Abenteuer im Gebirge
Max
Als sich nächsten Vormittag die jungen Leute auf der Terrasse der Berghütte zum Frühstück einfanden, herrschte am Tisch fast schon Katerstimmung, was auch am reichlich geflossenen Wein am Abend zuvor liegen mochte. Zudem trübten vielleicht auch dichte Nebelschwaden, die vom Tal aufstiegen und sich über die Berge wälzten, die Stimmung.
Aber immer wieder ertönten am Tisch auch Klagen darüber, dass das Wochenende mal wieder viel zu schnell vergangen sei.
Besonders unglücklich starrten Lucas und Tim sowie die beiden Mädchen an ihrer Seite während des Frühstücks in die Kaffeepötte. Die gebuchten Betten der beiden Jungen waren auch in dieser Nacht leer geblieben und Max fragte sich, ob die vier sich in der Nacht im selben Zimmer vergnügt hatten. Auch Sergiu zog ein Gesicht, als wäre ihm eine Laus über die Leber gelaufen und hörte seiner Freundin Daniela nur mit einem Ohr zu. Zudem schien er für sie nur ein Auge übrig zu haben. Das andere war wohl für Tim reserviert. Merkwürdigerweise sah es so aus, als wäre das bei dem Blondschopf ebenso der Fall.
Warum machen die Bengel mit ihren Mädchen rum, obwohl sie ein Auge aufeinander geworfen haben?
Max wusste zwar keine Antwort darauf. Aber er hatte lebhafte Erinnerungen daran, wie verklemmt auch er und Cosmin am Anfang gewesen waren.
Anders als die Leute ringsum konnte es Max kaum erwarten, endlich aufzubrechen. Einerseits fühlte er ein intensives Ziehen in den Lenden beim Gedanken an die einsame Schutzhütte, die ihm Constantin gestern gezeigt hatte. Zum anderen fieberte Max der Kletterei an den gewaltigen Felswänden entgegen.
Mittags verabschiedeten sie sich von den Leuten aus der Bukarester Studentengruppe und den vier Jungen aus der Parallelklasse.
Es störte Max nicht, dass Sergiu Cosmin dabei etwas länger umarmte, als es für einen freundschaftlichen Abschied üblich war. Auch wenn Cosmin ihm gegenüber das Wörtchen „Liebe“ nicht aussprach, fühlte Max inzwischen mit jeder Faser seines Herzens, was Cosmin aus welchem Grund auch immer nicht über die Lippen brachte.
Die Wanderung zur einsamen, im Wald am Fuße der Steilwände versteckten Hütte erwies sich als recht beschwerlich, auch wenn sie größtenteils bergab führte. Hin und wieder verschwand der Pfad zwischen Felsblöcken und später auch im Unterholz des immer dichter werdenden Waldes. Nach einem steilen Abstieg in ein Seitental wand sich der Pfad in Serpentinen wieder bergauf zum Fuße der Steilwand.
Max versuchte mit den Augen das von verkrüppelten Kiefern gebildete Dickicht zu durchdringen. Hier irgendwo musste sich jene Hütte befinden, die in Gerds Kletterführer als chronisch überfüllt beschrieben wurde. Constantin hatte ihm erklärt, dass von dort ein etwa ein Kilometer langer Trampelpfad bis zu der einsamen Schutzhütte am Fuße der Steilwand führte. Sie folgten weiter den steil ansteigenden Serpentinen. Hier und da schimmerte bereits der nackte Fels der Steilwand zwischen den Bäumen hindurch.
Plötzlich blieb Max wie angewurzelt stehen und wandte sich zu Cosmin um, der hinter ihm keuchend die Serpentine hinauf stapfte.
„Halt mal kurz die Luft an, Cos-Mi. Hörst du das?“
Cosmin erbleichte.
„Da ruft jemand um Hilfe. Eine Frau… nein zwei Frauen!“, japste er.
Max hatte sich also nicht getäuscht!
„Los komm!“, rief er und kämpfte sich durch das Unterholz in die Richtung, aus der er die Hilferufe vernommen hatte.
Rechts von ihm hörte er aufgeregte Männerstimmen. Dort lichtete sich der Wald etwas und Max sah eine Hütte auf dieser Lichtung. Rauchwölkchen kringelten sich aus dem Schornstein auf ihrem Dach. Mehrere Männer standen vor der Hütte und schienen ebenfalls den Hilferufen zu lauschen.
Max stürmte weiter bergauf durch das Unterholz. Die Hilferufe der Frauen hörten sich nun wie Geschrei an. Max glaubte auch ein wütendes Knurren zu hören.
Hunde?
Vor ihm lichtete sich der Wald und endlich erblickte er die beiden Frauen. Oder eher Mädchen, kaum älter als er selber. Sie wichen kreischend vor einem pelzigen Ungetüm zurück. Neben dem Bären, der die Frauen um mindestens eine Handbreit überragte, hoppelte ein Bärenjunges im Farn herum.
Also handelte es sich bei dem Bären um ein Muttertier.
Und offenbar war die Bärenmutter wütend. Sie machte einen Satz, landete auf ihren Vordertatzen. Max sah sie bereits über die Mädchen herfallen.
„Hey, nimm mich, du blödes Vieh!“, brüllte er. Die Bärin wandte sich kurz um. Sie riss ihre mit beeindruckenden Zähnen bewaffnete Schnauze auf und stieß ein wütendes Knurren aus. Dann wandte sie sich wieder den Frauen zu. Nur drei oder vier Sätze, und das Ungetüm wäre über den beiden Frauen, die sich ängstlich aneinander klammerten.
Max ergriff einen im Unterholz liegenden Ast. Er brach ein Stück davon ab und warf ihn in Richtung der Bärin. Die Bärin war zu weit weg, der Ast schlug irgendwo im Farndickicht ein.
Das Bärenjunge quiekte erschrocken auf.
Die Bärin richtete sich wieder auf und fuhr mit sperrangelweit aufgerissenem Maul zu Max herum. Erneut fiel sie auf die Tatzen.
Sie sprang los.
Max wirbelte herum, nahm nun selber die Beine in die Hand. Ein paar Schritte weiter sah er Cosmin, der ihn aus vor Schreck geweiteten Augen anstarrte und sich auf den Boden warf.
„Das Bärenspray!“, schrie Cosmin. „Oder stell dich tot!“
Scheiße!
Bis ich das Spray aus dem Rucksack hole, bin ich tot!
Hinter ihm brach das Monster durchs Unterholz.
Scheiße! Gleich bin ich tot!
Max zerrte sich den Rucksack von der Schulter, warf ihn hinter sich.
Er vermochte später nicht zu sagen, ob ihm die Opferung des Rucksacks das Leben rettete. Die Bärin hielt kurz inne, um am Rucksack zu schnuppern. Das verschaffte Max die Sekunden, die er bis zu den nahen Felsen benötigte. Obwohl die Wanderschuhe alles andere als klettertauglich waren, gelang es ihm, am nahezu senkrechten Fels eine Höhe von sieben oder acht Metern zu erreichen.
Unter ihm tapste nun auch die Bärin zur Felswand. Sie riss erneut ihr Maul auf, aus ihren Augen sprach pure Mordlust.
Und dann begann sie den Nachstieg. Max keuchte erschrocken auf, als er sah, wie die Bärin am Felsen hinauf kletterte.
Doch ein oder zwei Meter über dem Boden rutschte sie ab und purzelte ein Stück weit den Abhang hinunter.
Statt zur Felswand zurückzukehren, untersuchte sie nun ein weiteres Mal Max’ Rucksack. Vielleicht auch, weil das Junge daran schnüffelte.
Max sah, dass Cosmin die beiden Mädchen zur Hütte führte, von der ihnen drei Männer entgegen stapften.
Erst als zehn Minuten später die Bärin mit ihrem Jungtier im Wald abtauchte, wagte er es, den Fels hinunter zu klettern. Noch immer dröhnte der Herzschlag wie das Hämmern eines altersschwachen Schlagbohrers in seinen Ohren. Neben dem Rucksack sank er auf die Knie. Die Deckeltasche war halb abgerissen und die Vorderseite des Rucksacks auf einer Länge von etwa dreißeig Zentimetern aufgeschlitzt. Vielleicht hätten die Bären den Rucksack völlig zerfetzt, aber zum Glück transportierte Cosmin die Essensvorräte. Beim Geruch des Zeltes und Kletterausrüstung in Max’ Rucksack war den Bären vermutlich rasch der Appetit vergangen.
Max fluchte leise. Der Rucksack hatte ihm zweifellos wertvolle Sekunden verschafft. Aber nach dieser Tour würde er einen neuen benötigen.
„Maxi, bist du völlig irre!?“, ertönte Cosmins Stimme hinter ihm. „Hast du nicht gelesen, was da überall auf den Schildern steht? Nicht wegrennen…“
Cosmin hockte sich mit geschultertem Rucksack neben Max. Der Schrecken stand ihm noch immer im Gesicht geschrieben.
„Cos-Mi. Ich dachte, das war’s für mich“, sagte Max leise und spürte plötzlich Cosmins Lippen an seiner Wange.
„Du Idiot. Mach so was nie wieder!“, drang Cosmins Schluchzen an sein Ohr.
Max zog Cosmin an sich. Er strich ihm verschwitzte Zotteln aus dem Gesicht und hauchte einen Kuss auf Cosmins Stirn. „Tut mir Leid, Cos-Mi. Ich hatte Angst, das Vieh will die beiden Mädel killen.“
Er blickte auf und erstarrte.
Die beiden Mädel standen, ebenfalls mit geschulterten Rucksäcken, nur zwei Schritte neben ihm. Sie sahen tatsächlich kaum älter als er selber aus, beide hatten eine sportliche Figur. Die schulterlangen, lockigen Haare des einen Mädchen quollen unter einem breiten Stirnband hervor und schimmerten rötlich. Das andere Mädchen hatte offenbar asiatische Vorfahren, zumindest vermutete es Max, als er ihren Blick aus den mandelförmigen Augen erwiderte. Ihr halblanges, schwarzes Haar war vom Wind zerzaust.
„Hi Max, ich bin Kate“, sagte das schwarzhaarige Mädchen auf englisch. „Und meine Freundin heißt Sue. Du warst sehr mutig. Danke, dass du uns geholfen hast. Cosmin hat Recht. Hätten auch wir uns hingelegt und uns totgestellt…“
„Hey…“ Max sprang auf. Er warf Cosmin einen fragenden Blick zu und reichte beiden Mädchen die Hand. Ihr Englisch klang so, als wären sie aus Amerika. „Nichts passiert! Woher seid ihr?“
„Aus einer Kleinstadt im Norden British Columbias“, erwiderte Sue und Kate ergänzte: „Wir sind mit der Highschool fertig und gehen ab September zusammen auf eine Uni in Prince George. Das ist unsere erste Europa - Tour.“
„Cool… und ausgerechnet hier läuft euch ein Bär über’n Weg. Dabei habt ihr dort selber welche, oder?“
Kate lächelte schwach. „Vor allem Schwarzbären, aber auch ein paar Grizzlys.“
Cosmin räusperte sich. „Ähm Maxi… Kate und Sue haben ein kleines Problem.“
Ich hoffe mal, sie sind nicht auf der Suche nach einem Lover.
„Hm…?“
Cosmin nickte in Richtung der Hütte. „Sie haben dort übernachtet letzte Nacht. Nicht nur dass die Hütte voll ist, manche von den Kerlen dort waren auch ziemlich aufdringlich. Kate und Sue hatten überlegt, nachher abzusteigen. Aber ich habe ihnen gesagt, dass es hier noch eine Hütte gibt und sie von uns nichts zu befürchten haben, weil wir… du weißt schon. Weil wir beide zusammen sind sozusagen.“
„Außerdem…“, Kate schien nach Worten zu suchen, „… Sue und ich, wir sind auch ein Paar.“
Ein Grinsen huschte über Max’ Gesicht. „Dann passen wir vier ja echt gut zusammen.“ Er warf sich den ramponierten Rucksack auf den Rücken. „Na dann, los geht’s. Mir nach!“