - eine Eins für Ladies und eine Zwei für Gentlemen, das dritte Seil gelb eine Eins für alle, die das schaffen. Vor jedem Durchgang werden Max oder Cosmin die jeweilige Route klettern und zeigen, wie es geht. Ach ja, das vierte Seil ist dann ganz links mit den roten Griffen, alles klar?“
Chris hob die Hand. Im vorigen Schuljahr war Chris als bester Sportler der Klasse Herrn Reckes Lieblingsschüler gewesen. Seit der Prügelei mit Max im Stadtpark behandelte ihn Herr Recke allerdings so, als hätte er Pestbeulen im Gesicht.
„Was gibt’s?“, fragte Herr Recke und Cosmin bemerkte, dass der Sportlehrer kurz die Augen rollte.
„Ich wollte fragen, was man bekommt, wenn man die vierte Route mit den roten Griffen schafft.“
Herr Recke winkte ab. „Die Antwort ist unwichtig, weil dort außer Max und Cosmin sowieso kein anderer hoch kommt.“
Chris zog ein Gesicht, als hätte ihm der Sportlehrer eine Backpfeife verpasst.
Herr Recke wandte sich von ihm ab und deutete auf die Startlinie der Aschenbahn.
„So Ladies und Gentlemen, zum Aufwärmen dürft ihr erst einmal fünf Runden drehen. Auf geht’s!“, rief er uns stieß mit der Trillerpfeife einen Pfiff aus.
„Warum sollte bei der vierten Route kein anderer hoch kommen?“, fragte Cosmin, während Max und er selber die schuleigenen Klettergurte anlegten. „So schwer sieht sie gar nicht aus.“
Max warf ihm wie schon ein paar Mal zuvor an diesem Tag einen grüblerischen Blick zu und Cosmin fühlte einen leisen Stich in der Brust.
Max ist schwer enttäuscht von mir.
Am Montag hatte Cosmin ihm stolz verkündet, dass er die feste Absicht habe, sich noch in dieser Woche von Camelia zu trennen und sie zusammen mit ihrem Vater auszuladen. Gestern dann hatte er Max nach dem Arztbesuch kleinlaut gestanden, dass er seinem Vater zuliebe doch erst in den Winterferien mit Camelia Schluss machen würde. Max Freude über die Zwei in der Physikarbeit und Cosmins Rückkehr als Sparring - und Seilpartner war daraufhin wie weggeblasen gewesen.
„Cos-Mi, wenn du das mit Turnschuhen kletterst, stehst du schlechter auf den Tritten“, erklärte Max und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hangelte er zur Mauerkrone in etwa sechs bis sieben Metern Höhe, um ein Seilstück durch die Umlenkrolle zu führen.
„Maxi, ich will nicht, dass du ungesichert kletterst“, nörgelte Cosmin, als Max kurz darauf wieder festen Boden unter den Füßen hatte und nach dem zweiten Seilstück griff.
„Hast du etwa Angst um mich?“ Zum ersten Mal an diesem Tag kräuselte ein Lächeln Max’ Lippen. Cosmin unterdrückte den Drang, Max an sich zu ziehen.
„Nee, ich hab Angst um mich, falls du mir auf den Kopf fällst.“
„Hab ich mir gedacht!“, knurrte Max, ließ sich aber bei den nächsten beiden Routen von Cosmin sichern.
Als sie an der vierten Route anlangten, griff Cosmin nach dem Seilende. „Maxi, sicher’ du mich. Bei der Route würde ich gerne die Vorführung machen.“
Max’ Gesicht hellte sich weiter auf. „Gute Idee, zeig du den Flöten, wer der Dirigent ist.“
Er tippte auf einen Tritt in Hüfthöhe. „Darauf stehst du mit Turnschuhen nur sehr kurz. Zieh’ mit den Fingern schnell durch!“
Tatsächlich rutschten Cosmin mehrmals die Füße von den Tritten und besonders das Einhängen des Seils in die an der Wand befestigten Karabinerhaken kostete sehr viel Kraft. Doch seinen durch Training und Kletterhalle gestärkten Fingern gelang es jedes Mal, das Körpergewicht zu halten und es weiter nach oben zu schieben.
„Okay, du hast dich super angestellt, Cos-Mi, bring den Flöten die Töne bei“, freute sich Max, nachdem er Cosmin über die Umlenkrolle abgeseilt hatte. Cosmin erwiderte sein Lächeln, verspürte aber vor allem Erleichterung darüber, dass Max nicht mehr so ein Gesicht zog, als wäre er zu weiteren zwölf Schuljahren verdonnert worden.
Herr Recke trat mit der Klasse an die kniehohe Mauer heran, die das Kiesbett am Fuß der Kletterwand vom Pausenhof trennte.
„Hier liegen sieben Gurte. Sechs echte Männer zu mir!“ Chris und Cem dackelten an Herrn Reckes Seite und eher widerwillig folgten ihnen auch Richard und Anton. Außerdem trauten sich noch Norman und Sören, ein pickelgesichtiger Junge, mit dem Cosmin bisher noch nie ein Wort geredet hatte.
„Nehmt euch jeder einen Gurt. Ich zeige, wie man ihn anlegt. Ihr macht es genauso“, sagte Herr Recke und stieg in einen der Klettergurte.
Nach dem alle sechs Jungen die Klettergurte angelegt hatten, wandte sich der Lehrer an Max und Cosmin. „Zeigt den Männern, wie es geht!“
Max nickte und hangelte gleich darauf - von Cosmin gesichert - zur Mauerkrone. Cosmin entging nicht, dass vor allem die Mädchenaugen wie gebannt dessen katzenhaften Bewegungen folgten.
Anschließend versuchten die sechs Jungen Max nachzueifern. Herr Recke übernahm ihre Sicherung. Anton und Norman fielen bereits nach wenigen Zügen wie reife Pflaumen von der Wand während Richard es immerhin bis kurz unterhalb der Mauerkrone schaffte.
Chris durchstieg die Route zwar ohne Probleme, doch Herr Recke schien davon keine Notiz davon zu nehmen.
Nach dieser Runde konnten es viele der anderen Schüler kaum erwarten, ebenfalls die Route zu klettern. Lediglich zwei Mädchen und Michel weigerten sich, in die Gurte zu steigen und hätten lieber eine Fünf kassiert. Während bei der ersten Route mehr als die Hälfte der Klasse die Mauerkrone erreichte, blieben nach der zweiten Route nur vier Mädchen sowie Chris und Cem im Rennen. Wie schon bei den anderen Routen übernahm Max die Demonstration auch bei der dritten Route. Einzig Chris schaffte es bei dieser Route bis zur Mauerkrone, ohne ins Seil zu rutschen. Er deutete siegessicher auf Route Nummer vier. „Ich will das da auch klettern.“
Herr Recke nickte Max zu. „Zeig’s ihm!“
Max verpasste Cosmin einen Klaps auf die Schulter. „Zeig du der Flöte, wie es geht.“
Cosmin rieb sich die inzwischen erkalteten Finger und anders als vor einer halben Stunde hangelte er mit traumwandlerischer Sicherheit an den Griffen bis zur Mauerkrone. Vielleicht lag das daran, dass er nun die Route zum zweiten Mal kletterte. Aber sicher schoss auch Adrenalin durch seine Adern bei der Aussicht, seinen Erzfeind Chris zu deklassieren.
Die Deklassierung gelang.
So sehr sich Chris auch abmühte, er schaffte es nicht einmal, vom Kiesbett abzuheben und rutschte bereits am Einstieg in die Route immer wieder ab. Schließlich ertönte ein kurzer Pfiff aus Herrn Reckes Trillerpfeife.
„Das reicht jetzt!“ Der Sportlehrer löste das Seil aus dem Sicherungsgerät. „Vielleicht solltest du weniger in den Spiegel gucken, Junge, und dafür öfter was für deine Fitness tun.“
Chris stand zunächst wie ein begossener Pudel an der Kletterwand. Dann warf er Cosmin einen Blick zu, als wolle er ihn erdolchen. Doch Cosmin sah, dass in diesem Blick auch Unglauben und Fassungslosigkeit über die eben erlittene Niederlage gegen einen vermeintlichen Schwächling mitschwang.

Treffen mit Dozent Dr. Benea

Cosmin

In der darauffolgenden Chemiestunde hellte sich Max’ Gesicht weiter auf und das Strahlen kehrte in seine blauen Augen zurück. Das lag freilich nicht an dem, was die Chemielererin Frau Große, zugleich Rektorin des Gymnasiums, Interessantes über Elektronen und Orbitale erzählte. Cosmin ließ unter der Bank die Wade seines rechten Beines auf Max’ linkem Schienbein ruhen. Max verstand offensichtlich, was er mit dieser Berührung auszudrücken versuchte, auch wenn sich damit Max’ Sorgen sicher nicht vollständig zerstreuten.
Nach der Chemiestunde radelten sie zusammen zum Haus von Max’ Großmutter. Oma Lisa erwartete die beiden Jungen mit einem kleinen Imbiss. Sie ließ Max und Cosmin erst auf ihren Dachboden, nachdem die Jungen das Knurren ihrer Bäuche mit einem Schinkenbaguette wenigstens halbwegs zum Schweigen gebracht hatten.
Cosmin übernahm bei ihrem Kampftraining wie bereits vor den Weihnachtsferien die Rolle des Schlägers. Max’ Training bestand darin, Cosmins Schläge oder Tritte nicht nur zu parieren, sondern sie mit einer Gegenattacke zu erwidern. Oft schnappte sich Max Cosmins Arm oder das zutretende Bein und warf ihn zu Boden. Allerdings war er stets darauf bedacht, dass Cosmin weich auf den Matten landete. Und jedes Mal erinnerte Cosmin ihn daran, dass er kein Baby mehr sei. Hin und wieder reagierte Max mit Tritten oder Faustschlägen, die nur wenige Zentimeter vor Cosmins von einem Gesichtsschutz bedeckten Kopf oder seiner Magengrube stoppten. So sehr sich Cosmin auch abmühte, keine seiner Attacken hätte Max auch nur angekratzt, geschweige denn außer Gefecht gesetzt. Nicht einmal dann, als Max vor Cosmins Attacken die Hände auf den Rücken verschränken musste. Cosmin fand, dass Max’ Reaktionsschnelligkeit eher zu einer Raubkatze, nicht aber zu einem Menschen passte.
Nach dem etwa einstündigen Reaktionstraining entschloss sich Cosmin, nicht wie vorab geplant nach Hause zu radeln, sondern sein Training an den Kletterwänden fortzusetzen. Zum einen motivierte ihn die Erinnerung an Chris’ Deklassierung in der Sportstunde. Zum anderen genoss er es, in den Trainingspausen zusammen mit Max auf der Umkleidebank zu sitzen. Max’ Großmutter tauchte an manchen Tagen unverhofft auf dem Dachboden auf und brachte eine mit saftigen Früchten gefüllte Schüssel. Deshalb beschränkten sich die Jungen auf flüchtige Zärtlichkeiten. Zumal sich eine Erektion in den Sportsachen kaum verbergen ließ.
Nach einer halbstündigen Hangelei an den mit Klettergriffen gespickten Dachschrägen gönnte Cosmin seinen Fingern mal wieder eine Pause. Max wirbelte noch zwischen den wild hin und her schwingenden Boxsäcken herum. Mit Tritten und Faustschlägen hielt er sie nicht nur in Schwung, sondern auch auf Abstand und wich ihnen zugleich mit blitzschnellen Bewegungen aus. Ein paar Minuten verfolgte Cosmin Max’ irrsinnigen Tanz zwischen den schaukelnden Boxsäcken und fragte sich, wieso Max nicht längst die Puste ausgegangen war. Dann fischte er das Handy aus seinen auf der Bank abgelegten Sachen.
Er bemerkte eine Nachricht von Sergiu, einem sympathischen jungen Mann, den Cosmin in einem Berliner Hostel kennengelernt hatte und der in Bukarest im zweiten Jahr Architektur studierte. Sergius Bruder Valentin war an der Bukarester Uni für Architektur Dozent und arbeitete in diesem Semester als Gastdozent an der Dessauer Hochschule. Sergiu schrieb, dass Valentin am morgigen Nachmittag eine öffentliche Vorlesung über die städtebaulichen Veränderungen in den Großstädten Siebenbürgens halten würde und fügte der Nachricht ein Foto des Aushangs mit weiteren Informationen bei.
Cosmin wusste, dass Sergiu aus Siebenbürgen stammte. Er selber kannte Siebenbürgen nur aus Büchern und die städtebauliche Entwicklung dieser Gegend interessierte ihn nicht mehr als die irgend einer x - beliebigen anderen Gegend. Aber ihn reizte die Aussicht, sich hier in Dessau an der Hochschule mit einem Architekturdozenten aus Rumänien zu unterhalten.
Max setzte sich schweißüberströmt zu ihm auf die Bank. Er zerrte sich das nasse Sporthemd vom Leib und begann, mit einem Handtuch, Bauch und Brust trocken zu rubbeln. Cosmin legte das Handy beiseite und wischte den Schweiß von Max Rücken. „Maxi, morgen Nachmittag komme ich nicht zum Training. Ich will in die Hochschule zu einer öffentlichen Vorlesung über Architektur in Rumänien.“
„Klingt spannend“, grinste Max und zuckte mit der Schulter. „Kein Problem. Simon will morgen zum Training kommen.“ Er legte einen Arm um Cosmins Schulter und ließ seinen Kopf gegen Cosmins Kopf sinken. Cosmin strich mit seinen Fingern über Max’ nackten Bauch.
„Cos-Mi, wenn du so weiter machst, krieg’ ich’n Ständer“, seufzte Max und kraulte die Zotteln in Cosmins Nacken. Cosmin kicherte leise, rutschte mit den Fingern jedoch vorsichtshalber etwas höher.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und genossen die Nähe des anderen. Max’ Räuspern brach die Sille. „Sie ist sehr hübsch.“
Cosmin runzelte verwirrt die Stirn. „Hä? Wen meinst du?“
Max’ Finger verharrten regungslos in Cosmins Nacken. „Die Plüschkatze… deine Prinzessin aus Porowitza.“
„Maxi!“, schnaubte Cosmin genervt, . „Erstens heißt das Nest Porumbita und zweitens ist sie keine Prinzessin und schon gar nicht meine Prinzessin.“
„Okay, okay, reg dich ab.“ Max’ Finger begannen wieder damit, die Locken in Cosmins Nacken zu zwirbeln. „Ich sag ja nur, dass sie verdammt gut aussieht. Wäre die in Berlin an meiner alten Schule gewesen, hätte ich vielleicht auch versucht, sie mir zu angeln.“
Cosmin verpasste Max einen Klaps auf die nackte Schulter. „Weiberheld! An der Angel zappelte schon deine Caroline. Und die ist mindestens genauso hübsch wie Camelia. Und jetzt höre endlich auf, dir wegen einer Plüschkatze Sorgen zu machen.“

Die Vorlesung am nächsten Nachmittag fand in einem der Hochschulgebäude statt, die den zentralen Platz des Campus säumten. Auf einem an der Eingangstür klebenden Zettel fand Cosmin eine Wegbeschreibung zur Vorlesung von Dr. Valentin Benea aus Bukarest.
Cosmin betrat den Vorlesungsraum. Die sechs treppenförmig ansteigende Sitzreihen boten etwa einhundert Zuhörern Platz. Das Publikum im Raum bestand aus ungefähr fünfzig Studenten aus aller Herren Länder und vielleicht zwanzig älteren Frauen und Männern, von denen Cosmin annahm, dass sie zum Lehrkörper der Hochschule gehörten. Am Podium sortierte ein dreißigjähriger Mann mit gepflegtem schwarzen Vollbart einige Unterlagen. Er blickte kurz auf, als sich Cosmin zu einem freien Platz in der hinteren Bankreihe zwängte und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dr. Benea grüßte Cosmin mit einem Kopfnicken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, ehe er sich wieder seinen Unterlagen zuwendete.
Cosmin hatte erwartet, dass Dr. Benea die Vorlesung auf englisch halten würde. Stattdessen begrüßte Dr. Benea kurz darauf die Anwesenden in einem fehlerfreien Deutsch und einem Dialekt, wie er vermutlich in Siebenbürgen von den dort lebenden Deutschen gesprochen wurde.
Zunächst dozierte er über den Wohnungsbau in den größeren Städten und Cosmin war etwas überrascht zu erfahren, dass anders als in Deutschland beinahe jede rumänische Familie in den eigenen vier Wänden wohnte. Zudem schossen aufgrund der recht unkomplizierten Genehmigungsverfahren in jeder Großstadt Satellitenstädte wie Pilze aus dem Boden, flankiert von riesigen Einkaufszentren. Allerdings beklagte Dr. Benea die Ideenlosigkeit der Städteplaner und Architekten. Er zeigte auf der Leinwand einige der Trabantenstädte und Cosmin ertappte sich dabei, dass er sofort überlegte, was er bei der Planung besser gemacht hätte. Dr. Benea stellte mehrere Gegenentwürfe Bukarester und Dessauer Studenten vor und einige dieser Entwürfe deckten sich mit Cosmins Vorstellungen.
Ein inzwischen in Sergius Heimatstadt Sibiu realisiertes Wohnbauprojekt faszinierte offensichtlich nicht nur Cosmin. Es nannte sich „Waldturm“ und war ein Wohnblock mit ausladenden und mit Bäumen bepflanzten Balkonen.
Nach dem Ende der Vorlesung verließ Cosmin als letzter die Bankreihe. Er war unschlüssig, ob er den Vorlesungsraum zusammen mit den anderen Zuhörern verlassen oder auf Dr. Benea warten sollte. Der Dozent unterhielt sich am Pult mit einem anderen Dozenten. Doch plötzlich wandte sich Dr. Benea zu ihm um. „Cosmin, ich würde mich gerne mit dir unterhalten“, rief er ihm auf rumänisch zu. „Bitte warte hier fünf Minuten auf mich!“
Cosmin nickte kurz und bemerkte, dass ihm einige der Studenten neugierige Blicke zuwarfen.
Es dauerte etwas mehr als fünf Minuten, ehe Dr. Benea am Podium die Unterhaltungen mit Kollegen oder Studenten beendet hatte.
Etwas verzagt trat Cosmin an das Podium heran. Dr. Benea kam ihm einen Schritt entgegen und nahm Cosmins ausgestreckte rechte Hand in beide Hände. „Sergiu erzählt so viel von dir, Cosmin. Mein Name ist Dr. Benea. Ich freue mich, dass es doch noch klappt und ich dich persönlich kennenlerne.“
„Hallo Dr. Benea. Eigentlich sind Sergiu und ich uns erst einmal begegnet“, erwiderte Cosmin ebenfalls auf rumänisch.
„Und trotzdem hilfst du ihm bei seinen Hausaufgaben.“ Dr Benea räumte Folien und Hefter in seine Aktentasche und blickte kurz auf seine Armbanduhr. „Die Cafeteria in der Mensa hat noch geöffnet. Darf ich dich auf einen Kaffee und Kuchen einladen?“
Bis Max zur Nachhilfe anrücken würde, blieben Cosmin noch anderthalb Stunden. „Gern.“

„Ich habe mir einige der Lösungen, die du meinem Bruder zugeschickt hast, angeschaut“, begann Dr. Benea, nachdem sie in der Cafeteria ihre Kaffeetabletts auf einem der freien Tische abgestellt und ihre Tassen mit dampfenden Kaffee befüllt hatten. „Natürlich wäre es mir lieber, Sergiu würde seine Hausaufgaben selber rechnen. Aber ich war auch erstaunt, dass du bereits Mehrfachintegrale oder Differentialgleichungen löst. Das ist schließlich kein Schulstoff. Und deine Lösungen waren nicht nur richtig, sondern auch sehr elegant.“
Cosmin spürte, dass Dr. Beneas Lob seine Ohrenspitzen erglühen ließ. „Die Großmutter eines Freundes hatte mir am Anfang des Schuljahres ein Mathelehrbuch fürs Ingenieurstudium geschenkt. Ich fand es sehr interessant, das Buch systematisch durchzuarbeiten.“
Dr. Benea nahm einen Schluck Kaffee und musterte Cosmin interessiert. „Sergiu sagte mir, dass er dich an unserer Uni herum führen möchte, wenn du mal wieder in Bukarest bist.“ Er lächelte und tätschelte Cosmins Arm. „Pass auf, dass du mir dabei nicht über den Weg läufst, Cosmin.“
Cosmin schaute Dr. Benea entgeistert an. „Wieso nicht?“
Dr. Benea lachte kurz auf. „Ab dem nächsten Semester bin ich bei uns im Fachbereich für die Aufnahme neuer Studenten zuständig. Ich glaube, ich würde dir sofort die Papiere für die Einschreibung an unserer Uni in die Hand drücken.“
Nun erwiderte Cosmin das Lächeln des Dozenten. „Danke, das ist sehr nett, aber ich würde gerne in Berlin Architektur studieren, falls ich es mir finanziell leisten kann. Ansonsten hier in Dessau.“
„Ich drücke dir die Daumen, Cosmin. Und solltest du nächsten Sommer wirklich nach Bukarest kommen und unsere Uni besuchen, bin ich selbstverständlich dein Führer.“
„Vielen Dank, Dr. Benea“, erwiderte Cosmin. „Nach Ihrem Vortrag würde ich mir auch gerne mal Siebenbürgen anschauen. Ich kenne in Rumänien nur die Gegend unten an der Donau und dort auch nur ein kleines Romadorf. Ihre Vorlesung war sehr interessant. Die Großstädte wie Sibiu, Brasov und Cluj sehen ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe, viel moderner.“
„Schau dir unbedingt mal Siebenbürgen an. In Sibiu hättest du Sergiu als Fremdenführer und im Haus unserer Eltern ein Gästezimmer.“
„Das wäre schön, danke.“ Ein bisschen bedauerte es Cosmin, dass er in Berlin oder in Dessau keinen Dozenten wie Sergius Bruder haben würde. „Dr. Benea, was unterrichten Sie?“
Dr. Benea lachte erneut auf. „Mein Fach ist bei den Architekturstudenten gefürchtet. Ich zeige die Grenzen des Machbaren auf und unterrichte Technische Mechanik.“ Cosmin fand nicht, dass er sich vor diesem Fach fürchten müsse und lauschte interessiert, was Dr. Benea über die Unterrichtsthemen erzählte und auch allgemein über den Ablauf des Studiums an der Bukarester Uni.

Die Stunde in der Cafeteria verstrich wie im Fluge. Als sich Cosmin von Dr. Benea verabschiedete, tat er es mit dem Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben.

Da war eine Träne!

Max

Am darauffolgenden Tag, dem letzten Schultag der ersten Schulwoche des neuen Jahres, trotteten Max und Cosmin nach dem Unterrichtsschluss gemeinsam in das Plattenbauviertel, wo Cosmin mit seinem Vater eine Zweiraumwohnung in einem der schäbigeren Blöcke bewohnten. Zum einen hofften sie, in Cosmins Zimmer wenigstens ein bisschen Zeit ungestört miteinander verbringen zu können, ehe Cosmins Vater von der Arbeit heimkehren würde. Zum anderen wollten sie bereits heute den allwöchentlichen Besuch der Kletterhalle durchziehen. Max nahm an, dass Dessauer Kletterer in den vier Wochen seiner Abwesenheit neue und hoffentlich auch sehr schwere Routen geschraubt hatten. Nach der langen Pause fieberte er der Kletterei an den extremen Routen geradezu entgegen.
Zwei Etagen über dem Fenster von Cosmins Zimmer schaute wieder einmal der ältere Mann zu ihnen hinunter.
Max schnaubte leise, während er sein Rad in den Fahrradständer neben der Eingangstreppe schob. „Hat der Kerl nichts Besseres zu tun?“, raunte er Cosmin zu. „Bestimmt ahnt der schon, dass was zwischen uns läuft.“
„Das glaube ich nicht“, beruhigte ihn Cosmin. „Mein Vater hat ihm schon hundert Mal erzählt, dass ich mit dem hübschesten Mädel aus seinem Dorf verlobt bin.“
Sie fanden die Wohnungstür der Munteanus abgeschlossen vor. Fast schien es, als hätte Cosmin Probleme, mit dem Schlüssel das Schlüsselloch zu treffen.
„Cos-Mi!“, sagte Max, als sie im Wohnungsflur ihre Jacken an die Haken der Flurgarderobe hingen.
„Was?“, fragte Cosmin und seine glühenden schwarzen Augen richteten sich auf eine Stelle, an der sich verborgen von Shirt und Unterhemd, Max’ Bauchnabel befand.
„Du musst mal wieder striffeln. Du guckst, als ob du mich fressen willst“, grinste Max und zog Cosmin in seine Arme.
Erst nach einigen Minuten lösten sich erst ihre Zungen und dann auch ihre Lippen voneinander. Jeden Moment konnte Cosmins Vater aufkreuzen und bei beiden Jungen verbeulte die Erregung die Vorderseite ihrer Jeans.
Cosmin deutete auf die Beule in Max’ Hose. „Maxi, du solltest vielleicht auch mal wieder… äh… striffeln.“
Max schaute an sich herunter und grinste. „Die Kabinen waren heute ständig besetzt.“

Oma Lisa hatte Max mehrere mit Hähnchenfleisch und Salat gefüllte Baguettes als Mittagsimbiss eingepackt. Während Max die Baguettes in der kleinen Küche der Munteanus auf zwei Teller verteilte, schaufelte Cosmin für seinen Vater Maisbrei und Krautwickel auf einen dritten Teller und stellte ihn in die Mikrowelle.
Nach der Mahlzeit verteilten sie Hefter und Schulbücher, die sie für die Abarbeitung der Hausaufgaben benötigten, auf dem Schreibtisch in Cosmins Zimmer. Die Zimmertür hatte Cosmin halb offen gelassen - für Max ein untrügliches Zeichen, dass auch Cosmin im Moment etwas anderes als die Erledigung der Hausaufgaben plante. Er setzte sich auf die Couch und ließ den Rücken gegen die Lehne sinken. Viel lieber hätte er die Couch ausgezogen.
Cosmin setzte sich zu ihm.
Er legte einen Arm um Max’ Hüfte und seine Hand glitt unter dessen Shirt. Max ließ den Kopf gegen Cosmins Schulter sinken und als Cosmin begann, ihm mit den Fingern durch die Haare zu fahren, schloss Max die Augen.

Komischerweise blieb es hell. Er blickte überrascht auf die Staffelei seiner Mutter mit einem darin eingespannten Papierbogen.
Wie zum Geier kommt ihre Staffelei in Cosmins Zimmer?
Cosmin saß immer noch neben ihm. Eine Hand streichelte seinen Bauch, die andere kämmte ihm das Haar. Max wollte etwas sagen, doch in diesem Moment betrat seine Mutter Cosmins Zimmer. Ein heißer Schrecken fuhr ihm durch die Glieder. Hastig versuchte er, von Cosmin abzurücken. Doch er klebte wie festgeleimt auf der Couch, unfähig sich zu rühren. Allerdings schien es seine Mutter nicht zu stören, dass sie sich wie ein Liebespaar aneinander schmiegten. „Maxi, warum willst du, dass ich euch zusammen male?“
„Er ist mein Freund.“
Seine Mutter lächelte. „Mehr nicht?“
Max griff nach der Hand, die seinen Bauch streichelte. Er fragte sich, ob seine Mutter die Beule in den Jeans sehen konnte.
„Ich liebe ihn!“
Anders als es Max befürchtet hatte, verschwand das Lächeln nicht aus ihrem Gesicht. Sie sagte etwas, doch noch bevor Max erfuhr, was sie von seiner Liebe zu diesem Jungen neben ihm hielt, wurde er von der Couch gerissen.
„Maxi, wach auf! Mein Vater!“, zischte ihm Cosmin zu und einen Augenblick später fand sich Max an Cosmins Schreibtisch wieder. Verzweifelt versuchte er, das verblassende Traumbild seiner Mutter festzuhalten. Hätte Cosmins Vater nicht wenigstens ihre Antwort abwarten können?
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der Wohnungstür. Cosmin ließ sich neben ihm auf den Stuhl fallen, griff nach einem Stift und tat so, als hätte er eben etwas in einen aufgeschlagenen Hefter geschrieben.
Cosmins Vater schaute ins Zimmer. „Hallo Jungs, ah… fleißig wie immer.“
Max nuschelte eine Begrüßung und Cosmin sagte seinem Vater , dass das Mittagessen bereits in der Mikrowelle stand.

„Wie lange habe ich gepennt?“, fragte Max, nachdem Cosmins Vater die Zimmertür hinter sich zugezogen hatte. Er klammerte sich verzweifelt an das blasse Traumbild seiner Mutter, das im Nirgendwo verschwinden wollte.
„Eine halbe Stunde etwa.“
„Waas?“ Max war es so vorgekommen, als wäre er nur fünf Minuten eingenickt. „Tut mir Leid, Cos-Mi. Ich bin echt ein Langweiler.“
Cosmin tätschelte Max’ entblößten Unterarm. „Wie du weißt, gucke ich dir gerne beim Schlafen zu, Maxi. Und höre dir gerne dabei zu. Hey, weinst du?“
„Quatsch!“, erwiderte Max und blinzelte die Nässe aus seinen Augen. Doch er bemerkte, dass sich ein Tropfen aus dem linken Auge löste und über seine Wange kullerte. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er Cosmins Lippen auf seiner Wange.
Cosmin leckte sich die Lippen. „Von wegen Quatsch! Das war eine Träne, Maxi!“
„Hatte was im Auge, vielleicht. Was habe ich erzählt?“
Cosmins Augen glühten auf. „Dass irgendwer dein Freund ist.“
„Das war alles?“
Cosmin schüttelte leicht den Kopf. Ohne seinen glühenden Blick von Max abzuwenden, erwiderte er: „Du hast auch gesagt, dass du ihn liebst.“
„Da ich nur einen richtigen Freund habe, kann eigentlich nur eine ganz bestimmte Person gemeint sein“, sagte Max leise und fühlte einen leisen Stich in der Brust als Cosmin den Blick abwendete.
Einmal mehr fragte sich Max, warum Cosmin sich scheute, selber solche Worte in den Mund zu nehmen. Immerhin hatte Cosmin bei der komischen Verlobungsfeier letzten Sommer dieser Camelia einen Heiratsantrag gemacht. Und den begründet man nicht mit solchen Sprüchen wie „Du bist ganz okay“ oder „Du bist mir sympathisch“.
Ihr gegenüber hatte er wahrscheinlich keine Scheu gehabt zu sagen: „Ich liebe dich“.
Er hat mir eben eine Träne aus dem Gesicht geküsst! Vielleicht sollte ich locker bleiben!
Cosmin schob ihm einen leeren Zettel auf seine Seite des Schreibtischs. „Los Maxi, fangen wir mit den Hausaufgaben an. Die Kletterhalle wartet.“

Er steht auf 1,0 in Sport

Max

In der Kletterhalle tummelten sich an diesem Abend etwa ein Dutzend Seilschaften, mehr als doppelt so viele Seilschaften wie an ihren bisherigen Klettertagen.

An einer der Wände, die vom Erdgeschoss bis zur Hallendecke in über zwanzig Metern Höhe reichten, hatten die Routenschrauber eine pyramidenförmige Rippe montiert. Ihre Spitze wuchs aus dem unteren Drittel der Wand und ihr Fuß ragte etwa zwei Meter aus dem oberen Drittel der ohnehin überhängenden Wand heraus. Die graue Oberfläche der Pyramide war nur spärlich mit kleinen blauen Griffen bestückt.
Nach dem Umkleiden betrachteten Max und Cosmin von der oberen Geschossebene aus die pyramidenförmige Rippe, die wie eine Haifischflosse aus der Wand ragte.
Cosmin schnaubte leise „Unmöglich!“
Max hing in seinen Gedanken bereits an der Rippe und hangelte an ihr nach oben, seine Finger krümmten und streckten sich dabei. Am oberen Ende der Rippe würde man sich mit der Linken an einem kleinen Griff hochziehen müssen, ohne Tritte für die Füße und ohne Sicht auf die abschüssige Fläche oberhalb der Rippe. Wenn man dort nicht einen der winzigen Knubbel erwischte, würde man aus der Wand segeln.
Game over!
„Eine glatte Zehn Plus, Jungs“, sagte jemand hinter ihnen. Max und Cosmin fuhren herum. Herr Recke und ein anderer, ebenfalls etwa vierzigjähriger Mann waren an die Brüstung heran getreten und warfen einen Blick auf die gewaltige Rippe.
Dann wandte sich Herr Recke an seinen Seilpartner. „Hansi, das sind meine beiden Sportskanonen, von denen ich dir erzählt habe.“ Der Mann nickte Max und Cosmin einen Gruß zu.
Die Jungen grüßten zurück.
„Gibt’s denn jemanden hier, der das da schafft?“, fragte Max mit einem Kopfnicken zur Wand mit der Rippe.
Herr Recke zwinkerte Max zu. „Bisher noch nicht, aber ich nehme an, das wird sich heute ändern. Übrigens nennt sich der Weg Quali und wisst ihr warum?“
Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr Herr Recke fort: „Wer das auf Anhieb packt ohne ins Seil zu fallen, ist im Herbst bei den Landesmeisterschaften im Hallenklettern dabei.“
„Wow!“ Für Max war klar, dass er heute an dieser Zacke hängen würde. Er stieß Cosmin an. „Na los, machen wir uns warm. Wir haben noch viel vor heute.“
Zunächst kletterten sie einige Routen im siebten, Max später auch im achten Grad. Zudem tat Max Herrn Recke den Gefallen und demonstrierte dem Sportlehrer, wie man das Dach nur mit den gelben Griffen durchsteigen konnte. Herr Recke versuchte es anschließend ebenfalls, musste schließlich aber doch blaue und rote Griffe benutzen, um nicht von der Decke zu segeln.
„Ich würde das auch mal probieren, natürlich mit den blauen und roten Griffen“, sagte Cosmin mit einem sehnsuchtsvollen Blick an die Decke, während Herr Recke das Seil vom Gurt löste.
Max nickte kurz. „Das wäre deine erste Acht Cos-Mi. Du bist echt gut drauf.“ Er beschrieb Cosmin die Schlüsselstellen der Route und wie sie sich meistern ließen. Dann begann Cosmin seine Hangelei zur Decke und Max folgte ihm mit bewundernden Blicken. Nach nur vier Monaten kletterte Cosmin, als wäre auch er mit Kletterschuhen groß geworden.
Der Junge ist echt ein Naturtalent!
Cosmin erreichte die erste Schlüsselstelle, den Übergang von der senkrechten Wand zum Dach. Ohne langes Herumgeeiere zog sich Cosmin weiter, bis auch seine Füße an der Decke hingen.
„Der Bengel hat erst im September angefangen mit Klettern?“, fragte nun auch Herr Recke.
Max nickte kurz zur gegenüberliegenden Seite der Geschossebene. „Dort an der Kinderwand!“
Herr Recke schaute wieder zur Decke. „Unglaublich!“
Cosmins Keuchen drang bis an Max’ Ohren. Nun musste er das Seil in den vorletzten Karabiner der Route einhängen und sich so lange an einem Griff halten. Als Cosmin ins Seil griff, um es einzuhängen, ließ es Max blitzschnell durch das Sicherungsgerät laufen und hielt den Atem an. Cosmins Beine erzitterten.
Kaum hing das Seil im Karabiner, schnappte Cosmin nach einem der blauen Griffe, von dem Max wusste, dass der wie ein Henkel war. Cosmin gönnte sich eine kurze Pause. Seine Beine beruhigten sich wieder. Wieselflink und in einer Abfolge, die ihm Max zuvor erklärt hatte, hangelte Cosmin an den letzten Griffen der Route bis zum Umlenkkarabiner. Sein Jubelschrei tönte von der Decke und am Boden stimmte Max in diesen Jubelschrei ein.
Kaum gelandet, fiel ihm Cosmin um den Hals. „Maxi, ich habe das Dach geschafft“, jauchzte Cosmin und Max erwiderte Cosmins Umarmung. „Du warst super, Cos-Mi“, flüsterte er ihm ins Ohr. „Aber wir haben Zuschauer hier.“
Cosmin löste sich von Max, immer noch freudestrahlend. „Mir egal! Meine erste Acht!“
Herr Recke klopfte Cosmin auf die Schulter. „Teufelskerl! Was hattest du eigentlich in der Elften bei mir in Sport?“
Max übernahm das Antworten für Cosmin. „Cosmin hatte in allen Fächern eine Eins, außer in Sport, da war’s 'ne Zwei.“
Herr Recke rieb sich das stopplige Kinn. „Da muss mir ein Fehler unterlaufen sein. In diesem Jahr steht Cosmin bei mir in Sport auf Eins Komma Null.“
Cosmins Strahlen wurde noch etwas heller. „Vielen Dank, Herr Recke.“ Er wandte sich wieder zu Max um. „Was machen wir jetzt?“
Max zeigte auf die Wand mit der Rippe. „Wir versuchen, mich zu qualifizieren.“
Das war allerdings leichter gesagt als getan. Als sie, gefolgt von Herrn Recke und dessen Seilpartner, die Kletterzone im Erdgeschoss erreichten, stieg einer der Dessauer Spitzenkletterer in die Route ein und zwei weitere Pärchen warteten offenbar auf ihre Chance, es ebenfalls zu versuchen. Eines der Pärchen, zwei ältere Männer, schienen Max zu kennen und traten beiseite.
Max analysierte die Bewegungen des Kletterers und vermutete, dass der es nur bis zur Hälfte der Rippe schaffen würde. Tatsächlich rutschte der Mann beim Versuch, das Seil in den zweiten an der Rippe befestigten Karabiner einzuhängen ab und baumelte gleich darauf zwei Meter von der Wand entfernt am Seil.
Das ist das Gute an dieser Route, fand Max. Kein langes Herumprobieren. Man rutscht ab und ist raus!
Der Seilpartner des erfolglosen Kletterers versuchte gar nicht erst, in die Route einzusteigen und machte dem hinter ihm wartenden Pärchen, einem glatzköpfigen Mann und einer drahtigen knapp vierzigjährigen Frau, Platz. Der etwa fünfzigjährige Mann kam Max irgendwie bekannt vor, obwohl er noch nie mit ihm geredet hatte.
Zunächst stieg die Frau in den Weg ein. Ihr gelang es immerhin, das Seil in jenen Karabiner einzuhängen, an dem der andere Kletterer gescheitert war. Doch einen Meter höher hing sie mit der Rechten an einem der blauen Griffe und tastete mit der linken Hand vergeblich nach dem nächsten Halt. Mit einem kurzen Aufschrei glitt sie von der Wand.
Ihr Seilpartner war trotz des Alters überraschend gelenkig und mit kraftvollen Zügen erreichte er mit der linken Hand den oberen Griff an der Rippe. Doch dort fand die rechte Hand nirgendwo einen Griff.
Du musst dich mit links halten!, rief Max dem Kletterer in Gedanken zu. Spreize die Beine so weit, dass du sie gegen zwei kleine Tritte pressen kannst, dann ziehen und mit rechts über die Kante greifen und dort einen der kleinen Griffe ertasten…
Doch der Mann hatte offensichtlich nicht mehr die Kraft, sich mit einer Hand an einem kleinen Griff zu halten und segelte aus der Wand.

Quali für die Landesmeisterschaft

Max

Max band sich in das Seil ein und fast schien es, als wäre Cosmin nervöser als er selber. Im Grunde hatte er alles gesehen, was er über die Route wissen musste. Entweder würde er es schaffen, sich einhändig an einem kleinen Griff hochzuziehen oder er würde fliegen und sich die Landesmeisterschaft im Hallenklettern kneifen. Ohnehin hatte sie nicht auf seiner Liste gestanden. Max hielt die Route für machbar. Zumindest am Türrahmen stellten einhändige Klimmzüge mit den Fingerspitzen kein Problem für ihn dar.
Sämtliche Kletterer auf der unteren Ebene warteten darauf, dass Max endlich los legte und zehn Meter über ihm drängelte sich noch mehr Leute an die Brüstung; einige von ihnen hatten ein Handy gezückt.
„Scheint so, als könnt’ ich Eintritt verlangen“, raunte Max Cosmin zu.
Cosmin trat von einem Bein auf das andere. „Maxi, ich hab’ dich im Seil. Wenn du willst, kannst du anfangen.“
„Cos-Mi, ich brauch’ ne zusätzliche Motivation. Wenn ich’s schaffe, fahren wir dann nächstes Wochenende nach Berlin?“
Cosmins schwarze Augen schienen jäh aufzuflammen und Max ahnte, woran Cosmin in diesem Moment dachte.
„Okay, ich versprech’s“, antwortete Cosmin leise. „Aber wenn du fliegst, müssen wir bis zu den Winterferien mit… du weißt schon mit was… warten.“
Der Gedanke an ein Wochenende mit Cosmin in seiner Wohnung in Berlin jagte einen Schuss Adrenalin durch Max’ Adern bis hin zu den Fingerspitzen.
Max erreichte problemlos die Rippe und nutzte den vermutlich letzten guten Stand, um sich den weiteren Verlauf der Route anzuschauen. Er würde am oberen Ende der Rippe all seine Kraft benötigen, um über die Kante zu gelangen. Jede Sekunde, die er beim Klettern an der Rippe verplemperte, würde an den Kräften zehren. Max schloss kurz die Augen. Es lockte die Landesmeisterschaft, ein Kräftemessen mit den besten Kletterern Sachsen - Anhalts. Und, was ihn im Moment mindestens genauso lockte, waren zwei ungestörte Nächte mit Cosmin in Berlin.
Ein Ruck ging durch seinen Körper und er griff nach dem ersten blauen Knubbel an der aus der Wand heraus ragenden Rippe. Zügig hangelte er von einem Griff zum nächsten, die Beine oftmals wie beim Spagat gespreizt und gegen die Knubbel gepresst, um die Finger zu entlasten. Er erreichte mit der linken Hand den letzten Griff an der Rippe. Hier würde er vergeblich einen Griff für die rechte Hand suchen. Der Griff für die linke Hand erlaubte es Max, zwei Finger darauf zu platzieren und er wusste, dass er sein Körpergewicht mehrere Sekunden lang an zwei Fingern halten konnte. Er musste es aber nicht nur halten, sondern auch hoch ziehen. Seine Beine um mehr als hundertachtzig Grad gespreizt erreichten seine Füße kleine Knubbel, gegen die er die gespreizten Beine so pressen konnte, dass er das zu ziehende Körpergewicht um einige Kilos verringerte.
Max stieß den angehaltenen Atem aus und zog, bis er einen Blick über die Kante werfen konnte. Die rechte Hand, eben noch recht nutzlos an die raue Oberfläche der Pyramidenseite gekrallt, flog nach oben und packte zielsicher den anvisierten Griff.
Nun flog sein linker Fuß zusammen mit der linken Hand auf die Kante. Nach einem kraftvoller Zug mit den Fingern der rechten Hand fand seine völlig entkräftete linke Hand Halt an einem Griff, der den Namen auch verdiente. Max hörte mehr als fünfzehn Meter unter ihm Cosmins Freudenschrei, aber auch den Beifall anderer Kletterer. Er richtete sich auf der abschüssigen Plattform oberhalb der Rippe so auf, dass er seine Hände völlig entlasten konnte. Auch das letzte Wandstück hing über und die Griffe boten oft nur ein oder zwei Fingerkuppen Platz. Aber im Vergleich zur Rippe erschien ihm die Wand über seinem Kopf beinahe wie ein Kinderspiel. Max wartete noch einige Sekunden ab und plante die nächsten Züge. Er spürte, wie die Kraft in seine Unterarme und Finger zurück floss.
Ohne Hast, aber auch ohne kräftezehrende Kunstpausen kletterte er weiter, bis er wenige Meter höher den Umlenkkarabiner am Ende der Route erreichte.
Wenige Sekunden später landete er wieder auf festem Boden.
Cosmin nahm ihn kurz in die Arme „Maxi, ich bin total stolz auf dich“, hauchte er ihm ins Ohr. Hinter ihm verkündete Herr Recke allen, die es wissen oder auch nicht wissen wollten, dass er Max’ Sportlehrer war.
Kaum hatten sich Max und Cosmin voneinander gelöst, umringten andere Kletterer die beiden Jungen und fragten Max Löcher darüber in den Bauch, wie er an der Route über diese oder jene Stelle gekommen war.
Erst nach einigen Minuten gelang es Max und Cosmin, sich in die obere Etage zu verziehen. Dort machten sie es sich mit Mineralwasser und Müsliriegeln auf einer Bank bequem.
Der glatzköpfige Mann trat mit einem Buch in der Hand an die Bank heran.
„Hi, mein Name ist Gerd.“ Er wandte sich an Max. „Glückwunsch zur Quali. Ich habe dich hier noch nie gesehen. Du bist nicht von hier, oder?“
Komisch! Wenn wir uns noch nicht gesehen haben, wieso kommt mir dein Gesicht dann so bekannt vor?
„Nee, ich bin eigentlich aus Berlin, mache aber hier die Zwölfte…“
… weil ich aus Berlin vor einem Kerl geflüchtet bin, in den ich mich hier verknallt habe.
Den zweiten Teil der Antwort ließ Max freilich unausgesprochen.
„Wenn du nichts dagegen hast, würden wir dich gerne beim Sachsen - Anhalt Cup dabei haben“, fuhr Gerd fort. „Das mit der Quali - Route war meine Idee. Ich hab aber ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass sie bezwungen wird, schon gar nicht so schnell.“
Er reichte Max das Buch. „Eine kleine Prämie von mir, Max. Vielleicht wollt ihr hier auch outdoor klettern, wenn es wieder wärmer wird. Das ist ein Kletterführer für die Klettergebiete in der näheren Umgebung. Viel Spaß dabei!“
Max bedankte sich und Gerd verließ nach einem Gruß die obere Etage.
„Wo soll’s hier Klettergebiete geben?“, fragte Cosmin mit gerunzelter Stirn. „Hier gibt es nicht mal Hügel.“
Max wendete das Buch in der Hand. Auf der Rückseite des Buches war der Autor abgebildet und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, wer der Mann war. In Berlin hatten er und Leon einen ähnlichen Kletterführer bei ihren outdoor - Klettereien verwendet, mit demselben Autor auf der Rückseite des Kletterführers. „Mann, das war der Kerl, der die Kletterführer schreibt.“
Den Rest des Kletterabends verbrachten sie an leichteren Routen. Es war bereits 22 Uhr, als sich die Jungen später im zu dieser Zeit verwaisten Stadtpark voneinander verabschiedeten. Die Fahrräder hatten sie an einen Baum gelehnt und sie wagten es in der Dunkelheit, sich eng umschlungen in den Armen zu halten.
„Wann willst du deinem Vater sagen, dass wir nach Berlin kommen?“, fragte Cosmin, während sie sich zögernd voneinander lösten.
„Morgen, schätze ich“, antwortete Max und zuckte mit der Schulter. „Meistens bimmelt er mich eh samstags an.“
Cosmin schien einige Sekunden angestrengt nachzudenken. „Maxi, sag ihm nicht, dass ich auch mitkomme. Zu auffällig. Weißt du, wenn meine Mutter erfährt, dass du nach Berlin kommst, wird sie mich anrufen und betteln, dass ich dich begleite.“
Max warf Cosmin einmal mehr einen bewundernden Blick zu.
Schlaue Kerlchen, dieser Bursche!
„Alles klaro, Cos-Mi!“, grinste er und griff nach seinem Fahrrad.
Cosmin schnappte nach seinem Arm. „Warte! Weißt du, worüber ich jetzt schon die ganze Zeit nachdenke, Maxi?“
„Sag’s!“
„Was ich tun muss, um mir auch ein Wochenende mit dir in Berlin zu verdienen.“
Das könnte ich dir sagen, antwortete Max in Gedanken und schwang sich auf sein Rad.

Wie sieht’s bei dir mit Kirschen aus?

Max

Den Samstagvormittag vertrieb sich Max dort, wo er sich im Haus seiner Großmutter am liebsten aufhielt - auf dem Dachboden.
Cosmin hatte ihn - beflügelt von seinem gestrigen Erfolg bei der Kletterei am Dach - am Morgen angeklingelt und wollte am Nachmittag schon wieder in die Kletterhalle. Also verzichtete Max auf das Hangeln an den Kletterwänden des Dachbodens und trainierte mal an den Turngeräten seine Beweglichkeit und mal an den Boxsäcken seine Schlagkraft, Trittstärke und Ausdauer. Inzwischen sah Max eine reelle Chance, gegen den Chinesen Tang nicht nur zu bestehen, sondern ihn auch zu schlagen, zumindest dann, wenn er sein jetziges Training bis zum Pferderennen im Juni weiter durchzog.
Auf der Treppe zum Dachboden ertönten die Schritte seiner Großmutter. Max stützte sein Gewicht nach einem Klimmzug am Reck mit gestreckten Armen an der Stange ab und begann, die Beine zum Spagat zu spreizen. Diese Übung forderte seine gesamte Konzentration, um das fragile Gleichgewicht zu halten.
Seine Großmutter betrat den Dachboden und blieb in einem sicheren Abstand vom Reck stehen. Sie schaute ihm lächelnd zu und Max ahnte, dass sie nun auch den Spagat sehen wollte. Immerhin waren ihre beiden Kinder Geräteturner gewesen. Max tat ihr den Gefallen und legte sogar noch einen drauf. Er hob die zum Spagat gespreizten Beine auf die Stange und stabilisierte das wacklige Gleichgewicht, indem er mit den Händen fest die Stange umklammerte. Das Lächeln im Gesicht seiner Oma wich einem erschrockenen Keuchen. „Maxi, mein Gott, du wirst doch da nicht runter fallen!“
„Naja Omi, es wäre jetzt nicht so toll, wenn du anfängst, Witze zu erzählen.“
„Das hatte eigentlich nicht vor“, sagte sie und angelte ein Handy aus ihrer Jackentasche. „Bleib so! Das muss ich Tobi schicken und fragen, ob er auch so etwas konnte, als er jünger war.“
Sie schoss ein Foto für ihren Sohn, seinen Onkel Tobias, und Max verlangte als Gegenleistung für sein Stillhalten, dass sie ihm ebenfalls das Foto schickte.
„Maxi, ich fahre in die Stadt. Eine Freundin hat mich vorhin für morgen zum Mittagessen eingeladen und ich will ein Geburtstagsgeschenk für sie kaufen. In zwei Stunden bin ich wieder hier. Wenn du Hunger hast bis dahin… du weißt ja wo alles steht.“
„Alles klaro, Omi“, erwiderte Max. Seine Gedanken kreisten bereits um die Frage, mit wem und wie er morgen die Stunden in einer sturmfreien Bude verbringen würde und ein Kribbeln kitzelte seine gedehnten Lenden.
„Junge, pass auf!“, rief seine Oma und machte einen Satz, als wolle sie versuchen, Max aufzufangen.
Max kippte nach hinten weg. Blitzschnell schwang er die Beine über die Stange und landete auf beiden Füßen.
„Herrgott Max, willst du mich ins Grab bringen?“
Max verpasste seiner Großmutter einen Kuss auf die Wange. „Hab dich lieb. Und jetzt verzieh dich lieber, ich will diesen Absprung noch mal üben.“
Doch vor dem Üben dieses Absprungs griff er sich sein Handy von der Umkleidebank, kaum dass seine Großmutter den Dachboden verlassen hatte. Er bemerkte mehrere verpasste Anrufe, einer davon war von seinem Onkel Leon, dem er noch am gestrigen Abend von seiner Qualifikation für die Meisterschaft im Hallenklettern geschrieben hatte. Zwei weitere Anrufe waren von seinem Vater. Max entschloss sich, die Trainingspause zu nutzen, um seinen Vater zurückzurufen und ihn bei der Gelegenheit über die Reisepläne für das nächste Wochenende zu informieren. Doch vorher schrieb er Cosmin eine Nachricht.
„Ich bin morgen Mittag ein paar Stunden allein zu Hause!“
Als hätte Cosmin auf eine Nachricht von ihm gewartet, poppte Sekunden später dessen Nachricht auf: „Nicht allein! Wir können zusammen bei Dir trainieren und machen dann auch die Nachhilfe bei Dir.“
Voller Vorfreude auf dieses Training und diese Nachhilfe wählte Max die Nummer seines Vaters.
„Mein Glückwunsch, Maximilian. Wie mir Bianca erzählte, hast du dich in Physik wacker geschlagen“, begrüßte ihn sein Vater. „Und auch wenn meine Begeisterung für das Klettern ziemlich nachgelassen hat, ich gratuliere zur Qualifikation.“
„Danke. Vater, ich wollte dir auch sagen, ich werde nächstes Wochenende nach Berlin kommen.“
„Freut mich. Das dürfte kein Problem sein, da du jetzt halbwegs zurecht kommst mit deiner Stiefmutter. Bring auch Cosmin mit.“
„Ich glaube, Cosmin will zu Hause bleiben. Ähm Vater, ich komme zwar auch bei euch vorbei, aber eigentlich wollte ich in meine Wohnung und mich dort mit ein paar Kumpels treffen.“
„Dann wirst du den Ausflug nach Berlin um zwei Wochen verschieben müssen.“
„Und wieso?“, fragte Max trotzig.
Sein Vater ließ sich von Max’ aufsässigem Tonfall nicht aus der Ruhe bringen. „Im Moment verdient deine Wohnung an jedem Tag weit mehr als einhundert Euro für dich, und die Steuern habe ich bereits abgezogen.“
Max runzelte verwirrt die Stirn. „Wie macht sie das? Geht sie irgendwo arbeiten?“
„Nun, genau darüber wollte ich mit dir reden, Maximilian. Sie vermietet sich an Feriengäste“, erwiderte sein Vater und erklärte ihm, warum eine ungenutzt gelassene Wohnung in einem Haus unweit der Stadtmitte so war, als würde man Geld zum Fenster hinaus werfen. Zumal die Erhaltung des Hauses einiges kostete. „Selbstverständlich haben wir deine Ferienzeiten aus der Vermietung ausgeklammert.“
„Ich verstehe“, sagte Max beinahe kleinlaut. Zwar war er nicht begeistert darüber, sich die eigene Wohnung reservieren zu müssen. Aber er verstand durchaus die Beweggründe seines Vaters und hoffte zugleich, dass dessen Vortrag damit endete. „Also dann komme ich am letzten Wochenende im Januar, okay?“
„Ich habe es notiert!“
Tatsächlich wechselte nun Max’ Vater das Thema. „Habt ihr euch bei der Fahrschule angemeldet?“
„Ja, am Dienstagnachmittag geht’s los.“
„Viel Erfolg, mein Sohn. Und grüße Cosmin von mir. Seine Mutter würde sich bestimmt sehr freuen, wenn du ihn Ende Januar oder in den Ferien mitbringst.“
Genau das habe ich auch vor!, grinste Max in sich hinein, entgegnete aber, dass er Cosmin nicht zwingen könne mitzukommen.
Er beendete kurz darauf das Gespräch. Seine Großmutter hatte ihm bereits das Foto mit dem Spagat auf der Reckstange geschickt und er leitete es an Leon weiter. Dann kehrte er zu den Turngeräten zurück.
Eine Stunde später beendete Max das Training. Er sah, dass Leon auf sein Foto reagiert und erneut versucht hatte, ihn anzurufen.
Max hockte sich auf die Umkleidebank und wählte die Nummer seines Onkels.
„Meine Güte kleiner Champ, du hast dich in der Halle mit einer Zehn Plus für eine Landesmeisterschaft qualifiziert? Ich bin total stolz auf dich“, flutete gleich darauf Leons Redeschwall aus dem Handy und ließ warme Schauer durch Max’ Brustkorb rieseln.
„Hatte einen großen Bruder, der mich schon Kletterwände hoch scheuchte, als ich in Windeln steckte, Bruderherz.“
Leon lachte auf. „Und als du die Windeln nicht mehr brauchtest, haben wir zusammen Ziegelsteine zertrümmert. Maxi, wenn du die Route noch mal kletterst, macht ein Video. Wie geht’s mit dem Kampftraining voran? Bei dem Foto mit dem Spagat auf einer Reckstange wäre wohl auch Van Damme vor Neid erblasst. Coole Nummer!“
Max mogelte bei der Anzahl seiner Trainingsstunden mit Simon und verdoppelte sie kurzerhand, während er das Reaktionstraining mit Cosmin verschwieg.
Leon gab ihm einige Tipps zum Training und versprach, ihm weitere Kampfsport - Videos zuzusenden. „Ich versuche, in den Winterferien nach Berlin zu kommen und mit dir zu trainieren. Wie ich hörte, kommst du ohne deinen komischen Stiefbruder?“
Max schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. „Der komische Stiefbruder macht jeden Tag Nachhilfe mit mir, lässt sich von mir zweimal in der Woche als mein Sparringpartner verprügeln und hat mich gestern bei der Quali gesichert.“
„Ja ja, schon gut. Ich staune nur, dass der Kerl zu Hause bleiben will und dir nicht hinterher hechelt.“
„In den Winterferien ist er mit seiner Kirsche aus Rumänien zusammen“, erwiderte Max, auch wenn er das Thema lieber in der Versenkung gelassen hätte.
„Das klingt jetzt so, als wärst du nicht gerade glücklich drüber.“ Max spürte das Lauern in Leons Stimme.
„Was soll der Scheiß?“, brauste er auf. „Mir egal, was die beiden treiben!“
„Hehe, komm wieder runter Kleiner. Weil wir gerade beim Thema sind, wie sieht es bei dir mit Kirschen vernaschen aus?“
Nicht nur Max’ Ohrenspitzen schienen plötzlich in Flammen zu stehen. Er konnte Leon unmöglich sagen, dass er kein Mädchen hatte. „Ich will mich im Februar mit Caro treffen. Irgendwie komme ich nicht los von ihr“, schwindelte er und hörte Leons Schnauben. „Ich hab dir doch gesagt, sie will’s jetzt auch wissen, Onkelchen. Und bei dir?“
„Hm, ich komme auch nicht los von meiner Kleinen. Huong fliegt nächstes Wochenende zu mir nach Bratislava.“
„Echt?“ Offenbar hatte es seinen Onkel diesmal ernsthaft erwischt. Mit der vietnamesischen Medizinstudentin war Leon inzwischen länger als einen Monat zusammen. Normalerweise wechselten Leons feste Freundinnen spätestens nach zwei Wochen.
Leon erzählte anschließend noch etwas über das Wohnbauprojekt, das er in Bratislava managte und Max nahm an, dass Leon wieder einmal versuchte, sein Interesse für einen solchen Job zu wecken.
„So, genug gequatscht“, sagte Leon schließlich. „Bei mir um die Ecke gibt’s einen Karateklub und genau da will ich jetzt hin. Denk daran, mir ein Video von der Quali zu schicken.“

Lieber verschluck’ ich mich an deiner Zunge

Cosmin

Eigentlich hatte Cosmin vorgehabt, erst am späten Vormittag zum Haus von Max’ Großmutter zu radeln und den Sonntagmorgen zu nutzen, um einen Blick auf Sergius neueste Mathehausaufgaben zu werfen. Nachdem es ihm am Abend zuvor erneut gelungen war, das sogenannte „Dach“ in der Kletterhalle ebenso wie weitere schwere Routen zu durchsteigen, fühlten sich seine Arme an, als würden sie aus Blei bestehen. Also konnte er zumindest für heute ein Krafttraining vergessen. Doch als ihm sein Vater beim Frühstück sagte, dass er einen Anruf von Onkel Radu erwartete, ergriff Cosmin die Flucht.
„Der verrückte Kerl ist schon oben auf dem Boden“, begrüßte Max’ Großmutter Cosmin, nachdem sie ihm die Haustür geöffnet hatte. „Ihr schreibt am Freitag eine Mathematikklausur und statt mal ins Buch zu gucken, klebt er jetzt an der Decke oder turnt auf dem Reck herum.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Tante Lisa“, erwiderte Cosmin und deutete auf den Rucksack in seiner Hand. „Nach dem Training nehmen wir uns alte Klausuraufgaben vor.“ Zugleich schob er den Gedanken an all die Sachen beiseite, mit denen sie sich die Rechnerei an den Klausuraufgaben versüßen wollten. Vermutlich würde ihm das schlechte Gewissen wie mit riesigen Lettern im Gesicht geschrieben stehen.
Oma Lisa lächelte dankbar. „Ich muss wieder in die Küche und bereite euch etwas zum Mittagessen vor. In einer Stunde fahre ich zur Geburtstagsfeier einer Freundin.“
Wie es seine Großmutter vermutet hatte, hing Max mit den Händen an der Decke, die Finger um zwei knubbelige Griffe gekrallt. Und das, obwohl er am Abend zuvor noch einmal die extrem schwierige Qualifikationsroute durchstiegen hatte. Nach etwas mehr als zehn Klimmzügen ließ sich Max von der Decke fallen.
Cosmin begriff nicht, wie man sich an solchen Knubbeln halten und daran auch noch Klimmzüge machen konnte. „Maxi, so was werde ich nie können“, seufzte er.
Max drückte Cosmin kurz an sich. „Ich werde nie so ein schlauer Bursche sein wie du, Cos-Mi. Ich finde, wir ergänzen uns super! Wolltest du nicht erst um elf hier sein?“
„Onkel Radu plaudert gerade mit mit meinem Vater und meistens will er dann auch mit mir plaudern und reicht sein Handy danach an Camelia weiter.“
In Max’ Gesicht schien die Sonne aufzugehen. „Und du wolltest nicht mit deinem Plüschkätzchen plaudern?“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Worüber? Schon wieder darüber, welchen Namen unsere Kinder haben sollen? Oder wohin wir in den Flitterwochen reisen?“
In Max’ Gesicht ging die Sonne wieder unter.
Er zerrte einen Gesichtsschutz und Boxhandschuhe aus einem Kleiderschrank. „Wenn ich daran denke, dass die in ein paar Wochen hier aufkreuzt, krieg’ ich 'ne Krise. Los Cos-Mi!“ Er drückte Cosmin ein Paar Boxhandschuhe in die Hand und legte den Gesichtsschutz an. „Mach Kleinholz aus mir!“
So sehr sich Cosmin auch abmühte, er landete keinen Treffer, der Max hätte von den Füßen reißen können. Blitzschnell wehrte Max Cosmins Schläge oder Tritte ab und legte stattdessen ihn übers Knie.
Nach etwas mehr als einer halben Stunde erschien Max’ Großmutter auf dem Dachboden. Sie schaute einige Sekunden der Rangelei der beiden zu. Dann stellte sie eine Schale mit Weintrauben auf die Umkleidebank und wandte sich wieder den Jungen zu. „Jetzt macht eine Pause!“
„Geht gleich los, Omi“, erwiderte Max. „Wolltest du nicht zu 'ner Party?“
Oma Lisa fischte die leere Verpackung eines Müsliriegels vom Boden. „Ich fahre in zehn Minuten los. Euer Essen steht im Backofen.“
Kaum hatte sie den Dachboden verlassen, fielen beide Jungen über die saftigen Trauben her. Anschließend griff Max nach seinem Handy und Cosmin bemerkte, dass sich ein Lächeln auf Max’ Lippen stahl. Cosmin warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf dessen Handy. Max las eine WhatsApp Nachricht von Leon und wie es schien, reagierte der Onkel mit der Nachricht auf das Video von Max’ Kletterei an der Qualifikationsroute. Cosmin fühlte einen leisen Stich in seiner Brust. Deshalb also hatte sich Max gestern Abend noch einmal an dieser Rippe, genauso furchteinfößend wie eine Haifischflosse, hinauf gekämpft - um Leon ein Video davon zu schicken.
Irgendwann wirst du dich entscheiden müssen Maxi. Leon wird das zwischen uns nicht akzeptieren!
„Maxi, zeig mir, wie du das mit den Klimmzügen da an der Decke gemacht hast“, bat Cosmin, als Max endlich das Handy beiseite legte.
Max erhob sich von der Bank und zog Cosmin auf die Füße. „Okay, aber raste nicht aus, wenn du es nicht gleich schaffst, Cos-Mi. Leon meint, ich habe erst das Klimmziehen gelernt und dann das Laufen.“
Cosmin verdrehte unauffällig die Augen und nuschelte, ob es irgend etwas in Max’ Leben gäbe, das nicht auf Leons Mist gewachsen war.
Max band sich einen Beutel mit Magnesiapulver um die Hüfte und erklomm die Dachschräge, bis er die beiden Knubbel erreichte, an die er sich vorhin geklammert hatte. Inzwischen hing er auch mit den Füßen an der Decke. „Cos-Mi, versuche hier lieber zu üben, wie man die Füße wieder hoch kriegt, wenn sie abgerutscht sind.“
Er löste die Füße von der Decke und ließ Beine und Bauch in eine vertikale Position gleiten. Sein Unterhemd verrutschte und Cosmin musste sich zwingen, nicht die gespannten Muskelstränge an Max’ Bauch und an den Beinen anzustarren. Beinahe so, als würde Max an einer Sprossenwand hängen, hob er Beine, dann auch Hüfte und Oberkörper, bis die Füße wieder an der Decke klebten. Diese Übung wiederholte er einige Male, bevor er sich fallen ließ und elegant auf den Füßen landete.
Nun band sich Cosmin den Beutel mit weißem Magnesiapulver um, bestäubte damit die Finger und erreichte ebenfalls die beiden knubbeligen Griffe. Die Füße presste er so gegen zwei Tritte, dass die Finger nicht das gesamte Körpergewicht halten mussten. „Maxi, ich rutsche hier bestimmt ab“, keuchte Cosmin verängstigt und beruhigte sich etwas, als er Max’ Hände an seinem zitternden Hinterteil spürte.
„Keine Bange, ich hab dich“, rief ihm Max zu. „Lass die Füße runter, ich helfe ein bisschen mit!“
Vermutlich wären Cosmins Beine im hohen Bogen von der Decke gesegelt, doch Max stützte sie ab, bis sie senkrecht nach unten hingen. „Nun versuch’ die Beine wieder anzuheben!“
Cosmin schaffte es nur, die Beine so zu heben, dass sie mit dem Oberkörper nahezu einen rechten Winkel bildeten. Die Kraft wich aus den Fingern, die nach zwei Kletterabenden in der Halle ohnehin ausgepowert waren.
„Maxiiii!“
Die Finger rutschten von den Griffen. Im nächsten Augenblick landete Cosmin in Max’ Armen und schaffte es immerhin auf diese Weise, Max von den Füßen zu reißen. Sie purzelten auf die Matten. Cosmin rollte sich von Max herunter, blieb aber, den Kopf auf den angewinkelten Arm gestützt, neben Max liegen. Schweigend starrten sich die Jungen an. Cosmin schluckte, der Anblick des engelsgleichen Gesichts schien bei ihm denselben Reflex auszulösen wie der Duft eines Leckerbissens.
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen.
Er weiß ganz genau, was mit mir los ist!
„Cos-Mi, du guckst so verhungert?“, kicherte Max und stützte nun ebenfalls den Kopf auf seinem angewinkelten Arm. „Falls du mich fressen willst… meine Oma ist gerade weggefahren.“
Cosmin erwiderte Max’ Grinsen. „Möchtest du denn von mir gefressen werden?“
Max zog Cosmin an sich. „Friss mich!“
Cosmin ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erstickte mit den Lippen Max’ Grinsen, seine Zunge drang in Max’ Mund ein und mit der rechten Hand zerrte er an dessen Turnhosen. Zugleich reckte sich die eigene Erektion Max’ tastender Hand entgegen.
„Cos-Mi“, japste Max, als sich ihre Lippen voneinander lösten und die Jungen sich gegenseitig die Turnhemden über die Köpfe streiften. „Ich hab mich fast an deiner Zunge verschluckt!“
„Möchtest du, dass ich dich wie meine Plüschkatze küsse?“, fragte Cosmin und umfasste Max’ nackten Oberkörper.
„Wie küsst du ne Plüschkatze?“
„So hier“, sagte Cosmin, kniff den Mund zu und berührte mit den zusammen gepressten Lippen Max’ Wange.
„Nee, heb dir das für Camelia auf. Lieber verschluck’ ich wieder deine Zunge.“
„Hier?“
Max zog Cosmin die Turnhose von den Lenden. „Warum nicht? Hier können wir wenigstens nicht vom Bett runter fallen!“

Max schien sich vorerst damit zufrieden zu geben, dass Cosmin sich die Plüschkätzchen - Küsse für Camelia aufsparen wollte. Nur hin und wieder musterte er in den darauffolgenden Wochen Cosmin mit einem unergründlichen Blick, als würde er ihn mit Röntgenstrahlen durchleuchten.
Doch Cosmin ahnte, dass sich Camelia nicht mit solchen Küsschen begnügen würde. Je näher die Winterferien rückten, desto häufiger und länger wurden ihre WhatsApp - Nachrichten, garniert mit einer Flut von Selfies. Sie verstand es, ihre Reize so zu präsentieren, dass sich Cosmins Blicke darauf verfingen. Zwar löschte Cosmin diese Fotos aus dem Chat, speicherte allerdings einige davon als Erinnerung an seine erste Freundin in einem versteckten Ordner ab.

Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs Cosmins Sorge, der bevorstehende Besuch der Möchtegern - Braut und ihres Vaters könne erneut zum Bruch mit Max führen.
Und mit dieser Sorge war Cosmin nicht allein.

Sie sieht schön aus - und gefährlich

Cosmin

Als Max und Cosmin am ersten Montag im Februar in der ersten großen Pause auf den Pausenhof trotteten, steckte ihnen noch das gemeinsam in Berlin verbrachte Wochenende in den Knochen. Cosmin hätte es nicht für möglich gehalten, dass man vom Küssen Muskelkater bekommen kann. Aber seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie versteinert, zudem schmerzte der Gaumen. Während sie sich einen Weg durch das Gewimmel auf dem Pausenhof bahnten, erzählte Max, dass seine Zunge von der Knutscherei mindestens doppelt so dick wie normal sein müsse.
Und hätten sie sich gestern nicht gebremst, hätte man vermutlich auch den Lippen angesehen, womit sie in Berlin ihre Zeit verbracht hatten.
Ihr Pausenplatz, die Betoneinfassung des Kiesbettes unterhalb der Kletterwand, war noch verwaist. Sie mussten eine dünne Schicht aus Pulverschnee von der kniehohen Betonmauer wischen, ehe sie sich setzen konnten.
Nur wenige Augenblicke später trudelten auch die Jungen der Parallelklasse ein.
„Und?“, wandte sich Max nach der Begrüßung an Simon. „Hast du den schwarzen Gürtel?“
Simon schlug mit der rechten Faust in seine linke Hand. „Jo, und im Frühling will ich den zweiten Dan!“
„Gratuliere! Erzähl’, wie war’s?“
Max rückte an Simon heran, um mehr über die Dan - Prüfung zu erfahren und Cosmin, dessen Interesse am Kampfsport sich in engen Grenzen hielt, war bei ihm erst einmal abgemeldet.
Moritz zwängte sich in die entstandene Lücke zwischen Max und Cosmin. „Das habe ich alles schon zig Mal gehört, Mann“, raunte er Cosmin zu. „Was habt ihr Schönes getrieben in Berlin?“
Hitze schoss Cosmin bis in die Ohrenspitzen und dass er nicht errötete, lag einzig an seiner dunklen Gesichtsfarbe.
Das binde ich dir lieber nicht auf die Nase!
Moritz bemerkte offensichtlich Cosmins Verlegenheit. „Ich meinte, habt ihr euch was angeguckt oder so?“
Meistens haben wir uns gegenseitig angeguckt, erinnerte sich Cosmin.
„Klar. Das Brandenburger Tor und am Samstagabend waren wir mit Max’ Vater und meiner Mutter oben im Fernsehturm.“
Cosmin wollte lieber nicht wissen, was Max’ Vater dort im Restaurant für das Abendessen hingeblättert hatte.
Moritz erzählte, wie gerne auch er mal mit Simon verreisen würde und wechselte zu einem weniger verfänglichen Thema. „Wie geht es mit eurer Fahrschule voran?“
„Mit der Theorie sind wir fast durch, nach den Ferien geht es mit den mit den Fahrstunden los“, erwiderte Cosmin und fühlte sich etwas unwohl in seiner Haut. Moritz hatte für die Fahrschule den Lohn für den Ferienjob der letzten beiden Sommerferien hingeblättert.
Cosmin bemerkte in seiner Hosentasche das Vibrieren des Handys, mit dem es den Eingang einer WhatsApp - Nachricht verkündete. Cosmin nahm an, dass Sergiu ihm ein Skript zu den Mathe - Vorlesungen geschickt hatte. Doch statt des erwarteten Skripts war eine Nachricht von Camelia auf dem Handy gelandet, zusammen mit einem Selfie, das sie im letzten Sommer am Ufer der Donau geschossen hatten und das Camelia in seinen Armen zeigte.
„Wow, ist sie das? Deine Verlobte?“, fragte Moritz leise.
Cosmin zuckte leicht zusammen und ließ das Handy in seiner Hosentasche verschwinden. Er warf einen Blick an Moritz vorbei und sah, dass sich Max zusammen mit den anderen ein Video auf Simons Handy anschaute. „Naja, keine richtige Verlobte… sozusagen“, stammelte er.
„Ich verstehe nicht, dass du sie hier her kommen lässt, wenn du nicht mit ihr zusammen bleiben willst“, sagte Moritz mehr zu sich selbst.
Ich verstehe es selber nicht!, erwiderte Cosmin in Gedanken.
„Wann kommt sie?“, bohrte Moritz weiter.
„Nächsten Dienstag.“
„Aber du haust doch mit Max erst am Sonnabend ab, oder?“
„Am Freitag.“ Cosmin überlegte fieberhaft, wie er dem Gespräch eine andere Richtung geben konnte, aber Moritz ließ nicht locker. "Das sind vier Tage, an denen Max vielleicht mit ansehen muss… "
„Moritz, er weiß, dass ich sie höchstens so küsse, wie man eine Plüschkatze küsst.“
Moritz ruckelte an seiner Hornbrille. „Wenn sie merkt, dass Max zwischen ihr und dir steht, wird sie… sie wird ihn eifersüchtig machen. Würde Simmi so eine Freundin haben, ich könnte es mir nicht angucken, wenn er mit ihr 'rum knutscht, es würde viel zu sehr weh tun.“
Cosmin überlegte einmal mehr, wie es ihm an Max’ Stelle ergehen würde und der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.
Ich könnte ihm nicht einmal bei Plüschkatzen - Küssen zuschauen.
Cosmin vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Max und ich, wir werden die vier Tage überstehen.“
Moritz stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich hoffe es. Aber sie sieht sehr schön aus… und gefährlich.“

Unerbittlich rückte der Tag näher, an dem Onkel Radu und Camelia auf dem Flughafen in Leipzig aus dem Flugzeug steigen würden und Cosmin sandte immer öfter Stoßgebete in den Himmel, dass anschließend die Tage bis zur geplanten Flucht nach Berlin recht schnell und ohne Zoff mit Max vergehen würden. Sein Vater hatte für den Besuch aus Porumbita eine günstige und dennoch gut ausgestattete Ferienwohnung in einem sanierten Plattenbau unweit der eigenen Wohnung gebucht. Onkel Radu plante, in den Ferien nach Augsburg zu einem seiner Brüder zu fahren und bei der Gelegeheit der dortigen Verwandtschaft auch den künftigen Schwiegersohn vorzustellen. Das hielt die Kosten für die Übernachtung in Dessau halbwegs in Grenzen. Cosmins Vater hatte darauf bestanden, die Übernachtung aus der eigenen, freilich nicht besonders gut gefüllten Tasche zu bezahlen.
Einen Tag vor Camelias Ankunft kehrte Cosmin später als üblich vom Training mit Max nach Hause zurück. Es war, als hätten beide Jungen gespürt, dass sich vielleicht schon bald drohende Gewitterwolken am Horizont ihrer Beziehung zusammenbrauen könnten. Nach dem Training hatten sie mehr als eine halbe Stunde auf der Umkleidebank schweigend nebeneinander gesessen, sich gegenseitig in den Armen gehalten, die Köpfe aneinander gelehnt. Cosmin hatte Max beim Abschied das Versprechen abgenommen, nicht gleich Schluss zu machen, sollte ein Kuss mit Camelia mal wie ein Kuss aussehen.

Als Cosmin die Wohnung betrat, deckte sein Vater bereits den Abendbrottisch.
„Cosmine, es gibt ein Problem“, sagte sein Vater, kaum dass beide am Tisch saßen.
Sag, dass bei Onkel Radu was dazwischen gekommen ist und der Besuch morgen ausfällt!
Doch Cosmins Flehen blieb ungehört.
„Ich kann morgen Nachmittag nicht zum Flughafen fahren. Das Flugzeug aus Bukarest landet kurz nach halb vier. Würdest du mit dem Zug zum Flughafen fahren, um Radu und Camelia abzuholen?“
Cosmin seufzte leise. Er wäre ohnehin mit zum Flughafen gefahren, und mit dem Zug war die Fahrt vermutlich sogar bequemer als neben seinem Vater im altersschwachen Dacia. „Ich suche nachher eine Zugverbindung.“
„Danke Cosmine.“ Sein Vater griff in die Hosentasche und schob zwei Zwanziger auf Cosmins Seite des Tisches. Er räusperte sich. „Radu erzählte mir vorhin, dass Camelia bereits die Stunden zählt“, sagte er, ohne von seinem Teller aufzublicken, auf dem sich ein halbes Dutzend Wiener Würstchen häuften.
"Tata, ich werde im Sommer nicht heiraten und verschwinde am Freitag nach Berlin. Ihr mit euren idiotischen Heiratsplänen habt mich in eine total beschissene Lage gebracht! ", brauste Cosmin auf und knallte die Gabel zusammen mit einem halben Würstchen auf seinen Teller.
„Beruhige dich Junge! Ich meinte es doch nur gut mit dir. So ein hübsches Mädchen wie Camelia wirst du hier in Dessau nicht finden.“
„Tata, sie ist hübsch, und will viele Kinder von mir, na schön… Aber ist das auch, was ich will?“
Sein Vater zog den Kopf ein und schien nur noch Augen für seinen Teller zu haben. Cosmin winkte ab und griff nach einem Papiertuch, um die Sauerei zu beseitigen, die sein mit Senf beschmiertes Würstchen auf dem Küchentisch hinterlassen hatte.

Nach dem Essen warf sich Cosmin in seinem Zimmer auf die Couch und suchte auf dem Handy eine Zugverbindung. Anschließend wählte er Max’ Handynummer.
„Cos-Mi, sag, dass die morgen nicht einfliegen“, tönte Max’ Stimme aus dem Handy.
„Schön wär’s. Maxi, ich soll die beiden morgen abholen, mein Vater muss arbeiten. Würdest du mit zum Flughafen kommen? Ich bezahl’ unsere Zugtickets.“
Cosmin lauschte Max’ Atemzügen. Offenbar war Max alles andere als begeistert, für die unerwünschten Besucher auch noch Empfangskomitee zu spielen.
„Maxi, bitte. Wenn du dabei bist, gehen die mir nicht mit ihren Hochzeitsplänen auf die Nerven.“
Max atmete tief durch. „Die wird dich da auf dem Flughafen abknutschen…“
„Plüschkätzchen, schon vergessen?“
„Ich hasse Plüschkatzen!“
„Maxi…“
„Wann müssen wir los?“
„Gleich nach der Schule.“

Die Plüschkatze hat Krallen

Cosmin

Auf dem Flughafen Halle/ Leipzig warteten zusammen mit Max und Cosmin etwa zwanzig Leute vor den Glastüren des Ankunftsbereiches.
Während in den Gesichtern der anderen Wartenden ein Ausdruck freudiger Erwartung oder auch von Ungeduld lag, zog Max ein langes Gesicht und ballte die Fäuste, als würde er im Ring stehen.
Eine Gruppe Reisender strömte durch die geöffneten Türen; sie führten kein größeres Gepäck mit sich. Einige der Leute hatten ihre dicken Winterjacken über die Schulter gelegt oder trugen sie in den Händen. Nach einer kurzen Winterepisode zu Beginn des Monats wehte wieder einmal ein Frühlingshauch über das Land.
Cosmin beobachtete mehre Paare, die sich mit Umarmungen und Küssen begrüßten und bemerkte, dass Max die Begrüßungsszenen mit finsteren Blicken verfolgte.
„Maxi, denk an meine Plüschkatze.“
„Ich hasse Plüschkatzen!“
„Das sagtest du bereits“, erwiderte Cosmin und reckte den Hals, da nun auch immer mehr Reisende mit Taschen und Koffern aus dem Ankunftsbereich die Türen passierten. Er erspähte im Gewühl Onkel Radus wuchtige Gestalt; auf dem Kopf des Onkels thronte ein schwarzer Hut aus Lammfell. Neben ihm her tippelte Camelia und versuchte einen Blick über die Köpfe der Reisenden vor ihr zu erhaschen.
Onkel Radu deutete nach vorn in Richtung des Ausgangs und mit einem Freudenschrei sprintete Camelia los und zog dabei einen kleinen Rollkoffer hinter sich her.
Ein paar Augenblicke später fiel sie Cosmin um den Hals. „Cosmi, ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe. Hast du mich auch so vermisst?“, hauchte sie ihm ins Ohr.
„Klar“, erwiderte Cosmin leise, froh, dass Max nicht verstand, was er gerade sagte. Er erwiderte ihre Umarmung, umfasste sie jedoch mit beiden Händen so, als könne er sich an ihrem Rücken die Finger verbrennen. Ehe er sich aus ihrer Umarmung lösen konnte, um nach Onkel Radu Ausschau zu halten, presste Camelia ihre Lippen auf seinen Mund. Aus den Augenwinkeln sah Cosmin, dass Max sich von ihnen abwendete.
„Camelia“, nuschelte Cosmin an Camelias Lippen vorbei. „Ich möchte dir meinen Stiefbruder und besten Freund Max vorstellen.“
Augenblicklich versteifte sich Camelia. „Wo… ?“
Ihr suchender Blick fand Max.
Ihr schönes, eben noch strahlendes Gesicht begann, sich zu einer Faust zusammenzuballen.
„Was will der denn hier?“, rief sie verärgert.
Max bemerkte offenbar, dass die Knutscherei erst einmal vorbei war und wandte sich mit einem Lächeln, das seine zusammengebissenen, blendend weißen Zähne entblößte, zu Camelia um. „Hi, ich freue mich genauso, dich zu sehen.“
Onkel Radu trat an Cosmin heran und begutachtete ihn wie eine seiner teuren Antiquitäten. „Was für ein Prachtkerl! Schön dich zu sehen, Cosmine!“
„Hallo Onkel Radu, ich …“ Onkel Radu drückte Cosmin an sich und den Rest des Satzes verschluckte der Pelzmantel. Dann wandte er sich zu Max um und seine von buschigen Brauen gekrönten Augen weiteten sich. „Wer ist denn dieser hübsche Kerl hier?“
„Mein Stiefbruder Max. Er ist auch mein bester Freund.“
„Und benimmt sich wie Cosmis Aufpasser. Er will nicht, dass Cosmi mich im Sommer heiratetet“, platzte Camelia mit schriller Stimme dazwischen.
Onkel Radu lachte schallend und tätschelte Max’ Schulter. „Lass mich raten, schöner Mann. Du würdest dir meine Kleine am liebsten selber ins Ehebett holen, oder?“
Cosmin verzichtete darauf, das zu übersetzen.
Max erwiderte Onkel Radus Bemerkung erneut mit einem Lächeln, bei dem er die zusammen gebissenen Zähne entblößte. „Einer von uns beiden riecht nach Schaf.“
Onkel Radu wandte sich an Cosmin.
„Max sagt, dass er sich freut, Sie kennenzulernen, Onkel Radu.“
Onkel Radu nickte Max zu. „Ganz meinerseits.“ Dann blickte er um sich. „Hier gibt es eine Autovermietung. Also los, Cosmine. Lass uns ein Auto mieten und von hier verschwinden.“

Max

Cosmin half dem Onkel am Schalter der Autovermietung bei der Auswahl eines Mietwagens und bei der Erledigung der Formalitäten. Max und Camelia standen ein paar Schritte abseits, Koffer und Taschen hielten sie auf Distanz zueinander. Beide wischten auf ihren Handys herum. Auf Max’ Handy lief ein Video, das die Durchsteigung einer tausend Meter hohen Wand in Kalifornien zeigte. Doch vor seinen Augen lief ein ganz anderer Film ab. Wie in einer Endlosschleife sah er Camelia in Cosmins Armen, die Lippen der beiden zu einem Kuss verschmolzen. In jenem Moment hatte sich sein Herz angefühlt, als würde es in einem Schraubstock stecken.
So also küsst er seine Plüschkatze?
Für Max war klar, dass er sich solche Szenen nicht noch einmal antun konnte. Vielleicht wäre es erträglicher gewesen, würde Camelia so aussehen wie die meisten Mädchen an der Schule. Doch stattdessen war sie eine dunkelhäutige Schönheit, der die Männer auch hier im Flughafengebäude heimliche Blicke zuwarfen.
Wahrscheinlich wäre auch ich scharf auf sie gewesen, hätte ich sie im letzten Sommer kennengelernt.
Durch den Vorhang seiner blonden Haare sah er, dass Camelia ihn aus den Augenwinkeln anstarrte.
Sie denkt wahrscheinlich gerade darüber nach, wie sie mich um die Ecke bringen kann.
Onkel Radu und Cosmin gesellten sich zu ihnen.
„Alles erledigt. Wir können zum Auto gehen“, sagte Cosmin auf deutsch. Camelia löste ihren Blick von Max und schmiegte sich an Cosmin.
Einen Moment lang überlegte Max, ob es für ihn nicht besser wäre, mit dem Zug zurück nach Dessau zu fahren. Cosmin schien sein Zögern zu bemerken.
„Maxi, Plüschkatze, schon vergessen?“
„Cos-Mi, es soll Leute geben, die auf Plüschkatzen stehen.“

Sie begaben sich zum Parkplatz der Mietwagenfirma, wo sie ein Angestellter zu einem BMW - Geländewagen führte. Offenbar spielte Geld keine Rolle für Onkel Radu und Max wollte lieber nicht darüber nachdenken, wie vielen armen Schluckern der Mann mit der Schleuserei das Geld aus der Tasche gezogen hatte.
Sie verstauten das Gepäck im Kofferraum. Camelia zog Cosmin zu sich auf die Rücksitzbank und deutete - an Max gewandt - auf den Beifahrersitz. „Du dort sitzen“, sagte sie auf deutsch.
Max schnappte Cosmins Arm und nickte zum Beifahrersitz. „Du müssen helfen Onkel Radu, ich nicht sprechen rumänisch, ich hinten sitzen.“
Cosmin sagte etwas auf rumänisch zu Camelia und huschte auf den Beifahrersitz.
Max machte es sich auf der Rücksitzbank bequem, während Camelia so weit von ihm weg rückte, wie es in dem geräumigen Wagen möglich war.
Onkel Radu steuerte das Auto vom Parkplatz. Kurz darauf erreichen sie die Autobahn.
„Es ist sehr nett, sich mit dir zu unterhalten“, tippte Max in eine Übersetzungsapp auf seinem Handy und zeigte Camelia die rumänische Übersetzung.
Sie warf ihm einen giftigen Blick zu und tippte nun ihrerseits etwas in ihr Handy.
„Cosmi wird mich im Sommer heiraten. Und ich will nicht, dass du zu unserer Hochzeit kommst“, las Max gleich darauf auf dem Display ihres Handys.
Er bemerkte, dass Cosmin ihn im Rückspiegel beobachtete und zwinkerte ihm zu. Dann tippte er eine Antwort ins Handy.
„Von welchem Cosmin redest du? Mein Cosmin fliegt mit mir im Sommer zum Klettern nach Amerika.“
Camelia warf ihre pechschwarzen Haare zurück und so, als wolle sie ihr Handy durchlöchern, tippte sie auf dem Display herum.
„Mein Cosmin sitzt hier im Auto!“
Max’ Antwort bestand aus zwei Worten: „Meiner auch.“
Allerdings fragte er sich, ob Cosmin das am Ende dieser Woche immer noch sein würde.

Onkel Radu schien es zu genießen, dass es auf weiten Strecken der Fahrt keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gab und bretterte mit mehr als zweihundert Stundenkilometern über die Autobahn. Nach nur zwanzig Minuten erreichten sie die Autobahnabfahrt nach Dessau.
Max tippte Cosmin auf die Schulter. „Cos-Mi, sag diesem Onkel, er soll mich am Bahnhof absetzen. Da steht mein Fahrrad.“
Cosmin wandte sich mit gerunzelter Stirn zu Max um. „Kommst du nicht mit zu mir?“
Wozu? Um euch beim Knutschen zuzugucken?
„Ich will ein bisschen trainieren. Außerdem hast du Besuch, okay?“
„Aber die Hausaufgaben…“
„Die machen wir morgen!“

An diesem Tag prügelte sich Max seinen Frust mehr als drei Stunden von der Seele. Immer wieder stellte er sich vor, was Cosmin und Camelia gerade miteinander anstellten und hieb auf die Boxsäcke ein, als wolle er sie pulverisieren. Am Abend sank er völlig erschöpft ins Bett. Vielleicht wäre er von Albträumen heimgesucht worden, doch er fand auf dem Handy eine Nachricht von Cosmin, die ihm etwas Hoffnung machte.

„Maxi, noch drei Tage, dann haben wir es überstanden.“

Eine unerfreuliche Überraschung

Max

Am nächsten Morgen trafen sich Max und Cosmin wie an jedem Schultag am Rathaus, um den Rest des Schulweges gemeinsam zurückzulegen.

„Wie geht’s der Plüschkatze?“, fragte Max, während sie inmitten der zur Schule trottenden Mädchen und Jungen über den Marktplatz schlenderten.
Max entging nicht, dass Cosmin seinem Blick auswich.
„Ich nehme an, sie schläft noch. Woher soll ich das wissen? Sie pennt in der Gästewohnung!“
Plötzlich griff er nach Max’ linker Hand, die auf dem Lenker des Fahrrads lag.
„Maxi, ich finde es selber total beschissen. Ich… ich könnte dir auch nicht zugucken, wenn eine dich so… wenn sie dich so abknutschen würde.“
„Sie sieht echt süß aus, deine Plüschkatze“, murmelte Max wie im Selbstgespräch vor sich hin.
Cosmin seufzte und zog seine Hand zurück. „Das allein reicht aber nicht aus“, erwiderte er leise.
Auch an anderen Schultagen war es längst zur Gewohnheit der beiden Jungen geworden, dass sich unter der Schulbank ihre Beine berührten oder sie manchmal auch die Knie gegeneinander pressten und sie die Wärme genossen, die dabei von einem zum anderen und wieder zurück floss. Doch heute fanden in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet fühlten, auch ihre Hände zueinander. Am Ende des Schultages hatten diese heimlichen Zärtlichkeiten Max’ Sorgen in einen der hinteren Winkel seines Kopfes verdrängt. Doch das änderte sich jäh, als er zusammen mit Cosmin inmitten der aus dem Schulhaus strömenden Schülerscharen auf den Vorplatz der Schule hinaus trat.

Wie es schien, gafften viele Jungen der oberen Klassen, unter anderem auch Chris und seine Kumpel, zu einer Ecke des Schulhauses, als hätte sich dort das achte Weltwunder materialisiert.
Gleich darauf gefror Max das Blut in den Adern. Camelia lehnte an der Hauswand, eine milde Brise spielte mit ihren samtschwarzen Haaren, die ihr bis zur schlanken Taille reichten. Sie schien sich nicht für die bewundernden Blicke der auf dem Vorplatz herum stehenden Jungen zu interessieren, ihre schwarzen Augen richteten sich auf den Eingang und stachen für den Bruchteil einer Sekunde in Max’ Augen. Dann stieß sie sich von der Hauswand ab. Sie bahnte sich einen Weg durch das Gewimmel auf dem Vorplatz, gefolgt von den Blicken ihrer Bewunderer. Im nächsten Moment fiel sie Cosmin um den Hals. Cosmin war offenbar tief in Gedanken versunken gewesen, er wirkte von Camelias Ansturm völlig überrumpelt.
„Camelia, wieso… ?“ Camelias Lippen verschlangen den Rest seiner Frage.
Max blickte sich genervt um und sah überall völlig entgeisterte Gesichter, aufgesperrte Münder oder Stielaugen. Am Fahrradunterstand bemerkte er Maja und Florian. Beide hielten hielten Händchen und begafften aus weit aufgerissenen Augen die Knutscherei neben ihm.
Max bemerkte, dass sich Cosmin heimlich den Verlobungsring überstreifte.
Er verdrehte genervt die Augen und legte seine Hand auf Cosmins Schulter. „Ich mach die Fliege.“
Cosmin löste sich von Camelia. Er sagte etwas auf rumänisch und wandte sich an Max. „Maxi, tut mir Leid. Ich… kommst du nachher zu mir?“ Die Frage klang beinahe wie ein Flehen.
Wozu? Um dir schon wieder dabei zuzugucken?
Camelia warf Max einen spöttischen Blick zu.
„Cos-Mi, die paar Hausaufgaben krieg ich alleine hin.“
Max wandte sich zum Gehen, doch Cosmin ergriff seinen Arm. „Maxi, komm schon. Sie wird nicht da sein, wenn du kommst.“
„Wieso sagst du ihr nicht einfach, dass sie sich verpissen soll“, erwiderte Max und schenkte Camelia ein schiefes Lächeln, das normalerweise vielen Mädchen den Atem stocken ließ. „Es war wieder schön, mit dir zu plaudern, Prinzessin.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begab er sich zu den Fahrradständern.
Er nickte Florian einen Gruß zu und wandte sich an Maja.
„Ich hab’s dir doch geflüstert, oder? Dieser stille Bursche ist verlobt und bald schon mit der Dame da verheiratet.“
Maja wollte offenbar etwas sagen, doch Max schnappte sich sein Rad und ließ den Vorplatz hinter sich.

Seine Großmutter schien zu spüren, dass Max’ Laune einen Tiefpunkt erreicht hatte und sich etwas wie ein Holzbock in sein Herz bohrte. Nach einem kleinen Imbiss wollte er die Treppe hinauf steigen, die vom Wohnzimmer bis hinauf zum Dachboden führte.
„Maxi!“
„Was?“, fragte Max gröber, als er es eigentlich sagen wollte.
Oma Lisa erhob sich von ihrem Arbeitsplatz in der Nische des Wohnzimmers und zog Max in ihre Arme. „Maxi, wenn du Kummer hast und irgendwann darüber reden möchtest…“
Ihn durchfuhr ein leiser Schreck. Seine Oma wusste natürlich, mit wem Cosmin im Moment zusammen war. Ahnte sie, dass der Grund für seinen Kummer Cosmin hieß?
Er erwiderte kurz ihre Umarmung. „Omi, mach dir keine Sorgen. Ich brauch einfach mal 'ne Pause, okay?“

Wie schon am Vortag wurden die Boxsäcke auf dem Dachboden zum Blitzableiter für Max’ Frust. Nie zuvor hatte er es geschafft, länger als eine halbe Stunde auf alle vier Boxsäcke zugleich einzutreten oder einzuschlagen, ohne von einem der wild schaukelnden Boxsäcke getroffen zu werden.
Schweißüberströmt ließ er sich nach dieser Tortur auf die Umkleidebank sinken und leerte in einem Zug eine Flasche Wasser, die ihm seine Großmutter unterdessen zu seinen Sachen gestellt hatte.
Mehr aus Gewohnheit griff er nach seinem Handy. Er sah, dass Cosmin viermal versucht hatte, ihn anzurufen.
Versuchs weiter!
Außerdem zeigte sein Handy einen verpassten Anruf von Caroline an. Sie hatte ihm auch auf WhatsApp geschrieben und gefragt, wann er nach Berlin fahren wolle.
Einen Moment lang fragte sich Max, ob er bei Caro Trost finden würde, falls Cosmin nicht loskam von dieser Märchenprinzessin.
Für mich wäre Caro jedenfalls das süßere Plüschkätzchen!
Während er solchen Gedanken nachhing, hatten sich seine Finger selbständig gemacht. Verblüfft stellte er fest, dass sie die Rückruftaste für Cosmins Anrufe gedrückt hatten.
„Maxi, ich wollte das nicht… ich meine, dass sie zur Schule kommt“, ertönte nur einen Augenblick später Cosmins Stimme aus dem Handy.
„Ich auch nicht. Ohne die würden wir heute zusammen hier trainieren“, schnaubte Max und versuchte das Bild von der Knutscherei auf dem Vorplatz aus seinem Kopf zu bekommen.
„Komm zu mir, wenn du mit dem Training fertig bist, okay?“
„Ich habe keinen Bock. Ich meine, euch ständig beim Knutschen zuzugucken.“
„Maxi, es ist für mich nicht so wie wenn wir das machen. Also kommst du?“
„Cos-Mi, wenn die da ist, verschwinde ich wieder!“
„Noch zwei Tage, Maxi. Dann verschwinden wir zusammen nach Berlin.“
Werden wir wirklich zusammen nach Berlin verschwinden?
Inzwischen war sich Max nicht mehr sicher, dass sie übermorgen zusammen im Zug nach Berlin sitzen würden.

Anders als es sich Max erhofft hatte, war Camelia noch in der Wohnung der Munteanus. Cosmin zog ihn in den Korridor, während Max auf der Stelle kehrt machen wollte.
„Maxi, wir sind gleich allein!“, versicherte ihm Cosmin und fuhr hastig fort: „Onkel Radu ist auch hier. Sie schauen sich irgend so einen Film an und gehen dann zum Abendessen in eine Kneipe. Ich habe gesagt, dass wir ohne Ende Hausaufgaben machen müssen und ich nicht mitkommen kann!“
Max fühlte, wie sich Wärme in seinem Brustkorb ausbreitete und die bohrenden Holzböcke in seinem Herzen zum Rückzug zwang. Er strich mit den Fingern über Cosmins Lippen. Doch statt in Cosmins Zimmer zu gehen, warf er zunächst einen Blick ins Wohnzimmer. Onkel Radu und Camelia lümmelten auf der Couch, während Cosmins Vater es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. Sie starrten wie gebannt auf den Fernseher, wo ein Film ohne Ton, aber mit rumänischen Untertiteln lief. Wenn überhaupt schaute sich Max Filme an, in denen Felswände bezwungen oder Tritte und Schläge ausgeteilt wurden. Und obwohl nichts von alldem in diesem Film passierte, kamen Max die gerade ablaufenden Szenen bekannt vor, in denen ein hilfsbereiter Mann erst für vier ältere Damen in einem Auto den Reifenwechsel übernimmt und anschließend im Restaurant einen älteren Herrn vorm Ersticken an einem Stückchen vom Steak rettet.
Er fühlte einen Kloß im Hals, an dem er zumindest nicht ersticken würde. Dieser Film war einer der Lieblingsfilme seiner Mutter gewesen und handelte von einem Mann, der ein und denselben Tag immer wieder durchlebt.
„N’ Abend alle zusammen“, sagte Max.
Cosmins Vater und Onkel Radu erwiderten seinen Gruß mit einem Kopfnicken, Camelia hingegen ignorierte ihn.
Cosmin zog an seinem Arm. „Willst du den Film gucken oder mit mir… äh… Hausaufgaben machen?“
„Ich bin echt scharf auf Hausaufgaben“, grinste Max und ließ sich von Cosmin in dessen Zimmer ziehen.
Allerdings musste es Max nach dem Ende des Films ertragen, dass sich Camelia betont schamlos von Cosmin verabschiedete.
Kurz vor dem Ende des Schulhalbjahres gab es nur noch einen Lehrer, der die Klasse mit Hausaufgaben beglückte - der Deutschlehrer Herr Schneider - zugleich auch ein Hobbyastronom, wollte bis zum Freitag einen dreiseitige Beschreibung des nächtlichen Sternenhimmels. Während Camelia wie eine Klette an Cosmin festklebte, kehrte Max in seinen Gedanken in den Sommer nach dem Unfalltod seiner Mutter zurück. Leon hatte damals mit ihm eine fast siebenwöchige Campervan Tour durch Klettergebiete im Südwesten der USA unternommen. Abends hatten sie oft bis Mitternacht unter einem überwältigenden Sternenhimmel am Lagerfeuer gesessen. Die Erinnerung half ihm nicht nur, ein paar Sätze aufs Papier zu bringen. Es gelang ihm auch, Camelias Knutscherei und das Schmatzen ihrer Lippen auszublenden.
Cosmin sagte etwas auf rumänisch und endlich ließ Camelia von ihm ab und verschwand aus dem Zimmer.
Zehn Minuten später waren die Jungen allein. Cosmin rückte mit dem Stuhl näher an Max heran, sein linker Arm legte sich um Max’ Schulter.
Max Blick verfing sich in der Glut von Cosmins Augen; sie erschienen ihm größer als sonst. Sein Blick glitt hinunter zu Cosmins Lippen, die sich den eigenen Lippen näherten. Doch ehe sich ihre Lippen berührten, wich Max zurück.
Enttäuschung breitete sich auf Cosmins Gesicht aus. „Du bist also doch sauer!“
„Nein!“ Max Finger strichen über Cosmins glühende Wangen. „Es ist nur, deine Camelia sabbert beim Knutschen und deine Lippen sind voller Spucke von der. Ich will diese Spucke nicht.“
Cosmins Gesicht hellte sich wieder auf. Er kicherte leise und wischte mit Handrücken über seinen Mund. „So besser?“
Max schnappte nach Cosmins Nacken und im nächsten Moment tanzten die Zungen der beiden ihren wilden Tanz.
Ohne diesen Tanz zu unterbrechen, zogen sich die Jungen zur Couch.
„Mann, wie ich das vermisst habe!“, japste Max, als sie Minuten später ihren Zungen eine Pause gönnte."
„Ich auch“, hauchte Cosmin und ließ seinen Kopf gegen Max’ Schulter sinken.
„Cos-Mi?“
„Hm?“
„Mal ganz ehrlich. Kriegst du einen Steifen, wenn die dich abknutscht?“
Cosmin warf Max einen unergründlichen Blick zu, sagte aber nichts.
„Komm schon, ich verrate dir auch alles.“
Cosmin zuckte schwach mit der Schulter. „Naja, ein bisschen. Aber … äh, nicht so steif wie jetzt.“
Max streichelte die Beule in Cosmins Jogginghose. „Könnte es sein, dass die uns hier überraschen?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich will es nicht riskieren. Maxi, in zwei Tagen sind wir in Berlin.“