Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Abenteuer im Gebirge

Max

Als sich nächsten Vormittag die jungen Leute auf der Terrasse der Berghütte zum Frühstück einfanden, herrschte am Tisch fast schon Katerstimmung, was auch am reichlich geflossenen Wein am Abend zuvor liegen mochte. Zudem trübten vielleicht auch dichte Nebelschwaden, die vom Tal aufstiegen und sich über die Berge wälzten, die Stimmung.
Aber immer wieder ertönten am Tisch auch Klagen darüber, dass das Wochenende mal wieder viel zu schnell vergangen sei.

Besonders unglücklich starrten Lucas und Tim sowie die beiden Mädchen an ihrer Seite während des Frühstücks in die Kaffeepötte. Die gebuchten Betten der beiden Jungen waren auch in dieser Nacht leer geblieben und Max fragte sich, ob die vier sich in der Nacht im selben Zimmer vergnügt hatten. Auch Sergiu zog ein Gesicht, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen und hörte seiner Freundin Daniela nur mit einem Ohr zu. Zudem schien er für sie nur ein Auge übrig zu haben. Das andere war wohl für Tim reserviert. Merkwürdigerweise sah es so aus, als wäre das bei dem Blondschopf ebenso der Fall.
Warum machen die Bengel mit ihren Mädchen rum, obwohl sie ein Auge aufeinander geworfen haben?
Max wusste zwar keine Antwort darauf. Aber er hatte lebhafte Erinnerungen daran, wie verklemmt auch er und Cosmin am Anfang gewesen waren.

Anders als die Leute ringsum konnte es Max kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Einerseits fühlte er ein intensives Ziehen in den Lenden beim Gedanken an die einsame Schutzhütte, die ihm Constantin gestern gezeigt hatte. Zum anderen fieberte Max der Kletterei an den gewaltigen Felswänden entgegen.

Mittags verabschiedeten sie sich von den Leuten aus der Bukarester Studentengruppe und den vier Jungen aus der Parallelklasse.
Es störte Max nicht, dass Sergiu Cosmin dabei etwas länger umarmte, als es für einen freundschaftlichen Abschied üblich war. Auch wenn Cosmin ihm gegenüber das Wörtchen „Liebe“ nicht aussprach, fühlte Max inzwischen mit jeder Faser seines Herzens, was Cosmin aus welchem Grund auch immer nicht über die Lippen brachte.

Die Wanderung zur einsamen, im Wald am Fuße der Steilwände versteckten Hütte erwies sich als recht beschwerlich, auch wenn sie größtenteils bergab führte. Hin und wieder verschwand der Pfad zwischen Felsblöcken und später auch im Unterholz des immer dichter werdenden Waldes. Nach einem steilen Abstieg in ein Seitental wand sich der Pfad in Serpentinen wieder bergauf zum Fuße der Steilwand.
Max versuchte mit den Augen das von verkrüppelten Kiefern gebildete Dickicht zu durchdringen. Hier irgendwo musste sich jene Hütte befinden, die in Gerds Kletterführer als chronisch überfüllt beschrieben wurde. Constantin hatte ihm erklärt, dass von dort ein etwa ein Kilometer langer Trampelpfad bis zu der einsamen Schutzhütte am Fuße der Steilwand führte. Sie folgten weiter den steil ansteigenden Serpentinen. Hier und da schimmerte bereits der nackte Fels der Steilwand zwischen den Bäumen hindurch.

Plötzlich blieb Max wie angewurzelt stehen und wandte sich zu Cosmin um, der hinter ihm keuchend die Serpentine hinauf stapfte.
„Halt mal kurz die Luft an, Cos-Mi. Hörst du das?“
Cosmin erbleichte.
„Da ruft jemand um Hilfe. Eine Frau… nein zwei Frauen!“, japste er.
Max hatte sich also nicht getäuscht!
„Los komm!“, rief er und kämpfte sich durch das Unterholz in die Richtung, aus der er die Hilferufe vernommen hatte.
Rechts von ihm hörte er aufgeregte Männerstimmen. Dort lichtete sich der Wald etwas und Max sah eine Hütte auf dieser Lichtung. Rauchwölkchen kringelten sich aus dem Schornstein auf ihrem Dach. Mehrere Männer standen vor der Hütte und schienen ebenfalls den Hilferufen zu lauschen.

Max stürmte weiter bergauf durch das Unterholz. Die Hilferufe der Frauen hörten sich nun wie Geschrei an. Max glaubte auch ein wütendes Knurren zu hören.
Hunde?
Vor ihm lichtete sich der Wald und endlich erblickte er die beiden Frauen. Oder eher Mädchen, kaum älter als er selber. Sie wichen kreischend vor einem pelzigen Ungetüm zurück. Neben dem Bären, der die Frauen um mindestens eine Handbreit überragte, hoppelte ein Bärenjunges im Farn herum.
Also handelte es sich bei dem Bären um ein Muttertier.
Und offenbar war die Bärenmutter wütend. Sie machte einen Satz, landete auf ihren Vordertatzen. Max sah sie bereits über die Mädchen herfallen.

„Hey, nimm mich, du blödes Vieh!“, brüllte er. Die Bärin wandte sich kurz um. Sie riss ihre mit beeindruckenden Zähnen bewaffnete Schnauze auf und stieß ein wütendes Knurren aus. Dann wandte sie sich wieder den Frauen zu. Nur drei oder vier Sätze, und das Ungetüm wäre über den beiden Frauen, die sich ängstlich aneinander klammerten.
Max ergriff einen im Unterholz liegenden Ast. Er brach ein Stück davon ab und warf ihn in Richtung der Bärin. Die Bärin war zu weit weg, der Ast schlug irgendwo im Farndickicht ein.
Das Bärenjunge quiekte erschrocken auf.
Die Bärin richtete sich wieder auf und fuhr mit sperrangelweit aufgerissenem Maul zu Max herum. Erneut fiel sie auf die Tatzen.
Sie sprang los.
Max wirbelte herum, nahm nun selber die Beine in die Hand. Ein paar Schritte weiter sah er Cosmin, der ihn aus vor Schreck geweiteten Augen anstarrte und sich auf den Boden warf.
„Das Bärenspray!“, schrie Cosmin. „Oder stell dich tot!“
Scheiße!
Bis ich das Spray aus dem Rucksack hole, bin ich tot!
Hinter ihm brach das Monster durchs Unterholz.
Scheiße! Gleich bin ich tot!

Max zerrte sich den Rucksack von der Schulter, warf ihn hinter sich.
Er vermochte später nicht zu sagen, ob ihm die Opferung des Rucksacks das Leben rettete. Die Bärin hielt kurz inne, um am Rucksack zu schnuppern. Das verschaffte Max die Sekunden, die er bis zu den nahen Felsen benötigte. Obwohl die Wanderschuhe alles andere als klettertauglich waren, gelang es ihm, am nahezu senkrechten Fels eine Höhe von sieben oder acht Metern zu erreichen.
Unter ihm tapste nun auch die Bärin zur Felswand. Sie riss erneut ihr Maul auf, aus ihren Augen sprach pure Mordlust.
Und dann begann sie den Nachstieg. Max keuchte erschrocken auf, als er sah, wie die Bärin am Felsen hinauf kletterte.
Doch ein oder zwei Meter über dem Boden rutschte sie ab und purzelte ein Stück weit den Abhang hinunter.

Statt zur Felswand zurückzukehren, untersuchte sie nun ein weiteres Mal Max’ Rucksack. Vielleicht auch, weil das Junge daran schnüffelte.
Max sah, dass Cosmin die beiden Mädchen zur Hütte führte, von der ihnen drei Männer entgegen stapften.
Erst als zehn Minuten später die Bärin mit ihrem Jungtier im Wald abtauchte, wagte er es, den Fels hinunter zu klettern. Noch immer dröhnte der Herzschlag wie das Hämmern eines altersschwachen Schlagbohrers in seinen Ohren. Neben dem Rucksack sank er auf die Knie. Die Deckeltasche war halb abgerissen und die Vorderseite des Rucksacks auf einer Länge von etwa dreißeig Zentimetern aufgeschlitzt. Vielleicht hätten die Bären den Rucksack völlig zerfetzt, aber zum Glück transportierte Cosmin die Essensvorräte. Beim Geruch des Zeltes und Kletterausrüstung in Max’ Rucksack war den Bären vermutlich rasch der Appetit vergangen.

Max fluchte leise. Der Rucksack hatte ihm zweifellos wertvolle Sekunden verschafft. Aber nach dieser Tour würde er einen neuen benötigen.
„Maxi, bist du völlig irre!?“, ertönte Cosmins Stimme hinter ihm. „Hast du nicht gelesen, was da überall auf den Schildern steht? Nicht wegrennen…“
Cosmin hockte sich mit geschultertem Rucksack neben Max. Der Schrecken stand ihm noch immer im Gesicht geschrieben.
„Cos-Mi. Ich dachte, das war’s für mich“, sagte Max leise und spürte plötzlich Cosmins Lippen an seiner Wange.
„Du Idiot. Mach so was nie wieder!“, drang Cosmins Schluchzen an sein Ohr.
Max zog Cosmin an sich. Er strich ihm verschwitzte Zotteln aus dem Gesicht und hauchte einen Kuss auf Cosmins Stirn. „Tut mir Leid, Cos-Mi. Ich hatte Angst, das Vieh will die beiden Mädel killen.“
Er blickte auf und erstarrte.

Die beiden Mädel standen, ebenfalls mit geschulterten Rucksäcken, nur zwei Schritte neben ihm. Sie sahen tatsächlich kaum älter als er selber aus, beide hatten eine sportliche Figur. Die schulterlangen, lockigen Haare des einen Mädchen quollen unter einem breiten Stirnband hervor und schimmerten rötlich. Das andere Mädchen hatte offenbar asiatische Vorfahren, zumindest vermutete es Max, als er ihren Blick aus den mandelförmigen Augen erwiderte. Ihr halblanges, schwarzes Haar war vom Wind zerzaust.

„Hi Max, ich bin Kate“, sagte das schwarzhaarige Mädchen auf englisch. „Und meine Freundin heißt Sue. Du warst sehr mutig. Danke, dass du uns geholfen hast. Cosmin hat Recht. Hätten auch wir uns hingelegt und uns totgestellt…“
„Hey…“ Max sprang auf. Er warf Cosmin einen fragenden Blick zu und reichte beiden Mädchen die Hand. Ihr Englisch klang so, als wären sie aus Amerika. „Nichts passiert! Woher seid ihr?“
„Aus einer Kleinstadt im Norden British Columbias“, erwiderte Sue und Kate ergänzte: „Wir sind mit der Highschool fertig und gehen ab September zusammen auf eine Uni in Prince George. Das ist unsere erste Europa - Tour.“
„Cool… und ausgerechnet hier läuft euch ein Bär über’n Weg. Dabei habt ihr dort selber welche, oder?“
Kate lächelte schwach. „Vor allem Schwarzbären, aber auch ein paar Grizzlys.“
Cosmin räusperte sich. „Ähm Maxi… Kate und Sue haben ein kleines Problem.“
Ich hoffe mal, sie sind nicht auf der Suche nach einem Lover.
„Hm…?“
Cosmin nickte in Richtung der Hütte. „Sie haben dort übernachtet letzte Nacht. Nicht nur dass die Hütte voll ist, manche von den Kerlen dort waren auch ziemlich aufdringlich. Kate und Sue hatten überlegt, nachher abzusteigen. Aber ich habe ihnen gesagt, dass es hier noch eine Hütte gibt und sie von uns nichts zu befürchten haben, weil wir… du weißt schon. Weil wir beide zusammen sind sozusagen.“
„Außerdem…“, Kate schien nach Worten zu suchen, „… Sue und ich, wir sind auch ein Paar.“
Ein Grinsen huschte über Max’ Gesicht. „Dann passen wir vier ja echt gut zusammen.“ Er warf sich den ramponierten Rucksack auf den Rücken. „Na dann, los geht’s. Mir nach!“

Sue und Kate

Cosmin

Es war kein Wunder, dass es nur wenige Leute gab, die von der anderen Hütte in diesem Seitental wussten und es sich dabei hauptsächlich um Kletterer handelte. Vom Bukarester Kletterer Constantin hatte Max die GPS - Daten der Hütte, ohne die sie vermutlich stundenlang im Wald herum geirrt wären. Außerdem stand die Hütte auf einem bewaldeten Plateau am Rande des Steilhangs, das man erst nach einer Kletterei an einer der etwa zehn bis fünfzehn Meter hohen, nahezu senkrechten und mit einigen Krüppelkiefern bewachsenen Flanken erreichte. An einer Stelle hingen zwei Seilstränge vom Plateau herunter, die die Erbauer der Hütte dort als Sicherung zurückgelassen hatten.

Inzwischen wussten Max und Cosmin, dass die beiden Kanadierinnen erfahrene Bergsteigerinnen waren und aus einem Skiort namens Smithers stammten, der am Rande vergletscherter Berge lag. Kates Eltern betrieben dort ein Skihotel und einen Campingplatz. Die Mädchen hatten hier bei ihrer Durchreise von Bukarest in Richtung Transsylvanien die gewaltigen Felswände des Bucegi - Gebirges gesehen und spontan entschieden, unten im Städtchen Busteni eine Klettersteigausrüstung zu mieten und ein paar Tage im Gebirge zu verbringen.

Auf dem Plateau fanden die vier Jugendlichen die Hütte verlassen vor. Allerdings war die Glut im kleinen Kanonenofen noch warm, was bedeutete, dass jemand die Hütte erst vor wenigen Stunden verlassen hatte. Die der Tür gegenüberliegende Wand wurde vollständig von einer doppelstöckigen Pritsche aus grob zusammengezimmerten Brettern verdeckt. Auf ihr mochten acht, vielleicht sogar zehn Leute einen Platz zum Schlafen finden. In einem Schrank hatten andere Besucher der Hütte Gewürze, Reis und sogar einige Konserven zurückgelassen. Außerdem fanden sie dort ein paar Töpfe, Schüsseln, Besteck und eine Pfanne. Am Fenster rechts der Tür stand ein kleiner Tisch, umgeben von vier Hockern.
Ein Schild an der Tür bat alle Besucher, das große Geschäft nicht auf dem Plateau zu verrichten und informierte auch darüber, wo die nächstgelegene Wasserquelle zu finden war.

Kate und Sue breiteten ihre Isomatten und Schlafsäcke auf der unteren Etage der Pritsche aus, während Max und Cosmin die obere Etage in Beschlag nahmen.
Anschließend erkundeten die vier die hinter dem Plateau aufragende Steilwand. Sie gipfelte etwa dreihundert Meter höher in einer Felsnadel. Cosmin bemerkte, wie sehr es Max beim Anblick der Felswand in den Fingern kribbelte. Nach dem Abenteuer mit der Bärin war ihm zumindest für den Moment die Lust an einem weiteren Abenteuer vergangen. Zumal ihn immer noch albtraumhafte Gedanken quälten. Er fragte sich, was passiert wäre, wenn die Bärin Max erwischt hätte.

Schließlich ließ sich Cosmin von Max doch noch überreden, mit ihm eine der leichteren Routen hinauf zur Felsnadel zu klettern. Sue und Kate versprachen, währenddessen ein warmes Essen zuzubereiten.

Die Nachmittagssonne strahlte von einem tiefblauen Himmel, als wolle sie die Jungen für den überstandenen Schrecken bei der Begegnung mit der Bärenmutter entschädigen. Nicht einmal zwei Stunden benötigten sie bis zum Gipfel der Felsnadel, hinter der sich die Steilwand weitere vier- bis fünfhundert Meter dem Himmel entgegen reckte. Für Cosmin war es unglaublich faszinierend, an einer hunderte Meter hohen Felswand hinauf zu klettern. Ein bisschen bedauerte er es sogar, dass ihnen die Zeit fehlte, um auch den Rest der Steilwand zu bezwingen.

Die Wanderung zurück zur Hütte führte durch eine unwegsame Schlucht und wäre im Dunkeln zu gefährlich gewesen. Die Täler tauchten bereits in die Schatten der anbrechenden Nacht ein, als sie am Abend die Hütte erreichten.

In der Hütte wurden sie von den beiden Mädchen mit einem gedeckten Tisch erwartet.
Im Kanonenofen knisterte ein kleines Holzfeuer und auf der Herdplatte des Ofens köchelte ein Topf mit Tomatensoße. Auf der Ablage des Schranks stand eine Schüssel mit dampfenden Nudeln. Cosmin sah Salamistückchen in der Suppe schwimmen und merkte jäh, wie leer sich sein Bauch anfühlte. Max schien es ähnlich zu gehen.
Er lugte Sue, die mit einem Löffel in der Suppe rührte, über die Schulter. „Hey, das riecht toll!“, rief er.
Sue nahm den Topf vom Ofen. „Hoffentlich schmeckt es euch“, erwiderte sie.

Kurz darauf saßen die vier Jugendlichen zusammen am Tisch und ließen sich die Nudeln schmecken.
„Wie sieht euer Plan für die nächsten Tage aus?“, fragte Max während des Essens und Cosmin hoffte, dass sie ein paar Tage miteinander verbringen würden. Er mochte die beiden Mädchen und er hätte gerne mehr erfahren über ihr Leben im fernen Kanada.
Kate wischte über das Display ihres Handys und rief eine Webseite mit Tourenvorschlägen in englischer Sprache auf. „Der Klettersteig hier wurde uns empfohlen. Er befindet sich in der Steilwand über uns. Zwei Männer aus der anderen Hütte hatten angeboten, uns zu begleiten.“
Sie räusperte sich, Sue schnaubte verärgert: „Sie hatten gewisse Erwartungen…“
Cosmin und Max warfen sich einen Blick zu. Es handelte sich bei der Empfehlung um denselben Klettersteig, auf dem sie gestern gewandert waren. Auch der Rückweg von der Felszacke zur Hütte hatte vorhin einige hundert Meter über diesen Klettersteig geführt.
„Wenn ihr wollt, ziehen wir das morgen gemeinsam durch, ganz ohne Erwartungen. Wir kennen die Tour und könnten euch führen. Was meinst du Cos-Mi?“
Cosmin hätte längst bemerkt, dass Max die Mädchen ebenfalls mochte. Aber dass Max sich für sie auch als Bergführer anbot, hätte er nicht erwartet.
„Ich bin dabei.“

Den Abend verbrachten die vier Jugendlichen auf einer Holzbank draußen vor der Hütte bei frisch gebrühtem Tee. Sie genossen den überwältigenden Sternenhimmel, der sich über ihnen aufspannte. Sue und Kate wollten von den Jungen wissen, wie sie zueinander gefunden hatten und wie Eltern und Freunde diese Beziehung aufnahmen. Max und Cosmin wiederum erfuhren, dass die beiden Mädchen dieselbe Highschool besucht hatten und sie schon seit über drei Jahren ein Paar waren. Vielleicht gingen die Kanadier mit dem Thema Homosexualität lockerer um. Sue und Kate hatten nie ein Geheimnis aus ihrer Liebe gemacht, ihre Eltern, Geschwister und Freunde akzeptierten diese Beziehung.
Als die Jungen später bemerkten, dass Sue und Kate in einen Doppelschlafsack krochen, verbanden sie ebenfalls ihre Schlafsäcke.

Max

Max verstand es selber nicht, nur einen Katzensprung von der Hütte entfernt lockten mehrere hundert Meter hohe Felswände mit extrem schwierigen Routen. Doch statt sie endlich zu bezwingen, genoss er es, zusammen mit den Mädchen und Cosmin auf Klettersteigen zu wandern, die keine Herausforderung für ihn darstellten. Hinzu kam, dass er in den Nächten zwar mit Cosmin halbnackt in einem Schlafsack steckte, sie ihre Begierden jedoch zügelten, weil unter ihnen die beiden Mädchen auf der Pritsche schliefen. Cosmin fiel letzteres offensichtlich schwerer als ihm. In der dritten Nacht, die sie in der Hütte verbrachten, tauchte Max aus einem zweifellos recht heißen Traum auf. Zumindest ließen die rasch verblassenden Traumbilder und seine fast schon schmerzhafte Erektion keinen Zweifel daran. Er spürte sanfte Stöße gegen die linke Seite seines Beckens und hielt sie zunächst für einen Nachhall des entschwindenden Traums. Doch als die Stöße immer heftiger würden und Cosmins Hecheln wie eine Einladung zum Mitmachen sein Ohr kitzelte, begriff Max, dass der Freund wie schon bei ihrem ersten Campingausflug zu Ostern einen feuchtheißen Traum durchlebte. Dessen Finale ließ nicht lange auf sich warten und während Cosmin anschließend mit einem zufriedenen Gesicht weiter schlief, versuchte Max die Nässe auf seinem Bauch daran zu hindern, sich auch im Schlafsack zu verteilen.

Am nächsten Tag unternahmen die vier Jugendlichen nur eine kurze Wanderung. Sue und Kate wollten am Nachmittag die gemieteten Gurte zurückgeben und mir dem Zug nach Brasov fahren, wo sie die Übernachtung in einem Hotel gebucht hatten.
Anders als bei den Wanderungen an den beiden Tagen zuvor redeten sie kaum ein Wort miteinander. Es war, als würde der bevorstehende Abschied wie ein zentnerschweres Gewicht auf der Stimmung lasten. Max fühlte sich vor allem zu Sue hingezogen, die ihn an seine Cousine Hazel erinnerte, obwohl sie ihr nicht wirklich ähnelte. Cosmin schien es mit Kate ebenso zu gehen.

Eine halbe Stunde vor der Abfahrt des Zuges erreichten sie den Bahnhof des am Rande der Berge gelegenen Städtchens Bușteni. Wie selbstverständlich hatte Max Sues Rucksack getragen und Cosmin den von Kate.

Bereits am vergangenen Abend hatten sie Adressen und Telefonnummern getauscht und sich gegenseitig versichert, dass es ein Wiedersehen geben würde. Allerdings glaubte Max nicht so richtig daran. Smithers in British Columbia lag nicht um die Ecke.
Auf dem Bahnsteig wischte Kate zunächst auf ihrem Handy herum. Sue schaute ihr dabei zu und wandte sich an die Jungen. „Wir haben euch ja schon erzählt, dass Katy und ich… dass wir Weihnachten auch unsere Verlobung feiern werden.“
„Genau“, ergriff nun Kate das Wort und blickte von ihrem Handy auf. „Meine Eltern machen uns ein Verlobungsgeschenk. Sie reservieren für euch ein Zimmer im ‚Glacier View Hotel‘. Ihr seid ihre… und unsere Gäste und müsstet nur die Flüge bis Prince George bezahlen. Von dort hohlen wir euch ab.“
Max war viel zu perplex, als dass er ein Wort über die Lippen brachte.
„Kommt schon, wir haben tolle Skipisten dort, gleich neben dem Hotel“, bettelte Sue.
„Ich hab’ noch nie auf Skiern gestanden“, wandte Cosmin ein und warf Max einen fragenden Blick zu.
„Ich auch nicht.“ In Max keimte die Hoffnung auf, dass es ein Wiedersehen mit den netten Kanadierinnen geben würde. „Vielleicht sollten wir das auch mal probieren?“
Sue hauchte ihm ein Küsschen auf die Wange. „Ich bin deine Skilehrerin, Max!“
Kate strahlte, als wäre sie bereits auf ihrer Verlobungsfeier. „Und ich übernehme das bei Cosmin!“
Cosmin wischte nun auf dem eigenen Handy herum. „Wenn wir ein bisschen flexibel sind, kosten die Flüge nicht mehr als 1200 Euro. Ich wollte schon immer mal nach Kanada.“
„Verlobungsfeier zu Weihnachten, warum eigentlich nicht?“, erwiderte Max und in seinem Kopf erwachte einer seiner Wünsche für dieses Jahr.
Wie wäre es, wenn sie wir zusammen mit den Mädchen unsere eigene Verlobung feiern?
Doch diesen Wunsch wagte er nicht auszusprechen.

Wanderung auf dem Regenbogen

Cosmin

Max und Cosmin verließen den Bahnsteig erst, als der Zug in Richtung Brasov ihren Blicken entschwunden war.
„Weißt du, was mir aufgefallen ist?“, fragte Max, als sie die Treppe zur Unterführung hinunter stiegen.
Cosmin seufzte leise. „Dass die beiden Mädchen echt gut aussehen und total nett sind?“ Er fühlte ein tiefes Bedauern über die Abreise von Kate und Sue, doch auch Erleichterung darüber, dass es ein Wiedersehen geben würde. Ähnlich wie bei Hazel füllte sich beim Gedanken an die Mädchen sein Brustkorb mit Wärme, die aber nicht bis zu den Lenden vordrang.
„Okay, ja das auch. Cos-Mi, obwohl wir drei Tage mit zwei Mädels zusammen waren, ist keiner von uns eifersüchtig gewesen. Das ist irgendwie neu bei uns.“
Cosmin blickte kurz um sich. Vor ihnen schlurften ein paar ältere Leute zum anderen Ende der Unterführung. Er hielt Max an der Schulter fest und zog ihn an sich.
„Maxi, seit dem wir das im Griff haben und mein Vater das mit uns… äh versteht, fühlt sich das Leben für mich an wie eine… Wanderung auf einem Regenbogen. Ich war noch nie so glücklich.“
Die letzten Worte waren nicht viel mehr als ein Windhauch, dennoch verzauberte ein strahlendes Lächeln Max’ Gesicht. Hinter ihnen ertönte das Johlen Jugendlicher.
Es schien Max nichts auszumachen. Er hauchte Cosmin einen Kuss auf die Lippen. „Ich werde immer aufpassen, dass du von diesem Regenbogen nicht runter fällst.“

Am nächsten Tag nahmen beide Jungen eine Route durch die Steilwand in Angriff, die als eine der schwierigsten in Rumänien galt. Sie startete bereits in luftiger Höhe, Hunderte Meter über dem Talgrund und endete fast sechshundert Meter höher nur wenig unterhalb eines knapp 2500 Meter hohen Gipfels.

Die Wetter - App auf Cosmins Handy versprach auch für den nächsten Tag gutes Wetter, allerdings mit einer Einschränkung. Ab dem späten Nachmittag sagte sie schwere Gewitter vorher.

Deshalb brachen sie am nächsten Morgen mit ihrer Kletterausrüstung auf, noch bevor im Tal die ersten Sonnenstrahlen die langen Schatten der Berge beiseite schoben. Ihr Ziel war eine Route, die „Großer Überhang“ genannt wurde. Gerd hatte sie im Kletterführer als schwierigste Route des Gebirges beschrieben, sofern man sie ohne Strickleitern und andere Hilfsmittel bezwang. Der Überhang war ein von Rissen durchzogener Felsblock, der nur wenig unterhalb des 2500 Meter hohen Gipfels aus der senkrechten Steilwand ragte. Anders als im Steinbruch am Petersberg hatte man dort nicht nur zehn, sondern weit über eintausend Meter unter dem Hintern, wenn man unter dem Übergang hangelte. Den meisten Kletterern gelang die Überwindung dieses Hindernisses nur mit Hilfe von Strickleitern, die sie in die Haken auf der Unterseite des Überhangs einklinkten.

Zunächst schien es, als müssten sie sich wegen der vorhergesagten Gewitter keine Sorgen machen. Bereits kurz vor 8 Uhr erreichten die Jungen den Einstieg in die Route. Max rechnete damit, dass sie spätestens nach fünf Stunden den Gipfel erreichen würden und drei Stunden später die Hütte. Die ersten sechs oder sieben Seillängen kamen sie zügig voran. Max kletterte nicht nur flink wie ein Wiesel am nahezu senkrechten Fels hinauf. Er zog jedes Mal, wenn er einen Standplatz gefunden hatte, an einem Hilfsseil ihre beiden Rucksäcke mit warmer Kleidung und der Verpflegung zu sich hoch. Cosmin versuchte gar nicht erst, jede schwierige Stelle zu meistern. Sein Ziel bestand darin, diese Felswand zu bezwingen, auch wenn er sich dazu hier und da an einer Seilschlinge hinauf ziehen musste oder Max ein bisschen nachhalf.

Sie hatten bereits über die Hälfte der Route geschafft, als Cosmin bei einer leicht überhängenden Querung unterhalb einer Felskante den Halt verlor und abrutschte. Es war nicht das erste Mal, dass er im Seil baumelte und nichts als Luft unter den Füßen und unter dem Hintern hatte. Doch noch nie hatte er sieben-, vielleicht sogar achthundert Metern über dem Talgrund schaukeln müssen, um wieder an den Fels zu gelangen. Cosmin brach der kalte Schweiß aus, seine Knie begannen zu zittern, als würden sie aus Wackelpudding bestehen.

„Cos-Mi, was ist los? Alles gut bei dir?“, ertönte Max’ Stimme über ihm. Cosmin wischte sich schweißnasse Zotteln aus der Stirn, die unter dem Helm hervor quollen und schaute nach oben. Die Felskante versperrte ihm die Sicht. Das Seil, an dem er wie am Pendel einer antiken Uhr baumelte, lief über diese Kante.
„Cos-Mi?!“
„Ich… bin okay?!“, schwindelte Cosmin. Sein ängstlicher Blick richtete sich auf die Felskante über ihm, während er am Seil schaukelte, um endlich an den Fels zu gelangen.
Wie lange würde es dauern, bis das Seil durchgescheuert wäre?
„Cos-Mi! Steig am Seil auf!“
Cosmin versuchte, gegen die Panik anzukämpfen, erinnerte sich daran, wie man an einem Seil aufsteigen konnte und erreichte schließlich einen Haken an der Felskante. Tränen rollten ihm über die Wangen, als er zehn Meter über sich Max erblickte.
Max half ihm, diese zehn Meter zu überwinden, indem er am Seil zog.
Völlig entkräftet erreichte Cosmin den Standplatz, an dem Max sie gesichert hatte.
Dort nahm Max ihn in die Arme und wischte ihm die Tränen von den Wangen. Cosmin wagte es nicht, nach unten zu blicken.
„Ich kann nicht mehr“, schluchzte er, obwohl er wusste, dass sie keine Zeit verlieren durften.
Max küsste Cosmins bebende Lippen. „Keine Angst, wir schaffen das.“
Cosmin warf einen Blick nach oben. Über ihren Köpfen türmten sich weit über hundert Meter senkrechter und glatter Fels auf, der am oberen Ende in den aus der Wand ragenden Überhang mündete. Und plötzlich war Cosmin klar:

Das schaffe ich nicht! Tut mir Leid, Maxi! Wegen mir werden wir beide hier vom Regenbogen herunter fallen.

Max

Inzwischen drängelten sie sich bereits seit einer Stunde auf dem Standplatz, der nicht einmal ansatzweise diesen Namen verdiente. Der Absatz bot kaum Platz für einen halben Fuß, geschweige denn für vier Füße. Zudem zitterten Cosmins Beine immer noch, als würden sie unter Strom stehen.
Max ahnte, was in Cosmin unterhalb der Felskante vorgegangen war.
Allein in Gurt, ohne echte Chance, den Fels zu fassen zu kriegen, ohne Sicht nach oben und fast tausend Meter Bergluft unter dem Hintern - da können sogar erfahrene Kletterer in Panik geraten.
„Ich habe Angst, Maxi.“
Max zog Cosmin noch fester in seine Arme. „Da oben auf dem Berg steht ein Fernsehturm oder so was. Wenn wir es nicht bis zur Hütte schaffen, bleiben wir dort. Oder in der Seilbahnstation.“
„Und wenn wir es nicht bis zum Gipfel schaffen?“
Auch darüber hatte Max bereits nachgedacht. Sie würden entweder über vierhundert Meter an einer senkrechten Felswand bis zum Klettersteig abseilen und jede Menge Material opfern müssen oder im Gewitter an der Wand ausharren.
Konnten Blitze eigentlich auch in einer Felswand einschlagen?
Außerdem befanden sie sich in einer Höhe von über 2000 Metern und hier würde es während des Gewitters wahrscheinlich nicht nur verdammt nass sondern auch verdammt kalt werden.
Er ließ seinen Blick über den Himmel wandern. An einem der Berge klebte eine Wolke, als wäre sie dort festgewachsen, doch ansonsten spannte sich ein tiefblauer Himmel über ihren Köpfen.

Cosmin hatte offenbar Max’ besorgte Blicke bemerkt. „Ich… Maxi, wenn du immer nur ein Stückchen weiter kletterst und mich dann nachholst…?“
Max verstand.
Cosmin wollte ihn in der Nähe haben. Sie würden durch das häufige Nachholen sehr viel Zeit verlieren. Aber er hoffte, dass sie es dennoch bis zum Gipfel mit dem Fernsehturm schaffen und dort einen Unterschlupf finden würden.
„Cos-Mi, ich geh’ ein Stück weiter jetzt“, sagte Max.
Cosmin klammerte sich an ihn, als hätte er Angst, alleine an einer gewaltigen Felswand zurück zu bleiben. Max wartete ab, bis sich Cosmins Griff lockerte. Er überzeugte sich davon, dass Cosmin das Seil durch das Sicherungsgerät führte und kletterte etwa zehn bis zwölf Meter höher bis zu einer Stelle, an der zwei vertrauenswürdige Bohrhaken im Fels steckten. Es dauerte mehr als eine Viertelstunde, ehe die beiden Rucksäcke und Cosmin neben ihm an den Bohrhaken hingen. Erst nach etwa fünfzehn solcher Strecken würden sie den gewaltigen Überhang am oberen Ende der Route erreichen. Und obwohl Max nicht so eine Leuchte in Mathe war wie Cosmin, fiel es ihm nicht schwer sich auszurechnen, dass sie bei diesem Tempo den drohenden Gewittern kaum davon laufen konnten.

Nach und nach quollen über den Bergen dicke Haufenwolken in die Höhe. Aus dem Tal himmelwärts ziehende Nebelschwaden hüllten die Jungen immer öfter in eine kalte Umarmung. Inzwischen glaubte auch Max nicht mehr daran, dass sie dem drohenden Unwetter entkommen konnten.

Eine Nacht am Haken

Max

Gegen 15 Uhr befanden sie sich noch etwa fünfzig Meter unterhalb des Überhangs, als zum ersten Mal ein Donner die Stille zerriss. Inzwischen trieben Windböen immer dichtere Nebelschwaden vor sich her. Max’ rechter Arm lag um Cosmins Schulter. Aus vor Schreck geweiteten Augen blickte Cosmin in die Richtung, in der das Donnergrollen abebbte. Max versuchte, die eigene Angst zu verbergen. Cosmin zog ein Gesicht wie ein zum Tode verurteilter Delinquent beim Anblick des Galgens.
„Hey!“ Max streichelte Cosmins Wange. „Wenn wir da unter dem Dach sind, kann uns nichts mehr passieren, okay?“
Cosmin nickte schwach. „Okay.“

Obwohl die Felswand über ihm nur wenige Griffe und Tritte bot, die diesen Namen auch verdienten, erreichte Max nach wenigen Minuten den nächsten Standplatz nur noch zwanzig Meter unterhalb des Daches. Böen peitschten die ersten Regentropfen ins Tal, doch wegen des Daches über ihm verirrten sich nur wenige Tropfen bis zu seinem Standplatz. Eine Viertelstunde später nahm Max das letzte Stück bis zum Überhang in Angriff. In das Rauschen des Platzregens mischte sich das Fauchen der Windböen und das Grollen des Donners.
„Maxi, es tut mir echt Leid“, schnaufte Cosmin, als er den Standplatz unterhalb des Überhangs erreichte. „Ohne meinen Aussetzer wären wir jetzt längst zurück in unserer Hütte.“
Max sicherte Cosmin an mehreren Bohrhaken und zerrte dann eine Daunenjacke aus dessen Rucksack. Es war jene Daunenjacke, die er ein halbes Jahr zuvor für ihn gekauft hatte, um ihn im Park des Klinikums Westend spazieren zu fahren.
„Cos-Mi, wir hätten heute noch nicht so was Schweres klettern dürfen. Ich bin echt ein Idiot. Das ist deine erste Big Wall und du musstest gleich an deiner Grenze klettern. Sorry!“
Cosmin streifte sich die Jacke über. Ein Donnerschlag folgte auf den nächsten und jedes Mal rutschte auch Max’ Herz ein Stückchen tiefer.
„Ob wir hier sicher sind?“
Max wischte die eigene Angst wie eine lästige Fliege beiseite. „Hundert Pro!“

Sie blickten in den strömenden Regen hinaus, der nur drei oder vier Meter hinter ihnen in die Tiefe stürzte und ein bisschen fragte sich Max, wie lange sie es hier, festgeschnallt in ihren Klettergurten, aushalten würden.

Nach zwei Stunden schien dem Gewitter endlich die Kraft auszugehen. Immer seltener zuckten Blitze über den pechschwarzen Himmel und Donnerschläge wandelten sich zu fernem Donnergrollen. Doch dafür mischten sich immer mehr Schneeflocken in den Regen und bald schon tobte um sie herum ein ausgewachsenes Schneegestöber.
„Meine Füße, Maxi… ich habe kein Gefühl mehr in den Zehen.“
Max sah, dass Cosmins Füße immer noch in den engen Kletterschuhen steckten. Er ließ sich etwas ab, bis er die Füße des Freundes mit den Händen greifen konnte. Max angelte Cosmins Wanderschuhe aus dessen Rucksack, befestigte sie an seinem Gurt und zog dann den Kletterschuh von Cosmins linkem Fuß. Sanft massierte er den Fuß, bis Cosmin ihm versicherte, dass das Gefühl in die Zehen zurückgekehrt war. Nach dem der Fuß im Wanderschuh steckte, wiederholte er die Prozedur auch mit dem rechten Fuß.

Nach dem wohl krassestem Abendessen ihres bisherigen Lebens klammerten sich beide Jungen aneinander, blickten hinaus in das Schneetreiben und sandten Stoßgebete in die Finsternis, dass die anbrechende Nacht so schnell wie möglich einem sonnigen Tag weichen möge…

Cosmin

Cosmin hätte es nicht für möglich gehalten, dass er in der Nacht die Augen auch nur für eine Minute schließen würde. Doch als er irgendwann die Augen öffnete, war die nächtliche Finsternis bereits dem anbrechenden Morgen gewichen. Max hatte ihm in der Nacht ein Seilstück am Oberkörper verknotet und im Haken befestigt, sodass er während des Schlafes in einer aufrechten Position verblieben war. Obwohl noch immer einzelne Schneeflocken an der Felswand vorbei trieben, fror er lediglich an den Füßen, was wohl daran lag, dass sich Max an ihn schmiegte. Zudem hatten sie ihre Hände in den Jackentaschen des anderen vergraben.
„Hey Schlafmütze, wie geht’s?“, fragte Max heiser. Er sah aus, als hätte er in der Nacht kein Auge zu gemacht.
„Ich glaube, meine Füße sind Eisklumpen. Außerdem tut mir der Hintern weh. Aber wir haben überlebt. Und bei dir?“
Max zuckte mit der Schulter. „Mir ging’s schon mal besser.“

Cosmin blickte hinauf zum felsigen Dach über ihren Köpfen. Es war mit mindestens einem Dutzend Haken gespickt, an einigen der Haken baumelten Schlingen. Er hoffte, dass sich Gerd in seinem Kletterführer nicht geirrt hatte und sie oberhalb des Daches das Gipfelplateau erreichen würden.
Max folgte seinem Blick. „Ich werde dir dort was basteln, Cos-Mi. Du brauchst echt keine Angst zu haben. Und jetzt kümmern wir uns um deine Eisklumpen.“

Allmählich begann sich der Nebel zu lichten und erste Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die Nebelschwaden bis zur Steilwand, deren oberes Ende an einigen Stellen vom nächtlichen Schneefall angezuckert war. Bald schon löste sich der frühsommerliche Winterzauber in kleine Dampfwölkchen auf, doch erst am späten Vormittag war die Felswand abgetrocknet.

Max hangelte bis zur äußeren, vielleicht dreieinhalb Meter entfernten Kante des Daches, mit den Hände und Füße fand er dabei Halt an der zerklüfteten Oberfläche des Überhangs. An mehreren der Haken befestigte er weitere Seilschlingen, die soweit herunter hingen, dass sie Cosmin auch als Tritte für die Füße benutzt konnte.
Cosmin verfolgte mit angehaltenem Atem, wie sich Max über die Kante schwang. Er fühlte von neuem, dass ihm Panik den Brustkorb zuzuschnüren drohte, als auch Max’ Füße seinen Blicken entschwanden. Doch kurz darauf ließ sich Max am Seil herunter, bis er auf derselben Höhe wie Cosmin hing. Er zauberte ein ermutigendes Grinsen in sein übermüdetes Gesicht.
„Alles klaro, Cos-Mi. Wenn du es bis hier zu mir geschafft hast, ist es gelaufen. Danach wandern wir wieder auf deinem Regenbogen.“

Übernächtigt und völlig entkräftet, zudem durchnässt von einem Regenschauer, der sie während des Abstiegs vom Hochplateau überrascht hatte, erreichten die Jungen am späten Nachmittag die Hütte. Dort verschliefen sie nicht nur den Rest des Tages, sondern verließen auch am nächsten Tag ihren Schlafsack nur, um etwas zu essen oder um sich zu erleichtern.

Als Cosmin zum vierten Mal an diesem Tag aus einem tiefen Schlummer erwachte, sagte ihm ein Blick aus dem Fenster, dass der Abend bereits begonnen hatte, seine Schatten wie eine Decke über dem Tal auszubreiten. Der lange Schlaf hatte offenbar auch die Lebensgeister in seinen Knochen wieder erweckt. Er schälte sich aus dem Schlafsack und schaute von der Pritsche hinunter. Max saß am Tisch und studierte im flackernden Licht einer Kerze Gerds Kletterführer.
Cosmin fühlte, wie sich das schlechte Gewissen zu einen Kloß in seinem Hals verfestigte.
Wegen mir hat er den Tag heute verloren.
Sein Blick wanderte über Max’ nackten Rücken und zum schlechten Gewissen gesellte sich ein Schwall Wärme, der seinen Brustkorb durchflutete. Anders als bei den Mädchen erreichte diese Wärme auch seine Lenden.
Er fühlte sie sogar in den Zehenspitzen. Die Erinnerung daran, wie Max diese Zehenspitzen sanft massiert hatte, sandte einen Schauer durch seinen Bauch, der aus Krabbeltieren zu bestehen schien.
„Maxi…?“
Max fuhr im Stuhl herum. „Hey, ausgeschlafen, Schlafmütze?“
„Sorry, du hattest bestimmt einen langweiligen Tag heute, oder?“
„Ach was, ich könnte dir stundenlang beim Schlafen zugucken.“
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. Er schwang sich auf die Pritsche und zog Cosmin in seine Arme. „Besonders wenn du mich dabei rammelst“, hauchte er ihm ins Ohr.
„Ich habe dich… äh… gerammelt?“
Cosmin konnte sich an keinen Traum erinnern, schon gar nicht an einen solchen Traum.
Max’ Lippen strichen über seinen Hals. „Bleib locker, Cos-Mi. Ich hab’s sofort weggewischt“, kicherte er.
Cosmin versuchte, die Begierde, die jäh seinen Verstand zu überschwemmen drohte, etwas zurück zu drängen. Er deutete mit einem Kopfnicken hinunter zum Tisch. „Hast du schon einen Plan für morgen? Vielleicht sollten wir was machen, das nicht so schwer ist.“
„Ich habe jetzt schon zweimal rammeln gut. Wie wär’s, wenn ich morgen mit dir…“
„Maxi!“, schnaubte Cosmin. „Ich will die Höhenangst los werden. Vom Rammeln krieg’ ich die nicht weg.“
„Hey, du hast keine Höhenangst, nur ein bisschen Bammel, okay?“
Max streckte sich auf der Pritsche aus und zog Cosmin dabei mit sich. „Ich hab’ ein paar Routen gefunden, die du locker schaffst. Totale Genusskletterei.“
Cosmin stöhnte leise auf, als Max’ rechte Hand begann, die Erektion in seinen Boxershorts zu erkunden.
„Möchtest du, dass ich dir die Routen jetzt im Kletterführer zeige?“, fragte Max und überzog Cosmins Hals mit Küssen.
Cosmin schien es, als würde er die Kontrolle über seine Hände verlieren, die in Max’ Jogginghose schlüpften. „Es reicht glaub ich, wenn ich mir das morgen mal…“
Den Rest des Satzes verschluckte eine Zunge, die sich plötzlich in seinen Mund hinein drängelte.

Max

Max hatte angenommen, dass sich Cosmin nach dem Abenteuer am Großen Überhang vorläufig an keine der schwierigen Routen an den gewaltigen Steilwänden des Bucegi - Gebirges mehr heranwagen würde. Doch schon am zweiten Tag nach ihrer Auszeit heftete sich nicht nur Max’ Blick bei der Kletterei an einer der leichteren Routen durch die Steilwand immer wieder auf einen mit zahlreichen Bohrhaken gespickten Riss, der die Wand in ein paar Dutzend Metern Entfernung durchzog, als wäre er mit einem Lineal in den Fels geritzt worden. Die Blauer Riss genannte Route galt ebenfalls als eine der bekanntesten und schwierigsten Kletterrouten Rumäniens. Max hatte sie schweren Herzens von seiner Liste gestrichen, weil sie mindestens genauso ausgesetzt war wie die Route mit dem Großen Überhang. Doch als die Jungen am Abend Pläne schmiedeten, welche Route sie am darauffolgenden Tag durchsteigen könnten, schlug Cosmin von sich aus vor, es mit dem Blauen Riss zu versuchen.

Am nächsten Tag bezwangen sie zusammen den Blauen Riss, ohne dass Cosmin mit Anfällen lähmender Angst kämpfen musste, vielleicht auch, weil Max bei den Vorstiegen stets in Sichtweite blieb.

Und einen Tag bevor André die Jungs am Forstweg abholte, wo er sie etwas mehr als zwei Wochen zuvor zurück gelassen hatte, erfüllte Max dem Freund einen Wunsch. Sie durchstiegen zum zweiten Mal die Route mit dem Großen Überhang, dieses Mal ohne die Nacht an einem Haken zu verbringen…

Soll ich dich beim Abiball begleiten?

Max

„Ihr habt eine Nacht bei Schneetreiben zusammen an einem Haken gehangen und seid nicht erfroren?“
„Mal unter uns, Hazel… es hat auch Vorteile, das mit Cos-Mi und mir. Mir wird warm, wenn ich nur an ihn denke und ihm geht’s umgekehrt genauso.“
Max lauschte der Erwiderung seiner Cousine. Er lümmelte mit dem Handy am Ohr auf der Couch im Wohnzimmer seiner Großmutter, die Beine lagen ausgestreckt auf dem Esstisch. Freilich musste er nicht befürchten, dass ihm die Oma deswegen eine Standpauke halten würde. Sie befand sich seit mehr als einer halben Woche mit Hazels Eltern und Cousin Cal in Kalifornien. Vielleicht hätte ihm Cosmin die Füße vom Tisch gewischt. Aber nach ihrer Rückkehr aus Rumänien vor zwei Tagen war er erst einmal bei dessen Vater in der Wohnung geblieben, wo ihn Berge ungewaschener Wäsche und benutzten Geschirrs erwartet hatten. Max warf einen Blick auf die altertümliche Standuhr. Es war kurz vor drei. In einer Stunde wollte er mit Cosmin in die Kletterhalle fahren und er hatte nicht vor, anschließend den Abend oder die Nacht erneut allein zu verbringen.
„Und danach habt ihr trotzdem weiter solche Routen geklettert?“, drang Hazels Frage an sein Ohr.
Max’ Brust füllte sich mit Wärme. Er erzählte seiner Cousine von den Kletterabenteuern. Als sie erfuhr, dass Cosmin sogar darauf bestanden hatte, den „Großen Überhang“ noch einmal zu klettern, drang ihr Seufzen aus dem Handy.
„Er ist nicht nur total süß… er ist auch total tapfer. Schade, dass er vergeben ist.“
„Hehe, Hazelchen. Eben hast du mir erzählt, dass du noch nicht in Kalifornien bist, weil du nächste Woche mit deinem Freund verreisen willst.“
„Ach ja, hatte ich vergessen“, kicherte Hazel und wechselte plötzlich das Thema. „Am Freitag bekommt ihr die Zeugnisse und abends habt ihr euren Abschlussball?“
„So sieht’s aus.“

Max verleierte unmerklich die Augen. Statt mit über hundert Schülern und mehr als zweihundert Gästen hätte er den Abschied von der Schule am liebsten mit Cosmin allein gefeiert. Oder noch mit den Kumpels aus der Parallelklasse, auch um zu erfahren, wie es bei Tim und Lukas und ihren Mädchen weiter gegangen war.
„Kommt dein Vater oder dein Onkel mit zum Abiball?“
„Leon wäre bestimmt mitgekommen, aber Cosmin hat sich so komisch, wenn mein Onkel dabei ist. Sein Alter kommt übrigens auch. Vielleicht weil sein Sohn Jahrgangsbester ist. Weißt du, was mich am meisten anstinkt?“
„Hm?“
„Jeder Schüler, der sich traut, wird 'ne kurze Rede halten, 'ne Minute oder so und quasseln, was das Tollste am Abschlussjahr war. Dafür allein gehen bestimmt zwei Stunden drauf.“
„Ich finde das eine gute Idee“, widersprach Hazel. „Und du… machst du da auch mit?“
„Wozu? Das geht niemanden was an!“, schnaubte Max. „Ich meine das mit Cos-Mi und mir.“
„Maxi?“
"Ganz Ohr!“
„Ich könnte am Freitag Nachmittag nach Dessau kommen und bis Sonntag bleiben. Möchtest du, dass ich dich zum Abiball begleite?“
„Wow! Das würdest du tun?“
„Klar! Aber nur, wenn ich dort höre, was für meinen Lieblingscousin das Tollste im Abschlussjahr gewesen ist.“

Für den Abiball hatte die Schule den Saal eines Lokals am Stadtrand angemietet, da in der Aula der Schule zwar Platz für mehrere hundert Leute gewesen wäre, aber die Tanzfläche bei so vielen Leuten nicht einmal für ein halbes Dutzend Paare gereicht hätte.
Cosmin lenkte den Dacia des Vaters durch den abendlichen Verkehr, neben ihm auf dem Beifahrersitz passte sein Vater mit Argusaugen auf, dass dem Sohn dabei keine Fehler unterliefen. Max hatte sich das Lenkrad auf der Rückfahrt von Rumänien mit Cosmin geteilt und war sicher, das Auto würde die Fahrt bis zum Lokal überleben.
Neben ihm auf dem Rücksitz saß seine Cousine Hazel. Die Freude darüber, dass sie ihn zum Abiball begleitete, war allerdings nicht ganz ungetrübt. Wegen ihr hatte er sich in die Rednerliste eingetragen und natürlich wollte sie nun allen Ernstes von ihm hören, die Begegnung mit Cosmin sei das schönste Erlebnis des zwölften Schuljahres gewesen. Für Max war diese Begegnung nicht nur das schönste Erlebnis des zwölften Schuljahres, sie war weit mehr als das. Aber er würde sich gewiss nicht vor dreihundert Leuten hinstellen und ihnen erzählen, dass er sich in einen Kerl verknallt hatte. Also würde er von seinem zweitbesten Erlebnis erzählen oder vielleicht doch den Mund halten. Zumal es beim zweitbesten Erlebnis ein Problem gab. Er hatte nicht den Hauch einer Idee, welches das zweitbeste Erlebnis gewesen sein könnte. Die Zwei in der Matheprüfung?
Echt jetzt?
Hallo Leute, ich erzähle euch, wie geil ich das Berechnen von Extremstellen, Durchstoßpunkten und Wahrscheinlichkeiten fand…
Oder sollte er mit dem Sieg beim Pferderennen prahlen?
Vielleicht würde ihm etwas einfallen, wenn er hörte, was die Mitschüler so zum Besten geben wollten.
Ging es Cosmin genauso, dass er sich sich lieber vor der Rede gedrückt hätte? Zumal ihr auch noch dessen Vater zuhören würde.
Cosmin hatte sich hinter Max in die Rednerliste eingetragen.

Cosmin

Im vor allem für Tanzveranstaltungen an Wochenenden genutzten Saal reihten sich an den beiden langen Seiten insgesamt etwas mehr als dreißig Tische aneinander, an denen jeweils zehn bis zwölf Leute Platz fanden. Auf der der Eingangstür gegenüberliegenden Bühne thronte ein Rednerpult und dahinter stimmten die Musiker einer Band ihre Instrumente, als Cosmin zusammen mit seinem Vater sowie mit Hazel und Max das Lokal betraten.

An den festlich gedeckten Tischen unterhielten sich Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen lautstark, als würden sie versuchen, die Unterhaltungen an den benachbarten Tischen zu übertönen.
Cosmin blickte sich suchend um und sah, dass Moritz ihm von einem der Tische in der Nähe der Bühne zuwinkte.
Moritz und Simon begrüßten zuerst seinen Vater mit einem Handschlag und danach ihn, Max und Hazel mit einer herzlichen Umarmung. Anschließend stellte ihnen Simon seine Eltern sowie seine Schwester und ihren Mann vor, die ihn zum Abiball begleiteten und mit am Tisch saßen.
Cosmin bemerkte an einem den Nachbartische mehrere Mädchen seiner Klasse. Sie verfolgten aus weit aufgerissenen Augen, wie sich Max und Hazel neben Simon und dessen Schwager an den Tisch setzten. Offenbar waren sie überrascht, dass Max nicht etwa nur mit ihm, sondern auch mit einem Mädchen zum Ball erschien.
„Sind deine Eltern nicht hier?“, fragte Cosmin und nahm neben Moritz Platz. Moritz’ Mundwinkel sanken fast bis zum Kinn. „Sie wären mitgekommen… wenn ich nicht mit Simmi an einem Tisch gesessen hätte. Und wenn ich so getan hätte, als kenne ich Simmi nicht.“

Wie es schien, hatte Simons Schwester, die rechts neben Moritz saß, dem Gespräch beider Jungen gelauscht. Sie strich sanft über Moritz’ Wange und wischte so etwas von der Traurigkeit aus dem Gesicht.
„Und deshalb sind wir Moritz’ Begleitung“, sagte sie mit einem Kopfnicken zu ihrem Mann, der sich mit Max und Hazel unterhielt. „Also ist Moritz auch mit seiner Familie hier.“
Nun verschwand die Traurigkeit vollständig aus Moritz’ Gesicht. „Danke Sophie.“
Er stupste Cosmin mit dem Ellenbogen an. „Traust du dich nachher, den Leuten hier zu beichten, was bei dir das Schönste im letzten Schuljahr war?“
Cosmin warf einen Blick hinüber zur anderen Seite des Tisches. Er stellte erleichtert fest, dass sein Vater nicht wie verloren am Tisch saß und sich stattdessen angeregt mit Simons Eltern unterhielt.
„Mal sehen, was Max erzählt. Er steht vor mir auf der Rednerliste“, seufzte Cosmin. Er hatte sich die Sätze für seine Rede längst zurecht gelegt. Doch er wusste nicht, ob er diese Sätze auch aussprechen würde.
Falls Max in dessen Rede davon zu schwärmen begann, wie gut die Matheprüfung gelaufen war, würde er bei der eigenen Rede improvisieren müssen.
Moritz verrenkte den Hals, als würde er versuchen, ein paar der Wörter aufzuschnappen, die Simon gerade mit Max und Hazel wechselte. Sein Blick kehrte zu Cosmin zurück. „Ich glaube, meine Eltern hatten auch Angst vor dem, was ich nachher sagen möchte. Dein Vater kommt jetzt klar mit euch?“
Cosmin schielte kurz zu seinem Vater hinüber, der sich mit Simons Vater unterhielt, als wären sie schon jahrelang befreundet. „Ich habe ihm gesagt, dass ich in meiner Rede nicht unbedingt erzählen will, wie sehr ich mich über mein Abiturzeugnis freue.“
Moritz setzte zu einer Erwiderung an, doch in diesem Moment traten Lucas und Tim an den Tisch und die Erwiderung blieb ihm im Halse stecken.
„Hi Leute!“
Lucas klopfte auf die Tischplatte und deutete mit einem breiten Grinsen auf den Lippen hinter sich auf ein schüchtern lächelndes, dunkelhaariges Mädchen. „Das ist Nadia aus Bukarest. Einige von euch kennen sie ja schon.“
Nun klopfte auch Tim auf die Tischplatte. Er schien zu bemerken, dass die Jungen am Tisch Ausschau hielten, ob er ebenfalls von jenem Mädchen begleitet wurde, das während der Tage auf der Caraiman Berghütte oft auf seinem Schoß gesessen hatte.
„Hey, guckt nicht so!“, rief er, wobei sein Grinsen ein bisschen so wirkte, als hätte er es zuvor einstudiert. „Ich werde mir wohl doch hier jemanden suchen müssen. Bei mir lief’s nicht ganz so gut wie bei Luk.“
Cosmin fragte sich, ob das vielleicht damit zu tun haben könnte, dass Tim bei der Geburtstagsparty im Gebirge möglicherweise auf jemand anderen scharf gewesen war.

Zusammen mit ihren Eltern und Lukas’ neuer Freundin nahmen Tim und Lucas am Nachbartisch Platz. Wenig später gesellten sich auch Florian, Maja und eine vielleicht fünfzigjährige Frau, vermutlich Florians Mutter zu ihnen.

Kurz vor 18 Uhr ebbte das Stimmengewirr im Saal ab.
Die Rektorin Frau Große, zugleich Chemielehrerin am Gymnasium, betrat zusammen mit den Klassenleitern der vier zwölften Klassen sowie einem elegant gekleideten Mann in den Vierzigern die Bühne. Die Klassenleiter der 12C und 12D kannte Cosmin nur vom Sehen. Dem Klassenlehrer der 12A hingegen hatten Max und Cosmin wohl die Hälfte aller Hausaufgaben im zurückliegenden Schuljahr zu verdanken. Auch jetzt schaute Herr Schneider wie ein Weihnachtsmann von der Bühne herab, der lieber Kohlestücken statt Schokoladenplätzchen verteilt.
Frau Große griff nach dem Mikrofon des Rednerpults und der elegant gekleidete Mann trat neben sie.
„Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern, sehr verehrte Gäste“, eröffnete die Rektorin ihre Rede, die sie vermutlich schon so oft gehalten hatte, dass sie sie von keinem Zettel ablesen musste.

Nach zehn Minuten begann Cosmin zu spüren, wie sehr ihm das nachmittägliche Klettertraining mit Max und Hazel auf Oma Lisas Dachboden in den Knochen steckte. Nach fünfzehn Minuten schien es, als würde er mit Max, der nun links neben ihm saß, um die Wette gähnen.
„… und Cosmin Munteanu bitten, zu uns nach vorn zu kommen.“

Outen beim Abiball?

Cosmin

Cosmin schreckte auf. Offenbar waren ihm für einige Sekunden die Augen zugefallen und nun wusste er nicht so richtig, ob er die Bitte der Rektorin Frau Große nur geträumt hatte oder ob er tatsächlich hinauf zur Bühne kommen sollte.
Sein Vater stieß ihm sanft den Ellenbogen in die rechte Seite. „Cosmine, nun geh schon. Du bekommst eine Auszeichnung, Junge. Vom Bürgermeister.“

Cosmin betrat zusammen mit zwei Mädchen aus einer der Parallelklassen die Bühne und versuchte so gut es ging zu verbergen, dass er während der Rede der Rektorin eingenickt war.
Bei dem in einem eleganten Anzug gekleidete Mann handelte es sich also um den Bürgermeister der Stadt. Er gratulierte zuerst Cosmin und drückte ihm eine Urkunde in die Hand, außerdem einen von der Stadtverwaltung ausgestellten und mit Glückwünschen bedruckten Scheck über 2000 Euro, der fast so groß war wie ein kleines Wahlplakat und in keine Tasche passen würde.

Anschließend überreichte er Schecks über 1000 Euro und 500 Euro an die beiden Mädchen, die zusammen mit Cosmin auf der Bühne standen.
Nach dem Bürgermeister gratulierten auch Frau Große und die vier Klassenleiter. Frau Dr. Meyer reihte sich als Letzte in die Prozession der Gratulanten ein und wandte sich Cosmin zu, nachdem sie den Mädchen die Hände geschüttelt hatte.
„Ich werde euch vermissen. Dich Cosmin… und Max.“
Sie reichte ihm ein in Folie eingeschweißtes Buch und aus den Augenwinkeln entzifferte Cosmin den Titel: „The inquietude of youth“.
„Das Buch gibt es leider nur in englisch“, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln auf den Lippen. „Viel Glück Cosmin. Euch beiden.“
Cosmin schluckte an einem Kloß hinunter, der seinen Hals zu verstopfen drohte. „Ich werde Sie auch vermissen. Vielen Dank für alles.“
Am liebsten hätte er die Lehrerin umarmt. Stattdessen folgte er den beiden Mädchen von der Bühne.

Max

Die Rektorin begann, den weiteren Verlauf des Abends vorzustellen. Als nächstes standen die Reden von über vierzig Abiturienten an, die sich in die Rednerliste eingetragen hatten. Danach sollte ein Buffet aufgefahren werden. Frau Große empfahl, all die beim Dinner verdrückten Kalorien anschließend beim Tanzen wieder zu verbrennen.
Max hörte ihr nur mit einem Ohr zu. Er drehte und wendete Cosmins Scheck in den Händen.
„So riesig wie das Teil hier ist, hätten auch zehn Riesen drauf gepasst“, murrte er, doch jäh leuchteten seine Augen auf. „Aber die Kohle reicht locker für dein Flugticket nach Prince George.“
„Hätte ich es gestern gebucht, wären sogar 850 Euro übrig geblieben. Und das Geld für unser Verlobungsgeschenk habe ich schon mit rein gerechnet“, seufzte Cosmin. Offenbar konnte er es kaum erwarten, die Mädchen wiederzusehen. Aber auch Max vermisste Sue und Kate. Er hatte gestern bestimmt eine halbe Stunde lang mit Sue gechattet.
„Ich finde es super, dass ihr euch mit den beiden Mädchen angefreundet habt“, sagte Hazel und zauste sein Haar. „Ich glaube, es gibt solche Familien, wo zwei Männer und zwei Frauen miteinander leben und sogar gemeinsame Kinder…“
„Vergiss die gemeinsamen Kinder, Hazel!“
Die Erinnerung an das unerträgliche Schmatzen von Camelias Lippen bei ihren Küssen mit Cosmin schnürte ihm immer noch die Kehle zu. Und für gemeinsame Kinder würden Küsse nicht ausreichen.

Hazel setzte zu einer Erwiderung an, doch nun trat ein Mädchen aus der 12A an den Rednerpult. Max bemerkte, dass Simon einen Zettel studierte und Moritz daran hinderte, ein Auge drauf zu werfen.
Scheiße!
Und ich weiß nicht mal ansatzweise, was ich sagen soll.
Vielleicht wäre es wirklich das Beste, gar nichts zu sagen. Aber er konnte Hazel unmöglich vor den Kopf stoßen, die sicher schon neugierig auf seine Rede war.
Das Mädchen schwärmte zwei Minuten lang davon, dass sie bei einem Gesangswettbewerb Zweite geworden war und die nächste Rednerin freute sich über ihre Eins in Sozialkunde. Gerade als Max’ Ohren dabei waren, endgültig einzuknicken, trat Florian an den Rednerpult. Er bedankte sich bei Maja, weil sie ihm irgend eine Übeltat verziehen hatte und sie nun wieder länger als ein halbes Jahr zusammen waren.

Max warf einen Blick nach rechts. Cosmins Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und Max fand, dass sich Florian wohl auch ein bisschen bei Cosmin bedanken musste, bei dem Maja abgeblitzt war.

Simon trat an den Rednerpult. Den Zettel hatte er verschwinden lassen. Er krallte sich mit beiden Händen ans Mikrofon, als wäre es ein Rettungsring, der ihn vor dem Ertrinken bewahrte.
„Also Leute…“
Simon räusperte sich.
„Noch kann ich euch nicht sagen, ob heute mein schönster Tag in diesem Schuljahr wird. Lieber Moritz…“, er richtete den Blick auf seinen schmächtigen Freund, „… ich schätze mal, das wird jetzt ganz allein von deiner Antwort abhängen. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich schon seit der Neunten in dich verliebt bin…“

Plötzlich schien die Zeit im Saal still zu stehen und Max stockte der Atem. Ohne dass es ihm bewusst wurde, schlossen sich die Finger seiner rechten Hand um Cosmins linke Hand, die den sanften Druck erwiderte.
Simon atmete tief durch. „Ritzi, ich… möchte für immer mit dir zusammen sein. Ich möchte dich heiraten, morgen oder in einem Jahr… ist mir egal. Ich möchte eigentlich nur… dass du ja sagst.“
Die letzten vier Wörter stieß er ins Mikrofon, als hätte er Angst, sie könnten ihm sonst im Halse stecken bleiben.

Noch war es mucksmäuschenstill im Saal. Irgendwo klatschte jemand, doch das Klatschen verstummte, als Moritz aufsprang und auf die Bühne stolperte. Er hauchte Simon einen Kuss auf die Wange und drängte ihn etwas beiseite, um nach dem Mikrofon zu greifen.

„Lieber Simmi, eigentlich wollte ich jetzt sagen, dass jeder Tag schön war, an dem wir zusammen gewesen sind. Aber der Tag heute ist der schönste. Ich möchte auch für immer mit dir zusammen bleiben.“
Moritz schien kurz nach Worten zu suchen. „Ja, Simmi, ich… ich möchte dich auch heiraten.“

Simon und Moritz kehrten verlegen lächelnd und mit geröteten Gesichtern an den Tisch zurück.
Hazel erhob sich von ihrem Stuhl. Ihr Händeklatschen war nur leise, drang gewiss nicht bis zum anderen Ende des Saals vor. Doch es war wie ein Signal.
Beifall brandete auf, in den zuerst Simons Eltern, seine Schwester und ihr Mann, dann auch die Lehrer und der Bürgermeister auf der Bühne einstimmten. Allerdings bemerkte Max, dass vor allem einige der Erwachsenen an den Tischen saßen, als wären sie zu finster dreinblickenden Wachsfiguren erstarrt. Versteckt hinter einer Gardine aus blonden Haarsträhnen wanderte er mit seinen Augen nach rechts. Auf Cosmins Lippen lag immer noch ein Lächeln, doch die Hände bewegten sich nur im Zeitlupentempo.
Er reagiert allergisch auf Heiratsanträge, vermutete Max und ließ seinen Blick weiter nach rechts schweifen.
Cosmins Vater starrte aus weit aufgerissenen Augen auf Simon und Moritz. In ihnen lag keine Ablehnung oder gar Abscheu, sondern vielmehr Fassungslosigkeit, gepaart mit Faszination und vielleicht sogar Bewunderung.
Max fragte sich, wie sein eigener Vater auf die Reden von Simon und Moritz reagiert hätte.
„Maxi?“, riss ihn Hazel aus seinen Gedanken.
„Hm?“
„Ich fand das unglaublich mutig von deinem Kumpel Simon.“

Inzwischen erzählte eine Mitschülerin seiner eigenen Klasse dem Publikum, dass sie es vor ein paar Wochen geschafft hatte, ihre Eltern wieder zusammen zu bringen. In wenigen Minuten würde er was ins Mikrofon sagen müssen, falls er nicht kniff.
Warum kneifen?
Ich habe heute ein Bomben Zeugnis bekommen und muss hier nicht raus posaunen, dass ich in einen Kerl verknallt bin.
„Von mir und Cos-Mi quasseln? Ich kann das nicht…“
Hazel tätschelte seinen linken Unterarm.
„Kann nicht? Das ist das erste Mal, dass ich so was von dir höre, Maxi.“

Cosmin

Norman trat an den Rednerpult und erzählte von der Tournee einer Band, in der er als Gitarrist aufgetreten war. Als nächster Redner würde Max die Bühne betreten.
Cosmin ahnte, worüber sich Max und Hazel unterhalten hatten, und er ahnte natürlich auch, was Max nicht tun könne.
Cosmin drückte Max’ rechte Hand, als der Freund sich seufzend erhob, um zur Bühne zu gehen.
„Maxi, vor vier Wochen hast du Tang geschlagen, obwohl du fast blind warst, weißt du noch?“
Ein schiefes Grinsen huschte über Max’ Gesicht, die eben noch gesenkten Schultern strafften sich. Max erwiderte Cosmins Händedruck. „Ich versuch’ dran zu denken, Cos-Mi, okay?“
Max schritt zur Bühne.
Cosmin bemerkte, dass ihm Moritz einen fragenden Blick zuwarf. Er erwiderte Moritz’ stumme Frage mit einem Schulterzucken.
Sein Vater beugte sich etwas zu ihm rüber. „Cosmine, der Junge… Moritz…“
Cosmin vermutete, dass der Vater das stumme Zwiegespräch mit Moritz bemerkt hatte.
„Hm…?“
„Es tut mir Leid. Seine Eltern… es wäre schön, wenn sie heute auch dabei gewesen wären.“
Die Worte des Vaters füllten Cosmins Brust gleichermaßen mit Wärme und Freude. „Mir auch, Tata. Dann hätten sie gesehen, wie glücklich Moritz ist und vielleicht…“
Cosmin verstummte.

Max trat ans Rednerpult.
„Hi Leute, wisst ihr, was ich euch eigentlich jetzt erzählen wollte?“, wandte er sich ans Publikum.
Jäh erstarb jegliches Geflüster und Getuschel im Saal.
„Ich wollte irgendwas darüber quasseln, wie cool ich mein Abizeugnis finde oder so. Weil ich echt nicht den Mumm hatte zu sagen, was für mich das Schönste in diesem Schuljahr war. Mann, ich habe die Liebe meines Lebens gefunden und quassle über meine Zensuren? Ich gebe zu, ich hätte nie gedacht, dass ich mich mal in einen Kerl verknallen könnte, aber so ist es nun mal.“

Cosmin sah, dass Max von der Bühne aus zu ihm herunter schaute und für einige Sekunden schienen ihre Blicke miteinander zu verschmelzen.
„Wenn es sein müsste, Cosmin… ich würde mein Leben für dich geben, aber hey… das sage ich heute nicht zum ersten Mal. Danke, dass du mein Freund bist und dass du …“, er räusperte sich, „… mich gern hast.“
Max trat etwas vom Rednerpult zurück.

Beifall brandete auf, nicht so lautstark wie nach Simons Rede. Doch laut genug, dass Cosmin sich vom Bann lösen konnte, in den ihn Max’ Worte gezogen hatten.
Er hastete zur Bühne. Seine Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an, zudem schien ihm das Herz im Halse zu schlagen und die Stimmbänder zu verknoten.
Max trat noch etwas beiseite, um ihm am Rednerpult Platz zu machen.
Cosmin sah, dass ihm mehrere Mädchen seiner Klasse zulächelten.
Er räusperte sich ebenfalls und hoffte, so die Knoten in den Stimmbändern zu lösen.
„Ich werde jetzt auch nicht über meine Zensuren oder über mein Zeugnis reden, Max. Dass wir uns gefunden haben, das ist für mich das Schönste am letzten Schuljahr gewesen. Danke Max, dass du mich glücklich machst. Aber das Allerschönste ist…“
Cosmin heftete den Blick auf seinen Vater, der aus großen Augen zu ihm hinauf schaute.
„… dass mein Papa zu mir steht, mich so liebt wie ich bin. Danke Papa, das du immer für mich da warst und dass du zu mir hältst.“
Nun war es sein Vater, der als erster applaudierte und in dessen Applaus die Lehrer und viele der Anwesenden einstimmten.
Und es war sein Vater, der ihn in die Arme nahm, als Cosmin zusammen mit Max an den Tisch zurückkehrte.

Zukunftspläne

Max

„Hey!“, protestierte Max.
Zum vierten oder fünften Mal wischte ihm Cosmin die Füße vom Wohnzimmertisch.
„Maxi, du wolltest den Tisch decken und nicht deine Flossen da drauf legen. Außerdem…“ Cosmin deutete auf das Smartphone, das Max in der Hand hielt. „Das da sieht nicht nach der Seite der Hochschule aus. Wir wollten morgen die Bewerbungen schreiben. Schon vergessen?“
„Cos-Mi, du hörst dich manchmal echt wie meine Oma an“, stöhnte Max und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Display seines Handys. Statt der Beschreibung eines Architekturstudiums an der Berliner Hochschule für Technik zeigte es die gewaltigen Felswände im kalifornischen Yosemite - Nationalpark.
Ein Studium fängt erst im September an. Wir hätten mindestens fünf oder sechs Wochen Zeit und könnten zusammen in Amerika…

Der Geruch nach überbackenem Käse wehte aus Oma Lisas Küche ins Wohnzimmer und ließ ihm das Wasser im Mund so schnell zusammenlaufen, dass Max kaum noch hinterher kam mit Schlucken. Er erhob sich von der Couch. „Okay, okay. Ich geh’ ja schon.“

Nach dem Abendessen lümmelten beide Jungen auf der Couch, lehnten die Köpfe aneinander und spülten Cosmins selbstgebackene Pizza mit einem Radler hinunter.
Max spürte eine wohlige Müdigkeit, die sich in seinem Körper ausbreitete und bemerkte, dass Cosmin hinter vorgehaltener Hand gähnte. Den halben Sonntag hatten sie zusammen mit Hazel in der Kletterhalle verbracht und sich am Nachmittag gemeinsam auf dem Bahnhof von ihr verabschiedet. Ein Lächeln wölbte Max’ Lippen. Hazel hatte ihm nicht nur nach dem Abiball, sondern auch gestern und heute bestimmt hundertmal gesagt, wie stolz sie auf ihren Lieblingscousin sei und wie froh darüber, dass sie ihn begleitet habe.
Cosmin strich mit einem Daumen über Max’ Lippen. „Warum lachst du?“
Max zog Cosmin noch näher an sich heran, obwohl sie bereits wie siamesische Zwillinge beieinander saßen. „Ich hab mir grade überlegt, was Hazelchen gesagt hätte, hätte ich vorgestern den Leuten was über mein tolles Zeugnis erzählt.“
„Vielleicht, dass sie lieber in Hannover bei ihrem Freund geblieben wäre?“, mutmaßte Cosmin. „Maxi…?“
„Schon ziemlich müde heute.“
„Ich finde es gut, dass wir aufhören damit, uns zu verstecken. Mein Vater… ich glaube, es hat ihn ganz schön mitgenommen, was du vorgestern gesagt hast. Und was ich geantwortet habe.“
Max nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. „Cos-Mi, ich wünschte, mein Alter ist auch so drauf wie deiner, wenn er es erfährt.“

Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach, ohne ein Wort zu sagen.
Schließlich brach Cosmin das Schweigen.
„Wir müssen uns auch überlegen, wo wir studieren wollen.“
Max nickte und seufzte leise. „In fünf Monaten sind sie da.“
Vielleicht schon in wenigen Tagen würden sie das Geschlecht der Zwillinge erfahren. Inzwischen erkundigte sich Cosmin beinahe täglich bei seiner Mutter, ob zwei Brüderchen, zwei Schwesterchen oder Brüderchen und Schwesterchen unterwegs seien und wie es den beiden ginge.

Max hoffte natürlich auf zwei kleine Brüder, die sich schon in ein paar Jahren bei ihrem Kampfsport - oder Klettertraining mit ihm gegenseitig pushen konnten. Cosmin hingegen fand, dass ein Schwesterchen und ein Brüderchen ideal wären.
Und beide träumten sie davon, so oft wie möglich die kleinen Wichte gemeinsam aus der Kinderkrippe oder dem Kindergarten abzuholen.
Allerdings hatte dieser Traum einen Haken. Max’ Chancen, an der Berliner Hochschule einen Platz für ein Architekturstudium zu ergattern waren nicht besonders groß. Max fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits wollte er auch beim Studium mit Cosmin dieselbe Schulbank drücken. Andererseits war das vielleicht nur in Dessau möglich, weit weg vom künftigen Kindergarten der Zwillinge.

„Maxi, wir haben jetzt über eine Woche Zeit. Wir können doch mehrere Bewerbungen schreiben und suchen uns zum Schluss das Beste heraus.“
Max runzelte erstaunt die Stirn. „Echt jetzt? So was geht?“
„Maxi!“, schnaubte Cosmin. „Würdest du dir auf deinem Handy auch mal die Seiten der Hochschule angucken, wüsstest du…“
„Hey, irgend jemand muss sich ja mal überlegen, was wir mit dem Rest des Sommers anstellen, okay?“, unterbrach Max Cosmins Gemecker.
Cosmins rechte Hand verharrte reglos auf ihrem halben Weg zur Bierflasche. „Du willst noch eine Tour machen?“
Max zauberte ein schiefes Grinsen auf seine Lippen. „Nur, wenn du mitkommst.“

Cosmin

An den folgenden Tagen kehrte Cosmin nur nach Hause zurück, um seinem Vater die in Oma Lisas Landhausküche zubereiteten Mahlzeiten zu bringen und ihm etwas Arbeit im Haushalt abzunehmen.
Der Vater zog ihn öfter als früher in die Arme. Vielleicht, weil er spürte, dass er bald schon ohne den Sohn zurecht kommen musste. Doch vielleicht wollte er ihm so auch zeigen, dass er nichts mehr gegen die Beziehung zu Max hatte. Hin und wieder erkundigte er sich sogar, ob Moritz’ Eltern ihre ablehnende Haltung gegenüber Simon endlich aufgegeben hätten.

Cosmin bewarb sich zusammen mit Max für ein Architekturstudium an der Hochschule für Technik in Berlin und an der Hochschule Anhalt in Dessau. Max bewarb sich außerdem noch für ein Immobilienmanagement - Studium an der Berliner Hochschule, weil er befürchtete, dass seine Noten für ein Architekturstudium in Berlin nicht ausreichen würden oder dass er dafür Wartesemester einplanen musste.
Am Freitag, genau eine Woche nach der Zeugnisausgabe und dem Abiball, verschickten sie die Bewerbungen. Sie hatten geplant, am Wochenende das Ende der Schulzeit im Steinbruch am Petersberg zu feiern und zu überlegen, wie sie die Wochen bis zum Beginn des Studiums verbringen konnten. Außerdem wollte Cosmin endlich im Steinbruch den Überhang an der „Luftnummer“ bezwingen.

Doch als sie am Abend auf der Couch in Oma Lisas Wohnzimmer fläzten, um den von Cosmin zubereiteten Kartoffelsalat zu verdauen, hörten sie fette Regentropfen gegen die Fensterscheiben prasseln. Die Wetter - App auf ihren Handys versprach erst für Montag eine Wetterbesserung.
Max stemmte sich von der Couch hoch. „Ich brauch noch was zu zischen, Cos-Mi. Du auch?“
Cosmin deutete auf die halbvolle Mineralwasserflasche in seiner Hand. „Mir reicht das hier.“

Auf dem Wohnzimmertisch bimmelte sein Handy.
Max linste auf das Display und reichte ihm das Handy. „Deine Alte.“
„Wie geht es dir und den Zwillingen?“, begrüßte Cosmin seine Mutter.
„Uns geht es gut, mein Großer. Ich weiß, du hast dir ein Brüderchen und ein Schwesterchen gewünscht…“
Cosmin fühlte plötzlich, dass ihm der Atem stockte. „Und…?“
„Ihr bekommt zwei Brüder, Cosmin. Aber ich hoffe, dass du sie trotzdem lieb haben…“
„Mutter!“
Cosmin blinzelte sich eine Träne aus dem Auge und stieß den angehaltenen Atem aus. „Ich liebe die beiden jetzt schon wie verrückt. Habt ihr euch schon Namen für sie ausgesucht?“
Er hörte das Seufzen seiner Mutter und sah, dass Max mit einer Flasche Orangensaft aus der Küche zurückkehrte. „Wir bekommen zwei Brüder“, raunte er ihm zu und stellte den Lautsprecher an, sodass Max mithören konnte.
„Wir würden uns die Namen gern mit dir und Maximilian zusammen überlegen“, erwiderte seine Mutter. „Maximilians Wohnung ist ab kommenden Mittwoch frei. Wir möchten, dass ihr nach Berlin kommt. Cosmin, du bist genauso unser Sohn wie Maximilian. Er hat zum Geburtstag dieses Auto bekommen und Alex, mein Mann… auch er wollte, dass ihr gleich behandelt werdet.“

Cosmin traute seinen Ohren nicht. Hatte seine Mutter gerade angedeutet, was ihm Max’ Vater nachträglich zum Geburtstag schenken wollte?
„Mutter, ich will solche Geschenke nicht! Und außerdem…“, Cosmin schaute kurz zu Max, der ihm einen Arm um die Schulter legte, „… vielleicht bereut er in ein paar Wochen das Geschenk, wenn er das von mir und Max erfährt.“
„Cosmin, bitte…“
Die Stimme seiner Mutter hörte sich wie ein Flehen an. „Stoße ihn nicht vor den Kopf, er meint es gut mit dir. Und ich bin sicher, dass er es verstehen wird, ich meine das zwischen euch beiden.“
Cosmin zuckte resigniert mit der Schulter. „Ich rede mit Max und sage dir morgen, wann wir nach Berlin kommen. Bis morgen, Mutter.“
„Was gibt’s da zu reden, Cos-Mi“, grinste Max, nachdem Cosmin das Gespräch beendet hatte. „Wir fahren am Mittwoch mit dem Zug nach Berlin und kutschen am Sonntag mit deiner Karre hierher zurück. Und jetzt…“ Max zog ihn zu sich heran und hielt ihm sein Handy hin. „… sagst du mir, was du davon hältst.“
Cosmin schnaubte, doch die Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, löste sich in Luft auf. Das Display zeigte eine atemberaubende Gebirgslandschaft mit schroffen Felswänden.
„Wo ist das?“
„Yosemite Nationalpark in Kalifornien. Was hältst du davon, wenn wir uns in L.A. eine Karre mieten, Hallo zu Cal und meiner Oma sagen und uns dann in diesem Nationalpark austoben?“
„Maxi, danach ist mein Geld alle und ich kann mir den Besuch bei Kate und Sue abschminken.“
Max strich mit den Lippen über Cosmins Wange.
Cosmin versuchte den Schauer aus prickelnder Elektrizität zu ignorieren, der von seiner Wange bis hinunter zum Bauch rieselte.
„Cos-Mi, ohne dich wäre ich beim Pferderennen nicht mal bis ins Finale gekommen. Wir verpulvern zusammen meine Siegprämie.“
„Du willst echt mit mir nach Kalifornien?“, fragte Cosmin fassungslos.
„Klar! Wir müssen doch unbedingt…“

Was auch immer Max sagen wollte, es ging im Klingeln des Handys unter.
Als Cosmin sah, wer Max mit einem Videoanruf zu erreichen suchte, löste er sich aus Max’ Umarmung.
„Ich muss noch das Geschirr weg räumen“, sagte er und hastete in die Küche, um dort das benutzte Geschirr in die Spülmaschine zu räumen, obwohl dafür auch am nächsten Morgen genug Zeit gewesen wäre.

Max

„Hi Onkelchen!“, grüßte Max den Onkel, als sich dessen Gesicht auf dem Handydisplay materialisierte.
„Salve Champ! Wollte mal horchen, was du dazu sagst, dass du zwei kleine Brüder kriegst.“
Leons Augen huschten über die Couch, auf der Max lümmelte. „Ist Cosmin nicht bei dir?“
Max fragte sich, ob er sich das Lauern in Leons Stimme nur einbildete. Er warf einen Blick zur Küchentür. Cosmin hatte sie hinter sich geschlossen.
Er hat immer noch Schiss vor Leon!
„Cosmin räumt in der Küche auf. Keine Ahnung, warum er sich noch so komisch benimmt, wenn du mich anbimmelst.“
„Das müssen wir endlich in den Griff bekommen. Wann fahrt ihr nach Berlin?“
„Vielleicht am Mittwoch oder Donnerstag. Wir wollen vorher nochmal da in diesen Steinbruch am Petersberg. Cos-Mi will dort endlich den Überhang abhaken. Aber wir kommen mit dem Zug. Cos-Mi bekommt auch ein Auto, glaub’ ich und mit dem können wir dann zurückfahren.“
Leon schnaubte leise. „Den Gerechtigkeitssinn deines Vaters in allen Ehren. Aber ich frage mich, wozu ihr noch ein Auto braucht.“
Leon schien kurz über etwas nachzudenken. „Vergiss den Zug, Champ!“, sagte er schließlich.
„Ich nehme mir am Mittwoch frei. Ich komme am Vormittag zu dir, dann machen wir zu dritt eine Spritztour bis zu diesem Steinbruch. Mach’ nochmal so einen Spaziergang wie damals am Männertag, dann kann ich mich so lange um Cosmin kümmern. Ein paar Klettertouren mit ihm und wir sind die besten Freunde. Problem gelöst. Und am Nachmittag fahren wir zusammen nach Berlin.“
„Das klingt gut, Onkelchen, danke“, stimmte Max zu.
„Sag ich doch“, grinste Leon. „Und jetzt erzähle endlich, was du von zwei kleinen Brüdern hältst und wie ihr die Zeit bis zum September totschlagen wollt.“

Cosmin

Erst als Max’ Stimme endlich verstummte, kehrte Cosmin ins Wohnzimmer zurück. Leons eisiger Blick auf Max’ Geburtstagsfeier hatte sich wie ein Brandzeichen in sein Gedächtnis geätzt und er war alles andere als erpicht darauf, diesem Blick erneut zu begegnen, und sei es nur ein Blick aus einem Handydisplay.
Max zog ihn zu sich auf die Couch und zauste die Locken in seinem Nacken.
„Cos-Mi…?“
„Hm…?“
„Ich habe mir überlegt, wie wir es machen.“
Cosmin erkundete mit den Fingern der rechten Hand die Bauchmuskeln unter Max’ Shirt. „Wie wir was machen?“
„Das Studium. Wir werden zusammen studieren. Wenn es in Berlin nicht klappt, dann eben hier.“
Cosmin runzelte die Stirn. „Und die Zwillinge?“
„Die holen wir dann eben in den Semesterferien vom Kindergarten ab. Und wenn wir mit dem Studium fertig sind…“
Cosmins Blick heftete sich auf den Fernseher an der Wand gegenüber, als würde dort ein Film über diese Zukunft über den Bildschirm flimmern. „… dann?“, fragte er und bemerkte, dass sich seine Lippen zu einem Lächeln bogen.
„Dann gründen wir unsere eigene Firma und nennen sie Architekturbüro Max und Cosmin.“
Cosmin kicherte leise. „Maxi, das klingt irgendwie komisch. Wie wäre es mit…“
Ihm lag Weller und Munteanu auf der Zunge, doch plötzlich fragte er sich, ob sie nicht doch irgendwann denselben Namen tragen würden.
Ich werde nicht nein sagen, sollte Max mich irgendwann einmal fragen.
„Keine Ahnung. Maxi, das können wir uns überlegen, wenn wir mit dem Studium fertig sind, oder?“, schlug er vor und erstickte Max’ Antwort mit einem Kuss, der tausend andere Fragen beantwortete…

Angst

Cosmin

Die Sonne strahlte durch eine Lücke in den weißen Wölkchen, die wie Schafe einer riesigen Herde über den tiefblauen Himmel zogen, als Cosmin am Mittwochvormittag hinter Max und Leon auf dem von Unkraut und Gestrüpp überwucherten Hohlweg in den Steinbruch stapfte. Leon hatte seinen Porsche am knapp vierhundert Meter entfernten Straßenrand stehen lassen.
Cosmins Blick strich vorbei an den mit Bohrhaken gespickten Felswänden weiter zum Teich. Er konnte nirgendwo andere Kletterer oder Camper entdecken. Sein Blick glitt weiter zum zehn Meter über ihm aus der Felswand ragenden Überhang. Verglichen mit dem gewaltigen Felsblock, unter dem sie vor drei Wochen eine Nacht verbracht hatten, wirkte der Felsbrocken über ihm wie eine harmlose Spielplatz – Attraktion.
Und verglichen mit den Steilhängen des Bucegigebirges und erst recht verglichen mit den Felswänden im Yosemite erschien ihm der Steinbruch wie eine Spielwiese.
Cosmin konnte es immer noch nicht so richtig fassen, dass Max mit ihm nach Kalifornien fliegen wollte. Sie hatten die vergangenen Tage genutzt, um günstige Flüge, einen bezahlbaren Mietwagen und Informationen über Kletterrouten im Yosemite – Nationalpark zu finden. Schon in den nächsten Tagen wollten sie den Flug und den Mietwagen buchen.

Die Vorfreude auf die geplante Reise nach Amerika war im Moment jedoch etwas getrübt. Statt den Klettertag allein mit Max zu verbringen, war auch Leon mit von der Partie. Cosmin erschauderte immer noch, wenn er an den eisigen Blick dachte, den Leon ihm bei Max’ Geburtstagsfeier zugeworfen hatte.
Sie erreichten den mit Kerzenwachs getupften Felsbrocken nahe des Teiches.
„Womit möchtest du anfangen, Cos-Mi?“, fragte Max und streifte sich den Kletterrucksack von den Schultern.
Cosmin legte seinen Rucksack auf dem Felsbrocken ab und startete die Wetter - App auf dem Handy. „Noch geht’s, aber mittags werden wir hier bei über 30 Grad ins Schwitzen kommen. Ich würde am liebsten gleich mit der Luftnummer dort beginnen, bevor es zu warm wird dafür“, sagte Cosmin und deutete mit einem Kopfnicken auf den aus der Felswand ragenden Überhang.
Leon stieg bereits in seine Klettersachen. „Du willst gleich mit einer Acht anfangen?“
„Das ist okay“, antwortete Max an Cosmins Stelle. „Bis zum Überhang ist es total locker und perfekt, um sich warm zu klettern.“
Er legte den rechten Arm um Cosmins Schulter. „Cos-Mi, hier werden wir nachher gebraten“ sagte er leise, als würde er ein Geheimnis verraten. „Ist es okay für dich, wenn du die Luftnummer mit Leon durchziehst und ich mich mal drüben in dem anderen Steinbruch umschaue? Ich will gucken, ob ich was finde, wo wir ein bisschen Schatten haben.“
Cosmin fühlte sich plötzlich, als wäre sein Bauch mit Eisklumpen gefüllt, deren Gewicht ihn in einen Abgrund zu ziehen drohte.
„Maxi…“, keuchte er leise auf. „Bleib hier.“
Max zog Cosmin in seine Arme. „Bitte gib ihm ‚ne Chance, Cos-Mi. Du kannst ihm vertrauen.“
Cosmin blickte aus den Augenwinkeln hinüber zu Leon. Max‘ Onkel zerrte ein knallrotes Kletterseil aus dem Rucksack und schien sich nicht für ihren Disput zu interessieren.
„Ich… vielleicht… Maxi, wir könnten uns zusammen den anderen Steinbruch angucken und danach hier…“
Max unterbrach Cosmins Stammelei mit einem flüchtigen Kuss. „Zieh das Ding mit meinem Onkel durch, okay?“
Cosmin nickte schwach. Er begriff es selber nicht, weshalb er sich wie ein verängstigtes Kind benahm, das man nachts allein in einem Wald zurückgelassen hatte.„Okay.“

Kurz darauf stapften die Jungen und Leon zum von Felsbrocken übersäten Einstieg in die Luftnummer. Cosmins Hoffnung, Max würde wenigstens am Fuß der Felswand warten, bis er die Schlüsselstelle erreichte, platzte wie eine Seifenblase.
„Pass gut auf meinen Freund auf, Onkelchen“, sagte Max und zog Cosmin kurz in seine Arme. „Wenn ich zurück komme, will ich hören, dass du das Teil da oben abgehakt hast, Cos-Mi.“
Cosmin brachte nur ein Seufzen über die Lippen.
Er sieht es nicht, dass ich Schiss habe. Oder er ignoriert es, weil er denkt, ich bilde mir Leons Feindseligkeit nur ein.

Max schlenderte auf dem Hohlweg aus dem Steinbruch und kaum war er ihren Blicken entschwunden, reichte ihm Leon ein Ende des roten Seils. Es war noch unbenutzt und an den Enden und in der Mitte mit gelben Markierungen versehen.
Beim letzten Mal hatten wir auch so ein Seil, aber mit blauen Markierungen, blitzte eine Erinnerung in seinem Kopf auf.
Ja und? Hätte Leon rote Markierungen nehmen sollen?
Cosmin verknotete das Seilende im Gurt.
Leon griff nach dem Knoten und wendete ihn in seiner Hand. „Sorry Cosmin, aber du hast es gehört. Ich soll gut auf dich aufpassen und viele Unfälle passieren, weil der Knoten falsch gesteckt wurde.“
Leon klopfte Cosmin wie einem alten Kumpel auf die Schulter. „Alles gut bei dir, du kannst loslegen. Ich drücke dir die Daumen.“
Leons warme Worte zwangen die eisigen Finger der Angst, die gleichermaßen nach seinem Herzen und seinem Verstand gegriffen hatten, zum Rückzug.
Cosmin warf einen Blick auf den zehn Meter über ihm aus der Wand ragenden Felsbrocken und begann, zügig an der an der Felswand hinauf zu klettern.

Max

Zunächst vermochte Max nicht zu sagen, weshalb sich seine Schritte verlangsamten, als die Straße mit Leons am Straßenrand geparkten Porsche in sein Blickfeld geriet.
Vor ihm gabelte sich der Weg.
Geradeaus führte er weiter zur Straße und rechts zweigte ein Weg ab, der sich schon nach wenigen Metern zu einem Trampelpfad verengte und zum anderen Steinbruch führte, dessen Grund mit Wasser gefüllt war und bei dem man zu den Einstiegen in die Kletterrouten abseilen musste. Max schloss kurz die Augen und Cosmins verängstigtes Gesicht tauchte aus der Dunkelheit hinter den geschlossenen Augen auf.
Und plötzlich fühlte sich Max, als hätte er ihn im Stich gelassen. Cosmins Angst erschien ihm immer noch wie eine geradezu lächerliche Paranoia. Doch Cosmins Augen, die ihn aus der Dunkelheit anstarrten glichen denen eines Rehs, das den Wettlauf mit einem hungrigen Wolf verloren hat.
*Scheiße! Seine Angst ist echt und ich bin einfach abgehauen!
*
Max machte auf der Stelle kehrt und hastete zurück in den Steinbruch.
Noch bevor Leon und Cosmin in Sichtweite gerieten, hörte er Leons Stimme.
„Was mehrst du da 'rum, Cosmin? Kletter endlich weiter!“
Max fluchte leise.
So hört sich jemand an der sagt: Stell dich nicht so dämlich an!

Max legte einen Zahn zu und sah, dass Cosmin den letzten halbwegs guten Stand unterhalb des Überhangs erreicht hatte.
„Hey, ist doch okay, wenn Cos-Mi dort nochmal Kräfte sammelt“, rief Max.
Leon fuhr herum und starrte ihn aus vor Schreck geweiteten Augen an.
„Wieso bist du hier? Du solltest doch drüben gucken, was wir dort klettern können“, schnauzte er ihn in einem Ton an, den Max noch nie aus dem Mund des Onkels vernommen hatte.
„Ich will sehen, wie Cos-Mi das Teil hier abhakt, okay?“, erwiderte Max trotzig. „Was hast du für ein Problem damit?“
Leon schwieg, doch der Schreck wich nicht aus seinem Gesicht.

Max’ Blick strich eher zufällig über das Sicherungsgerät an Leons Gurt.
Er stutzte.
Irgendetwas stimmte nicht mit dem Seil, das durch dieses Gerät lief und an dem Cosmin gesichert war. Am nach oben führenden Seilstück sah er einen Versatz, so als würde der Strang im in seiner Ummantelung an einer Stelle, die sich einen halben Meter über dem Sicherungsgerät befand, plötzlich enden und ein neuer Strang beginnen.

„Cos-Mi, bleib dort und sichere dich am Haken!“, brüllte Max nach oben und war mit zwei Sätzen bei Leon.
Er tastete die Bruchstelle im Seil ab.
Im Zeitlupentempo wandte er sich zu Leon um. „Was ist das für ein Scheißseil?“, zischte er. „Ich glaub’s nicht! Du wolltest ihn killen, oder?“
„Quatsch!“, fauchte Leon, doch die schuldbewusste Miene strafte ihn Lügen.

„Maxi, ich will es ohne Ausruhen im Haken schaffen“, rief Cosmin von oben herunter. „Ich mache weiter jetzt.“
„Nein!!!“, schrie Max. „Bleib dort. Das Seil ist ein Scheiß! Sicher dich endlich, ich komme zu dir hoch!“
Er griff in das auf dem Boden liegenden Seilknäuel und ertastete weitere Bruchstellen. Dann fuhr er zu Leon herum. „Gib mir ein anderes Seil!“
„Ich hab kein anderes Seil!“, stieß Leon zwischen den zusammengebissenen Zähnen aus und Max war klar, dass Leon log. Ohne ein echtes Seil würde ein Mord auffliegen.
„Dann eben nicht!“, fauchte Max. Er suchte alle Bandschlingen zusammen, die er in seinem und in Cosmins Rucksack finden konnte und hing sie sich über die Schulter. Dann stieg er in seinen Gurt, streifte sich die Kletterschuhe über die Füße und machte sich ohne ein weiteres Wort an Leon zu verschwenden auf den Weg zu Cosmin, um ihn aus der Wand zu holen.

Verlöschen des Lichts

Max

Kaum hatte sich Max am Bohrhaken gesichert, an dem auch Cosmin hing, griff er ihm in den Nacken und zog ihn zu sich heran, bis sie sich an der Stirn berührten.
„Cos-Mi, sorry. Ich hätte nicht verschwinden dürfen.“
„Danke, dass du zurück gekommen bist, Maxi“, erwiderte Cosmin leise. „Aber was ist mit dem Seil? Es ist doch neu.“
„Es sieht nur neu aus. Es hat mehrere Treffer. Vielleicht hat Leon das Scheißding auf einem Flohmarkt gekauft.“ Max begriff nicht, warum er versuchte, Leon zu decken. Der Platz des Onkels in seinem Herzen war wie von ätzender Schwefelsäure zerfressen.

Womit auch immer sein Onkel Cosmin gesichert hatte, ein Seil war es nicht. Eher eine Aneinanderreihung von Seilstücken, getarnt durch einen Nylonmantel. Max hatte zwar keine Ahnung, was die Seilstücke so zusammenhielt, dass man ihre Aneinanderreihung auf den ersten Blick für ein ganz normales Kletterseil halten würde. Aber dieses Ding war definitiv dazu gedacht, jemanden in den Tod stürzen zu lassen.
„Binde dich aus dem Seil aus. Ich verbinde die Schlingen hier und lass dich damit runter.“
Während Cosmin den Seilknoten am Gurt löste, warf Max einen Blick über die Schulter.
Leon hockte auf dem Felsbrocken nahe des Teichufers und starrte auf die von kleinen Wellen gekräuselte Wasseroberfläche.

Max fragte sich schaudernd, wie Leon einen Absturz ihm oder der Polizei erklärt hätte. Vermutlich mit einem falsch gesteckten Knoten. Natürlich hätte der Onkel das Fake - Seil verschwinden lassen und es durch ein echtes Seil ersetzt.
Ihm war es plötzlich lieber, Leon würde seine Sachen packen und abhauen. Er würde heute ganz gewiss nicht mehr zu ihm ins Auto steigen und stattdessen mit Cosmin nach Hause trampen.
Max bezweifelte sogar, dass er jemals wieder zu Leon ins Auto steigen würde.
Aus den sieben oder acht Schlingen bastelte er eine knapp vier Meter lange Strickleiter.

Cosmin hatte inzwischen das Seil aus dem Gurt gelöst und wendete das Seilende in seinen Händen. „Was soll ich damit machen?“
„Schmeiß es runter!“
Erst nach kurzem Zögern ließ Cosmin das Seil fallen. Er beäugte argwöhnisch die aus den Schlingen gebastelte Strickleiter.
„Daran sicherst du dich wie beim Klettersteig. Damit kommst bis zum Haken da unten“, erklärte Max und deutete auf einen Bohrhaken, der sich etwa drei Meter unter ihnen und in einer Höhe von sieben Metern über dem Erdboden befand.
Cosmin runzelte die Stirn. „Schon klar, aber wie geht es von dort weiter? Du hast nur eine Strickleiter.“
„Null Problemo. Sobald du da unten am Haken hängst, lasse ich das Teil zu dir runter fallen.“
„Maxi!“, schnaubte Cosmin erschrocken. „Willst du etwa ungesichert zu mir runter klettern?“
Max winkte ab. „Ich bin ohne Seil hier hoch und komme auch ohne Seil wieder runter hier, okay?“
Cosmins Lippen bebten, als hätte er Schüttelfrost. „Hier runter klettern ist echt kein Problem für dich?“

Max schaute an seinen Füßen vorbei nach unten. Der Felsblock über ihren Köpfen verhinderte, dass Regenwasser das von den Kletterern verwendete Magnesiapulver von den Griffen spülte und so hatte das weiße Pulver im Laufe der Jahre an der Felswand regelrechte Wegweiser hinterlassen.
„Vertrau mir!“

Nachdem sich Cosmin am Bohrhaken drei Meter tiefer gesichert und die provisorische Strickleiter an seinem Gurt befestigt hatte, begann Max mit dem Abstieg. Ihm war nicht entgangen, dass Leon den Felsbrocken am Teichufer verlassen hatte und wie gebannt vom Fuß der Felswand zu ihm hoch schaute.
Er hat Schiss, dass ich hier abschmiere!
Aber auch Cosmin verfolgte aus weit aufgerissenen Augen jede seiner Bewegungen und hatte die Arme gehoben, als hätte er allen Ernstes vor, ihn aufzufangen, falls er doch abschmierte.

„Was habe ich gesagt? Null Problemo“, beruhigte Max den Freund, als er sich neben ihm am Bohrhaken sicherte. „Nun dasselbe nochmal und wir können Leon sagen, dass er hier gerne ohne uns weiter machen kann.“
Leon wich vom Fuß der Felswand zurück, als Cosmin an der Strickleiter hinunter hangelte. Ihr unteres Ende baumelte etwas mehr als zwei Meter über dem mit Felsbrocken übersäten Einstieg der Route, sodass Cosmin das letzte Stück abklettern musste.

Max überlegte kurz, ebenfalls an der Strickleiter gesichert abzuklettern. Aber das hätte bedeutet, alle Schlingen zu opfern und am Haken hängen zu lassen. Und das, obwohl die letzten sechs oder sieben Meter keine Herausforderung für ihn darstellten. „Achtung Cos-Mi, ich werfe jetzt die Schlingen ab!“
Cosmin trat etwas beiseite und Max ließ die Strickleiter zu Boden fallen.
„Maxi, pass jetzt auf, da irgendwo ist ein Griff locker!“, rief ihm Cosmin zu.
Max klinkte den Karabiner der Sicherungsschlinge des Gurtes aus dem Bohrhaken. „Keine Bange, ich …“
Max beendete diesen Satz nicht mehr.
Er krallte sich mit den Fingern der rechten Hand an eine mit dem weißen Pulver unzähliger Kletterer markierte Leiste, um für den linken Fuß Halt zu finden.
Die Leiste, oder vielmehr die handgroße und fingerbreite Felsplatte brach.
Max versuchte nach einem anderen Griff zu schnappen, als sein Oberkörper nach hinten weg kippte.
Er verfehlte ihn.
„Maxi!!!“, ertönte der Aufschrei von Cosmin und Leon wie aus einer Kehle.
„Cos-Mi!!!“
Für Max schien plötzlich die Zeit stehen zu bleiben. Eine letzte Erinnerung blitzte in seinem Kopf auf. Der Sturz vom Reck auf Oma Lisas Dachboden, den Cosmin aufgefangen hatte.
Max war in diesem Moment klar, dass kein Mensch seinen Fall aus sechs oder sieben Metern Höhe auffangen konnte.
Das war’s mit mir!
Er prallte auf jemanden, hörte Cosmins Schmerzensschrei.

Dann schlug sein Kopf auf und schlagartig erlosch das Licht.

Cosmin

Begraben unter Max’ anderthalb Zentnern Körpergewicht und benommen von einem Aufprall, der ihm sämtliche Luft aus den Lungen getrieben hatte, begann Cosmin, sich unter Max hervor zu arbeiten. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seine linke Seite, fast so, als hätten sich ein halbes Dutzend Messer gleichzeitig in seine Rippen gebohrt.Er biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Stattdessen ertönte in seinem Inneren so etwas wie ein Jubelruf.
Ich habe ihn aufgefangen!
Max war nicht auf den Felsbrocken am Boden aufgeschlagen, sondern in seinen Armen gelandet, wenngleich sie gleich darauf zusammen eine harte Bruchlandung hingelegt hatten.
„Maxi, hoch mit dir!“, japste er. Nach Luft schnappend wälzte er Max von sich herunter.
Max rollte wie eine Stoffpuppe zur Seite.

In diesem Moment gefror Cosmin das Blut in den Adern. Blut besudelte das sonst samtweiche blonde Haar auf dem Hinterkopf des Freundes.
„Maxi… sag doch was!“, rief Cosmin und rüttelte Max’ Schulter. Doch statt einer Antwort kippte Max’ Kopf etwas zur Seite und nun sah Cosmin, dass dessen Augen geschlossen waren.
Cosmin blinzelte sich die Nässe aus den Augen und fuhr zu Leon herum, der stocksteif hinter ihm stand und dem das Entsetzen jegliche Farbe aus dem Gesicht gewischt hatte. „Tu was! Ruf endlich den Rettungsdienst!”
Leon reagierte nicht.

Cosmin griff in eine Seitentasche der Kletterhose, um selber nach dem Handy zu greifen, doch es war beim Sturz auf einen der Felsbrocken zersplittert. Er warf das Bruchstück in seiner Hand beiseite. „Ruf endlich den Rettungsdienst!“, blaffte er Leon an.
Max’ Onkel erwachte aus der Erstarrung.

Er zerrte das Handy aus einer Hosentasche, doch Cosmin hörte nur mit einem halben Ohr zu. Das rechte Ohr presste er an Max’ linke Brust, zugleich tastete er mit zitternden Fingern nach dem Puls.
Max’ Herz schlug.
Doch es schlug viel zu langsam, zudem unregelmäßig. Auch erschien es Cosmin, als würde sich Max’ Brustkorb viel zu langsam heben und senken.

„Das ist in diesem Jahr schon der zweite Unfall in diesem Steinbruch“, sagte Leon und schob das Handy zurück in die Hosentasche. „Ein Rettungshubschrauber ist aus Halle unterwegs. Er landet in spätestens fünfzehn Minuten vorne an der Straße.“

Cosmin rappelte sich auf. Erneut musste er die Zähne zusammenbeißen, weil ihm der Schmerz in den Rippen der linken Seite die Sinne zu rauben drohte. Er zerrte Max’ leblosen Körper auf die Füße. Für Max zählte jetzt möglicherweise jede Minute. Er würde ihn zur Straße bringen!
„Bist du nicht ganz dicht? Was soll das, lass ihn runter!“, fuhr ihn Leon an.
Cosmin wandte sich kurz zu ihm um. „Ich bringe ihn zur Straße. Und noch was… ich glaube nicht, dass das hier ein Unfall war!“

Vielleicht war es die unterschwellige Drohung in seiner Stimme oder aber die eisige Kälte in seimem Blick, die Leon zurückweichen ließ. Cosmin wusste es nicht und es war ihm egal.
Er zog Max mit sich.
„Verdammt Maxi, wach auf und hilf mir“, schluchzte er und presste die rechte Hand auf die linke Seite von Max’ entblößten Brustkorb, während er ihn über den Hohlweg schleifte.
Trotz des Stechens in den Rippen versuchte Cosmin zu zählen, wie oft er unter seiner rechten Hand den Herzschlag fühlen konnte.
Es schien, als würden die Pausen zwischen den Herzschlägen immer länger werden.

Verschleiert von den Tränen, die seine Augen füllten, erblickte er in einer Entfernung von etwa hundertfünfzig Metern die Straße.
Und er wartete vergeblich auf den nächsten Herzschlag oder Atemzug.
„Maxi!!!“

Cosmin rüttelte an Max’ Schulter. Sah, dass Max’ Brust aufgehört hatte, sich zu heben und zu senken.
„Oh mein Gott! Maxi, bitte. Bleib bei mir!!!“, schrie er dem Freund ins verstummte Gesicht.

Das Herz!

Er musste das Herz wach rütteln! Nicht die Schulter.
Cosmin bettete Max im kniehohen Gras, riss sich das Shirt vom Leib und schob es unter Max’ Kopf, um die Kopfverletzung vor einer Verunreinigung zu schützen.
Max braucht Sauerstoff!
Cosmin erinnerte sich jäh an den Erste - Hilfe - Lehrgang für die Fahrerlaubnis.
Wichtiger als Beatmen sei es, ununterbrochen mit der flachen Hand den Brustkorb tief einzudrücken. Immer wieder, hundertzwanzig Mal pro Minute, bis der Rettungsdienst eintreffen würde.
Cosmin stieß Max dennoch seinen Atem in den halb geöffneten Mund.
Und dann begann er, mit beiden Händen Max’ Brustkorb zweimal in der Sekunde einen Stoß zu verpassen. Tränen tropften auf Max’ nackte Brust.

Nach hunderten Stößen blies er ihm ein weiteres Mal den eigenen Atem in den Mund.
Die rechte Hand ließ er kurz auf Max’ Brustkorb ruhen.
Er fühlte einen leisen Klopfer unter seiner Hand. Doch er vermochte nicht zu sagen, ob Max’ Herz geschlagen hatte oder ob der Klopfer nur ein Echo des eigenen Herzschlags gewesen war.
Mach weiter!, rief ihm eine innere Stimme zu. Er atmet nicht!

Obwohl sich die Rippen auf der linken Seite bei jeder Bewegung so anfühlten, als wären sie mit Dornen bespickt, versuchte Cosmin das Tempo beizubehalten und Max’ Brustkorb zweimal in der Sekunde mehrere Zentimeter tief einzudrücken.
„Maxi…“, schluchzte er nach der nächsten Atemspende.
Inzwischen benetzten nicht nur seine Tränen sondern auch Schweiß, der ihm von der Stirn tropfte, Max’ Brust.
„… ich habe es dir nie gesagt, obwohl ich wusste, wie sehr du es hören wolltest…“
Cosmin schnappte nach Luft, ignorierte den stechenden Schmerz in den Rippen und die erlahmende Kraft in den Armen.

„Am Abend, bevor meine Mutter verschwand…“, wieder japste er nach Luft. „Sie hat mir hundert Mal gesagt, wie sehr sie mich liebt… und ich habe…“
Er holte trotz eines scharfen Schmerzes auf der linken Seite tief Luft und stieß sie in Max’ Lungen.
„… ich habe Camelia hundert Mal gesagt… dass ich sie liebe“, keuchte er und setzte die Herzdruckmassage fort. „…obwohl ich es nicht erwarten konnte, aus Porumbita zu verschwinden…“

Er hörte das Knirschen von Schritten auf dem Hohlweg.
„Ich fand deshalb, dass es nur leere Worte sind.“
Ein paar Meter neben ihm stoppten die Schritte.

Cosmin stieß erneut seinen Atem in Max’ Lungen und setzte die Massage fort. Inzwischen fühlten sich sämtlich Gelenke in den Armen und in der Schulter so an, als wären sie ebenfalls mit kleinen Dornen gespickt.
„Ich liebe dich, Maxi“, schluchzte er. „Ich liebe dich und ich weiß nicht, was ich machen soll ohne dich.“
Er schrie all seine Verzweiflung aus sich heraus. „Ich liebe dich, Maxi und jetzt wach verdammt nochmal auf!“

Das Brummen eines Helikopters drang an seine Ohren, doch Tränen und Schweiß verschleierten seinen Blick. Zudem schien es, als würde das Stechen in den Rippen seine Sinne vernebeln.
Männer mit einer Trage tauchten aus dem Nebel auf. Cosmin blinzelte verwirrt. Ein Mann mit schlohweißem Strubbelhaar und Schnauzbart beugte sich zu ihm herunter.
Albert Einstein?
„Wir machen jetzt damit weiter, Junge“, sagte Albert Einstein zu ihm und zerfloss vor seinen Augen in zwei Albert Einsteins, ehe die beiden Albert Einsteins vom Nebel verschluckt wurden…

Koma

Cosmin

Irgendwann lichtete sich der Nebel, doch die Finsternis blieb. Zugleich kehrten die Schmerzen auf der linken Seite zurück, wenngleich nicht mehr so stechend wie vorhin, als er…
Cosmin richtete sich kerzengerade im Bett auf und biss die Zähne zusammen, weil ein scharfer Schmerz durch seinen Brustkorb zuckte.
Er hatte keinen Schimmer, wo er sich befand und was er in diesem Zimmer zu suchen hatte. Aber das war ihm im Moment auch völlig egal.
Maxi!
Die Erinnerung an die vergeblichen Versuche, Max mit der Herzdruckmassage ins Leben zurück zu holen, schlug über ihm wie eine eisige Sturzflut zusammen.
Er hob die Beine aus dem Bett.
Die Schwärze der Finsternis war einer Dunkelheit gewichen, in der Cosmin erkennen konnte, dass er sich in einem schlicht eingerichtetem Krankenhauszimmer mit zwei Betten, Einbauschränken und einem Tisch mit zwei Stühlen befand. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit einem abgedeckten Teller und einer Flasche Mineralwasser.
Das zweite Bett war leer.
Über beiden Betten glühten ein gelbes und ein rotes Lämpchen. Cosmin drückte den Schalter mit dem gelben Lämpchen und das gedämpfte Licht einer Nachttischlampe vertrieb die Dunkelheit in einen kleinen Korridor.
Mit dem Licht drängten weitere Erinnerungen in seinen Kopf.
Der Mann mit dem schlohweißen Haar war natürlich nicht Albert Einstein gewesen, sondern ein Unfallarzt, der vermutlich den Rettungseinsatz geleitet hatte. Weitere Erinnerungen, beinahe ebenso flüchtig wie Traumbilder, waberten durch seinen Kopf. Ein Flug mit dem Hubschrauber, beruhigende Worte des Mannes, der wie Albert Einstein aussah. Später dann ein kahler Raum mit allen möglichen Apparaten. Dort hatte er auf einer Pritsche gelegen und der Arzt war auch dort gewesen.
Wo ist Max jetzt?
Der Arzt mit dem schlohweißen Haaren hatte ihm versichert, dass Max durchkommen werde. Oder bildete er sich das nur ein?
Cosmins Blase drückte, die Erinnerungen verblassten etwas unter ihrem Druck.
Er tapste, nur im Slip und einem viel zu großen Unterhemd gekleidet, in der Korridor, wo sich auch eine Toilette befand. Nachdem er sich erleichtert hatte, betrachtete Cosmin die schmerzende Stelle auf der linken Seite des Brustkorbs. Ein nahezu handtellergroßer Bluterguss färbte dort die ansonsten braune Haut blau und violett.
Er wagte es nicht, die Schwellung abzutasten und fragte sich, ob die Rippen dort vielleicht sogar gebrochen waren.
Im Einbauschrank neben dem Bett fand er seine Kletterhose und einen dünnen Pullover, den ihm offenbar das Krankenhaus spendiert hatte. Außerdem Filzlatschen und den Klettergurt sowie seine Kletterschuhe. Er steifte sich die Kletterhose über, stieg in die Filzlatschen und verließ das Zimmer.
Der langgestreckte Krankenhausflur schien ebenfalls Nachtruhe zu halten, die Leuchtstoffröhren an der Decke spendeten gerade so viel Licht, dass Cosmin die Zimmernummern an den Türen auf der einen Seite des Flurs und die Beschriftung der Stahlschränke auf der anderen Seite erkennen konnte. Eine Insel aus Licht markierte die Mitte des Flurs. Dort stand eine der Zimmertüren sperrangelweit offen.
Ein in einem Arztkittel gekleideter etwa dreißigjähriger Mann und zwei Krankenschwestern in ungefähr demselben Alter saßen an Schreibtischen und blätterten in Unterlagen oder studierten etwas auf den Computermonitoren, als Cosmin zaghaft an der Tür anklopfte.
Beide Schwestern und der Arzt blickten auf.
„Hallo, mein Name ist Cosmin Munteanu, ich wollte fragen, wo ich hier bin und ob ich meinen Stiefbruder sehen darf. Wir wurden mit einem Helikopter vom Petersberg hier her gebracht.“
Die Schwestern nickten ihm zu und warfen dem Arzt einen fragenden Blick zu.
„Hallo Cosmin, Sie befinden sich in der Unfallchirurgie der Universitätsklinik Halle“, antwortete der Arzt mit einem Akzent, der ihn an Sergius Bruder Valentin erinnerte. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf das Namensschild des Arztkittels.
Der Arzt bemerkte Cosmins Blick. „Ja, wie es aussieht, sind wir Landsleute. Mein Name ist Dr. Popescu“, sagte er auf rumänisch und fuhr auf deutsch fort: „Wie geht es Ihnen Cosmin, haben Sie starke Schmerzen oder Atembeschwerden?“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Es geht. Wenn ich tief einatme, sticht es ein bisschen.“
Ein bisschen war freilich arg untertrieben.
Der Arzt nickte. „Eine Prellung. Sie ist schmerzhaft, verheilt aber in der Regel von selbst.“
„Was ist mit meinem Bruder, Dr. Popescu? Darf ich ihn sehen?“
Eine der Schwestern schaute auf ihre Uhr, als wolle sie ihm zu verstehen geben, dass dafür morgen auch noch Zeit sei, doch der Doktor erhob sich. „Er liegt im Koma. Auf der Intensivstation, Cosmin. Kommen Sie mit.“
Die Intensivstation befand sich auf der Stirnseite des Flurs und umfasste mehrere, durch mannshohe Trennwände voneinander abgegrenzte Rollbetten. An den Seiten und Kopfenden der Betten wachten Apparate mit Schläuchen, die wie Tentakel an den leblos in den Betten liegenden Patienten klebten oder sich in sie hinein bohrten.
Cosmin versuchte das Glucksen, Schmatzen und Piepen der Apparaturen an den Betten auszublenden und trat zusammen mit dem Arzt an eines der Betten heran. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
Max’ Gesicht war fast vollständig vom Beatmungsgerät verhüllt, sein Kopf mit einem Verband umwickelt, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen hervorlugten. Mehrere Schläuche steckten in seinen Armen oder verschwanden unter der Bettdecke.
„Ist er schwer verletzt?“, fragte Cosmin leise.
Der Arzt schüttelte mit dem Kopf.
„Er hatte einen Glücksengel, der seinen Sturz aufgefangen hat, Cosmin. Der Schädelknochen am Hinterkopf ist nicht gesplittert oder gebrochen. Der Chefarzt hat auch keine Hirnblutung feststellen können. Dein Bruder hat eine Gehirnerschütterung. Möglicherweise wird er Erinnerungslücken haben, wenn er aufwacht. Aber hättest du nicht die Herzdruckmassage bei ihm gemacht…“ Er verstummte. Ohnehin war Cosmin klar, was fünf oder gar zehn Minuten Herzstillstand bedeutet hätten.
Wird er sich an mich erinnern, wenn er aufwacht?
Einige Male hatten sie darüber geredet, was wäre, sollte Max bei einem Kampfsportturnier verletzt werden und ins Koma fallen.
„Darf ich ein bisschen bei ihm bleiben, Dr. Popescu?“
Der Arzt schien mit sich zu ringen. „Am Tage jederzeit… aber jetzt?“
Schließlich warf er einen Blich auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt halb eins. Bitte bleib nicht länger als eine halbe Stunde.“
Er holte aus einer Ecke des Raums einen Stuhl, bedeutete Cosmin darauf Platz zu nehmen und reichte ihm ein mit Mineralwasser gefülltes Glas. Dann verließ er den Raum.
Cosmin streichelte Max’ rechte Hand, die mit einem der Schläuche verbunden war.
„Maxi? Kannst du mich hören?“
Max’ Augen blieben geschlossen, nirgendwo zuckte ein Muskel.
Cosmin beugte sich etwas vor. „Ich habe Angst, Maxi. Ich habe Angst, dass du aufwachst und nicht mehr weißt, wer ich bin.“
Er suchte mit den Lippen eine Stelle in Max’ Gesicht, die nicht vom Beatmungsgerät oder von einer Binde bedeckt war. „Ich liebe dich, Maxi. Komm zu mir zurück. Ich versprech’s dir… wenn du mich fragst, ob ich dich heiraten würde, ich werde nicht nein sagen. Bitte…“ Sein Flüstern wurde zum Schluchzen.
Was, wenn Max nicht mehr aufwacht? Oder erst in zehn Jahren?
Half es, wenn er mit ihm redete? Würde er bei Max den Wunsch wecken, aus dem Koma aufzutauchen?
Cosmin redete. Erzählte vom Beginn ihrer Freundschaft, von den Schmerzen nach ihrem ersten Mal, von den gemeinsamen Kletterabenteuern und von Sue und Kate, die ihn und Max im Dezember bei ihrer Verlobungsfeier dabei haben wollten.
Mit den Fingern tastete er sich an das silberne Halskettchen heran, sie strichen zunächst nur über den Anhänger. Dann öffneten sie ihn.
So wie er es vermutet hatte, zeigte die das Bild darin die herzförmige Rückseite mit der Inschrift „Love“.
Würden Schwestern oder Ärzte einen Blick in diesen Anhänger werfen?
Cosmin seufzte leise. Max würde ebenso wenig wie er selber wollen, dass morgen jeder im Krankenhaus wusste, dass sie ein Paar waren.
Vorsichtig wendete er das Bild. Es zeigte nun dasselbe Freundespaar, ohne aber alles zu verraten.
Erst als er annahm, dass eine halbe Stunde vergangen war, endete sein Redefluss. Er versprach, am Tag wieder zu kommen und trottete erschöpft ins eigene Krankenhauszimmer zurück.

„Herr Munteanu, Guten Morgen…“
Cosmin blinzelte verwirrt und bemerkte, dass jemand sanft an seiner Schulter rüttelte. Er öffnete die Augen und blickte in das rundliche Gesicht einer Krankenschwester mit ergrautem Haar.
„Der Oberarzt kommt gleich zur Visite“, sagte die Schwester in einem Tonfall, als wolle sie sich für das Wachrütteln entschuldigen.
„Guten Morgen“, erwiderte Cosmin ihren Gruß und war froh, dass sie sich umwandte, um das benutzte Geschirr vom Tisch zu räumen. Er schnappte seine Kletterhose vom Nachttisch. Zwar stieg er nicht hinein, aber mit der Hose in den Händen konnte er unauffällig verbergen, was er ohne sie zur Schau gestellt hätte. Auf der Toilette legte Cosmin eine kurze Verschnaufpause ein, ehe er sich erleichterte. Trotz der Schmerztablette, die er nach der Rückkehr aus der Intensivstation zusammen mit dem Abendessen zu sich genommen hatte, fühlte er bei jeder Bewegung ein Stechen in seiner linken Seite.
Kurz darauf betraten der Arzt, der ihn am Tag zuvor an Albert Einstein erinnert hatte sowie Dr. Popescu und die grauhaarige Krankenschwester das Zimmer. Cosmin hatte sich inzwischen wieder unter der Bettdecke verkrochen.
Während der Begrüßung erhaschte er einen Blick auf das Namensschild am Kittel des weißhaarigen Arztes: „Oberarzt Dr. Kunze“
Dr. Kunze betrachtete kurz den Bluterguss an den Rippen, leuchtete ihm in die Augen und tastete mit einem Stethoskop den Brustkorb ab. Er befühlte Cosmins Stirn und wechselte mit dem jungen Arzt einen Blick, als würden sie sich ohne Worte verständigen.
„Cosmin“, begann endlich der Oberarzt. „Ihre Rippenprellung ist zwar schmerzhaft, verheilt in der Regel aber ohne Komplikationen. Ich möchte Sie dennoch bis morgen hier behalten. Sie haben trotz der Prellung Ihren Stiefbruder aus dem Steinbruch geborgen und ihn bis zur Erschöpfung wiederbelebt. Ich verstehe offen gestanden nicht, wie Sie das angesichts Ihrer eigenen Verletzung durchgehalten haben.“
Cosmin schluckte seine Verlegenheit hinunter. „Max hörte plötzlich auf zu atmen…“
„… und Sie haben sofort mit der Wiederbelebung begonnen?“, fragte nun der junge Arzt.
Cosmin nickte und schilderte, wie er während der Bergung aus dem Steinbruch Max’ Herzschlag überprüft und anschließend die Herzdruckmassage durchgeführt hatte.
„Wird sich Max das Leben vor dem Unfall erinnern, wenn er aus dem Koma erwacht?“, fragte er, nachdem er die Wiederbelebungsversuche geschildert hatte. Er bemerkte es selber, wie ängstlich seine Stimme anhörte.
„Ich glaube schon, und das wird Max Ihnen zu verdanken haben, Cosmin“, erwiderte der Oberarzt und Dr. Popescu ergänzte, dass sich mögliche Erinnerungslücken auf die Momente kurz vor dem Unfall beschränken würden.
„Cosmin, es gibt noch ein Problem“, fuhr der junge Arzt fort. „Wir müssen Ihren Vater verständigen. Max’ Onkel konnte uns nicht mit einer Telefonnummer weiterhelfen und Sie haben kein Handy dabei.“
Ein leiser Schreck ließ seinen Atem stocken. Im Steinbruch hatte er nicht nur das zerbrochene Handy und die Straßenkleidung, sondern auch einen kleinen Rucksack zurückgelassen, in dem sich seine Papiere befanden. Zudem wusste er nicht, wie er ohne Handy seinen Vater erreichen konnte.
Fast schien es, als hätte der Oberarzt seine Gedanken gelesen. „Kommen Sie nach dem Frühstück in die Anmeldung. Von dort aus können Sie Ihren Vater anrufen. Ach ja… und wenn Sie Ihren Bruder besuchen möchten, die Schwestern in der Anmeldung sind informiert. Ich glaube, es tut Max gut, wenn er Ihre Stimme hört, Cosmin.“
Er warf dem jungen Arzt einen kurzen Blick zu. „Erzählen Sie Cosmin, was Sie in der vergangenen Nacht festgestellt haben, Dr. Popescu.“
„Cosmin…“, begann der Assistenzarzt und schien seine Worte abzuwägen, „… wir haben in der vergangenen Nacht, als Sie bei Ihrem Bruder waren, etwas Merkwürdiges registriert. Max’ Herz schlug während dieser Zeit schneller. Nun, es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, dass Patienten im Wachkoma auf äußere Reize reagieren. Sie können sogar durch die Anwesenheit des Partners oder der Partnerin sexuell stimuliert werden.“
Cosmin hoffte, dass ihm die Ärzte seine Verlegenheit nicht an der Nasenspitze ansahen. Er hatte in der Nacht auch überlegt, ob es Max spüren würde, wenn man ihn an dessen empfindlichen Stellen streichelt, es aber nicht gewagt, das auch auszuprobieren.
„… bedenken, dass Max in seinem Zustand gar keine Reaktion zeigen dürfte und sie auch ansonsten nicht zeigt“, drangen Dr. Popescus Ausführungen wieder bis zu ihm vor. „Deshalb glauben wir, dass es Max hilft, wenn Sie mit ihm reden. Auch wenn ein Erwachen innerhalb von 24 oder auch 48 Stunden aus einem derartigen Koma eher unwahrscheinlich ist.“
Cosmin schöpfte jäh neue Hoffnung.
Maxis Herz schlägt schneller, wenn ich bei ihm bin!
Eher unwahrscheinlich bedeutete im Umkehrschluss, dass es nicht unmöglich war!
Cosmin nahm sich vor, heute nicht von Max’ Seite zu weichen.

Komplikationen

Cosmin

Die grauhaarige Krankenschwester stellte nach dem Ende der Visite ein Tablett mit drei Brötchen, Marmeladen – und Schmelzkäsepackungen sowie mit einem Kännchen Kaffee auf dem Tisch des Krankenzimmers ab. Cosmin ließ die Hälfte davon unberührt auf dem Tablett liegen.
Er wollte so schnell wie möglich zur Intensivstation.
Doch zunächst musste er versuchen, seinen Vater zu erreichen.

Der Anmeldetresen befand sich am Zugang zur Station, auf der zur Intensivstation gegenüberliegenden Stirnseite des Krankenhausflures. Die Schwester auf der anderen Seite des Tresens, eine junge Frau mit knallrot gefärbten Haaren, war offenbar bereits von einem der Ärzte darüber informiert worden, dass Cosmin das Telefon benutzen durfte.
Sie reichte Cosmin den mit Wähltasten versehenen Hörer, kaum dass er sich bei ihr vorgestellt hatte.
„Munteanu, hallo?“, meldete sich sein Vater.
„Tata, ich bin’s.“
„Cosmine? Was ist das für eine Nummer? Bist du in Halle?“
„Ich bin im Krankenhaus. Mein Handy ist kaputt“, antwortete Cosmin und berichtete in knappen Sätzen, dass Max wegen eines brüchigen Griffes von einer Felswand gestürzt sei und ihn dabei umgerissen habe. Cosmin verschwieg seinen Verdacht, Leon könnte etwas mit dem Seil angestellt haben, um es unbrauchbar zu machen. Als er von seinem nächtlichen Besuch auf der Intensivstation erzählte, versagte seine Stimme und statt weiterer Worte brachte er nur noch ein Schluchzen über die Lippen.

Sein Vater schien einige Sekunden zu benötigen, ehe er Cosmins hastig herunter gespulten Bericht verdaut hatte. „Ich mache mittags Feierabend und komme nach Halle. Wo genau ist dieses Krankenhaus?“
Cosmin kämpfte die Verzweiflung nieder, die ihm die Stimmbäder verknotete, dachte an die Worte des jungen Arztes.
Max’ Herzschlag beschleunigt sich, wenn ich mit ihm rede!
„Tata, ich werde morgen Vormittag aus dem Krankenhaus entlassen. Es reicht, wenn du morgen nach Halle kommst. Ich möchte aber noch etwas bei Max bleiben. Kannst du mich am Nachmittag abholen?“
„Natürlich, Junge. Also gut.“ Sein Vater stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich hole dich morgen Nachmittag ab. Und ich bete, dass Max bald wieder auf die Beine kommt.“
Gebete werden Maxi nicht zurück ins Leben helfen!
Dennoch ließen die Wärme in den mitfühlenden Worte des Vaters den Kloß in seinem Hals schmelzen.
„Danke Tata“, beendete Cosmin das Gespräch und reichte den Telefonhörer der Krankenschwester, die ebenfalls mit seinem Vater reden wollte.

Cosmin verbrachte beinahe den ganzen Tag neben Max’ Bett auf der Intensivstation. Er hielt die rechte Hand des Freundes und versuchte dabei den Schlauch zu ignorieren, der sich über eine Kanüle in diese Hand hinein bohrte und von Zeit zu Zeit eine transparente Flüssigkeit in den reglosen Körper injizierte.
Mal redete er und wunderte sich selber darüber, dass die Sätze aus ihm heraus sprudelten wie Wasser aus einem geöffneten Hahn. Mal saß er stumm auf dem Stuhl, der von Tränen verschleierte Blick suchte nach einer Regung in Max’ Gesicht, und sei es nur ein Zucken der Wimpern.
Doch die Hoffnung, dass der beschleunigte Herzschlag Max aus dem Koma holen würde, erfüllte sich nicht.

Kurz vor 22 Uhr, dem Beginn der Nachtruhe, verabschiedete sich Cosmin von Max und versprach, auch die nächsten Tage bei ihm zu verbringen. Doch am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass Cosmin dieses Versprechen gar nicht halten konnte.

Wie schon am Morgen zuvor weckte ihn die grauhaarige Krankenschwester und kündigte die Visite des Oberarztes an. Bereits als der Oberarzt Dr. Kunze zusammen mit dem jungen Assistenzarzt das Krankenzimmer betrat schien es Cosmin, als würde der Luft im Zimmer plötzlich der Sauerstoff zum Atmen fehlen.
Cosmin suchte vergeblich nach guten Neuigkeiten in den verschlossenen Gesichtern der beiden Ärzte. Eine düstere Vorahnung ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
„Bitte atmen Sie tief ein und wieder aus“, bat ihn der Oberarzt nach der Begrüßung und tastete vorsichtig die linke Seite seines entblößten Oberkörper erst mit der rechten Hand und dann auch mit dem Stethoskop ab.
Es fiel Cosmin schwer, die Ärzte nicht schon während der Untersuchung mit Fragen zu Max’ Zustand zu bedrängen.
„Wir können Sie heute aus dem Krankenhaus entlassen, Cosmin“, sagte der Oberarzt und notierte etwas in einem Hefter, den ihm der junge Arzt gereicht hatte. „Wir geben Ihnen Schmerztabletten mit. Bitte lassen Sie sich aber in der nächsten Woche unbedingt noch einmal von Ihrem Hausarzt untersuchen. Haben Sie jemanden, der Sie von hier abholt?“
„Mein Vater würde mich heute Nachmittag abholen“, erwiderte Cosmin und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. „Ich möchte den Tag bei meinem Bruder verbringen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Der Oberarzt seufzte leise und Dr. Popescu schien mit den Zähnen zu knirschen, als würde er so einen Wortschwall unterdrücken, der ihm auf der Zunge lag.
Cosmin stockte der Atem. Zugleich ratterte das Herz in seiner Brust wie ein Abbruchhammer. Seine düstere Vorahnung hatte ihn offenbar nicht getäuscht. „Mit Max ist etwas passiert, oder?“
„Nichts Schlimmes“, beruhigte ihn der Oberarzt und warf dem Assistenzarzt einen Blick zu, der den Blick mit einem unmerklichen Nicken erwiderte.
„Max’ Familie hat darauf bestanden, dass er nach Berlin gebracht und dort weiter behandelt wird“, erklärte der junge Assistenzarzt und es war nicht zu übersehen, was er davon hielt. „Heute morgen gegen fünf Uhr wurde Max von einem Intensivtransport abgeholt. Da keine medizinische Notwendigkeit bestand, wird seine Familie wohl sehr tief in die Tasche greifen müssen. Ach ja… der Transport wurde von Max’ Onkel begleitet, der mit Ihnen beiden im Steinbruch am Petersberg gewesen ist. Er hat für Sie einen Rucksack hier gelassen.“
Leon!
Bei der Erwähnung von Max’ Onkel war es nun Cosmin, der mit den Zähnen knirschte. Dennoch spürte er, dass sich sein rasendes Herz beruhigte. Zwar würde er Max heute nicht sehen, aber immerhin hatte sich dessen Zustand nicht verschlechtert. Spätestens Anfang der nächsten Woche würde er nach Berlin fahren und Max dort besuchen. Nun gab es freilich für ihn keinen Grund, bis zum Nachmittag im Krankenhaus zu bleiben. Er sehnte sich plötzlich nach Armen, die ihn hielten, nach einer Schulter, gegen die er den Kopf lehnen konnte, nach warmen Worten, die ihm Trost spendeten.
„Darf ich nachher noch einmal das Telefon in der Anmeldung benutzen? Ich möchte meinen Vater anrufen.“

Anderthalb Stunden später holte ihn sein Vater aus dem Krankenhaus ab.

Und als sie ihre Wohnung betraten, war Cosmin beinahe schon froh darüber, dass ihn dort ein Berg Schmutzwäsche und benutztes Geschirr erwartete und er sich so mit der Hausarbeit ablenken konnte. Er hätte er im Moment nicht einmal in das Weltraumabenteuer eines seiner spannendsten Science – Fiction – Romane eintauchen können, um sich abzulenken, weil sich die Buchstaben eines Satzes vor seinen Augen ohnehin immer wieder zu ein und derselben Frage umgruppieren würden:
Wie geht es Max?

Sein Vater musste zu einer Baustelle am Stadtrand zurückkehren und versprach, bis zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein.
Vielleicht hätte es Cosmin etwas von all den Grübeleien abgelenkt, wären Moritz oder Simon in Dessau. Doch die beiden Freunde aalten sich jetzt vermutlich an einem Strand in der Sonne und er konnte sie nicht einmal anrufen. Ihre Nummern waren auf seinem Handy abgespeichert, das nach dem Sturz ausgesehen hatte, als wäre es unter die Ketten einer Planierraupe geraten. Leon hatte die Überreste des Handys offenbar am Einstieg der Luftnummer liegen lassen. Das Handy, welches ihm Max geschenkt hatte, lag auf dem Schreibtisch in seinem Zimmer in Oma Lisas Haus…

Wie versprochen kehrte der Vater gegen 13 Uhr von der Arbeit heim. Doch statt sich wie sonst wenn er bereits mittags Feierabend hatte, nach dem Mittagessen ein Mittagsschläfchen zu gönnen, nahm er Cosmin in seine Arme. Cosmin legte den Lappen, mit dem er den Tisch abwischen wollte, beiseite und ließ den Kopf gegen die Brust des Vaters sinken.
„Cosmine, lass uns zusammen etwa unternehmen.“
Der Vater kraulte die Locken in Cosmins Nacken und fuhr fort: „Wie wäre es, wenn wir jetzt einfach irgendwo hinfahren und eine Wanderung machen. Und heute Abend versuchen wir herauszufinden, wo Max ist. Morgen fahren wir nach Berlin und besuchen ihn.“
Cosmin blinzelte Tränen aus den Augen, die ihm den Blick verschleierten.
„Tata, ich will eigentlich nachher zur Mulde. Maxi und ich, wir haben dort eine Stelle, die uns sehr viel bedeutet.“
„Zeigst du mir diese Stelle?“

Sie wanderten zu Fuß zum Ufer des Flusses. Kleine Wellen glitzerten in der Nachmittagssonne, sie begleiteten mit ihrem Plätschern das Zirpen der im Ufergestrüpp versteckten Grillen.
Unter der Weide, die geduldig eine nahe ihres Stammes vergrabene Schatulle bewachte, breitete Cosmin Max’ Campingmatratze aus.

Eine Viertelstunde saßen Vater und Sohn schweigend nebeneinander. Cosmin hatte die Arme um seine Beine geschlungen. Er stützte das Kinn auf den Knien ab. Seine Augen verfolgten den Tanz einer Libelle, doch seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Moment, als er zusammen mit Max am Bohrhaken der Luftnummer gehangen hatte und das Unheil seinen Lauf nahm. Max hatte ihm gesagt, er solle das Seil abwerfen, weil es Treffer habe. Aber auch ein beschädigtes Seil hätte das Körpergewicht eines Menschen locker gehalten.
Was hat mir Max verschwiegen?
„Deine Mutter hat heute schon zweimal versucht, mich anzurufen“, holte ihn sein Vater aus der Grübelei ins Hier und Jetzt zurück.
„Du hast nicht mit ihr geredet?“
„Sie will mit dir reden, mein Junge. Nicht mit mit mir“, erwiderte der Vater.

Jäh erinnerte dessen Seufzer Cosmin daran, dass er nicht der einzige war, bei dem Schmerzen gleichsam wie die Backen eines Schraubstocks das Herz im Brustkorb umklammerten.
Er lehnte den Kopf gegen die Schulter des Vaters. „Bist du noch mit deiner… Freundin zusammen?“
„Doreen ist eine nette Frau, Cosmine. Sie hat einen Mann verdient, der sie liebt und nicht jemanden, der ständig an eine andere Frau denkt.“
Der Vater strich mit dem Daumen über Cosmins Wange. „Ruf deine Mutter an, Junge. Sie macht sich Sorgen.“

Während der Vater eine Thermoskanne, zwei Tassen und etwas Gebäck auf der Campingmatte platzierte, wählte Cosmin auf dem Handy des Vaters die Handynummer seiner Mutter. Vielleicht hätte er bis zum Abend mit dem Anruf gewartet. Doch in ihm keimte jäh die Hoffnung auf, von ihr zu erfahren, wohin man Max gebracht hatte und ob er bereits aus dem Koma erwacht war.

Beinahe augenblicklich gellte die Stimme seiner Mutter aus dem Handy. „Cosmin? Bist du es? Wo bist du? Was ist mit dir passiert?“
„Mutter, ich bin okay und schon wieder zu Hause“, antwortete er und berichtete in knappen Sätzen, dass er bei Max’ Unfall mit einer harmlosen Rippenprellung davongekommen war und er nun mit dem Vater am Ufer der Mulde saß. „Wir wollen Max morgen besuchen. Und nächste Woche würde ich ein paar Tage in Berlin bleiben. Weißt du, wo Max jetzt ist und wie es ihm geht?“

Aus dem Handy drang ihr Schluchzen. „Alex und ich, wir waren gerade bei ihm. Maximilian… ich hoffe, dass er bald aufwacht. Es ist schrecklich, den Jungen so reglos im Bett liegen zu sehen, mit all diesen Apparaten.“
„Und wo genau liegt er?“
„Auf der Intensivstation. Wann kommst du in der nächsten Woche nach Berlin? Ich hole dich vom Bahnhof ab und bringe dich in Maximilians Wohnung.“
Cosmin zuckte leise zusammen und für einen Moment fühlten sich die Rippen auf seiner linken Seite erneut so an, als wären sie mit Dornen gespickt. Leon besaß einen Schlüssel für Max’ Wohnung und konnte jederzeit dort aufkreuzen. Nachdem er Max’ Onkel an den Kopf geknallt hatte, dass er nicht an einen Unfall glaube, war er nicht erpicht darauf, ihm zu begegnen. Erst recht nicht, wenn er sich allein in der Wohnung aufhielt.
„Ich glaube, ich würde es nicht aushalten dort, ohne Max“, wand er sich. „Wahrscheinlich übernachte ich in einem Hostel. Dort sind…“ Ein plötzlicher Hustenanfall raubte ihn für einen Moment den Atem. Sein Vater klatschte ihm mehrere Male mit der flachen Hand auf den Rücken.

„Junge, das hörte sich gar nicht gut an“, sagte sein Vater, als der Hustenreiz zusammen mit dem stechenden Schmerz in den Rippen endlich abklang.
Auch seine Mutter schien besorgt. „Vielleicht solltest nochmal zum Arzt gehen, bevor du nach Berlin kommst“, riet sie ihm.
„Ich glaub’, ich hab mich nur an was verschluckt“, japste Cosmin, obwohl er gar nichts im Mund gehabt hatte, was er hätte verschlucken können.
Der Vater reichte ihm eine Tasse Kaffee, nachdem sich Cosmin von seiner Mutter verabschiedet hatte.
„Hast du dich erkältet, Cosmine?“, fragte er besorgt und befühlte die Stirn des Sohnes.
„Tata, es sind bestimmt dreißig Grad, da ist es ziemlich schwer, sich zu erkälten“, antwortete Cosmin und hoffte, dass er Hustensaft oder wenigstens Hustenbonbons in ihrem Haushalt finden würde, denn ein Kitzeln in seinem Hals kündigte bereits den nächsten Hustenanfall an.

Florin Munteanu

Die kleine Hausapotheke in seinem Wohnzimmerschrank enthielt nicht nur Hustensaft und Pastillen, sie enthielt auch alle möglichen Tabletten gegen Kopf - und Gliederschmerzen sowie gegen Erkältungssymptome und Fieber. Doch kein einziges Medikament hielt, was die Verpackung versprach.

In der Nacht wachte Herr Munteanu am Bett seines Sohnes, weil es ihm so schien, als würde der Junge sich die Seele aus dem Hals husten und weil dessen Stirn trotz der Fiebertabletten immer heißer wurde. Gegen drei Uhr zeigte das Fieberthermometer eine Temperatur von 39,4 Grad.

Herr Munteanu griff außer sich vor Sorge zum Handy und wählte die 112. Eine Viertelstunde später traf eine Notärztin ein. Sie vermutete, dass sich Cosmin eine Lungenentzündung zugezogen haben könnte. Inzwischen war der Junge so geschwächt, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Die Rettungssanitäter bugsierten ihn auf eine Trage und fuhren ihn mit eingeschaltetem Blaulicht ins Krankenhaus.