Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Zeig wie das geht!

Max

Obwohl er für das Nachschlagen unbekannter Vokabeln im Wörterbuch mehr Zeit benötigte als mit dem Google - Übersetzer auf seinem Handy, beendete Max nach nur etwas mehr als einer Viertelstunde die Übersetzung der letzten beiden Absätze des Zeitungsartikels. Die meisten asiatischen Kampfsportvideos auf Youtube oder Tik Tok liefen mit englischen Untertiteln und so gehörte Englisch zu den wenigen Fächern, in denen er nicht auf Nachhilfe angewiesen war.
Max reichte Herrn Schneider das Blatt mit der Übersetzung. Einmal mehr fand Max, dass der Englischlehrer mit der zerwurstelten, fast schulterlangen weißen Mähne und dem ebenso weißen Vollbart aussah, als wäre er schon als Weihnachtsmann auf die Welt gekommen.
Herr Schneider warf einen kurzen Blick auf das Blatt. „Sieht gut aus, Herr Weller“, sagte er und drückte Max das Blatt in die Hand.
Ich wette, der hat kein einziges Wort gelesen!
Max schnappte seinen Rucksack. „Sehr hilfreich, der Artikel. Da stand drin, was ich schon immer wissen wollte.“
„Ach echt?“ Herr Schneider grinste wie ein Weihnachtsmann, der Kohlestücken statt Schokoplätzchen an Kinder verteilt. „Ich bin nach der Hälfte des Textes eingeschlafen.“
Und wir mussten den Mist nicht nur lesen, sondern auch noch übersetzen!, fluchte Max leise und verließ den Raum.

Er nahm an, dass Cosmin mutterseelenallein an den Fahrradständern auf ihn warten würde. Doch als er aus der Eingangshalle der Schule ins Freie trat, traute er seinen Augen nicht. Der Vorplatz war zwar verwaist, doch an den Fahrradständern umringten Cosmin, Simon, Moritz und zwei Mädchen ein Fahrrad, an dem Florian den Hinterreifen aufpumpte. Eines der Mädchen war Nervensäge Maja und das andere…
Hazel?

„Hazel!“
Hazel drehte sich zu ihm um, ihr hübsches Gesicht erstrahlte. „Maxi!“
Max sprintete los und riss Hazel an sich. „Was treibst du denn hier? Willst du die Schule wechseln?“
Hazel verpasste Max einen Kuss auf die Wange. „Ich überlege noch. Aber eigentlich bin ich hier, weil ich es nicht erwarten konnte, meinen Lieblingscousin und seinen Stiefbruder zu sehen. Außerdem soll ich dafür sorgen, dass ihr mit mir zum Mittagessen kommt und nicht im Burger King versumpft.“
Sie hakte sich bei Max unter und zusammen gesellten sie sich zu den anderen.
Simon knuffte Max in die Seite. „Bleibt es dabei, heute so gegen halb fünf bei dir auf dem Dachboden?“
Max packte Simons Arm und deutete einen Wurf an. „Klar, du und Cosmin gegen Hazel, meinen Cousin Cal und mich. Das wäre mal was Neues.“
"Und Max… " Simon nickte in die Runde. „Wir rätseln gerade, wie man Spagat auf 'ner Reckstange macht. Zeigst du uns, wie’s geht?“
Max tat so, als würde er den Vorplatz nach einem Reck absuchen. „Hier?“
Hazel schubste ihn sanft. „Dummkopf! Ich will es auch sehen. Zeig uns beim Training, wie es geht!“

Bereits im Korridor des Hauses von Oma Lisa wehte ihnen der Duft nach frittierten Hähnchenstücken, Salaten und frischen Backwaren um die Nasen. Im Wohnzimmer verteilte die Oma Schüsseln mit Salaten auf dem Tisch. „Da seid ihr ja!“, begrüßte sie die Jungen und drückte erst Max und dann auch Cosmin an sich. „Ich hoffe, ihr beiden habt euch gut verstanden, als ich in Hannover war.“
Max schien es, als würde seine Oma ahnen, dass sie sich viel besser als nur gut verstanden hatten. Er schnaubte leise. „Cos-Mi ist der nervigste Stiefbruder, den ich je hatte. Ich durfte uns nicht mal eine Pizza bestellen.“
„Ach ja, und wie viele Stiefbrüder hattest du?“, konterte Cosmin.
„Nur den einen, der so nervig ist“, grinste Max und blickte sich suchend um. „Wo ist mein Lieblingscousin?“
„Mäxy, I am here!“, erönte Cals Kinderstimme vom oberen Ende der Treppe, die bis hinauf ins Dachgeschoss führte. Gleich darauf flog ihm ein zwölf Jahre alter und in Sportsachen gekleideter Knabe in die Arme.
„Wie geht’s, Americano?“ fragte Max und zauste Cals blondes Stoppelhaar.
„Super! Ab nächstes Jahr darf ich auf die Junior Highschool in Palm Springs!“ Cal zerrte an Max’ rechtem Arm. „Come on, Mäxy. Du musst mir nochmal zeigen, wie man gegen die Boxsäcke tritt! Bei mir wollen die nicht richtig wackeln.“ Er bemerkte nun auch Cosmin. „Hey, du bist Mäxys indian brother Cosmin. Du kannst Mäxy helfen, wenn ich mit ihm kämpfe. Los kommt!“
Cal griff nach Cosmins Hand und Cosmin schien dem Drängen des Knaben nachgeben zu wollen, doch Oma Lisa deutete auf den Wohnzimmertisch. „Cal, wir essen in zehn Minuten. Außerdem müssen Max und Cosmin nach dem Essen sicher erst ihre Hausaufgaben erledigen.“
„Die schaffen wir in einer Stunde“, versprach Cosmin und Max fügte hinzu: „Vor den Hausaufgaben zeig’ ich dir noch mal, wo du bei den Boxsäcken hin treten musst, damit die richtig wackeln.“

Während des Mittagessens berichtete Cal stolz, wie er in seinem Karateclub zu den Besten seiner Altersgruppe aufgestiegen war. Aus den Augenwinkeln und durch einen Vorhang seiner blonden Haarsträhnen sah Max, dass Hazel, die ihm am Tisch gegenüber saß, abwechselnd ihn und Cosmin musterte und dabei ein Lächeln ihre Lippen kräuselte.
Sie ahnt was! Cos-Mi und ich, wir hocken wie siamesische Zwillinge zusammen und merken es nicht einmal!
„Wieso geht Cal ab der Siebenten auf eine Junior - Highschool?“, fragte Max, als Cal an einem knusprigen Filetstück nagte und darüber offenbar das Weiterreden vergaß. Max versuchte möglichst unauffällig, ein paar zusätzliche Millimeter zwischen sich und Cosmin zu bringen.
Seine Oma seufzte und verzog ihr Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Das Lächeln schwand von Hazels Lippen.
„Unsere Eltern werden nach Amerika zurückkehren, wenn ich nächstes Jahr mit dem Abi fertig bin. Ich möchte in Hannover bleiben und dort studieren, aber Grandma und Grandpa holen Cal schon diesen Sommer nach Palm Springs.“
„Die Schule dort war viel cooler und mein Freund Hawk geht auf dieselbe Highschool“, platzte Cal mit vollem Mund dazwischen.
Max spürte, dass er bei diesem Thema zwischen die Fronten geraten konnte. Einerseits erinnerte ihn Hazels Wunsch, in Hannover zu bleiben, an Leon. Sein Onkel hatte sich als Dreizehnjähriger mit Händen und Füßen gesträubt, die Eltern nach Costa Rica zu begleiten und war bei dessen Bruder - seinem Vater - geblieben. Andererseits hatte Cal einen Teil seiner Kindheit bei den Großeltern in Kalifornien verbracht und nie einen Hehl daraus gemacht, wie uncool er das Leben in Deutschland fand.
„Ich war mit Leon mal ne Woche in der Nähe von Palm Springs, im Joshua Tree Nationalpark… ein geiles Klettergebiet“, versuchte Max dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, aber nun zog Cosmin ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Nach wie vor schien Cosmin allergisch auf den Namen Leon zu reagieren.
„Apropos Klettern. Glückwunsch zur Quali, Maxi“, wischte Hazel das Thema Auswandern beiseite. „Zeig uns am Samstag in der Kletterhalle diese Route!“
„Ja, Mäxy, zeig uns, wie du die kletterst.“
Max stöhnte leise auf. „So langsam muss ich 'ne Liste machen, was ich alles zeigen soll.“

Nach dem Mittagessen begab sich Max wie versprochen mit Cal auf den Dachboden und demonstrierte an einem der großen Boxsäcke, wie er sie zum „Wackeln“ brachte, während Cosmin der Oma und Hazel beim Abräumen des Geschirrs und der übrig gebliebenen Speisen half.
Anschließend verzogen sich Max und Cosmin in Max’ Zimmer, um die Hausaufgaben des Tages und einige zusätzliche Übungen abzuarbeiten.
Max bemerkte, dass sich unter dem Schreibtisch ihre Beine wie üblich aneinander schmiegten.
Cosmin schien von dieser unter dem Tisch versteckten Zärtlichkeit keine Notiz zu nehmen. „Deine Oma wird Hazel und Cal am Sonntagvormittag zurück nach Hannover bringen und bis Dienstag dort bleiben“, sagte er so, als würde er die Lösung einer Matheaufgabe erklären. „Sie hätte nichts dagegen, wenn ich dich wieder nerve, solange sie in Hannover ist.“
„Echt? Oh Mann!“
Max zog Cosmin kurz an sich. „Nerv’ mich, Cos-Mi!“, flüsterte er Cosmin ins Ohr. „So oft und so lange du willst. Denkst du, dass dein Alter dich lässt?“
Cosmin befühlte Max’ Stirn und verbog die Lippen zu einem Grinsen. „Maxi, so lange dein Fieber nicht weg ist, werde ich weiter auf dich aufpassen müssen.“
Nach den Hausaufgaben löste Max mit Cosmins Hilfe noch einige Übungsaufgaben zum aktuellen Stoff in Mathe. Cosmin rechnete damit, dass die Mathelehrerin Frau Dr. Meyer die Klasse schon bald mit einer unangekündigten Leistungskontrolle überraschen könnte.

Gegen halb vier klopfte es an der Tür und Cal steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Hey, die Stunde für eure Hausaufgaben ist längst um!“
Max sprang vom Stuhl auf und zog Cosmin mit auf die Füße. „Cal hat Recht, genug gepaukt. Jetzt wackeln wir Boxsäcke!“
Aus einem der Schränke im Korridor entnahm Max einen aus Rattan geflochtenen Teppichklopfer.
„Was ist das für ein Ding?“, fragte Cal und schnappte sich den Teppichklopfer.
Max kraulte Cals Stoppelhaar. „Damit kannst du mich gleich verprügeln.“

Das war knapp!

Cosmin

Cosmin hatte geahnt, dass Oma Lisa in ihrer Jugend wie ihre Kinder Turnerin gewesen war, zumal sie immer noch mit einer Figur glänzte, um die sie vermutlich viele Frauen beneideten.
Dennoch war er überrascht, sie hier auf dem Dachboden in Trainingssachen zu sehen. Sie stand neben dem Reck und wachte nicht nur mit Argusaugen über Hazels Turnübungen an der tiefer gelegten Stange, sie stützte auch Hazels in der Schwebe gehaltenen Oberkörper. Mit einem eleganten Rückwärtssalto ließ sich Hazel von der Stange gleiten.
„Maxi, zeig mir, wie du das mit dem Spagat auf der Stange gemacht hast.“ Ihre Stimme verriet, dass sie mehrere erfolglose Versuche hinter sich hatte.
Max winkte ab. „Das ist nur so 'ne Gleichgewichtsübung für’s Klettern, Hazel, und hat nicht allzu viel mit Turnen zu tun.“
„Nun zeig ihr doch mal, wie du es gemacht hast“, mischte sich nun auch Oma Lisa ein. „Aber lass die Stange hier unten.“
„Nö, so krieg ich das nicht hin“, erwiderte Max und löste die Arretierung der Reckstange, um sie höher zu schieben.
Cosmin fasste mit zu und half ihm dabei. „Ist das nicht gefährlich, Maxi?“, raunte er Max zu. „Wenn du da runter fällst… ich weiß nicht, ob ich dich auffangen kann.“
„Ich lass mich in deine Arme fallen, okay?“
Cosmin schnaubte leise. „Vergiss es! So was machst du mit Absicht. Ich trete beiseite, wenn du runter fällst!“
Max erwiderte Cosmins Schnauben mit einem Grinsen. Er stieg in seine Turnsachen, griff anschließend in eine mit Talkum gefüllte Schüssel und verrieb etwas von dem weißen Pulver auf seinen Händen.
Dann zog er sich an der Stange mit einer Leichtigkeit nach oben, als würde für ihn die Erdanziehung nicht existieren. Max’ Oberkörper flog an der Reckstange vorbei, bis er sein Gewicht mit gestreckten Armen an der Stange abstützte.
Zwar schaffte es Cosmin inzwischen ebenfalls, einen Klimmzug mit dem Stützen des Körpers an der Reckstange zu kombinieren, freilich weit weniger elegant als es Max gerade vorgeführt hatte.
Max begann die Beine zu spreizen, bis sie eine Linie bildeten. Cosmin bemerkte, dass ihm der Mund offen stand.
„Bis dahin schaffe ich es auch“, rief ihm Hazel zu. „Aber wie bekommt man die Beine auf die Stange, ohne dabei abzurutschen?“
„Keine Ahnung, ich mach’ das immer so hier.“
Die Muskelstränge an Max’ Armen schwollen an, als er den Griff um die Stange verstärkte. Erst als sich die Füße auf die Stange senkten, lockerte Max den Griff, behielt aber die Hände an der Stange.
„Wow!“ Hazel zückte ihr Handy und schoss mehrere Fotos. „Mein Dad wollte es nicht glauben, als Omi ihm das Foto schickte.“
„Crazy, Mäxy!“ Cal klatschte begeistert in die Hände. „Kannst du die Stange auch loslassen?“
Oma Lisa schüttelte mit dem Kopf. „Nein, das ist zu gefährlich!“
„Ach was, geht alle beiseite, falls ich abspringen muss“, rief Max von der Reckstange herunter.
Cosmin verharrte mit ausgestreckten Armen unterhalb der Reckstange. Zwar bedeckten weiche Matten den Boden, aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche Folgen ein Sturz haben konnte. „Maxi, echt jetzt, das reicht! Komm runter dort!“
„Cosmin hat Recht, lass den Unfug!“, stimmte Hazel zu und zog Cal vom Reck weg.

Max

Natürlich hatte Max es oft genug bei dieser zugegebenermaßen recht ausgefallenen Gleichgewichtsübung ausprobiert, die Reckstange loszulassen. Aber er hatte die Hände stets so gehalten, dass er die Stange sofort packen konnte, wenn er das Gleichgewicht verlor.
Vielleicht war es Cals Begeisterung, die Max unvorsichtig werden ließ, vielleicht mischte auch Trotz mit, weil er erst etwas zeigen sollte und das dann plötzlich Unfug war, den er bleiben lassen sollte. Max löste die Hände von der Stange.
Er spannte jeden seiner Muskelstränge, um den Körperschwerpunkt bei der Bewegung der Hände haargenau über der Stange zu halten.
Im Zeitlupentempo verschränkte er die Arme, grinste zu Cal hinunter und zwinkerte Hazel zu, die aus weit aufgerissenenen Augen zu ihm hinauf starrte.
„Und jetzt pups’ mal, Mäxy!“
„Hey, nicht wenn…“ Der Rest des Satzes blieb Max im Halse stecken. Er kippte nach hinten. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte er nach der Stange, doch seine Hände griffen ins Leere.
Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Plötzlich ging ihm auf, dass er bei einem Sturz aus dieser Höhe und einer Bruchlandung auf dem Kopf oder dem Rücken sich das Genick oder das Rückgrat brechen konnte.
„Scheiße!!! Cos-Mi!!!“
Wie aus weiter Ferne hörte er einen Aufschrei der Oma, dann knallte sein Kopf gegen etwas Hartes. Cosmin stieß hinter ihm einen Fluch aus, zugleich fühlte Max, dass Cosmins Körper seinen Sturz bremste. In Cosmins Armen krachte Max auf die Matten.
Max wälzte sich von Cosmin herunter und sah, dass sich Cosmin krümmte und die rechte Hand gegen die Stirn presste.
Er nahm Cosmin in die Arme. „Scheiße, das wollte ich nicht, bist du okay, Cos-Mi?“
Cosmin stöhnte leise. „Du hast mir wahrscheinlich ein Horn verpasst!“
„Und du hast mich vielleicht vor’m Rollstuhl gerettet, oder vor was noch Schlimmeren“, flüsterte Max ihm ins Ohr. „Danke, Cos-Mi!“
Ein schwaches Lächeln huschte über Cosmins Lippen. „Gern geschehen, Stiefbruder!“
Oma Lisa und Hazel hockten sich neben beide Jungen. „Meine Güte Cosmin, wenn du nicht gewesen wärst…“ Oma Lisa strich Cosmin sanft die Locken aus der Stirn. „Hast du dir sehr weh getan?“
Cosmin richtete sich auf. „Nichts passiert, Tante Lisa. Nur ‚ne kleine Beule glaub‘ ich. Aber Max muss sich heute einen anderen Sparringpartner suchen. Noch eine Beule lass’ ich mir nicht verpassen.“
Oma Lisa wandte sich zu Max um. „Wenn ich sehe, dass du da oben nochmal so was machst, lasse ich das Reck abbauen.“
„Omi, diese Nummer ist doch uralt“, maulte Max. „Es wäre auch nichts passiert. Aber dann musste ich drüber nachdenken, ob es mich aus dem Gleichgewicht bringt… ich meine, wenn ich einen fahren lasse.“
Hazel seufzte leise. „Ich kann ehrlich gesagt im Moment noch nicht so richtig darüber lachen. Aber ihr wart unglaublich. Ihr alle beide.“
Cal tippte Max mit dem Teppichklopfer an. „Mäxy… und was mache ich jetzt mit dem Ding hier?“
Max sprang auf und half Cosmin beim Aufstehen. „Damit darfst du mir gleich den Hintern versohlen… falls du ihn triffst!“

Cosmin

Wenig später saß Cosmin zusammen mit Hazel auf der Umkleidebank. Sie schnürten ihre Kletterschuhe und Cosmin bemerkte, dass ihm beim Binden der Schnürsenkel die Hände zitterten, obwohl die Schmerzen nach dem Zusammenprall mit Max weitestgehend abgeklungen waren. Doch noch saß ihm der Schreck in den Knochen. Er hatte bei Max’ verunglückter Vorführung genau unter der Reckstange gestanden und war zurückgesprungen, um Max aufzufangen. Dabei war er auch noch über die eigenen Füße gestolpert. Cosmin fiel es nicht schwer sich auszurechnen, was passiert wäre, hätte er nur eine halbe Sekunde später reagiert oder wenn er vor dem Reck gestanden hätte.
Hazel schaute zu Max und Cal hinüber. Max hatte sich eine Augenbinde umgebunden. Cal attackierte ihn mit dem Teppichklopfer, und Max wehrte die Hiebe ab, wobei er offensichtlich einige Treffer zuließ, über die Cal jedes Mal lauthals jubelte.
„Dieser verrückte Kerl! Ohne dich… er hätte sich bei dem Sturz sämtliche Knochen brechen können.“ Hazel wandte ihr Gesicht Cosmin zu.
Cosmin erwiderte den Blick aus ihren kristallklaren Augen. „Das konnte ich nicht zulassen. Außerdem… Maxi hätte dasselbe auch für mich getan.“
Es schien, als würde Hazel in seinen Augen nach Antworten auf Fragen suchen, die sie nicht zu stellen wagte.
„Komm, lass uns bouldern, Cosmin. Maxi sagt, du bist beim Klettern ein Naturtalent.“

Vielleicht zeigt er es lieber?

Max

Am Abend saßen Hazel und Max zusammen auf der Couch im Wohnzimmer. Wie an jedem Winterabend knisterte im Kamin ein Holzfeuer. Oma Lisa hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um sich dort ungestört eine Fernsehserie anzuschauen. Cal hingegen waren bereits kurz nach dem Abendbrot die Augen zugefallen.
Hazel studierte auf ihrem Handy ein Video, das Max ihr geschickt hatte. Es zeigte die Durchsteigung der „Quali“ - Route in der Kletterhalle.
„Ich verstehe nicht, wie du dich an diesen kleinen Griffen halten kannst“, murmelte sie. „Da passen nur zwei Fingerkuppen drauf und die halten dein Körpergewicht?“
Max nippte an seinem Orangensaft. „Die Füße halten mit. Ich zeig dir am Samstag, wie es geht, Hazel.“
„Beim ‚Zeigen, wie es geht‘ hättest du dir heute sonst was brechen können, wäre Cosmin nicht gewesen“, sagte Hazel und legte das Handy beiseite.
Max bemerkte, dass sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, als wäre es ein aufgeschlagenes Buch. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und hoffte, so auch seine Gefühle etwas besser verbergen zu können.
Sonst hat sie mir immer Löcher in den Bauch gefragt, ob ich ein Mädel habe. Weiß sie längst, dass es keinen Sinn hat, mir eine solche Frage zu stellen?
Er würde das Gespräch von Cosmin weg lenken müssen.
Zudem wollte er lieber nicht an die Schrecksekunde oben auf dem Reck erinnert werden.
„Das wollte ich gar nicht zeigen. Idiotische Angeberei! Wann kommt ihr eigentlich morgen aus Dresden zurück?“
Oma Lisa wollte am nächsten Tag mit Hazel und Cal einen Ausflug nach Dresden unternehmen, wo ihr Elternhaus stand und ihre ältere Schwester Claudia lebte.
„Ich würde mir gern das Grüne Gewölbe und das Hygienemuseum anschauen. Außerdem die Frauenkirche und so was. Und zum Kaffee sollen wir bei Tante Claudia und Onkel Steffen vorbei schauen. Ich schätze, nicht vor um sieben abends.“
„Schade.“ Max wagte es, die Augen zu öffnen. Das Gespräch hatte eine unverfängliche Richtung genommen. „Cal hatte heute echt Spaß beim Training mit Simmi und mir. Warum wollen eure Eltern eigentlich wieder zurück nach Amerika?“
Hazel stieß einen tiefen Seufzer aus. „Maxi, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir am Samstag. Dann haben wir den ganzen Tag Zeit.“

Max

Anders als es Max sich erhofft hatte, war die Kletterhalle am Samstagnachmittag gut besucht. Bereits am Anmeldetresen erfuhr er, dass die Qualifikationsroute Spitzenkletterer aus anderen Teilen Sachsen-Anhalts und sogar aus Leipzig und Berlin nach Dessau lockte. Doch spätestens an der Schlüsselstelle, wo man das eigene Gewicht an einem kleinen Griff für die linke Hand bis zum Ende der riesigen, wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide aus der Wand ragenden Rippe ziehen musste, scheiterten die Versuche der Kletterer, sich an dieser Route für die Meisterschaft im Hallenklettern zu qualifizieren.
Im Obergeschoss standen sieben oder acht Kletterer an einem Geländer, von dem aus man nicht nur die aus dem Erdgeschoss aufragenden Wände im Blick hatte, sondern auch eine ausgezeichnete Sicht auf die aus der Wand ragende Rippe. Sie beobachteten einen vielleicht zwanzigjährigen, drahtigen Kletterer, der sich an der Rippe hinauf kämpfte. Vereinzelt ertönten Anfeuerungsrufe. Sobald Max, Hazel, Cosmin und Cal das Obergeschoss erreichten, flitzte Cal zum Geländer. „Wow! Schaut euch das an!“, rief er den anderen zu und deutete auf den Kletterer an der Rippe.
Max trat zusammen mit Hazel und Cosmin an das Geländer heran. Er analysierte die Bewegungen des Kletterers und nahm an, dass der Mann beim Einhängen des Seils in den nächsten Sicherungskarabiner aus der Wand fliegen würde. Tatsächlich rutschte der Kletterer schon nach dem übernächsten Zug ab und baumelte zwei Meter von der Wand entfernt am Seil, ehe er von seinem Sicherungsmann abgeseilt wurde.
„Come on Mäxy, you… du zeigst jetzt, wie du das gemacht hast. Du hast es versprochen!“, rief Cal laut genug, dass man es vermutlich auch noch zwei Etagen tiefer im Erdgeschoss hören konnte. Ausnahmslos jeder der Zuschauer drehte sich nun zu Cal und Max um, was auch an Cals hartem amerikanischen Akzent liegen mochte. Aber einige der am Geländer herum stehenden Leute erkannten Max, andere tuschelten miteinander.
„Das erledigen wir später. Jetzt zeig’ mir erst mal, was du drauf hast“, erwiderte Max, nickte einen Gruß in die Runde und wandte sich an Cosmin. „Hazel würde gerne das Dach versuchen, Cos-Mi. Zeig’ du ihr, wie es geht. Ich möchte mich ein bisschen um meinen Americano kümmern.“
Hazel und Cosmin schienen mit diesem Arrangement zufrieden zu sein, obgleich Max sicher war, dass sich die beiden nach der gemeinsamen Kletterei nicht Händchen haltend voneinander verabschieden würden.
„Willst du dich wirklich von Cal sichern lassen, Maxi?“, vergewisserte sich Hazel, während sie zur Umkleide schlenderten.
„Warum nicht? Ich mache nur, was Cal auch schafft. Und an der Quali, da passt mein Bruderherz mal wieder auf mich auf.“
Zwar kletterte Max an diesem Nachmittag nur relativ leichte Routen, aber er genoss es, Cal vorzusteigen und ihm Kräfte sparende Techniken zu demonstrieren. Hin und wieder schauten sie sich aber auch weitere vergebliche Qualifikationsversuche an. Max vermutete, dass viele Kletterer einfach nur ausprobierten, bis zu welchem Griff an der Rippe die eigene Kraft ausreichte. Und jedes Mal, wenn ein Kletterer aus der Wand segelte, drängelte ihn Cal, den Leuten endlich zu zeigen, wie man es richtig machen müsse.
Hazel und Cosmin hatten sichtlich Spaß an den gemeinsamen Klettertouren, zumal ihre Grenzen etwa im selben Schwierigkeitsbereich lagen. In den Kletterpausen hockten sie zusammen auf den Matten; sie redeten und lachten dort miteinander wie alte Freunde. Doch Max bemerkte auch, was Cosmin ihm mit Blicken zu sagen versuchte:
Es ist alles okay, Maxi!

Am frühen Abend hatten die meisten der Kletterer, die vor allem wegen der Qualifikationsroute angereist waren, die Halle verlassen. Max und Cosmin begaben sich zum Einstieg in die Qualifikationsroute ins Erdgeschoss, während Hazel und Cal am Geländer der oberen Etage mit gezückten Handys warteten. Auch einige der in der Halle verbliebenen Kletterer traten an das Geländer.
„Wirst du es nochmal schaffen heute?“, fragte Cosmin und starrte zur Rippe hinauf, die über ihren Köpfen aus der Wand ragte.
Max winkte ab. „Bleib locker, Cos-Mi! Wenn ich noch ein paar Mal zeige wie’s geht, komme ich an dem Teil mit verbundenen Augen hoch.“
Da er die Route inzwischen zum dritten Mal kletterte, bewegte sich Max geradezu mit schlafwandlerischer Leichtigkeit an der Rippe nach oben und nach jedem seiner Züge ertönten Cals Anfeuerungs- und Jubelrufe. Am letzten Griff wandte er sich kurz zu den Zuschauern am Geländer des Obergeschosses um und sah, dass beinahe jeder der Zuschauer seine Kletterei auf dem Handy festhielt.
„Hazel, jetzt kommt die Schlüsselstelle, von der ich dir erzählt habe“, rief er und dann zog er sich mit der linken Hand zum oberen Rand der Rippe, unterstützt von seinen zum Spagat gespreizten Beinen, deren Füße er gegen zwei runde Knubbel presste. Begleitet vom Beifall der Zuschauer schwang sich Max auf den Absatz oberhalb der Rippe.

Auch an diesem Abend blieben Max und Hazel im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, nachdem sich Oma Lisa in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und Cal völlig erschöpft ins Bett gefallen war. Max genehmigte sich ein Radler und öffnete für Hazel eine Flasche mit Orangensaft.
Inzwischen hatte Hazel ihm erzählt, weshalb ihre Eltern nach Kalifornien zurückkehren wollten. Nicht nur, weil sie als Informatiker dort viel mehr verdienen würden. Tante Claras Eltern wussten offenbar nicht, wohin mit ihren Dollars und hatten in Palm Springs eine Villa für Hazels Eltern gekauft.
„Schade, dass ihr morgen wieder zurück müsst. Ich werde euch vermissen“, sagte Max und nippte an der Flasche.
Hazel lächelte und strich mit den Fingern über seine Wange. „Du bist ja morgen nicht allein hier. Maxi…?“
Max horchte auf. „Hm…?“
„Ich habe dir gestern von meinem Freund in Hannover erzählt, stimmt’s?“
„Und ich habe zugehört“, erwiderte Max vorsichtig.
„Ich finde, heute ist die Reihe an dir…“
„… von einer Freundin zu erzählen?“
„Oder einem Freund.“
Max fühlte, dass er bis zu den Haarwurzeln errötete. Vermutlich leuchtete sein Gesicht wie eine rote Verkehrsampel.
„Hazel, ich… äh… du meinst Cosmin?“, stammelte er.
Hazel streichelte immer noch seine inzwischen glühende Wange. „Wenn ihr das geheim halten wollt, müsst ihr noch ziemlich viel üben, Maxi. Mir ist schon letzten Herbst im Belantis aufgefallen, wie er dich anguckt und wie du zurück guckst. Ich nehme an, er hat wegen dir mit seiner rumänischen… Verlobten Schluss gemacht.“
„Hazel!“ Max war klar, dass er seiner Cousine nichts vormachen konnte. Er senkte seine Stimme. „Ich verstehe es selber nicht. Ich stehe echt nicht auf Kerle“, fuhr er fort und erzählte von den Ausflügen in eine Schwimmhalle, um herauszufinden, ob ihn halbnackte Kerle anmachten. „Aber bei Cos-Mi? Okay, ja, ich liebe ihn, ich vermisse ihn bereits, wenn er sich nur umdreht.“
Hazel schien für einen Moment durch Max hindurch zu schauen. „Es ist nicht schwer, sich Cosmin als Mädchen vorzustellen. Vielleicht war er in seinen ersten Wochen im Bauch der Mutter sogar ein Mädchen und dann hat er es sich anders überlegt. Cosmin ist eigentlich kein ‚Kerl‘. Er ist ein zauberhaftes Wesen. Irgendwie ist es wie ein Wunder, dass ihr euch… gefunden habt und dass ihr dasselbe füreinander empfindet. Wie habt ihr das gemerkt?“
Max schloss die Augen. Die Erinnerung an den ersten Kuss mit Cosmin trieb ihm erneut Schamröte ins Gesicht. „Kurz nachdem ihr im Herbst hier wart war das“, erwiderte er leise. „Wir saßen wie jeden Tag zusammen bei Cosmin am Schreibtisch und plötzlich war sein Gesicht ganz nah. Für mich war es wie ein Schock, als mir aufging, dass ich ihn küssen wollte. Vielleicht wäre es nicht passiert, hätte sich Caroline nicht so…“ Max verschluckte das „zickig gehabt“ und fuhr stattdessen fort: „… wäre ich zu der Zeit noch mit Caro zusammen gewesen. Aber inzwischen würde ich nicht mehr wollen, dass es anders gelaufen wäre. Auch wenn es bei mir und Cos-Mi ständig rauf und runter geht und wir ziemlich oft miteinander Schluss machen.“ Er erzählte vom Wechselbad der Gefühle, das sie inzwischen durchgemacht hatten und dass er sich bislang lediglich seinem Onkel Leon anvertraut hatte. „Glaubst du, dass unsere Omi was ahnt?“, fragte er schließlich.
Sie tätschelte seinen Unterarm. „Maxi, wegen ihr brauchst du dir sicher keine Sorgen machen. Omi ist nicht blind und hat bestimmt längst gemerkt, wie verliebt ihr beiden euch anschaut.“
Max fluchte leise in sich hinein. „Mist, daran müssen wir echt arbeiten. Weißt du, was ich komisch finde?“
„Was?“
„Wenn mich Cos-Mi so verliebt anguckt, wieso hat er mir noch nie gesagt, dass er mich… liebt?“
Hazel betrachtete das Etikett ihrer Saftflasche, als würde sie dort nach der Antwort auf Max’ Frage suchen. „Vielleicht zeigt er es lieber statt es zu sagen?“

Wozu brauchst du ein Moped?

Cosmin

Nach einigen warmen Tagen Ende Februar kehrte Anfang März für mehr als eine Woche der Winter zurück und überzog die Wiesen, Gärten und Parks der Stadt mit einer geschlossenen Schneedecke.
Doch in der zweiten Märzwoche stiegen die Temperaturen derart sprunghaft an, dass die weiße Pracht innerhalb eines Tages dahinschmolz.
Max und Cosmin hatten inzwischen den theoretischen Teil ihres Fahrschulkurses hinter sich und begannen mit den Fahrstunden. Zudem brachen die letzten regulären Unterrichtswochen ihrer Schulzeit an. In beinahe jedem Fach standen Abschlussklausuren an.
Zu Beginn dieser mit Leistungskontrollen angefüllten Wochen murrte Max bei fast jeder der Übungsstunden in Cosmins Zimmer über den damit verbundenen Stress und die Zeit, die er für die Klausurvorbereitung verplemperte, statt sie für die Vorbereitung auf den Kampf mit Tang oder die Meisterschaft im Hallenklettern zu nutzen.
Doch sein Murren verstummte bereits nach der Abschlussklausur in Mathe mit Aufgaben aus zurückliegenden Abiturprüfungen. Max schaffte eine glatte Zwei, was sein Selbstbild offenbar gehörig durcheinander wirbelte. Zudem schien ihm klar zu sein, dass Cosmin bei den Abschlussklausuren auch ohne zeitaufwändige Vorbereitung Bestnoten erzielen würde.

Am letzten Freitag im März endeten die stressigen und oft mit Leistungskontrollen angefüllten Schultage. Dennoch saßen Max und Cosmin nach dem Unterrichtsschluss wie an jedem Schultag zusammen in Cosmins Zimmer. Ihre zuvor knurrenden Mägen waren mit Baguettes gefüllt, die Max’ Großmutter für sie gebacken und mit Salaten und leckeren Hähnchenstücken gefüllt hatte.
Beide Jungen planten, in den selben Fächern die Abiturprüfungen abzulegen und die erste dieser Prüfungen - die Abiturprüfung im Fach Physik - stand bereits am kommenden Mittwoch bevor.
Doch statt am Schreibtisch saßen sie auf Cosmins Couch und dösten vor sich hin. Ihre Köpfe lehnten aneinander, Max’ rechter Arm lag um Cosmins Schulter, Cosmins linke Hand streichelte die warme Haut unter Max’ Shirt.
Cosmins Vater arbeitete ganz in der Nähe auf dem Dach eines Plattenbaus. Die Firma seines Chefs montierte dort Solarmodule und da er jederzeit und unverhofft in der Wohnung aufkreuzen konnte, wagten es die Jungen nicht, auch den Hunger aufeinander, ein schier unersättliches Verlangen, zu stillen. Die letzte gemeinsam verbrachte Nacht lag inzwischen mehr als fünf Wochen zurück und so behielt Cosmin lieber die engen Jeans an, welche seine Erregung halbwegs verbargen.
„Du hast vorhin was von einer Überraschung erzählt, Maxi.“
Max öffnete schläfrig die Augen. „Cos-Mi, wenn ich es dir jetzt schon verrate, ist es keine Überraschung, sondern 'ne Verratung.“
Cosmins Blick tauchte in Max’ geöffnete Augen ein. „Hat es etwas mit Berlin und dem nächsten Wochenende zu tun?“, bohrte Cosmin weiter. Max’ Wohnung in Berlin war bis Mitte April an ein gutbetuchtes Ehepaar aus Korea vermietet. Es sorgte zwar dafür, dass sich Max’ Konto mit weiteren Tausendern füllte. Doch zugleich bedeutete dieser Geldregen auch, dass Max und Cosmin die in einer Woche beginnenden Ostertage in Dessau verbringen würden. Es sei denn, die Koreaner reisten unerwartet ab.
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Du guckst, als ob du mich mal wieder beißen willst, Dracula.“
„Und du guckst, als ob du willst, dass ich dich beiße. Also was ist?“
Max’ Grinsen wurde noch etwas breiter. „Beiß mich!“
Dann schwand das Grinsen aus seinem Gesicht. „Vergiss Berlin, Cos-Mi. Morgen Vormittag hole ich dich ab. Um zehn. Wir machen eine Spritztour. Mehr verrate ich nicht.“
Max’ Lider schlossen sich und Cosmin wandte seinen Blick ab, als das Leuchten in Max’ Gesicht erlosch.
„Cos-Mi, weißt du, was mich anstinkt?“, hörte er Max leise murmeln.
„Dass mein Vater nicht irgendwo an der Ostsee arbeitet?“, vermutete Cosmin.
„Ja, das auch“, seufzte Max. „Wir werden im Herbst nicht mehr zusammen an einer Schulbank sitzen. Ich bräuchte einen Durchschnitt von 1,5, wenn ich an der Uni in Berlin Architektur studieren möchte.“
Cosmin starrte Max verblüfft an. „Du möchtest Architektur studieren?“
Max zuckte mit der Schulter. „Ich möchte mit dir zusammen sein.“
Und dafür würdest du sogar Architektur studieren?
Cosmins Gedanken schwirrten durcheinander wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Einige dieser wirbelnden Gedanken begannen, sich wie Puzzleteile zusammen zu fügen und eine Idee zu formen. „Du würdest echt Architektur studieren?“
„Cos-Mi, schon vergessen? Eins - Komma - Fünf! Ich schaffe wahrscheinlich nicht mal 2,5!“
„Doch, das schaffst du!“ Cosmin packte Max’ linke Hand. „Maxi, mit einer 2,5 könntest du hier in Dessau an der Hochschule Architektur studieren. Wir beide könnten hier studieren. Wir suchen uns zusammen eine Wohnung, so wie das viele Studenten hier machen.“ Cosmin erhob sich und zerrte an Max’ linkem Arm. „Los komm, lass uns mit Physik beginnen. Du brauchst in der Prüfung am Mittwoch eine Zwei!“
Max zog Cosmin zurück auf die Couch. „Physik kann warten, bis wir hören, dass dein Alter kommt.“

Am nächsten Vormittag befüllte Cosmin in der Küche einen Vorratsbehälter mit frisch zubereitetem Maisbrei, als kurz vor dreiviertel zehn Uhr das Handy in seiner Hosentasche läutete.
„Du bist eine Viertelstunde zu früh“, murrte Cosmin und sah, dass ihm sein Vater vom Fernsehsessel aus einen fragenden Blick zuwarf.
„Max. Er will mit mir irgendwo hin fahren, um mir was zu zeigen. Mehr weiß ich auch nicht…“
Cosmin angelte das Handy aus der Hosentasche. „Maxi, du sagtest um zehn. Ich bin noch nicht fertig.“
„Dann beeil dich, ich warte vor dem Haus auf dich. Zieh dir was Warmes an und bringe deine Klettersachen mit. Für draußen!“
„Für draußen? Wieso für draußen?“
Cosmin hörte Max leise schnauben. „Überraschung, Cos-Mi, schon vergessen?“
Cosmin erklärte seinem Vater in knappen Worten, was er neben dem Maisbrei für das Mittagessen vorbereitet hatte und hastete in sein Zimmer, um sich dort warme Sachen überzustreifen. Die Märzsonne strahlte durchs Fenster und Cosmin vermutete, dass er einen Teil der Sachen schon nach dem ersten Kilometer auf dem Rad ablegen würde.

Kurz darauf trat er aus der Haustür ins Freie und blieb wie vom Donner gerührt mitten auf der Eingangstreppe stehen. Auf dem Parkplatz vor dem Haus hockte ein behelmter Kerl lässig auf einem lindgrünen, in der Sonne funkelnden Moped und winkte ihm mit einem zweiten Helm zu.
„Maxi?!“
Max zog sich den Helm vom Kopf und strich sich das Haar aus der Stirn. „Worauf wartest du? Steig auf!“
Cosmin hastete zum Parkplatz und beäugte das Moped von allen Seiten. Es glänzte, als wäre es erst vor wenigen Monaten vom Band gerollt, doch am Typenschild erkannte Cosmin, dass das Moped mindestens 35 Jahre auf dem Buckel hatte.
„Ein S51 mit vier PS. Du hast mindestens dreitausend Euro dafür bezahlt. Maxi, wozu brauchst du das Moped? In nicht mal zwei Monaten wirst du achtzehn und willst ein Auto kaufen.“
Max drückte ihm den Helm in die Hand. „Hör auf zu quasseln, Cos-Mi. Die Kohle hole ich beim Pferderennen wieder raus. Außerdem habe ich nur zwei sieben bezahlt und unsere tollen Helme hier… die gab’s gratis dazu.“
NUR zwei sieben!
Für Cosmin ein Vermögen. Er hatte noch nie viel mehr als einhundert Euro besessen.
„Für die zwei Monate hätten wir doch unsere Fahrräder…“
„Cos-Mi! Wir kutschen nach Löbejün, das sind über vierzig Kilometer bis dort hin. Spring endlich auf!“
„Löbeljün? Nie gehört. Was soll das für ein Nest sein?“
„Löbejün! Da soll’s das absolut geilste Klettergebiet weit und breit geben.“
Eine knappe Stunde später erreichten sie Löbejün.
Obgleich das kleine Städtchen von Hügeln umgeben war, konnte sich Cosmin nicht vorstellen, wo es hier ein Klettergebiet geben sollte, das auch nur ansatzweise das Adjektiv „geil“ verdiente. Andererseits schien jeder in der Stadt, den sie nach dem Weg fragten, das sogenannte „Kletterparadies Felsental“ zu kennen. Sie folgten einer engen, gewundenen Straße, die aus der Stadt herausführte und fanden endlich den für Kletterer bestimmten Wegweiser ins „Felsental“. Ein Schotterweg endete nach vielleicht zweihundert Metern in einer Wendeschleife. Mehrere Autos parkten dort am Rand des Weges.
Cosmin schwang sich vom Moped und zog den Helm vom Kopf. Von den oft sehr holprigen Straßen tat ihm der Hintern weh und ein bisschen fragte er sich, ob das sogenannte „Kletterparadies“ die Strapazen dieser Fahrt wert gewesen war. Akazien und Gebüsch versperrten den Blick auf das hinter der Wendeschleife gelegene Gelände und nirgendwo ragte ein Felsen aus dem kahlen Dickicht.
Und doch musste es hier Felsen geben, denn eines der am Wegrand parkenden Autos mit Magdeburger Kennzeichen war mit dem Schriftzug „Klettersüchig und Felsengeil“ dekoriert. Max löste seinen Rucksack vom Gepäckträger des Mopeds und blickte sich suchend um. Er deutete auf eine Schneise, die links von ihnen ins Dickicht hinein führte.
„Da geht’s lang!“
Baumwurzeln querten den Trampelpfad durch das Gehölz und schon nach ein paar Dutzend Metern ragte nackter Fels aus dem mit Gestrüpp überwucherten Erdreich. Der abschüssige Pfad bog etwas nach rechts ab. Cosmin hatte den Blick auf die eigenen Füße gerichtet, um auf dem mit Geröll übersäten Pfad nicht auszurutschen und lief um ein Haar in Max hinein, der plötzlich stehen geblieben war.
Vor ihnen endete das Dickicht, was eine freie Sicht ins vermeintliche Felsental gestattete.
„Ein Steinbruch!“, entfuhr es Cosmin, während er staunend die schroffen Felsgrate betrachtete, die auf der anderen Seite des Talgrundes eine Höhe von dreißig oder vierzig Metern erreichten. Mitten in einer der glatten, rötlich schimmernden Wände klebte ein Kletterer, ein paar Meter weiter hangelte ein anderer an einer überhängenden Kante dem oberen Ende der Felswand entgegen.

Im Grund des Steinbruchs durchzogen Trampelpfade eine Wiese, aus der einzelne Baumgruppen wie kleine Inseln heraus ragten. In einem von grob behauenen Baumstämmen umzäunten Bereich standen zwei Zelte und mehrere aus Brettern zusammen gezimmerte Tische und Bänke sowie ein Dixi- Klo. Ein geschotterter Feldweg führte vom Campingplatz in den hinteren Teil des Steinbruchs.
Vor ihnen versperrte eine aus einem armdicken Ast gefertigte Schranke den Weg. Max studierte bereits eine Hinweistafel neben der Schranke.
Cosmin trat neben ihn. Die Tafel listete Verhaltensregeln auf. Ihm stach besonders ins Auge, dass das Klettern im Steinbruch nur Mitgliedern des Alpenvereins gestattet war und zehn Euro am Tag kostete, um den Unterhalt des Klettergebietes zu finanzieren. Schüler und Studenten hingegen mussten nur fünf Euro bezahlen. Zudem durfte lediglich auf der eingezäunten Fläche und das nur mit Genehmigung zum stolzen Preis von 25 Euro pro Nacht gezeltet werden.
„Was machen wir jetzt? lch bin nicht im Alpenverein. Und du?“, fragte Cosmin.
„Keine Ahnung, müsste Leon fragen. Aber der Typ mit der Glatze dort in der Wand ist dieser Gerd, der die Kletterführer schreibt“, erwiderte Max mit einem Nicken zu den Felswänden auf der anderen Seite des Talgrunds. „Der hat hier den Hut auf und wirft uns bestimmt nicht raus. Ich bleche die zehn Mäuse und dann legen wir endlich los hier.“
„Maxi, ich bleche die zehn Euro.“
„Alles klaro, Cos-Mi“, grinste Max und zückte seine Brieftasche. „Du hast gestern zwei Stunden Physik mit mir gepaukt. Du bist mein bester Freund und wirst mir hoffentlich nur zehn Mäuse pro Nachhilfestunde abknöpfen. Also wer zahlt den Zehner für den Eintritt?“
Cosmin schnaubte leise. „Ich finde es doof, dass du alles für uns bezahlst.“
Max entnahm einem Kasten an der Infotafel ein Anmeldeformular, füllte es aus und steckte es zusammen mit dem Zehn - Euro - Schein in einen Briefumschlag, obwohl auf der Hinweistafel ausdrücklich um eine online Zahlung gebeten wurde. „Und ich finde es doof, dass du in keinem Fach meine Hilfe brauchst. Meinst du nicht auch, dass wir uns prima ergänzen?“, entgegnete er und schob den Umschlag durch den Schlitz einer Metallbox, die am Schlagbaum befestigt war.

Während sie sich an einem der Tische des kleinen Campingplatzes umzogen, verfing sich Cosmins Blick an den beiden Zelten. Obwohl er in zwei Monaten achtzehn Jahre alt werden würde, hatte er noch nie in einem Zelt übernachtet.
Max hatte oft von seinen Campingabenteuern mit Leon geschwärmt, wie es war, abends - umgeben von steil aufragenden Felswänden - am Lagerfeuer zu sitzen.
Ich weiß nicht einmal, wie man so ein Zelt aufbaut!
Er stellte sich vor, wie es wäre, eine Nacht mit Max im Zelt zu verbringen.
Gibt es eigentlich auch Schlafsäcke, in die man zu zweit hinein passt?
„Nächsten Freitag kommen die Schwester meiner Oma und ihr Mann aus Dresden zu uns nach Dessau und bleiben bis Montag. Ist es nicht schön, dass wir jetzt ein Moped haben? Nette Leute, die Dresdner, aber…“, Max deutete auf die Zelte, „… ich würde viel lieber hier mit dir nach Ostereiern suchen.“

Pläne für die Ostereiersuche

Cosmin

Hier also wollte Max mit ihm auf Ostereiersuche gehen?
Cosmin fragte sich einmal mehr, ob Max seine Gedanken lesen konnte. Ihm entging auch nicht die Zweideutigkeit im letzten Teil des Satzes, zumal Max die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen hatte.
„Du hast schon wieder versaute Gedanken, Maxi!“
„Du etwa nicht?“
Cosmin ließ die Frage unbeantwortet. „Ich habe nicht einmal einen Schlafsack, nur den, den du bei mir gelassen hast. Und ein Zelt haben wir auch nicht.“
Max winkte ab. „Das Zelt besorge ich am Montag. Wollte eh eins kaufen für unsere Tour nach Rumänien. Und ich habe auch so einen Schlafsack wie den, der bei dir ist. Beide kann man zum Doppelschlafsack verbinden. Es sind All - Season - Schlafsäcke. Wir werden es mollig warm haben.“
Cosmin versuchte das Kribbeln in seinen Lenden zu ignorieren. „Wenn wir da drin… du weißt schon was machen. Es ist bestimmt eklig, da am nächsten Tag wieder rein zu kriechen.“
„Erwischt!“, kicherte Max. „Cos-Mi, hör auf, dir deswegen deinen Kopf zu zerbrechen. Dafür gibt’s den Innenbezug.“
„Trotzdem! Wenn wir wirklich vier Nächte hier…“
Max Grinsen wurde noch etwas breiter. „Ich hab’ bei mir im Zimmer ein Zehnerpack Gummis versteckt. Damit bleibt alles schön sauber.“
Cosmin benötigte nicht länger als einen Wimpernschlag, um sich auszurechnen, dass Max’ Zehnerpack wahrscheinlich schon nach zwei Nächten aufgebraucht sein würde. Und wieder einmal schien es, als hätte Max seine Gedanken erraten.
„Okay, okay, Cos-Mi. Ich besorg’ uns noch ein Zehnerpack!“
Kurz darauf schlenderten sie zu einer etwas mehr als zwanzig Meter hohen Felskante, die wie die gezackte Rückenflosse eines riesigen Barsches aus einer sonst fast glatten Wand heraus ragte. Cosmin konnte es kaum erwarten, zum ersten Mal an einer Wand aus echtem Fels zu klettern.
Max blätterte in Gerds Kletterführer. „Das Ding heißt Himmelsleiter und ist eine Sieben Minus.“
„Das schaffe ich, Maxi! Lass mich…“
„Cos-Mi, das hier ist keine Kletterhalle. Hier sind die Haken weiter auseinander. Ich steige vor und du guckst dir an, wie man im Fels sichert.“ Max nickte zu etwa zehn bis zwanzig Meter hohen Felswänden, an denen auf der linken Seite das „Felsental“ endete. Ein älterer Mann versuchte dort, gesichert von seiner Frau, eine glattes Wandstück zu überwinden und rutschte immer wieder an der selben Stelle ins Seil. „Dort werden wir nachher sichern und abseilen üben.“

Als Cosmin nach Max’ Vorstieg an der Kante kletterte - gesichert mit dem von der oberen Umlenkung durch etwa ein Dutzend Karabiner verlaufenden Seil - begriff er, warum Max ihn ausgebremst hatte. Anders als in der Halle lagen zwischen zwei benachbarten Sicherungshaken manchmal mehr als drei oder vier Meter. Um im Falle eines Sturzes allzu große Fallhöhen zu vermeiden, hatte Max das Seil durch Karabiner geführt, die an in Rissen verklemmten, kleinen Stahlkeilen oder an um Zacken gelegte Bandschlingen befestigt waren. Am oberen Haken mit dem Abseilring genoss Cosmin den Blick über den Talgrund. Er sah, dass sich auch auf der Seite mit dem Abstieg ins Tal Felswände aus dem Dickicht aus Büschen und kahlen Laubbäumen erhoben. Unweit des Campingplatzes glitzerte ein von mannshohem Gebüsch gesäumter Teich in der Märzsonne.

Unter ihm hatten sich der Mann mit der Glatze und eine Frau zu Max gesellt und schauten zu ihm auf.
„Du kannst mich runter lassen!“, rief er Max zu und hatte wenige Augenblicke später wieder festen Boden unter den Füßen.
„Es ist wunderschön hier.“
„Darum haben wir den Steinbruch umbenannt in Kletterparadies Felsental“, wandte sich der Mann mit der Glatze an Cosmin. „Hi, ich bin Gerd, so ein bisschen das Auge und das Ohr an diesem Ort und das ist meine Frau Kristin.“
Cosmin schätze, dass die zierliche und zugleich durchtrainierte Frau etwa fünfzehn Jahre jünger war als Gerd. Sie reichte ihm die Hand. „Du kannst Kris zu mir sagen.“
„Hallo, äh… ich bin Cosmin.“
„Cos-Mi, Gerd möchte, dass ich ihm dort beim Versiegeln von Bohrhaken helfe.“ Max deutete auf die vierzig Meter hohe, glatte Wand, an der Gerd bei ihrer Ankunft gehangen hatte. „Es dauert vielleicht zwei bis drei Stunden.“
„Und in der Zeit würde ich mit dir klettern, Cosmin“, ergänzte die Frau. „Du kannst mir vertrauen. Ich führe hier schon seit mehr als zehn Jahren Kletterkurse durch.“
Cosmin nickte zaghaft. Fast klang es, als würden ihn Gerd und Kris um die Erlaubnis bitten, sich Max von ihm auszuleihen.
„Wir dürfen über Ostern hier zelten“, raunte Max ihm zu.
„Und unser Verein übernimmt eure Campgebühr für die vier Nächte“, ergänzte Gerd. „Die Route hat Jake, einer der besten Kletterer Europas, angelegt. Er nannte sie ‚Possibile‘, aber ich komme trotzdem weiter oben nicht an die Haken ran. Max ist wahrscheinlich einer der wenigen, die es bis zum letzten Haken schaffen. Jake hatte wohl keine Zeit gehabt, seine Bohrlöcher zu versiegeln und wenn wir sie nicht schließen, fallen irgendwann die Haken raus.“
„Ist das nicht gefährlich für Max, wenn die Haken nicht fest sitzen?“, fragte Cosmin besorgt und vernahm neben sich Max’ leises Schnauben.
„Jake hat die Route letzten Sommer eingerichtet und geklettert. Noch sitzen die Haken“, versicherte ihm Gerd.
„Okay.“ Cosmin wandte sich an Kristin. „Ich weiß nicht, ob es Max gesagt hat, aber ich bin Anfänger.“
Kristin lachte auf. „Ach so? Cosmin, ich habe in Dessau gesehen, dass du das Dach geklettert hast. Ein starkes Stück für einen Anfänger“, erwiderte sie.
„Und ich habe ungefähr in deinem Alter mit dem Klettern angefangen und brauchte zwei Jahre, ehe ich meine erste Acht beziehungsweise sächsische Neun geschafft habe“, ergänzte Gerd.

Gerd hatte sich nicht getäuscht in Max. Zwar dauerte es tatsächlich volle drei Stunden, ehe Max den letzten Haken an der „Possibile“ - Route erreichte. Aber Cosmin hatte von Kristin auch erfahren, dass es bislang noch keinem anderen Kletterer gelungen war, Jakes obere Haken zu erreichen. Kristin entpuppte sich als geduldige Kletterlehrerin und übte mit Cosmin das Anbringen verschiedener Sicherungen beim Vorstieg, zeigte ihm, wo Gefahren lauerten und wie man sich selber von der Umlenkung am Ende einer Route abseilen konnte.

Gerd und Max traten an den Tisch, an dem Kristin und Cosmin saßen und Apfelstücken aus einer Frischhaltedose naschten. Max hingen verschwitzte Haarsträhnen im geröteten Gesicht; er hielt eine zur Hälfte geleerte Mineralwasserflasche in der Hand. Ihm standen die Strapazen der Kletterei am Limit und der Abdichtungsarbeiten an den Haken im Gesicht geschrieben, dennoch lag ein schiefes Grinsen auf seinen Lippen, als er sich zu Cosmin an den Tisch setzte.
„Max würde nächsten Freitag Possibile für mich vorsteigen“, wandte sich Gerd an seine Frau. „Mit Schummeln müsste ich es schaffen und könnte nochmal alle Haken überprüfen.“
Er legte Max die rechte Hand auf die Schulter. „Vielen Dank, Max. Ich schätze, in Deutschland gibt es höchsten eine Handvoll Kletterer, die es bei Possibile bis zum Umlenker schaffen. Und dir danke ich auch, Cosmin. Ich bringe euch nächstes Wochenende ein kleines Dankeschön mit.“
Cosmin räusperte sich. „Eigentlich muss ich mich bei Kristin bedanken. Sie ist eine gute Lehrerin.“
„Wenn Gerd dir Max nächsten Freitag ausspannt, machen wir mit dem Unterricht weiter“, erwiderte Kristin lächelnd und erhob sich.
„Maxi…“, sagte Cosmin, nachdem sich Gerd und Kristin zurück zur Felswand begeben hatten.
Max hatte sich ein halbes Baguette auf einmal in den Mund geschoben, die Wangen wölbten sich wie Hamsterbacken aus seinem Gesicht.
„Mhm…“
„Ich bin total stolz auf dich.“
Max benötigte einige Augenblicke, ehe er wieder reden konnte. „Cos-Mi, dasselbe könnte ich von dir sagen. Ich bin mit dem schlausten Kerl der Schule zusammen.“
„Ach so? Sagtest du nicht, ich wäre nicht schlauer als meine Plüschkatze?“
„Nur manchmal. Und ich bin manchmal nicht schlauer als der Schrank, auf dem die steht.“
Max nickte zu den Felswänden. „Und jetzt erzähl mir, was du noch klettern möchtest!“

Max

Max glaubte nicht so recht daran, dass er auf dem Abizeugnis einen Durchschnitt von unter 2,5 schaffen könne. Doch wollte er sich die kleine Chance, auch nach dem Sommer zusammen mit Cosmin an einer Schulbank zu sitzen, nicht entgehen lassen. Er erzählte weder seinem Vater noch Leon etwas darüber, dass er sich möglicherweise für ein Architekturstudium an der Hochschule in Dessau bewerben würde. Sie hätten sich vermutlich gefragt, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Er vertraute sich lediglich seiner Großmutter an, die sich über Max’ Eifer bei der Vorbereitung auf die Physikprüfung wunderte. Zwar freute sich Oma Lisa darüber, dass Max vielleicht in ihrer Nähe bleibe würde und sie ihn so auch weiterhin bemuttern konnte. Doch zugleich schien sie zu ahnen, dass der Grund für Max’ Sinneswandel braunhäutig war und schulterlange, pechschwarze Locken hatte.

Am Morgen vor der Physikprüfung wartete Cosmin wie an jedem Schultag an der Eingangstreppe zum Rathaus. Max schwang sich von seinem Rad und umarmte ihn kurz. Cosmin wirkte nervös, fast so, als hätte er Angst, bei der bevorstehenden Prüfung durchzufallen. Was keinen Sinn ergab. Max war sicher, dass Cosmin locker die volle Punktzahl schaffen würde.
„Maxi, ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen“, sagte Cosmin, während sie inmitten der zur Schule strömenden Schülerscharen über den Marktplatz schlenderten.
„Hä?“
„Und du musst so schnell wie möglich darauf antworten“, fuhr Cosmin fort. „Fangen wir mit der Kinematik an. Du lässt einen Stein in einen tiefen Brunnen fallen und hörst ihn nach genau 5 Sekunden aufklatschen. Wie kann man die exakte Tiefe des Brunnens bestimmen?“
Max benötigte einige Sekunden, ehe ihm einfiel, dass man das Aufklatschen nicht sofort hörte und erklärte, wie er die Tiefe berechnen würde. Cosmin nickte und ergänzte hastig Max’ Lösungsvorschlag. Als sie die Fahrradständer vor dem Schulhaus erreichten, hatte Max ein Dutzend solcher Fragen beantwortet. Cosmins Nervosität war verschwunden. „Maxi, du wirst eine Zwei schaffen, da bin ich sicher!“, sagte er, als sie die Eingangshalle der Schule betraten.
Max fiel es schwer, angesichts seiner Physiknoten in den Vorjahren Cosmins Zuversicht zu teilen. Aber das behielt er vorläufig für sich.

Hoffen wir , dass Max die Physikprüfung nicht verhauen hat! Achtung Spoiler: Hat er nicht!

Beiden Jungen sei nun erst einmal die Ruhe vor dem nächsten Sturm vergönnt. Begleiten wir sie in den nächsten Kapiteln bei ihrem ersten gemeinsamen Campingabenteuer.

Das Campingabenteuer beginnt

Max

„Ich nehme an, du hast nur Tütensuppen und Fertignudeln im Rucksack. Hier ist etwas Verpflegung für euch.“
Oma Lisa stellte einen prallgefüllten Beutel auf dem Teppichboden in Max’ Zimmer ab, der mit Campingausrüstung, Karabinern, Schlingen und Klamotten übersät war.
„Omi, wir fahren mit dem Moped und nicht mit einem Lastwagen nach Löbejün“, nörgelte Max und beäugte aus den Augenwinkeln den Beutel. Ihm entströmte der Duft nach ofenfrischen Baguettes.
„Dort gibt es auch einen Supermarkt, wo wir uns heute und am Samstag mit Futter eindecken können“, ergänzte er lahm. Die Brötchen aus dem Supermarkt konnten mit den selbstgebackenen und großzügig mit Lachs oder Schinken belegten Baguettes seiner Oma natürlich nicht mithalten.
Seine Großmutter ließ ihren Blick über die auf dem Boden ausgebreiteten Sachen schweifen und verließ kopfschüttelnd und mit einem Lächeln auf den Lippen das Zimmer.
Max schaute kurz auf das Display seines Handys. Es war höchste Zeit, alles im Rucksack zu verstauen. Er hatte Cosmin versprochen, ihn 14 Uhr von zu Hause abzuholen.
Gerade als er mit dem Packen beginnen wollte, läutete das Handy in seiner Hosentasche.
Er sah, dass Leon ihn anklingelte und nahm das Videotelefonat an.
Auf dem Handydisplay materialisierte sich das Gesicht seines Onkels.
„Champ, dein Vater hat mir erzählt, dass du die Physikprüfung überstanden hast. Glückwunsch!“, begrüßte ihn Leon. „Morgen früh breche ich hier in Bratislava die Zelte ab. Sehen wir uns über Ostern?“
„Hi Onkelchen, meine Bude in Berlin ist leider besetzt.“
„Maxi, schon vergessen? Du hast immer noch ein Zimmer in meinem Haus.“
Leon bemerkte nun offenbar, dass es im Zimmer aussah wie in einem Basislager. „Sag mal, willst du eine Campingtour machen?“
„Jepp, es gibt hier in der Nähe ein total geiles Klettergebiet“, erwiderte Max und erzählte seinem Onkel vom Felsental und vom Moped, das er gekauft hatte, um sich in der prüfungsfreien Zeit an den Felswänden des Löbejüner Steinbruchs auf die Meisterschaften im Hallenklettern vorzubereiten.
„Ich nehme an, du zeltest dort mit deinem… Freund?“, fragte Leon und das Wort „Freund“ sprach er aus als würde er über Nasenschleim reden.
Max schnaubte verärgert. „Leon, du hast mir gesagt, du hast kein Problem mit…“
„Hey, schon gut Kleiner, reg dich ab!“, fuhr ihm Leon ins Wort. „Ich möchte nur nicht, dass du die Sache mit Tang aus den Augen verlierst. In drei Monaten willst du ihn zerlegen und ordentlich dabei absahnen. Komm nach Ostern an den Wochenenden zu mir nach Berlin. Ich übernehme jetzt wieder dein Kampftraining.“
Max suchte fieberhaft nach Gründen, weshalb er einige der Wochenenden in Dessau verbringen müsse und Leon schien sein Zögern zu bemerken.
„Maxi, deinen Freund kannst du mitbringen.“
Max’ Ärger verflog. „Im Ernst?“
„Im Ernst!“
„Bleibst du denn jetzt in Berlin?“
Die Düsternis verschwand aus Leons Gesicht. „Ich muss deinem Vater etwas Arbeit abnehmen und außerdem…“
„… vietnamesisch lernen?“, grinste Max.
Leon erwiderte Max’ Grinsen. "Echt 'ne schöne Sprache, Kleiner. Okay… " Leon schwenkte das Handy, sodass Max einen Blick in Leons Zimmer werfen konnte, in dem dasselbe Chaos herrschte wie in seinem eigenen Zimmer. „Wie du siehst, habe ich noch viel zu tun. Machs gut, Champ.“
„Machs gut, Onkelchen.“

Mit einer Viertelstunde Verspätung traf Max am Wohnblock ein, in dem Cosmin und sein Vater wohnten. Allerdings hatte auch Cosmin viel länger als erwartet gebraucht, um alle Sachen im von Max geborgten Kletterrucksack zu verstauen.
Bepackt, als wären sie zu einer Hochgebirgsexpedition unterwegs, zuckelten sie auf einem in die Jahre gekommenen Moped ihrem ersten gemeinsamen Campingabenteuer entgegen.

Eine Stunde später erreichten sie den Parkplatz am Rande des Steinbruchs. Wie schon vier Tage zuvor parkte dort neben zwei weiteren Autos der Dacia mit dem Schriftzug „Klettersüchtig und Felsengeil“. Max vermutete, dass der Dacia Gerd gehörte. Beladen mit ihren schweren Rucksäcken stiegen sie den Pfad hinab zum Schlagbaum am Eingang ins Felsental. Dort griff sich Max ein Anmeldeformular aus der Box neben der Hinweistafel, und sah, dass Cosmin einen Zwanziger aus seiner Jacke fischte.
„Was willst du damit?“
Cosmin hielt ihm den Schein hin. „Den Eintritt für uns bezahlen.“
„Cos-Mi, nicht schon wieder…“ Max schob sanft Cosmins Hand mit dem Geldschein von sich weg. „Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich gestern garantiert durch die Prüfung gerauscht. Heb’ dir die Kohle für’s Pferderennen auf, okay? Außerdem…“ Er deutete zum Campingplatz, wo Gerd und Kristin ihr Zelt aufbauten. „Gerd will nicht, dass wir das Geld hier in den Kasten rein schmeißen. Ich hab’ die zwanzig Mäuse vorhin überwiesen.“
Neben dem Zelt, welches Gerd und Kristin gerade aufbauten, standen zwei weitere Zelte auf der eingezäunten Fläche. An einem der Tische saß ein Mann, der Anfang Vierzig sein mochte, und redete mit weit ausholenden Gesten auf Gerd und Kristin ein. Max fand, dass der in einem gebügelten Anzug gekleidete Mann in dem Camp für Kletterer so deplatziert wirkte wie eine Schneekanone am Badestrand einer Tropeninsel. Wohl frisierte, graumelierte Haare krönten ein kreisrundes Gesicht mit rosafarbenen Pausbacken und die Anzugjacke umspannte gerade noch so die Leibesfülle des Mannes. Als sich Max und Cosmin dem Campingplatz näherten, verstummte der Mann. Sein Blick wanderte von Max zu Cosmin und blieb dort haften. Zunächst vermutete Max, dass der Mann sich an Cosmins exotischem Aussehen störte, doch gleich darauf ging ihm auf, weshalb der Mann Cosmin anstarrte.
Es ist nicht zu fassen, der Kerl ist scharf auf Cosmin!
Max löste seinen Blick von dem Mann. „Hallöchen alle miteinander!“
Gerd und Kristin begrüßten Max und Cosmin mit einem freundschaftlichen Handschlag. Dann wandte sich Gerd an den Mann. „Torsten, diese Jungs gehören zu den besten Kletterern im Land. Sie helfen mir bei den Sicherungsarbeiten. Max, Cosmin… Herr Knauer ist Geschäftsführer des Unternehmens, dem dieser Steinbruch hier gehört. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir in diesem Steinbruch klettern und zelten dürfen.“
Herr Knauer strahlte, als wäre ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen worden. „Man tut, was man kann.“
Er erhob sich ächzend. „Dann will ich nicht weiter stören. Im Büro wartet noch jede Menge Arbeit auf mich.“ Er warf Cosmin einen letzten Blick zu und schien einen Moment zu hoffen, dass Cosmin den Blick erwidern würde. Doch Cosmin fummelte am Rucksack, den er vom Rücken gestreift hatte. Nach einem Kopfnicken in Gerds Richtung schlurfte Herr Knauer auf dem in den hinteren Teil des Steinbruchs führenden Feldweg davon.
„Mit ihm kann man wenigstens reden“, sagte Gerd, nachdem Herr Knauer außer Hörweite war. „Sein Vorgänger, der wollte uns aus dem Steinbruch raus werfen.“
„Aber du solltest auch erwähnen, dass unsere IG inzwischen über 5000 Euro Pacht im Jahr zahlt“, schimpfte Kristin. „Und eben war der hier, um uns zu erklären, warum die Pacht erhöht werden müsse.“
Gerd zuckte mit der Schulter. „Nun wisst ihr, warum wir hier Eintritt verlangen. Lassen wir das jetzt.“ Er zog zwei in Folie verpackte Bücher aus einem Seesack. „Da ihr im Sommer in Rumänien klettern wollt, habe ich was für euch. Bestimmt findet ihr ein paar Anregungen da drin.“
Max las den Titel des Buches. „Romania la verticala… ist das Buch auf deutsch?“
„Auf deutsch und rumänisch“, erwiderte Gerd.
„Und Sie haben das geschrieben?“, fragte Cosmin, während er das Buch in den Händen wendete.
„Sag du zu mir, Cosmin. Und ja, zusammen mit Kristin. Viele der Klettergebiete haben wir selber besucht. Aber uns haben auch rumänische Kletterer zugearbeitet. Das Buch ist inzwischen so gut wie vergriffen und wir planen eine Neuauflage.“
Max und Cosmin bedankten sich. Gerd legte eine Hand auf Cosmins Schulter. „Vielleicht brauche ich ja bald jemanden, der die rumänische Übersetzung neuer Textpassagen Korrektur liest.“
„Das könnte ich für Sie… äh für dich machen“, erwiderte Cosmin.
„Super! Ach ja, Jungs…“, Gerd deutete auf einen Wasserkanister, der auf einem der Tische abgestellt war. „Trinkwasser für euch. Da sind zehn Liter drin. Ich nehme an, das könnt ihr gebrauchen.“
Max und Cosmin warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie hatten zwar Tütensuppen, Fertignudeln und auch Teebeutel im Gepäck, aber keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie dafür auch sauberes Wasser benötigten.
„Danke, Gerd.“ Max deutete auf die Felswand mit der extrem schweren „Possibile“ - Route. „Wann willst du da ran?“
„Wir bleiben bis Samstag. Wenn du möchtest, nehmen wir uns das für morgen vor. Dort gibt es noch drei weitere, aber etwas leichtere Zehner - Routen…“
Max ahnte, dass Gerd auch für diese Routen einen Vorsteiger suchte. „Okay, wenn wir einmal dort sind, probieren wir auch die mal aus. Und jetzt…“, er wandte sich zu Cosmin um, der mit glänzenden Augen auf die steil aufragenden Felswände starrte, „bauen wir erst einmal unser Häuschen für die nächsten vier Nächte auf.“

Ein Klettertag im Felsental

Max

Nachdem sie das Zelt aufgebaut und ihre Sachen darin verstaut hatten, schlenderten die Jungen zu den Felswänden. Zunächst wählten sie an einer der niedrigen Wände eine relativ leichte Route, um Finger und Muskeln aufzuwärmen. Allerdings hatte Cosmin bereits während des Zeltbaus mit großen Augen immer wieder zu einer Stelle gestarrt, wo zwei im rechten Winkel aufeinander stoßende Felswände eine fast vierzig Meter hohe Ecke bildeten. Drei Kletterer versuchten dort nacheinander, das obere Ende der gewaltigen, teils überhängenden Verschneidung zu erreichen. Nach einem letzten erfolglosen Versuch rafften sie ihr Seil zusammen und verließen den Einstieg in die Route.
Max sah, dass Cosmin in Gedanken bereits in der Verschneidung hinauf hangelte.
Er blätterte in Gerds Kletterführer, während er hinter Cosmin auf einem Trampelpfad durch das kniehohe Gras zum Einstieg in diese Route stapfte. „Cos-Mi, der Weg heißt Zitterbacke und ist eine Sieben bis Sieben Plus.“
„Das schaffe ich. Ich weiß, wie man Sicherungen…“
Max hielt Cosmin zurück. „Ich mache das als Erster und baue die Sicherungen. Dann kannst du vorsteigen und nimmst meine Sicherungen. Cos-Mi, das hier ist keine Kletterhalle.“
„Das sagtest du bereits“, maulte Cosmin, ließ jedoch Max den Vortritt.

Ein Riss, mal schmaler als ein Finger und mal so breit, dass darin eine Faust hinein passte, durchzog die Route dort, wo die Felswände aufeinander stießen. Da auch bei dieser Route die Abstände der im Fels befestigten Sicherungshaken teilweise sogar größer als fünf Meter waren, verklemmte Max im Riss mehrere kleine Stahlkeile oder Knotenschlingen und führte das Seil durch die mit den Keilen oder Schlingen verbundenen Karabinerhaken.
Max empfand die Route als schwer für eine Sieben und hoffte, dass sich Cosmin an ihr nicht die Zähne ausbeißen würde.
Nachdem Max wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erklärte er Cosmin, wo sich die schwierigsten Stellen der Route befanden und wie man sie meistern konnte.
Cosmin erfuhr bereits auf halber Höhe der „Zitterbacke“ genannten Route, wieso die Erstbegeher ihr diesen Namen verpasst hatten. Doch gelang es ihm zunächst, das Zittern der Knie und manchmal auch des Hinterteils unter Kontrolle zu bringen, bis er an der schwierigsten Stelle beim Versuch, das Seil in den Karabiner am nächsten Sicherungshaken einzuklinken, abrutschte und in eine der Schlingen fiel, die Max mit einem Knoten im Riss verkeilt hatte.
Ein paar Augenblicke zappelte Cosmin im Seil und erinnerte an eine am eigenen Faden hängende Spinne. Nach einer kurzen Schaukelei bekam er den Fels zu fassen und hangelte bis zu der Sicherungsschlinge. Dort ruhte er kurz aus und kletterte anschließend erneut zu der Stelle, an der er abgerutscht war. Max spürte, dass auch er selber jeden Muskel anspannte, als Cosmin trotz zitternder Knie am Seil zog und es in den Karabiner einklinken konnte.
Cosmin gönnte sich eine weitere Ruhepause, ehe er das letzte Stück bis zum oberen Haken mit dem Abseilring hinauf hangelte.
Anschließend kletterte Max die Route noch einmal. Zum einen, um dabei alle Karabiner sowie die Schlingen und Klemmkeile einzusammeln. Zum anderen war er besorgt, dass Cosmin beim Abseilen ein Fehler unterlief. Wenig später hingen die Jungen gemeinsam am Abseilring des oberen Haken.
„Ich hab’ mich irgendwie doof angestellt“, murrte Cosmin. „Ich werde es morgen oder am Samstag noch einmal versuchen, ohne Sturz und Ausruhen im Gurt.“
Max tätschelte Cosmins Schulter und deutete auf die drei Kletterer weit unter ihnen, von denen sich einer auf den Einstieg in eine der benachbarten Routen vorbereitete. „Die klettern mit Sicherheit schon viel länger als du und haben hier keinen Stich gesehen. Bei so einem Riss ist auch Technik gefragt. Die bringe ich dir auch noch bei, okay?“
Cosmin nickte. „Ohne deine Knotenschlinge da im Riss wäre ich bestimmt zehn Meter tief geflogen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Knoten im Riss zu verklemmen.“
„Lass mich einfach noch ein paar Tage als erstes ran, dann lernst du das auch. Und jetzt will ich sehen, wie du hier abseilst.“
„Maxi, hast du Schiss, dass ich dabei schon wieder einen Abflug mache?“
Max ließ seinen Blick über Cosmins verschwitztes Gesicht schweifen. „Cos-Mi, es gibt drei Dinge, die ich zum Leben brauche. Luft, was zu futtern und zu trinken und… dich. Also passe ich lieber auf, dass du keinen Abflug machst.“
Cosmin schien nach einer passenden Antwort zu suchen. Ein bisschen hoffte Max, aus Cosmins Mund etwas Ähnliches zu hören.
Doch Cosmin wandte seinen Blick ab und schaute sich über seine Schulter im Felsental um. „Und wie hast du dann siebzehn Jahre überlebt?“
Max seufzte leise und fragte sich einmal mehr, warum Cosmin Worte, nach denen er sich sehnte, nicht über die Lippen brachte. Doch plötzlich zog Cosmin Max’ Gesicht an sein Gesicht heran und für einen Augenblick spürte Max Cosmins weiche Lippen auf den eigenen.
„Pass auf mich auf, mein schöner Lehrer“, hauchte ihm Cosmin ins Ohr und wollte das Seil aus dem Karabiner klicken, um es durch den Abseilring zu fädeln. Max griff blitzschnell nach dem Seil. „Cos-Mi! Wenn dir das Seil aus der Hand rutscht, was für ein Problem haben wir dann?“
Cosmin starrte Max aus vor Schreck geweiteten Augen an. „Oh Mann! Wir würden hier beide am Ring hängen und kämen nicht mehr runter.“ Hastig schlang er eine Schlaufe ins Seil und befestigte sie an seinem Gurt.
Max half Cosmin beim Einziehen des Seils. „Heute hätten uns Gerd und Kris hier raus geholt. Aber allein und ohne Handy wäre man so ziemlich am Arsch.“

Cosmin

Inzwischen waren weitere Kletterer im Steinbruch eingetroffen und das Camp war auf fünf Zelte angewachsen. Unweit des Teiches schichteten Gerd und zwei andere Männer abgestorbene Zweige und Äste für ein Lagerfeuer auf.
Nach der Zitterpartie an der „Zitterbacke“ genannten Route und dem Schreck darüber, wie schnell man beim Klettern in eine missliche Lage geraten konnte, verspürte Cosmin vorerst kein Verlangen, eine weitere schwere Route vorzusteigen. Zumal vom Campingplatz, wo Kristin und eine weitere Frau an einem Standgrill hantierten, der Geruch nach gegrillten Bratwürsten bis an seine Nase wehte und ihn daran erinnerte, dass sein Magen mal wieder eine Füllung benötigte.
Max führte ihn zu einer nahezu glatten, höchstens fünfzehn Meter hohen Felsplatte. Sie lehnte in einem Winkel von vielleicht sechzig oder siebzig Grad gegen die dahinterliegende Felswand und war übersät mit weißen Magnesiaspuren.
Wie es schien, kitzelte der Geruch nach Grillwürsten auch Max’ Nase. „Wir klettern nur noch diese Reibungswand hier, okay?“, schlug er vor und deutete auf die hinter der Platte aufragende Felswand. „Das da vergessen wir, ist eh nur noch Spielerei.“

Als sie nach der letzten Kletterei des Tages zum Campingplatz zurückkehrten, saßen Kristin und Gerd zusammen mit sechs weiteren Frauen und Männern an einem der Tische und ließen sich dort die duftenden Bratwürste schmecken.
Kristin winkte den Jungen zu. „Cosmin, Max, ihr könnt euch gerne zu uns setzen. Wir haben euch ein paar von den Würsten aufgehoben.“
Die Jungen bedankten sich für die Einladung und brachten ihre Kletterausrüstung zum Zelt.
Nach einer Katzenwäsche im klaren Wasser des Teiches baute Max auf dem Nachbartisch seinen Kartuschenkocher auf und platzierte darauf einen mit Wasser gefüllten Topf, während Cosmin ihre Essensvorräte durchforstete und sich schließlich für die frischen, von Oma Lisa gebackenen Baguettes entschied.

Am Tisch wurden sie von den Männern und Frauen wie alte Bekannte begrüßt, obwohl die Leute mindestens zwanzig Jahre älter waren als die beiden Jungen.
„Max ist bislang der einzige, der in Dessau die Quali und hier die Possibile geschafft hat und Cosmin klettert inzwischen schon Achter - Wege; dabei hat er erst vor ein paar Monaten mit dem Klettern angefangen“, erklärte Gerd den anderen am Tisch.
Cosmin bemerkte, dass ihm einige von Gerds Freunden Blicke zuwarfen, als hätte er Gold bei Olympia geholt. „Naja, eigentlich nur Acht Minus“, korrigierte er leise.
Kristin schob ihm und Max Pappteller mit je zwei Würsten auf den Platz. „Cosmin, so wie du dich anstellst beim Klettern, wird spätestens im Sommer aus dem Minus ein Plus.“
Während sich die Jungen die Würste schmecken ließen, stellte Kristin die mit am Tisch sitzenden Kletterer vor. Anschließend nahmen die Leute ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf.
Gerd erhob sich. „Ich zünde schon mal unser Lagerfeuer an.“ An Max und Cosmin gewandt fuhr er fort. „Ihr kommt doch auch, oder? Max, du sagtest mir neulich, dass ihr Radler trinkt und ich habe zufällig welches dabei.“

Die Schatten der anbrechenden Nacht vertrieben die Reste des Tages aus dem Felsental, doch vor den tanzenden Flammen des von Gerd entzündeten Lagerfeuers mussten die Schatten zurückweichen. Angelockt vom Knacken des brennenden Holzes und dem Lodern der Flammen erhoben sich nun auch die anderen Kletterer und begaben sich zum Lagerfeuer. Die drei Kletterer, die sich zuvor vergeblich an der „Zitterbacke“ abgemüht hatten, campierten offenbar auch hier. Sie saßen an einem der Nachbartische und unterhielten sich leise.
Cosmin genoss das Abendessen im Kerzenschein und unter einem Himmel, an dem immer mehr Sterne aufleuchteten und wie kleine Glühlämpchen ins Tal hinunter schauten.
Max befüllte ihre Trinkbecher mit frisch aufgebrühtem Früchtetee.
„Campen ist irgendwie… romantisch. Ich habe so was noch nie gemacht.“ Cosmin ließ den Blick über die Zelte schweifen und schlürfte etwas von dem heißen Tee. „Ich schätze, wochentags hätten wir das Tal hier für uns ganz allein.“
Cosmins Blick kehrte zu Max zurück. Das Flackern des Lagerfeuers spiegelte sich in Max’ Augen und wieder einmal schien es, als würden die Flammen auch hinter diesen Augen lodern.
„Falls nicht dieser Lustmolch hier aufkreuzt, Klauer oder wie der hieß“, fauchte Max. „Meine Fresse, ich glaub’, der war total spitz auf dich.“
„Knauer hieß der“, korrigierte Cosmin. Ihm waren die lüsternen Blicke des Mannes nicht entgangen, auch wenn er so getan hatte, als würde er sie nicht bemerken. „Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich nicht auf Kerle stehe?“, raunte er Max zu.
„Normalerweise?“
„Normalerweise!“

Nach dem Abendessen unter freiem Himmel gesellten sich Max und Cosmin zu den anderen Kletterern, die bereits am Lagerfeuer saßen.
Max bat Gerd und Kristin um Tipps zu den Hunderte Meter hohen Kletterrouten im rumänischen Bucegi Massiv. Gerd überließ es Kristin, die Kletterei an den beiden bekanntesten und von ihnen durchstiegenen Routen in diesem Bergmassiv zu beschreiben. Er suchte auf seinem Handy nach Kontakten, die den Jungen bei ihrem Kletterabenteuer in Rumänien von Nutzen sein konnten und sandte sie an Max’ Handy.
Nachdem Kristin ihren Bericht beendet hatte, griff Max nach seinem Handy und riss erstaunt die Augen auf.
„Was ist los?“, fragte Cosmin und statt zu antworten, reichte ihm Max das Handy.
Gerd hatte per WhatsApp mehrere Links zu rumänischen Bergsportseiten an Max geschickt. Außerdem befand sich eine Nachricht von einem „Andy in Predeal“ auf dem Handy.
Max tippte auf die Nachricht. „Lies das!“
Cosmin überflog die Nachricht.

„Hallo Max und Cosmin, ich wohne in Predeal, nur ein paar km von den Felswänden des Bucegi - Gebirges entfernt und habe im Haus zwei kleine Ferienwohnungen. Ihr könnt dort für wenig Geld übernachten und während der Klettertour Euer Auto bei mir auf dem Hof stehen lassen. VG Andre.“

„Dieser Andre sprich fehlerfrei deutsch“, murmelte Cosmin und wandte sich an Gerd. „Wer ist der Mann?“
Gerd schien für einen Moment etwas in den tanzenden Flammen des Lagerfeuers zu sehen, das Jahrzehnte zurücklag. „Ein Kletterfreund aus meinen Jugendzeiten. Er ist auch aus Magdeburg und vor ein paar Jahren mit seiner Frau nach Rumänien gezogen. Ihr könnt ihm vertrauen.“
Cosmin sah, dass Max eine Antwort an den Andy aus Predeal ins Handy tippte, in der er sich für das Angebot bedankte und schrieb, sie würden die Reise nach Rumänien voraussichtlich Anfang Juni nach dem Ende ihrer Abiturprüfungen antreten.
Anschließend leerte Max die Flasche Radler. Gerd bot den Jungen eine weitere Flasche an.
Cosmin verzichtete lieber, um nachts nicht die Wärme des Schlafsacks wegen einer drückenden Blase verlassen zu müssen und Max winkte ebenfalls ab. „Ich halte abends nicht sehr lange durch.“
Er tippte auf die geleerte Flasche. „Wohin damit?“ Ein kahlköpfiger Mann mit ergrautem Vollbart, von dem Cosmin nur wusste, dass er Peter hieß, zeigte zum Zeltplatz. „Da steht ein Plastikkorb am Zaun. Legt die leeren Flaschen dort rein.“
Die Jungen verabschiedeten sich von den am Lagerfeuer versammelten Leuten und stapften im Licht einer Taschenlampe zu ihrem Zelt.

Während Max im Zelt die Campingmatten ausbreitete und beide Schlafsäcke miteinander verband, verzog sich Cosmin mit Zahnbürste und Zahnpasta nach draußen.
Nach seiner Rückkehr half er Max dabei, den geräumigen Doppelschlafsack mit dem Innenbezug auszukleiden. Danach verließ Max, bewaffnet mit seiner Zahnbürste und der Zahnpasta, das Zelt.
Cosmin schlüpfte aus seinen Sachen und nur im Slip bekleidet glitt er in den Schlafsack. Er lauschte gedämpften Stimmen, die aus einem der benachbarten Zelte ertönten. Sie gehörten vermutlich zu den drei Kletterern, die sich erfolglos an der „Zitterbacke“ versucht hatten.
Cosmin seufzte leise. Die Kondome würden heute Nacht wohl unbenutzt bleiben.
Max kroch zurück ins Zelt. Im Schein der an der am Zeltgestänge baumelnden Campinglampe leuchteten seine Augen wie klare Teiche, die im Licht eines Sonnenuntergangs funkeln.
„Maxi, du guckst jetzt aber auch so wie dieser Knauer“, flüsterte Cosmin. Max grinste nur und schlüpfte ebenfalls aus seinen Sachen. Cosmin versuchte vergeblich so zu tun, als würde ihn das Muskelspiel auf Max’ nacktem Oberkörper und die Beule im Slip darunter kalt lassen. Er fühlte Hitzewellen durch seinen Bauch bis hinauf zu den Ohrenspitzen branden.
„Cos-Mi!“ Max kicherte leise. „Du guckst, als müsstest du mal wieder striffeln.“
Er kroch zu Cosmin in den Schlafsack und zog ihn an sich. „Möchtest du, dass ich dir beim Striffeln helfe?“ Cosmin stöhnte leise auf, als er Max’ Erektion an seinen Lenden spürte. „Maxi, wir sind hier nicht alleine“, zischte er Max ins Ohr. „Du möchtest doch nicht…“
Max erstickte den Rest des Satzes mit einem Kuss. „Wir begnügen uns eben mit der leisen Variante“, flüsterte er und erkundete mit den Fingern die Innenseite von Cosmins Slip, ohne jedoch den knüppelharten Penis darin zu berühren.
Cosmin unterdrückte ein Stöhnen, das wahrscheinlich auch im Nachbarzelt zu hören gewesen wäre. Er zerrte Max’ Slip bis hinunter zu den Knien und versuchte auch den eigenen Penis aus dem textilen Gefängnis zu befreien, doch Max wischte seine Hand beiseite.
„Schon vergessen? Ich bin dafür zuständig!“, hauchte er in Cosmins Ohr und knabberte am Ohrläppchen. „Möchtest du, dass ich dich striffle?“
„Maxi“, japste Cosmin. „Wenn du nicht gleich anfängst damit, striffle ich mich selber.“

Possibile

Cosmin

Cosmin erwachte am nächsten Morgen, weil er spürte, dass etwas fehlte. Es war die Wärme von Max’ nacktem Körper. Sie hatten sich beim Schlafen aneinander geklammert, als würden sie befürchten, der andere könne sich mitten in der Nacht aus dem Staub machen oder in Luft auflösen.
Wo war Max?
Cosmin öffnete die Augen und blinzelte überrascht. Die Zeltwand über ihm glitzerte. Er schabte an der glitzernden Patina und weiße, eisige Flöckchen rieselten ihm ins Gesicht. Die Temperatur war über Nacht im Felsental auf unter Null Grad abgesunken.
Da Max nicht auftauchte, streifte sich Cosmin warme Sachen über und blickte sich suchend im Kopfteil des Zeltes um. Dort hätten vier benutzte Kondome herum liegen müssen, doch er konnte sie nirgends finden.
Er trat aus dem Zelt. Der mit Gehölz überwucherte Abhang, an dem auch der steile Pfad in das Felsental hinunter führte, wurde bereits von der Sonne angestrahlt, während der Talgrund noch im Schatten lag und Reif die Wiesen überzog. Cosmin erblickte Max in der Nähe des Teiches und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Verrückter Kerl!
Max hatte zwei Seilstücke um den Ast eines Baumes geschlungen und zog daran seine morgendlichen Klimmzugserien durch.
„Cos-Mi, hey… wenn dir kalt ist, mach mit hier“, rief Max, als Cosmin sich zu ihm gesellte.
„Und wenn mir nicht kalt ist?“
Max glitt mit einer eleganten Bewegung vom improvisierten Sportgerät. „Dann bist du trotzdem an der Reihe.“
„Na okay.“ Cosmin streifte die warme Jacke ab und griff nach den vom Ast herabhängenden Seilschlingen. „Maxi?“
„Putzmunter!“
„Die Gummis, ich wollte sie irgendwo verstecken und konnte sie nicht finden.“
Max grinste und nickte zu den Resten des abendlichen Lagerfeuers, aus denen immer noch eine dünne Rauchfahne aufstieg. „Die findet niemand mehr. Sie sind längst verdampft.“

Während die Jungen anschließend an einem der Tische frisch gebrühten Kaffee schlürften und sich Oma Lisas Pfannkuchen schmecken ließen, schafften es die Strahlen der Märzsonne endlich bis ins Tal. Sie ließen den Reif auf den Wiesen verschwinden, als wäre er nur ein nächtlicher Spuk gewesen und lockten auch andere Camper aus ihren Zelten.
Kristin und Gerd traten an den Tisch heran und grüßten beide Jungen. Gerd zeigte auf die Wand mit den schwierigsten Routen des Steinbruchs, in deren Schatten sich der Frost der Nacht vor der Wärme des Tages versteckte. „Max, ich glaube, wir warten lieber, bis es etwas wärmer ist.“
Max reckte den Daumen. „Im Moment ist Possibile ziemlich impossibile.“
Nach dem Frühstück wählte Max an den von der Sonne aufgewärmten Felswänden einige kurze Routen aus, an denen er verschiedene Klettertechniken demonstrierte.

Am späten Vormittag hatte die Frühlingssonne die nächtliche Kälte auch aus dem hintersten Winkel des Talgrundes vertrieben und die ersten Kletterer hangelten in T - Shirts und halblangen Hosen die Wände hinauf.
Inzwischen war das Camp auf acht Zelte angewachsen und an die zwanzig Kletterer tummelten sich im Felsental.
Doch als Max und Gerd letzte Vorbereitungen für den Einstieg in die Possibile Route trafen, machten es sich die meisten Leute auf der Wiese in der Nähe des Wandfußes bequem. Nicht alle Tage bekam man die Gelegenheit, bei der Durchsteigung einer Route zuzuschauen, die vermutlich nur eine Handvoll Kletterer des Landes bis zum oberen Ende schaffte. Kristin und Cosmin hockten zusammen auf einem Felsbrocken, um von dort aus Max und Gerd die Daumen zu drücken.
Cosmin bemerkte, dass beinahe jeder Zuschauer Max’ geradezu katzenhafte Bewegungen an der glatten Wand aus aufgerissenen Augen und aufgesperrten Mündern verfolgte. Die nur an schwachen Magnesiaspuren erkennbaren Griffe und Tritte waren vermutlich schmaler als ein Finger, zudem hing die Wand auf ihrer gesamten Länge etwas über.
Erst etwa zehn Meter unterhalb der oberen Felskante schienen Max die Kräfte zu verlassen. Er hockte wie ein Frosch kurz vor dem Sprung in der Wand, die Knie beinahe in derselben Höhe wie die Finger, die sich an unsichtbaren Griffe klammerten.
Cosmin stieß den angehaltenen Atem aus. „Was tut er da?“
Kristin beschattete mit der Hand ihre Augen. „Ich glaube, er muss die nächsten Griffe anspringen.“
„Anspringen?“, keuchte Cosmin. „Wie soll denn das…“
Max stieß sich wie ein hüpfender Frosch von den Tritten ab, doch wonach auch immer er mit der rechten Hand zu schnappen suchte, er verfehlte es und baumelte plötzlich etwa fünf Meter tiefer am Seil. Nach einer Verschnaufpause griff Max ins Seil und hangelte zurück zum Haken, wo er sich ein paar Minuten ausruhte, ehe er sich aufrichtete und erneut zum Sprung ansetzte.
Cosmin hielt den Atem an.
Max schnellte nach oben, hing jäh mit der rechten Hand an einem Griff und zog sich daran soweit hoch, dass die linke Hand ebenfalls etwas zu fassen bekam. Mit einer blitzschnellen Bewegung klinkte er das Seil zusammen mit dem an der Expressschlinge befestigten Karabiner in den nächsten Haken ein.
„Los Maxi, du schafft es!“, stieß Cosmin aus und so, als hätte Max den Anfeuerungsruf gehört, hangelte er mit einigen schier unmöglich erscheinenden Verrenkungen zum Abseilring an der oberen Felskante. Ringsum brandete Beifall und anerkennendes Gemurmel auf.
Max gönnte sich eine Verschnaufpause und zog dann so lange das Seil durch den Ring, bis beide Enden auf dem Boden lagen. Das Seil hatte also eine Länge von mindestens achtzig Metern. Ein Strang verlief durch die Karabiner an der Felswand, der andere Strang hing frei herunter und sein Ende war etwa fünf Meter von der Wand entfernt auf dem Boden gelandet. Offensichtlich hing die Felswand viel stärker über, als es auf dem ersten Blick erschien.
Kurz darauf begann Gerd, gesichert von Max, sich in der glatten Wand nach oben zu kämpfen. Obwohl Gerd die Fünfzig längst überschritten hatte, erreichte auch er das obere Ende der Route, wenngleich er an den meisten Haken ausruhen und manchmal auch die Expressschlingen an den Haken als Griffe benutzen musste. Erneut brandete Beifall auf.
Als Max endlich wieder auf festem Boden stand, eilte Cosmin zu ihm und nahm ihn kurz in die Arme. „Du warst unglaublich, Maxi.“
„Ach was!“ Max löste das Seil mit dem Abseilgerät aus dem Gurt und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn. „Mir geht’s wie dir mit der Zitterbacke. Ich hätte das Teil gerne ohne Sturz und die zwei Kunstpausen geklettert.“

Nach einem Mittagsimbiss setzten Gerd und Max die Kletterei an den schwersten Routen im Steinbruch fort, wo Gerd ebenfalls die Sicherungshaken überprüfen wollte.
Kristin führte Cosmin zu den aus dem Dickicht heraus ragenden Felswänden auf der gegenüberliegenden Seite des Talgrunds. Sie waren teilweise nur zehn Meter hoch und dienten ihr in den Kletterkursen als Übungsfelsen.
Cosmin erfuhr, dass Kristin auch als Lehrerin arbeitete, was vermutlich ihre Geduld beim Erläutern und Demonstrieren verschiedener Sicherungs - und Klettertechniken erklärte.
Sie hatte keine Einwände, als Cosmin ihr sagte, er würde die „Zitterbacke“ gerne noch einmal vorsteigen und die Sicherungen dafür auch selber am Fels anbringen.
Dieses Mal nutzte Cosmin jeden halbwegs guten Stand, Kräfte zu sammeln und das Zittern der Beine unter Kontrolle zu bringen, sowie Keile und Schlingen so im Riss zu verklemmen, wie er es bei Max gesehen hatte. Er überwand die schwierigste Stelle ohne Sturz und sein kurzer Jubelruf am Ende der Route drang offensichtlich bis an Max’ Ohren. Bei einem Blick über die Schulter sah er, dass Max ihm von der glatten Felswand aus zuwinkte und den Daumen reckte.
Cosmin winkte zurück und schüttelte unmerklich mit dem Kopf.
Maxi! Im Vergleich zu dir sehe beim Klettern bestimmt aus wie ein Trampel.

Wie schon am Tag zuvor verbrachten beinahe alle Kletterer den Abend am Lagerfeuer. Gerd reichte jedem der Jungen eine Flasche Radler, als sich Max und Cosmin nach dem Abendessen mit ans Feuer hockten.
Cosmin entging nicht, dass die meisten der anwesenden Kletterer Max mit bewundernden Blicken musterten, die an ihm jedoch wie Regentropfen an einem Fenster abperlten.
Gerd prostete den Jungen mit einer Bierflasche zu. „Max, die Leute hier wollen wissen, wie schwer du ‚Possibile‘ einschätzt“, sagte Gerd nach einem Schluck aus seiner Bierflasche.
Max starrte in die Flammen, als würde er dort nach einer Antwort suchen. „Mit Ausruhen an den Haken vielleicht eine Zehn oder Zehn Plus“, erwiderte er nach einer Weile, ohne den Blick von den lodernden Flammen zu lösen. „Was raus kommt, wenn man durchzieht… null Ahnung, ich hab’s ja nicht geschafft.“
„Du willst es noch einmal versuchen, oder?“, fragte Gerd.
Max warf ein Stück Holz in die Flammen. „Wir haben nur ein Fünfzig Meter Seil. Ich glaub’, damit kann ich die Sache vergessen.“
Gerd tätschelte Max’ Schulter. „Ich bin übrigens in eurem Alter auch auf so einem Moped zum Klettern gefahren. Ich lasse euch mein langes Seil hier. Gebt es zusammen mit dem Kanister und eurem Abfall bei Peter ab. Er bleibt bis Montagabend und bringt mir alles vorbei.“
„Echt? Mann, Gerd… danke.“ Max blickte sich suchend unter den am Lagerfeuer versammelten Männern um. „Sorry Leute, ich kann mir keine Namen merken. Wer von euch ist dieser Peter?“
Cosmin schaute auf und sah, dass ihm der glatzköpfige Mann mit dem ergrauten Vollbart zuzwinkerte. Dann wandte sich der Mann an Max. „Das kann man sich ganz einfach merken, Max. Gerd ist hier der Glatzkopf ohne Bart und Peter der Glatzkopf mit Bart.“

Worauf stoßen wir an?

Cosmin

Am nächsten Morgen war es ein Geräusch wie das leises Trommeln von Fingern auf einer Tischplatte, das Cosmin aus nebulösen Träumen holte. Er öffnete die Augen und sah, dass Max, den Kopf auf dem angewinkelten rechten Arm abgestützt, ihn aus großen Augen anstarrte. Es schien, als würde er versuchen, ein kniffliges Rätsel zu lösen.
Cosmin gähnte. „Warum guckst du so?“, fragte er verschlafen.
Ein Lächeln kräuselte Max’ Lippen. „Ich finde es schön, dir beim Schlafen zuzugucken.“
„Ach so?“ Cosmin runzelte die Stirn. „Rede ich jetzt etwa auch im Schlaf?“
Max’ linke Hand, die eben noch auf Cosmins Bauch gelegen hatte, tauchte aus dem Schlafsack auf und strich die Zotteln aus Cosmins Stirn. „Du ziehst 'ne süße Schnute beim Schlafen, Cos-Mi. Sie ist zum Anbeißen.“
Cosmin kicherte leise. „Für’s Beißen bin ich zuständig, schon vergessen?“ Er nickte zum Zelteingang. „Und jetzt raus mit dir zum Frühsport.“
Max’ Finger spielten mit Cosmins Ohrläppchen. „Hörst du, was ich höre?“
„Oh nee!“ Cosmin ließ den Kopf auf den zum Kopfkissen umfunktionierten Rucksack zurück sinken. „Es schifft!“
Max begrub Cosmin unter sich und strich mit den Lippen über Cosmins Wange. „Ich hätte so eine Idee, wie wir die Zeit totschlagen könnten“, flüsterte er.
Cosmin versuchte vergeblich, Max von sich runter zu schieben.
Das kann ich mir vorstellen!
Als Cosmin am Abend vom Gang in die Büsche und dem Zähneputzen ins Zelt zurückgekehrt war, hatte Max bereits geschlafen.
„Komm schon Cos-Mi, ich merke doch, dass du auch willst, was ich will“, hauchte ihm Max ins Ohr und griff nach Cosmins morgendlicher Erektion.
„Es geht jetzt nicht“, japste Cosmin.
„Ah ja, du musst kacken.“
Cosmin kniff Max in eine Pobacke. „Runter von mir, sonst pinkle ich mir in die Hose.“
„Vergiss nicht, dir vorher eine anzuziehen“, kicherte Max und wälzte sich von Cosmin herunter.

Regenschleier wanderten träge durch das Felsental, als Cosmin ins Freie trat. Abgesehen von überhängenden Wänden hatte der Regen die Felsen ringsum so durchnässt, dass an eine Kletterei zumindest in den nächsten Stunden nicht zu denken war, obwohl der Himmel im Westen bereits aufriss. Aus einigen Zelten drangen gedämpfte Stimmen nach draußen und ein Pärchen kochte im Schutz des Vordachs Kaffee auf einem Kartuschenkocher.
Als Cosmin von der Morgentoilette zurückkehrte, sah er, dass sich Max einen Tainingsanzug übergestreift und ebenfalls Kaffeewasser im Schutz des Vordaches aufgesetzt hatte.

Der nächtliche Regen wich einem bewölkten Himmel, in dem die Sonne hin und wieder eine Lücke fand.
Die Jungen rechneten damit, dass sich die Camper nach dem Frühstück um die wenigen trocken gebliebenen Felswände reißen würden und entschlossen sich, in einem der Supermärkte des Städtchens ihre Lebensmittel - und Trinkwasservorräte aufzufüllen.

Erst am Nachmittag gewann die Sonne die Oberhand über die grauen Wolken. Max steckte offenbar noch die extreme Kletterei vom Vortag in den Knochen. Er begnügte sich nach dem Mittagessen damit, zusammen mit Cosmin den Steinbruch zu erkunden und Kristins Sicherheitstraining und ihren Kletterunterricht für Cosmin fortzusetzen.
Im Supermarkt hatten sich Max und Cosmin neben einigen Flaschen Radler auch mit Grillwürstchen und Grillfleisch eingedeckt. Peter und seine Frau hatten nach Gerds und Kristins Abreise im Steinbruch den Hut auf und gestatteten ihnen am Abend, den Grill zum Rösten ihres Grillfleisches zu benutzen.

Während Max und Cosmin Fleisch und einige der Würstchen rösteten, hockten die meisten Camper wie schon an den Abenden zuvor am Lagerfeuer.
Das Lagerfeuer erhellte auch einen Teil des Campingplatzes; zudem hatte Max die Campinglaterne auf ihren Tisch gestellt.
Cosmin angelte das duftende Fleisch und die Würstchen vom Grill, verteilte sie auf zwei Aluteller und schob einen der Teller auf Max’ Platz. Max öffnete zwei Flaschen Radler und reichte eine davon Cosmin.
„Worauf stoßen wir an?“, fragte Cosmin. Max warf einen Blick über die Schulter und Cosmin folgte diesem Blick. Zwei Tische weiter saßen ein paar Kletterer, die erst am Nachmittag im Steinbruch eingetroffen waren und die sich angeregt unterhielten. An deren Nachbartisch hielt sich ein Pärchen in den Armen und schien im nächtlichen Sternenhimmel nach Glück bringenden Sternschnuppen zu suchen.
Max’ Blick kehrte zu Cosmin zurück. „Dass das mit uns niemals endet.“
Cosmin rechnete kurz nach. Inzwischen waren mehr als sieben Wochen seit ihrer letzten Krise vergangen. „Das wird es nicht… falls wir nicht jedes Mal miteinander Schluss machen, wenn uns ein Mädchen über den Weg läuft“, sagte er leise und prostete Max zu. Ein Lächeln verzauberte Max’ Gesicht.
Cosmin war unfähig, seinen Blick von Max zu lösen.
Er ist wunderschön, wenn er so lächelt.
Und er ist glücklich darüber, dass auch ich für immer mit ihm zusammen bleiben will.
Das Lächeln in Max’ Gesicht verblasste etwas. „Okay, niemals wird nicht klappen. Dann eben bis einer von uns abtritt…“
Cosmins Bierflasche verharrte auf halbem Weg zum Mund. Cosmin wollte den jäh aufblitzenden Gedanken wegwischen wie ein lästiges Insekt, doch der Gedanke bohrte sich wie der Stachel des Insekts in sein Hirn. Was wäre, würde Max durch einen Verkehrsunfall oder einem Absturz bei einer Bergtour aus dem Leben gerissen werden? Max hatte ihm erst vor zwei Tagen erzählt, dass er ohne ihn nicht leben könne.
Mir geht es genauso! Max ist längst zum Mittelpunkt meines Lebens geworden.
„Maxi, bis dahin haben wir noch sechzig oder siebzig Jahre Zeit“, versuchte Cosmin, den düsteren Gedanken beiseite zu fegen. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und schnupperte am duftenden Grillfleisch. „Und jetzt lass uns endlich essen.“
Anders als an den anderen Tagen hatte Max nach dem Abendessen keine Lust, den Rest des Abends am Lagerfeuer zu verbringen und es fiel Cosmin nicht schwer, in Max’ Augen den Grund dafür zu lesen. Allerdings würde sich Max gedulden müssen. Cosmin griff nach dem Handy. Sein Vater hatte am Tage mehrmals versucht, ihn anzurufen und Cosmin war ein bisschen besorgt, dass sein Vater mit dem Alleinsein über Ostern nicht zurecht kam.
Während Max sich zu einer Katzenwäsche an den nahegelegenen Teich begab, wählte Cosmin auf dem Handy die Nummer seines Vaters. Erst nach dem sechsten oder siebenten Rufzeichen nahm sein Vater das Gespräch an.
„Cosmine, mein Junge, ist etwas passiert?“
Cosmin runzelte verblüfft die Stirn. „Tata, schon vergessen? Du hast mich heute ein paar Mal angerufen. Ich dachte, bei dir ist was passiert.“
Sein Vater schien einige Sekunden nach einem Grund für die Anrufe zu suchen. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob ihr… äh wegen des Regens heute Morgen… ob ihr schon heute nach Hause kommt und … äh … euch frohe Ostern wünschen.“
Die Runzeln gruben sich noch etwas tiefer in Cosmins Stirn. Sein Vater klang, als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden.
„Wer ruft dich denn um diese Zeit noch an, Florin?“, hörte Cosmin eine Frauenstimme.
„Mein Sohn. Er will mir frohe Ostern wünschen“, antwortete sein Vater der Frau auf deutsch. „Äh… eine Bekannte aus der Firma, Cosmine“, wandte er sich auf rumänisch an Cosmin. „Sie wäre heute Abend auch allein gewesen und da dachten wir… äh… wir könnten mal ein Glas Wein zusammen trinken.“
Cosmin fand ganz und gar nicht, dass sein Vater wegen des Damenbesuches ein schlechtes Gewissen haben müsse. Ganz im Gegenteil, vielleicht würde sein Vater so endlich den Schmerz über die Scheidung von dessen Frau überwinden. „Ist sie deine Freundin?“
„Cosmine…“ Sein Vater atmete tief durch. „Sie ist nicht die Frau, die ich vermisse. Ist es nicht kalt nachts im Zelt? Habt ihr was Warmes zu essen?“, wechselte er abrupt das Thema.
„Die Schlafsäcke sind sehr warm“, erwiderte Cosmin und verschwieg freilich einige Details. Er erzählte, dass sie sich mit einem Gaskartuschenkocher warme Getränke und auch Suppen zubereiten konnten und dass sie bis Montagnachmittag im Steinbruch bleiben würden.
Max kehrte von der Abendtoilette zurück und setzte sich neben Cosmin an den Tisch. „Dein Alter?“, fragte er, nachdem Cosmin das Gespräch beendet hatte.
„Halt dich fest, Maxi. Mein Vater hat eine Frau zu Besuch.“
„Cos-Mi, was erwartest du? Sich selber striffeln ist auf Dauer ziemlich uncool, oder?“, grinste Max.
Cosmin verscheuchte hastig die Bilder, die sich bei Max’ Bemerkung in seinen Kopf drängelten. „Hör auf, so was zu sagen.“
Das Grinsen in Max’ Gesicht wurde etwas schmaler. „Hey komm schon, dachtest du, dein Alter ist weg davon?“
„Maxi, wenn du nicht gleich aufhörst damit, suche ich für mich eine andere… äh Striffelvorlage“, maulte Cosmin und musste plötzlich selber über den Unfug lachen, den er redete. Max stimmte in Cosmins Lachen ein.
Die Gespräche der Kletterer an den anderen Tischen verstummten kurz. Max winkte ihnen zu, als wolle er ihnen sagen, dass sie weiter machen können und wandte sich wieder Cosmin zu. „Bitte such dir keine andere Striffelvorlage, ich will den Job behalten“, bettelte er mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und erhob sich. „Los Cos-Mi. Wir haben noch viel vor heute.“

Osterüberraschungen

Max

Max erwachte im Morgengrauen, weil das leise Geschmatze und Geschniefe nicht so richtig zum Traum passen wollte, der ihn ins Atelier seiner Mutter teleportiert hatte. Dort hatte er ihr dabei zugeschaut, wie sie Cosmin porträtierte, obwohl der nicht mit im Raum gewesen war.
Max wollte unter keinen Umständen in einen Albtraum abdriften, in dem Cosmin mal wieder spurlos verschwunden war.
Er öffnete die Augen und atmete erleichtert auf. Cosmin war nicht nur nicht verschwunden, er klammerte sich mit allen Vieren an ihn; den Kopf hatte er auf Max’ Schlüsselbein gebettet.
Offenbar ging es in Cosmins Traum ordentlich zur Sache, denn seine Gesichtszüge waren in ständiger Bewegung. Und plötzlich bemerkte Max, dass nicht nur Cosmins Gesichtszüge in ständiger Bewegung waren. Auch Cosmins Unterleib bewegte sich und Max spürte, dass sich dabei Cosmins Erektion an seinem Becken rieb.
Augenblicklich war Max hellwach.
Cos-Mi rubbelt an mir seinen Stängel!
Dabei hatten sie sich am Abend gegenseitig befriedigt, auch wenn er anschließend ziemlich schnell eingenickt war, während Cosmin vielleicht gerne eine zweite Nummer durchgezogen hätte.
Max verrenkte den Hals, um Cosmins Gesicht besser betrachten zu können. Vielleicht hatte er sich dabei etwas zu hastig bewegt, denn jäh erschlafften Cosmins Bewegungen.
Max rührte sich nicht, in der Hoffnung, dass Cosmin in den feuchten Traum zurückfinden würde.
Komm schon, mach weiter!
So, als wäre sein Bitte erhört worden, begann Cosmin sich wieder zu regen.
Ein Grinsen wölbte Max’ Lippen, als er neuerlich die sanften Stöße an seinem Becken verspürte.
Bei dem Gedanken daran, was sich gerade in Cosmins Traum abspielte, regte sich nun auch der kleine Max und wurde rasch größer. Cosmins Geschmatze und Geschniefe ließ Max’ Phantasie geradezu auflodern. Behutsam, um Cosmin nicht aus diesem Traum zu schubsen, griff Max mit der Linken nach der eigenen Erektion. Für ihn als Rechtshänder war das etwas ungewohnt, doch der rechte Arm lag um Cosmins Hüfte.
Cosmins Stöße wurden heftiger und plötzlich spürte Max warme Nässe, die sich über sein Becken ergoss. Cosmin rührte sich nicht mehr, seine Gesichtszüge glätteten sich und zufrieden wie ein sattes Kätzchen setzte er seinen Schlaf fort. Max vergaß für den Moment die eigene Erektion und tastete mit der linken Hand im Kopfteil des Zeltes herum, bis er eines der Papiertaschentücher erwischte.
Vorsichtig begann er damit, die Hinterlassenschaften des feuchten Traums von seinem Becken und Cosmins Bauch zu wischen.
Cosmin hob plötzlich den Kopf und schlug die Augen auf.
„Was machst du da?“, fragte er verschlafen und schien dann zu begreifen, weshalb Max an seinem Bauch herum wischte. „Du hast gestriffelt!“
„Cos-Mi, schrei doch nicht so“, zischte Max und wedelte mit dem durchnässten Taschentuch, ehe er es in eine Ecke warf, in der sie auch die beiden benutzten Kondome abgelegt hatten. „Das Zeug ist von dir, okay? Und dafür, dass du mich wie ein Karnickel gerammelt hast und ich uns sauber machen musste, könntest du mir ein bisschen von deinem Traum erzählen.“
Cosmin starrte Max entgeistert an. „Wir waren bei dir in Berlin und…“ Offenbar fiel nun der Groschen. "Oh Mann, Maxi. So was passiert mir sonst nur, wenn ich lange nicht… " Er verschluckte den Rest des Satzes. „Tut mir Leid, wenn ich du wegen mir nicht schlafen konntest.“
Max zog Cosmin fester an sich und küsste seine Lippen. „Hör auf, dich zu entschuldigen“, flüsterte er. „Ich fand’s geil. Außerdem habe ich nun einmal rammeln gut bei dir.“
Cosmin bettete seinen Kopf wieder auf Max’ Schlüsselbein. „Vergiss es, nicht jetzt“, murmelte er. „Ich will noch etwas schlafen.“
„Warte, ich habe was für dich.“ Max griff hinter sich, kramte in seinen Sachen und reichte Cosmin seine kleine Osterüberraschung, die aussah wie ein in bunte Alufolie eingewickeltes Ei.
Cosmin zögerte. „Maxi, wir hatten ausgemacht, dass wir uns keine…“
„Komm schon, wickel es aus, es ist nur eine Kleinigkeit.“
Cosmin entfernte vorsichtig die Alufolie. „Ein Überraschungsei? Wo ist die Schokolade?“, fragte er.
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Sorry, die hab ich mir gegönnt. Mach’s auf!“
Cosmin hielt das Plastikei an sein Ohr und lauschte, ob was im Inneren klapperte. Dann öffnete er es und entnahm ihm einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel.
„Ein Büchergutschein!“, stieß er aus, nachdem er den Zettel auseinander gefaltet hatte, und er schien nicht zu wissen, ob er sich freuen oder protestieren solle. „Hundert Euro. Maxi, ich will nicht, dass du ständig…“
„Jaja, das sagtest du schon. Cos-Mi, fünfzig sind von meiner Oma, von mir sind nur die anderen fünfzig.“ Max kraulte die Zotteln in Cosmins Nacken. „Kauf’ uns dafür Bücher, die wir ab September brauchen und erklär’ mir, was drin steht.“
Cosmin rutschte etwas höher und hauchte Max einen Kuss auf die Lippen. „Danke, Maxi. Und du willst wirklich Architektur in Dessau studieren?“
Max strich Cosmin schwarze Locken aus dem Gesicht und küsste die gefurchte Stirn. „Ich will mit dir zusammen sein.“
Cosmin seufzte. „Ich habe kein Geschenk für dich.“
„Doch, das hast du.“
„Du denkst an was Versautes, stimmt’s?“
Max zuckte mit den Schultern. „Nicht nur…“ Er ließ offen, womit Cosmin ihn sonst noch beschenken könne. Das sollte Cosmin selber heraus finden.
„Okay…“ Max schloss die Augen. „Lass uns noch ne Runde pennen.“

Als beide Jungen später am Morgen aus dem Zelt krochen, spannte sich trotz der Wettervorhersage, die für den Nachmittag einige Regenschauer oder sogar Graupelschauer ankündigte, ein wolkenloser Himmel über dem Felsental. Die Sonne hatte bereits einen großen Teil des Talgrunds erobert; über den vom Tau durchnässten Wiesen waberten Dampfwölkchen. Aus den Resten des nächtlichen Lagerfeuers kringelte sich eine Rauchfahne kerzengerade in den Morgenhimmel. Die meisten Camper frühstückten an den Tischen und eine Gruppe Kletterer brach zu den von der Sonne beschienen Felswänden auf.

Nach ihrer Morgengymnastik und einem späten Frühstück ließ Max bei der Aufwärmtour an einer mit vielen Bohrhaken gesicherten Route Cosmin den Vortritt.
Anschließend begaben sie sich zur Felswand mit der „Possibile“ - Route.
Cosmin starrte an der Felswand nach oben, die düster über ihren Köpfen aufragte und ihren Schatten in den Talgrund hinein warf. „Ich kapiere nicht, wie jemand da hoch kommt“, murmelte er so, als würde er ein Selbstgespräch führen, während er Gerds Achtzig - Meter - Seil auseinander legte. „Denkst du, dass du es ohne Sturz schaffst?“, wandte er sich an Max.
Max verknotete das Seil in seinem Gurt. Er fühlte sich fit. Er hatte befürchtet, nach Cosmins feuchtem Traum nicht wieder einschlafen zu können und war dann doch noch einmal eingenickt.
„Cos-Mi, dieser Jake ist hier hoch, ohne ins Seil zu rutschen oder an den Haken auszuruhen. Es wäre nett, wenn ich das auch schaffen würde. Gib mir immer genug Seil, wir packen das, okay?“
Er sah, dass Cosmin einen Blick über die Schulter warf. Mindestens ein Dutzend Kletterer hatten es sich in der Nähe bequem gemacht und warteten darauf, dass er in die Route einstieg. Max zuckte mit der Schulter. Die Zuschauer würde er schon nach den ersten Zügen in der Route ausgeblendet haben.
„Ich glaub’s nicht!“, stöhnte Cosmin und verzog plötzlich das Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen.
„Häh, was glaubst du nicht?“, fragte Max und folgte Cosmins Blick. Im selben Moment stockte ihm der Atem. Ein paar Schritte vom Campingplatz entfernt unterhielt sich Gerds Freund Peter mit einem jungen Mann, der nicht nur blendend aussah, sondern auch gekleidet war, als käme er geradewegs von einer Modenschau. Nur der leichte Rucksack auf dem Rücken des Mannes passte nicht so recht zu der vornehmen Kleidung.
Peter deutete in Max’ Richtung und nun wandte sich der Mann zur Felswand mit der Possibile - Route um.
„Leon…?!“
Max winkte seinem Onkel einen Gruß zu und verspürte einen Wirbel widerstreitender Gefühle. Einerseits freute er sich darüber, Leon zu sehen. Andererseits ahnte er, dass Cosmin nicht gerade glücklich über das Zusammentreffen mit Leon sein würde. Zudem fragte er sich, ob es möglicherweise einen weiteren Grund für Leons überraschendes Aufkreuzen im Camp geben könnte.

Bin ich paranoid?

Cosmin

„Was will dein Onkel hier? Ich dachte, er hat eine Freundin“, schnaubte Cosmin leise.
„Ich weiß es nicht, er wollte sie heute Abend von irgendwo abholen.“ Cosmin schien es, als wäre Max’ Freude über das Auftauchen des Onkels nicht ganz ungetrübt.
Leon eilte mit großen Schritten durch den Talgrund und einmal mehr musste sich Cosmin eingestehen, dass Max’ Onkel nicht nur unglaublich gut aussah, sondern sich auch anmutig wie ein Raubtier bewegte, wobei sich Cosmin wie die Beute fühlte.
„Hey mein kleiner Champ, da komme ich ja genau richtig!“, rief Leon, als er den Wandfuß erreichte und zog Max in seine Arme.
„Hi Onkelchen, was für 'ne Überraschung. Wolltest du nicht deine Kleine abholen heute?“
„Jepp, aus Bernburg. Dieser Steinbruch hier liegt praktisch auf dem Weg und hilft mir, die langen Stunden bis zum Abend irgendwie 'rum zu kriegen. Wow, das ist also deine Zehn Plus“, sagte er und musterte die über ihnen aufragende Felswand. „Wahnsinn!“
Er fuhr Max übers Haar, dann wandte er sich zu Cosmin um und streckte die Hand aus. Cosmin benötigte einige Sekunden, ehe er begriff, dass Leon ihn mit einem Handschlag begrüßen wollte. Er ergriff Leons Hand, als würde er fürchten, sie könne beißen.
„Ich frage mich, wieso ich nicht schon bei unserer ersten Begegnung gemerkt habe, dass du Maxis Stiefbruder bist“, sagte Leon mit einem Lächeln auf den Lippen, das die stahlblauen Augen nicht so richtig erreichen wollte. Ohne Cosmins Hand loszulassen, fuhr er fort: „Hättest du Titten und nicht diese Fusseln am Kinn, könnte man dich glatt für die jüngere Schwester deiner Mutter halten.“
Offenbar entging ihm nicht, dass Max scharf die Luft einsog. Leon gab Cosmins Hand frei und klopfte ihm auf die Schulter. „Hey, das ist als Kompliment gemeint, Cosmin. Deine Mutter ist die süßeste Mittdreißigerin, der ich je begegnet bin.“
Cosmin ahnte, was Leon ihm wahrscheinlich mit diesem „Kompliment“ zu sagen versuchte:
Du bist also Max’ hübsche, kleine Freundin!
Er nahm all seinen Mut zusammen, um Leons Blick nicht nur zu erwidern, sondern um auch auf das vergiftete Kompliment zu antworten. „Danke Herr Weller, aber ich fühle mich ganz wohl ohne… äh… Titten und behalte lieber die Fusseln am Kinn.“
Leon tat so, als würde er die Spitze in Cosmins Antwort nicht bemerken. „Sag Leon zu mir, du gehörst ja jetzt quasi zur Familie.“
Er warf einen Blick über die Schulter und deutete auf Peter, der sich mit zwei weiteren Neuankömmlingen unterhielt. „Kontrolliert der alle, die hier klettern wollen, ob sie sich auch ordentlich angemeldet haben?“
„Nur die er nicht kennt, glaub’ ich. Der Kerl, dem der Steinbruch gehört, verlangt vom Verein aus Magdeburg 'ne Pacht“, antwortete Max.
„Kann ich mir vorstellen.“ Leons Blick kehrte zu Max und Cosmin zurück. „Okay, ich muss mich umziehen und meine Sachen irgendwo lassen. Wartet so lange auf mich. Wo ist euer Zelt?“
Max erklärte es ihm und kaum war Leon außer Hörweite, fuhr Cosmin zu Max herum. „Mist, ich habe vergessen, die Kondome weg zu räumen“, zischte er leise, weil sich inzwischen ein Halbkreis aus Zuschauern gebildet hatte.
Max winkte ab. „Krieg’ dich ein, Cos-Mi. Die habe ich in der Glut vergraben.“
Cosmin atmete erleichtert auf, doch im nächsten Moment fiel ihm ein weiteres Problem ein. „Er wird jetzt sehen, dass wir zusammen in einem Schlafsack schlafen“, stöhnte er.
„Das ist doof“, gab Max zu. „Aber er wird’s überleben.“

Einige Minuten später kehrte Leon zurück. Sofern ihm der Doppelschlafsack aufgefallen war, ließ er sich es nicht anmerken.
Er schaute erneut an der Felswand nach oben und als er sich an Cosmin wandte, furchten Sorgenfalten seine Stirn. „Pass gut auf auf meinen kleinen Bruder auf“, sagte er und warf einen prüfenden Blick auf das Sicherungsgerät an Cosmins Gurt.
Cosmin nickte nur. Ohnehin würde er Max keine Sekunde aus den Augen lassen.
„Onkelchen, Cosmin hat mich in Dessau schon dreimal an der Quali gesichert und zig Stürze von mir gehalten!“, beruhigte Max seinen Onkel.
Cosmin seufzte leise. Er hatte abgesehen von den Übungen bislang eigentlich noch keinen einzigen echten Sturz halten müssen. „Maxi, du kannst loslegen. Viel Glück!“
„Kann ich gebrauchen!“, grinste Max, verrieb weißes Magnesiapulver auf seinen Händen und flink wie ein Äffchen kletterte er an kaum sichtbaren Leisten zum ersten Haken. Dort begann der überhängende Teil der Felswand. Max schüttelte abwechselnd die Arme aus und kletterte dann mit geradezu akrobatischen Verrenkungen wieselflink weiter, wobei er hin und wieder nur mit den Fingern einer Hand an der Felswand baumelte und sich mit einer Hand nach oben zog oder Griffe ansprang, die außerhalb seiner Reichweite lagen. Die Zuschauer ringsum verfolgten die Kletterei aus aufgesperrten Mündern und oft genug hörte Cosmin ein „Aah“, „Ooh“ oder „Wow!“
Er sah, dass Leon mit dem Handy Max’ Kletterei filmte und dabei den Oberkörper bewegte, als würde er ebenfalls am Fels hängen.
„Mein Gott!“, entfuhr es Leon, als Max nach einem weiteren Sprung mit den Fingern seiner linken Hand einen Griff erwischte und sowohl die rechte Hand als auch beide Füße in der Luft hingen. „Der Bengel klettert inzwischen in einer anderen Liga.“ Unüberhörbarer Stolz schwang in seiner Stimme mit.
Max erreichte viel schneller als zwei Tage zuvor den Abseilring am oberen Haken, wohl auch, weil er die Route nun schon zum dritten Mal kletterte. Erst dort gönnte er sich eine Pause und schüttelte erneut die völlig erschöpften Arme aus. Viele der Zuschauer klatschten. Leon strahlte wie ein Lottogewinner und winkte Max mit dem gereckten Daumen. Cosmin versuchte sich vorzustellen, wie Leon als Teenager den zwei- oder dreijährigen Max mit Liegestützen, Klimmzügen und Karatetraining gestriezt hatte. Zweifellos war Leon auch stolz darauf, das durch dieses Training Max zu einem absoluten Spitzensportler geworden war.
Max klinkte eine an seinem Gurt befestigte Schlinge in das nach unten verlaufende Seil ein.
„Lass mich langsam ab!“, rief er Cosmin zu und während er Stück für Stück abwärts glitt, hangelte er sich an jeden Haken, um das Seil daraus zu lösen und alle seine Expressschlingen einzusammeln. Als Max wenige Meter über dem Boden das Seil aus dem letzten Haken löste, sauste er etwa sieben oder acht Meter aus der Wand und pendelte wieder zu ihr zurück. Cosmin wartete, bis die Pendelbewegung abebbte und seilte Max dann bis zum Boden ab.

In Leons Beisein wagte er es nicht, Max zu umarmen. „Maxi, du warst unglaublich, du hast es geschafft!“, raunte er ihm zu und tätschelte Max’ Schulter.
„Und jetzt bin ich geschafft, Cos-Mi. Aber total…“, japste Max.
Leon schnappte Max, zog ihn in seine Arme und zauste Max’ langes Haar. „Was für eine Nummer, Champ“, rief er.
„Hab einen großen Bruder, der mir so was beigebracht hat“, entgegnete Max und erwiderte Leons Umarmung. Ein leiser Stich fuhr durch Cosmins Brust. Würde sich Max eines Tages vielleicht doch zwischen ihm und Leon entscheiden müssen?
„Und? Was ziehen wir jetzt durch?“, fragte Leon. Er beließ einen Arm um Max’ Schulter und ließ seinen Blick über die Wände des Steinbruchs schweifen. „Das da sieht interessant aus.“ Leon deutete auf den Felswinkel, durch den die „Zitterbacke“ - Route führte.
Max wischte eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Onkelchen, ich brauch’ ne Pause. Cos-Mi, ist es okay für dich, das mit Leon zu klettern?“
Cosmin schaute zu Leon und für einige Sekunden kreuzten sich ihre Blicke. Im ersten Moment glaubte Cosmin, in Leons Augen Widerwillen und eisige Abneigung zu erkennen, doch gleich darauf taute Leons Gesicht auf. So, als hätte er einen jähen Sinneswandel, und als würde er plötzlich Sympathie für Cosmin empfinden, huschte ein Lächeln über seine Lippen. „Wie ich hörte, bist du ein Naturtalent, Cosmin“, sagte Leon freundlich. Er schulterte seinen Rucksack. „Zieh’n wir das zusammen durch?“
Cosmin zögerte einen Augenblick, in dem er sich in der Route abrutschen sah, ohne dass Leon diesen Sturz hielt. Leon wäre sicher nicht traurig darüber, würde er aus Max’ Leben verschwinden.
Bin ich paranoid?
Er wischte er diesen albtraumhaften und vermutlich auch idiotischen Gedanken beiseite und nickte. „Ich habe die Route schon mal geklettert. Wenn du möchtest, kannst du vorsteigen“, erwiderte er.
Und weißt du warum?
Weil ich Schiss habe, von dir gesichert an meiner Leistungsgrenze vorzusteigen.

Der einsame Steinbruch am Petersberg

Max

Max fühlte, dass die Kraft nur zögerlich in seine erschöpften Arme und noch etwas schmerzenden Finger zurück tröpfelte. Dennoch hätte er die „Zitterbacke“ - Route auch ohne Zittern geschafft. Aber er hoffte vor allem, dass sich Cosmin und Leon bei einer gemeinsamen Kletterei näher kommen würden.
Es lief sogar noch besser, als Max es sich erhofft hatte. Leon demonstrierte Cosmin, wie man ein achtzig Meter langes Seil kräftesparend zusammenlegen konnte und als sie zusammen durch die Wiese zum Felswinkel mit der „Zitterpartie“ stapften, schien es fast so, als hätte Leon Cosmin als zweiten Neffen adoptiert.
Einige der Zuschauer versuchten, Max zu „Possibile“ oder seinen Trainingsmethoden Löcher in den Bauch zu fragen. Max griff nach Cosmins üblicher Ausrede und entschuldigte sich damit, dass er dringend auf den Topf müsse.
Doch statt sich zum Dixi - Klo zu begeben, kroch er ins Zelt und streckte sich im Schlafsack aus. Ein paar Minuten Ruhe würden ihn wieder zu Kräften kommen lassen.
Aus den paar Minuten wurden ein paar Stunden.
Ein Prasseln riss Max aus einem Traum, der sich schnell verflüchtigte. Es klang, als würden tausende von Glasperlen auf eine Tischplatte purzeln.
Max erhob sich und spähte aus dem Zelt. Ein Vorhang aus Graupelkörnern verschleierte die Sicht auf die Felswände. Sie hinterließen auf den Wiesen eine dünne Schicht aus Matsch.
„Ich glaub’s nicht“, stöhnte Max und sah, dass mehrere Kletterer unter überhängenden Wänden Schutz vor dem Graupelschauer gesucht hatten.

Allmählich lichteten sich die Schleier und erste Wolkenlücken kündigten das Ende des Gestöbers aus Eiskörnern an. Nun erblickte Max auch Leon und Cosmin unterhalb des Felswinkels mit der „Zitterbacke“. Max’ Herz machte einen Freudensprung als er sah, dass sein Onkel Cosmin Klettertechniken demonstrierte. Offenbar war nicht nur das Eis zwischen den beiden geschmolzen. Wie es aussah, hatte er Leon hinter sich, wenn er eines Tages auch seinem Vater gestehen musste, dass er hoffnungslos in den Stiefbruder verliebt war.
Die letzten Graupelkörner teilten sich den Talgrund mit den ersten Sonnenstrahlen. Der Graupelschauer hatte die Luft stark abgekühlt und so schlüpfte Max ins Zelt zurück, um sich eine Jacke überzustreifen.
Draußen knirschten Schritte und gleich darauf steckte Leon den Kopf durch den Zelteingang.
„Ausgeschlafen, Schlafmütze?“, grinste er und zauste Max’ ohnehin zerwursteltes Haar.
„Glaub’ schon. Seid ihr klar gekommen ohne mich?“
„Hab’ noch ne Acht abreißen können, bevor der Schneesturm losging. Und Cosmin hat sich beim Nachstieg wacker geschlagen.“
„So wacker nun auch wieder nicht“, ertönte Cosmins Stimme von draußen. „Ich bin bestimmt zehnmal ins Seil gerutscht.“
„Drei Mal“, korrigierte ihn Leon und wandte sich wieder an Max. „Das Klettern können wir erst mal vergessen. Was hältst du davon, wenn wir hier irgendwo was futtern und dann zum Steinbruch am Petersberg düsen, um uns dort mal umzuschauen. Der soll nicht so überlaufen sein wie dieser hier.“
Max nickte. „Klingt wie ein guter Plan.“

Auf dem Parkplatz oberhalb des Steinbruchs erlebte Max eine faustdicke Überraschung. Er hatte erwartet, dass Leon mit seinem Porsche angereist war, stattdessen begab sich Leon zu einem Skoda Geländewagen mit slowakischem Kennzeichen.
„Du hast ein neues Auto?“, fragte Max verdattert. Leon legte Max die Hand auf die Schulter und schob ihn zur Fahrertür. „Du darfst schon mal den Fahrersitz probieren, Champ. Falls du beim Pferderennen gewinnst, wird die Karre mein nachträgliches Geburtstagsgeschenk zu deinem Achtzehnten.“
„Wow, Onkelchen…“ Max fuhr kurz zu Cosmin herum. „Cos-Mi, ist das nicht geil? Damit werden wir zusammen nach Rumänien kutschen!“
Noch ehe Cosmin antworten konnte, drehte sich Max zu seinem Onkel um. Für einen Moment sah es aus, als würde ein Schatten Leons Gesicht verdunkeln. Max umarmte seinen Onkel und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich werde Tang fertig machen, ich versprech’s“
„Dann sehe ich dich nächstes Wochenende in Berlin und hoffe, dass du mir beim Training den Hintern versohlst.“
Da Max und Cosmin nur Trainingsanzüge trugen, kehrten sie in ein preiswertes Lokal in einem Dorf in der Nähe des Petersbergs - eines sich weithin sichtbar aus der ansonsten flachen Landschaft erhebenden Hügels - ein und setzten nach dem verspäteten Mittagessen die Fahrt fort.

Am Petersberg gab es zwei verlassene Steinbrüche. Der Grund des größeren Steinbruchs war fast vollständig von einem See bedeckt, den man an den meisten Stellen nur durch Abseilen erreichen konnte. Leon, Max und Cosmin warfen von einem Zaun aus einen Blick hinunter auf den See und folgten dann einem teilweise von kniehohem Gestrüpp überwucherten Hohlweg. Er führte in den anderen Steinbruch, vorbei an einer mit Zacken und Vorsprüngen übersäten, teils überhängenden Felswand. Der Pfad endete an einer nahezu glatten Wand. Dort versuchte sich ein Bursche in Max’ Alter an einem Riss, gesichert von einem gleichaltrigen Mädchen. Der Graupelschauer hatte offenbar diesen Steinbruch verschont, denn sowohl die Wiesen im Steinbruch als auch die Felsen waren trocken. Cosmin starrte auf ein einsames Zelt, das nahe am Ufer eines Teiches von vielleicht zwanzig Metern Durchmesser stand und warf Max einen Blick zu.
Max fragte sich, ob Cosmin gerade dasselbe durch den Kopf ging wie ihm selber. Die beiden Camper waren hier völlig ungestört und hatten sich in der Nacht sicher nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, ob in einem der Nachbarzelte ein heimlicher Lauscher mithörte. Allerdings musste man dafür in Kauf nehmen, dass die Felswände in diesem Steinbruch nur etwa halb so hoch waren wie im Löbejüner Felsental.
„Irgendwie gefällt es mir hier besser als in eurem Kletterparadies“, meinte nun auch Leon und schaute sich im Steinbruch um. „Nur zwei Leute, kein Anstehen an den Top Kletterwegen. Gibt’s hier ein paar Achter oder Neuner?“
Max blätterte in Gerds Kletterführer. Gerd hatte ihm erzählt, dass der Magdeburger Kletterverein auch diesen Steinbruch betreute und alle Routen gut gesichert waren. Er deutete auf die Wand, an der sich der Kletterer vergeblich am Riss abmühte und offenbar nicht besonders begeistert über die unerwarteten Besucher war. „Schade, wir haben unser Kletterzeug nicht dabei. Dort gibt es vier Achter und zwei Neuner.“
Max war dennoch froh darüber, dass sie die Tour zum Petersberg unternommen hatten. Er war sicher, dass er beim nächsten Campingausflug mit Cosmin in diesen Steinbruch fahren würde.

Nach der Erkundungstour brachte Leon die Jungen wieder zum Parkplatz oberhalb des Felsentals zurück und verabschiedete sich dort von ihnen.
Auch wenn nach dem Graupelschauer einige der Kletterer abgereist waren, standen am Abend immer noch sechs Zelte auf dem Campingplatz.
Über dem Talgrund wölbte sich ein sternenklarer Himmel. Die meisten Kletterer wärmten sich am allabendlichen Lagerfeuer, während Max und Cosmin ihr Grillfleisch und die restlichen Würste verzehrten. Max bemerkte im Licht der Campinglaterne, dass Cosmin auf seinen Aluteller starrte und dabei ein Gesicht zog, als wäre er auf einer Beerdigung.
Er tätschelte Cosmins Arm. „Alles okay mit dir, Cos-Mi?“
Cosmin hob den Blick. „Maxi, ich finde es schade, dass wir morgen wieder abhauen müssen. Ich glaube, ich hatte noch nie so tolle Ostern.“
Da an einem der anderen Tische Camper saßen, wagte es Max nicht, Cosmin an sich zu ziehen. Er begnügte sich damit, sein Bein gegen Cosmins Bein zu pressen. „Ich habe ein Moped, okay? Bald sogar ein Auto. Wir können auch mal in der Woche zelten. Tagsüber klettern wir und abends pauken wir für die Prüfungen.“
Cosmin erwiderte Max’ Füßelei unter dem Tisch. „Maxi, der andere Steinbruch war auch nicht schlecht.“
Cosmins Berührungen jagten erste Stromstöße durch Max’ Lenden. „In der Woche wären wir beide ganz alleine dort.“
Cosmins Augen schienen im Licht der Camingleuchte zu erglühen. „Du denkst schon wieder an was Versautes, Maxi.“
„Du etwa nicht?“
Cosmin ließ die Frage unbeantwortet, aber Max las die Antwort in dessen glühenden Augen.
„Cos-Mi?“
„Hm?“
„Ich bin froh, dass du und Leon, dass ihr euch so gut verstanden habt. Ich glaub’, er akzeptiert das mit uns.“
Das Glühen in Cosmins Augen erlosch. Cosmin schob sich ein Stück Fleisch in den Mund und kaute darauf herum, als würde er Zeit schinden, um sich eine Antwort zurecht zu legen.
„Maxi, irgend etwas stimmt nicht mit ihm“, sagte er schließlich. „Es war, als hätte Leon zwei Gesichter. Ein nettes Gesicht, wenn wir uns unterhielten oder ich ihn anguckte. Aber wenn ich ihm den Rücken zukehrte… dann hatte er ein anderes Gesicht. Und das war nicht nett, glaub’ ich.“
Max stöhnte leise auf. „Jetzt klingst du echt paranoid. Und außerdem, woher willst du das wissen?“ Er zauste die Zotteln in Cosmins Nacken. „Hast du da irgendwo noch ein Auge?“

Ich will dir was zeigen!

Max

Nach dem Camping- und Kletterabenteuer mit Cosmin im Löbejüner Felsental begannen sich die Gedanken an die bevorstehenden Prüfungen wie ungebetene Gäste in Max’ Kopf hinein zu schleichen und weigerten sich, wieder zu verschwinden. Die Klassenleiterin Frau Dr. Meyer hatte vor der Physikprüfung versprochen, dass sie die Ergebnisse spätestens zum Ende der zweiten Woche nach Ostern bekannt geben würde.
Max hatte längst durchgerechnet, dass ein Notendurchschnitt von 2,5 in weite Ferne rückte, wenn es in der Physikprüfung nicht zu einer Zwei gereicht hatte.
Da für die zwölften Klassen der reguläre Schulunterricht beendet war, gönnte Max seinem Wecker eine Auszeit und stieg nicht vor 8 Uhr aus seinem Bett. Zugleich verdoppelte er die Zeit für sein morgendliches Fitnessprogramm auf dreißig Minuten und genoss es, anschließend ohne Zeitdruck unter der Dusche zu stehen und den Schweiß von seinem durchtrainierten Körper zu spülen.

Am Mittwoch nach dem Osterwochenende war es bereits 9 Uhr durch, als Max die Treppe vom Obergeschoss zum Wohnzimmer seiner Oma hinunter stieg.
Oma Lisa saß am Wohnzimmertisch, auf dem sie für Max das Frühstück vorbereitet hatte. Sie telefonierte und Max bekam noch den letzten Satz mit, bevor sie das Gespräch beendete.
„Vielen Dank Frau Dr. Meyer. Ich werde es ihm ausrichten.“
Max runzelte die Stirn. „Moin Omi, was sollst du mir ausrichten?“
Seine Oma strahlte, als wären ihr zwanzig Jahre vom Lebensalter gestrichen worden. Sie erhob sich und zauste Max’ frisch nach hinten gekämmtes Haar, sodass es ihm wieder im Gesicht hing.
„Omi… Ich hab 'ne Stunde gebraucht, um mich durchzustylen“, nörgelte er.
„… jaja, wenn wir die Zeit für deinen Frühsport und die Dusche mit rechnen. Maxi, du hast in der Physikprüfung eine Zwei geschafft!“
„Echt?“ Max stieß einen kurzen Jubelruf aus. „Und das hat sie dir verraten?“
„Ich glaube, sie mag dich“, erwiderte seine Oma und fuhr fort: „Sie möchte, dass du dran bleibst und wollte dich wahrscheinlich motivieren, nicht nur ans Klettern und Boxen zu denken.“
„Ich bleib dran“, versprach Max. „Hat sie auch Cosmins Note verraten?“
Oma Lisa lächelte. „Nicht direkt. Nur, dass es bei Cosmin anders als bei dir keine Überraschung gab.“
„Alles klaro, dann hat er mal wieder hundert Prozent geschafft!“

Noch während des Frühstücks rief er Cosmin an.
„Maxi, ich habe dir doch gesagt, du schaffst es!“, sagte Cosmin, nachdem Max ihm von seiner Prüfungsnote erzählt hatte. „Nun müssen wir uns auf Mathe konzentrieren. Du kommst doch nach dem Mittagessen zu mir, oder?“
„Das ist der Plan. Und danach Krafttraining bei mir. Sag mal, willst du nicht wissen, ob Frau Meyer was über dein Ergebnis gezwitschert hat?“
„Hat sie?“
„Sie sagte, bei dir gab’s keine Überraschung.“
„Das überrascht mich nicht.“
„Angeber!“
Max warf einen Blick auf die halb offen stehende Küchentür und lauschte kurz den Geräuschen, die aus der Küche drangen. Seine Oma räumte offenbar Geschirr in die Küchenschränke.
„Was macht dein Alter?“, fragte er mit gedämpfter Stimme.
Cosmins Seufzen beantwortete bereits die Frage. „Dasselbe wie gestern. Sie arbeiten hier in der Nähe.“
„Mist!“

Nach dem Frühstück traf Simon ein und gemeinsam begaben sie sich auf den Dachboden. Das Pferderennen rückte unerbittlich näher und immer öfter raubten ihm auch Erinnerungen an Tangs blutige Siege beim letzten Pferderennen den Schlaf. Max war sicher, dass Tang ihn windelweich prügeln wollte, und er war keineswegs sicher, ob er es schaffen würde, den Spieß umzudrehen und sich so auch Leons Skoda Kodiaq als Siegprämie zu verdienen.
Simon bereitete sich inzwischen auf die Prüfung zum zweiten Dan vor. Sie übten fast zwei Stunden lang zusammen Würfe, die Simon bei der Prüfung beherrschen musste und wie sie sich mit Martial - Arts - Techniken kombinieren ließen.
Als Max kurz nach 13 Uhr die Eingangstreppe des Plattenbaus hinauf stieg, in dem Cosmin mit seinem Vater wohnte, hörte er bereits den Türöffner summen. Offenbar hatte Cosmin am Fenster gestanden und - verborgen von der Gardine - auf die Straße hinunter gespäht. Er nickte einem stoppelbrtigen Mann einen Gruß zu, der wieder einmal zwei Etagen über Cosmins Zimmer aus dem Fenster guckte und betrat des Treppenhaus.
Cosmin erwartete Max an der Wohnungstür. Das Getrappel von Schritten hallte von der darüber liegenden Etage durch das Treppenhaus. Er zog Max rasch in den Korridor und kaum hatte sich die Wohnunungstür geschlossen, hauchte er Max einen Kuss auf die Lippen. „Glückwunsch Maxi. Noch eine Zwei in Mathe und du hast die 2,5 so gut wie in der Tasche.“
Max umfasste mit beiden Händen Cosmins Gesicht. Es fühlte sich heiß an, zudem schien es wieder einmal, als würden Cosmins Augen glühen. „Cos-Mi, ohne dich wäre ich erledigt.“
Max bemerkte, dass sich etwas in Cosmins Jogginghose regte. Er fand es seltsam, dass Cosmin keine Jeans trug, bei denen so etwas nicht sofort auffiel, zumal dessen Vater jederzeit hier aufkreuzen konnte. „Ähm Cos-Mi… du hast da was in der Hose. Noch nicht gestriffelt heute?“
Cosmin kicherte leise und zog Max mit sich zum Schreibtisch in seinem Zimmer. „Das habe ich mir für später aufgehoben.“
Max sah, dass Cosmin mehrere Arbeitszettel mit Matheaufgaben vorbereitet hatte. Er stöhnte leise. „Komm, wir gehen das langsam an“, sagte er und versuchte Cosmin zur Couch zu ziehen.
Cosmin zerrte Max zurück und deutete auf einen der Zettel. „Maxi, wenn du die Aufgabe richtig löst, habe ich eine schlechte Nachricht für dich.“
„Ach echt? Da kann ich natürlich nicht widerstehen“, sagte Max und hockte sich an den Schreibtisch. Da Cosmin gut drauf zu sein schien, konnte die Nachricht so schlecht nicht sein.
„Spucks aus!“
„Erst rechnen!“
„Nö, erst die schlechte Nachricht!“
Cosmin gab sich geschlagen. „Na gut, ich habe dich angelogen.“
Max starrte verdutzt in Cosmins glühende Augen. „Hä?“
„Mein Vater wurde heute von seinem Chef nach Harzgerode geschickt und ist nicht vor um acht zu Hause.“
Ein Hitzeschwall schoss durch Max’ Bauch bis hinauf zu den Ohrenspitzen. „So ein Mist!“, fluchte er und flutschte vom Stuhl, wobei er auch Cosmin auf die Füße zog. Anders als noch vor einer Minute wehrte sich Cosmin nicht, als Max ihn mit sich zur Couch riss. Im Gegenteil, fast schien es, als wolle ihn Cosmin auf dem Weg zur Couch überholen.
Max half ihm, die Couch auszuziehen. „Bist du sicher, dass dein Alter erst heute Abend nach Hause kommt?“, fragte er, als sie sich auf der Coch ausstreckten und gegenseitig in die Arme nahmen. Cosmin strich Max die Haare in den Nacken und gleich darauf spürte Max heiße Lippen an seinem Hals. So, als wären sie mit Elektrizität geladen, jagten sie Stromstöße durch seinen Körper.
„Er wusste nicht mal, ob sie heute fertig werden dort oder ob sie sich ein Zimmer nehmen müssen“, hauchte ihm Cosmin ins Ohr.
„Was für ein Pech!“, jubelte Max und griff mit der rechten Hand nach der Beule in Cosmins Jogginghose. Mit der linken Hand half er Cosmin, der versuchte, ihm die Jeans von den Beinen zu streifen. Ein Kleidungsstück nach dem anderen flog in hohem Bogen von der Couch, bis sich beide Jungen nackt aneinander schmiegten und sich gegenseitig mit Küssen bedeckten. Sie begannen zugleich miteinander zu ringen, als wolle der eine den anderen unter sich begraben. Max ergab sich schließlich und ließ sich von Cosmin auf den Rücken wälzen.
„Maxi!“, keuchte ihm Cosmin ins Ohr.
„Oh Mann!“, japste Max.
„Lass es uns… richtig machen. Du weißt schon wie.“
Max wusste. „Hast du denn… du weißt schon was?“
„Wir improvisieren.“

Eine Stunde später streckte sich Max verschwitzt und völlig erschöpft auf der Couch aus. Cosmin bettete den Kopf auf Max’ Schlüsselbein und Max ließ seine Hände auf Cosmins Pobacken ruhen.
Der Bengel hat mich zweimal hintereinander begattet. Wie geht so was?
Eine Antwort darauf fand Max nicht, stattdessen glitt er hinüber in einen Traum, der ihn zusammen mit Cosmin in sein Zimmer in der elterlichen Wohnung teleportierte.
Ein leiser Schreck durchfuhr ihn, als er bemerkte, dass sie immer noch nackt auf der Couch lagen und die Klamotten im fernen Dessau zurückgelassen hatten.
Sie waren nicht allein im Zimmer. Sein Vater saß zusammen mit Camelia am Schreibtisch. Camelia winkte ihm mit einem Apfel in der Hand zu. Sein Vater stand auf und trat an die Couch. „Maximilian, gib ihr Cosmin zurück!“
Max zog Cosmin fester an sich. „Vergiss es!“
„Sie liebt ihn immer noch.“
„Aber er liebt die nicht, Cosmin liebt mich!“, protestierte Max.
Plötzlich war Camelia über ihm, fauchte wie eine wütende Katze und versuchte, Cosmin von ihm weg zu zerren. „Gib ihn mir!“
Max stieß sie weg. „Du bekommst ihn nicht! Cosmin gehört zu mir, ich liebe ihn.“
„Hey, pass doch auf!“, rief Cosmin.
„Hä… ?“ Max blinzelte verwirrt. Cosmin hielt sich die Nase und die Couch war wieder dort, wo sie hingehörte - in Cosmins Zimmer.
„Oh Mist, war ich das?“, fragte Max erschrocken. Cosmin ließ die Nase los, stützte den Kopf auf den angewinkelten Arm ab und betrachtete Max’ Gesicht aus großen Augen. Ein Lächeln wölbte seine Lippen.
„Nichts passiert! Wer wollte mich denn haben, Maxi?“
Max stieß den Atem aus. Der Traum war dermaßen intensiv gewesen, dass er sich an jedes Detail erinnerte. „Ich habe mal wieder gequatscht, was? Mein Alter sagte, dass ich dich an an deine Ex zurückgeben soll und plötzlich war die da und wollte dich schnappen. Hab ich auch gesagt, warum ich dich nicht zurück geben wollte?“
Cosmin zögerte und nickte dann.
Max versenkte seinen Blick in Cosmins Augen. Er hoffte, dass Cosmin endlich auch die Worte fand, die er in diesen schwarzen Augen las.
Doch Cosmins Lippen blieben geschlossen.
Cosmin löste sich aus Max’ Armen und stapfte nackt zu seinem Schreibtisch.
Max runzelte die Stirn und erhob sich ebenfalls. „Darf man fragen, was du da treibst?“
„Bleib dort! Ich will dir was zeigen“, murmelte Cosmin, hockte sich an den Schreibtisch und kritzelte etwas auf einen Zettel.
„Okay, du kannst gucken kommen!“, rief ihm Cosmin kurz darauf zu.
Max sprang auf und spähte über Cosmins Schulter. Ihm stockte der Atem, als er einen Blick auf den Zettel warf. Cosmin hatte einen nackten Mann mit lockigen schwarzen Haaren sowie einem lächelnden Gesicht skizziert und ihn mit „Cosmin“ beschriftet. Max’ Augen verharrten kurz auf dem Penis und dem darüber liegenden Gebüsch und hefteten sich dann auf die Brust des Mannes, in die ein etwas zu groß geratenes Herz eingezeichnet war. Im Inneren des Herzens stand in großen Lettern „MAX“.
Okay, vergiss die Worte!
Wärme durchflutete Max’ Brust.
Er sagt es mir mit einem Bild.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel

Max

Beim Training am nächsten Vormittag schlüpfte Max in die Rolle des Angreifers. Anders als bei den Kontern am Vortag schaffte es Max nur selten, Leons Deckung zu durchbrechen oder ihn gar aufs Kreuz zu legen. Leon wollte sich deshalb künftig vor allem auf die Verbesserung von Max’ Angriffstechniken konzentrieren.
Nach dem Kampftraining hangelten sie in Leons Garten eine Stunde lang den künstlichen Kletterfelsen rauf und runter, bis ein Regenguss der Kletterei ein jähes Ende setzte.

Ursprünglich hatte Max geplant, seine Berliner Kumpel Oskar und Nicholas am Sonntagnachmittag zu besuchen. Da er jedoch die Rückfahrt nach Dessau um vier Stunden vorverlegt hatte, traf er sich nach dem Besuch bei seinem Vater mit den beiden sowie einigen anderen Leuten der ehemaligen Berliner Klasse in einem relativ billigen Gartenlokal im Berliner Westend.

Wie schon am Tag zuvor verbrachte Max den Rest des Abends bei einem Videochat mit Cosmin. Es gab nicht allzu viel Neues zu berichten. Max erfuhr, dass Simon und Moritz Cosmin zum Grillabend in die Gartenlaube von Simons Eltern eingeladen hatten, aber Cosmin nicht sehr lange geblieben war, weil die beiden später am Abend sicher allein bleiben wollten. Max genoss es, dass ihn zumindest ein virtueller Draht mit Cosmin verband und wie es schien, ging es Cosmin umgekehrt genauso. Er bat Max sogar darum, den Chat über Nacht weiter laufen zu lassen.

Doch am nächsten Tag erlebte Max eine bitterböse Überraschung.
Während des Mittagsimbiss rief er Cosmin an, um ihm zu sagen, dass er mit Leon in ein paar Minuten zum Bahnhof fahren würde. Cosmin verweigerte nicht nur die Annahme des Gespräches, er reagierte auch nicht auf Max’ Nachrichten.
Auf dem von wartenden Reisenden bevölkerten Bahnsteig des Charlottenburger Bahnhofs versuchte Max ein weiteres Mal, Cosmin anzurufen.
Dieses Mal ignorierte Cosmin den Anruf und es meldete sich der Anrufbeantworter.
„Gibt’s ein Problem, Maxi?“, fragte Leon und Max vernahm so etwas wie ein Lauern in der Stimme des Onkels. Inzwischen fühlten sich Max’ Knie an, als würden sie aus Pudding bestehen und das lag nicht an ihrem Kampftraining am Vormittag.
„Ich verstehe es nicht. Vorhin hat er fast schon gebettelt, dass ich so schnell wie möglich zurückkomme und jetzt plötzlich schneidet er mich.“ Tatsächlich hatte ihn Cosmin am Morgen angerufen und gehofft, dass Max vielleicht sogar noch zeitiger zurückfahren würde. War er sauer, weil Max ihm gesagt hatte, dass das nicht ginge?
Leon zuckte mit der Schulter. „Bleib locker, vielleicht ist dein Freund launisch. Wäre er eine Freundin, würde ich sagen, er hat seine Tage oder so.“
Falls das ein Scherz sein sollte, konnte Max nicht darüber lachen. „Cosmin ist nicht launisch!“, schnaubte Max.
Der Zug nach Dessau fuhr in den Bahnhof ein.
Leon zog Max in seine Arme. „Ich sehe dich in zwei Wochen, Champ. Und hör auf, dich selber fertig zu machen, bloß weil dein Freund mal nicht gleich antwortet.“

Auch während der zweistündigen Zugfahrt nach Dessau erhielt Max weder eine Antwort noch nahm Cosmin seine Anrufe an.
Als der Zug in den Dessauer Bahnhof einfuhr, klammerte sich Max an die Hoffnung, dass Cosmin lediglich sein Handy eingebüßt hatte und ihn auf dem Bahnsteig erwarten würde.
Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. So sehr sich Max auf dem Bahnsteig auch den Hals verrenkte, er konnte Cosmin nirgendwo entdecken. Niedergeschlagen und mit hängenden Schultern verließ er den Bahnhof. Zudem zog ihn ein kalter Nieselregen noch weiter runter. Max unternahm keinen weiteren Versuch, Cosmin anzurufen. Ihm war inzwischen klar, dass Cosmin nicht antworten würde, auch wenn er keine Ahnung hatte, weshalb sich Cosmin nicht mehr meldete. Hätte er lediglich das Handy verloren, wäre er trotzdem zum Bahnhof gekommen.
Auf dem Bahnhofsvorplatz blieb Max unschlüssig stehen, während rechts und links von ihm Reisende mit Koffern oder Rucksäcken an ihm vorbei strömten. Seine Oma erwartete ihn erst am Abend. Und er hatte auch nicht vor, schon zu ihr zu gehen. Er wollte endlich wissen, warum die Beziehung zu Cosmin wie aus heiterem Himmel in eine neue Krise geschlittert war.

Cosmin

Der Sonntag nahm keinen guten Anfang. Cosmin hatte in der Nacht öfter mal in sein Handy gelauscht, um zu hören, was Max in seinen Träumen so von sich gab und wachte am Morgen völlig gerädert auf. Max hatte inzwischen den Videochat beendet und vermutlich längst den Frühsport hinter sich. Cosmin beschränkte sich auf ein paar halbherzige Übungen und leistete anschließend seinem Vater beim Frühstück Gesellschaft.
Nach dem Frühstück nahm er sich einige von Sergius Aufgaben zur Technischen Mechanik vor. Sergius großer Bruder Valentin unterrichtete dieses Fach an der Bukarester Uni für Architektur und stellte zusammen mit den Aufgaben auch die Endergebnisse zur Verfügung. Schon bei der ersten Aufgabe erhielt Cosmin ein Ergebnis, das völlig daneben lag. Er kramte sein Handy unter den auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Zetteln hervor und wählte Max’ Nummer. Vielleicht konnte er Max überzeugen, sich schon ein oder zwei Stunden früher in den Zug zu setzen. Max erzählte, dass Leon mit ihm noch ein weiteres Mal trainieren wolle und er deshalb erst den Zug um 13 Uhr nehmen könne.
Das trübe Wetter und Temperaturen, die laut Wetter - App nur wenig über dem Gefrierpunkt lagen, drückten ebenfalls auf Cosmins Gemüt. Vor ihm lagen noch fünf Stunden bis zu Max’ Rückkehr aus Berlin. Um sie zu verkürzen, nahm er sich von neuem Sergius Aufgaben vor und begann, den Fehler in seinen Berechnungen zu suchen.

Einmal mehr zeigte sich, dass die Zeit beim Brüten über kniffligen Aufgaben schneller vergeht. Sein Vater betrat das Zimmer. Er war bereits mit einer dicken Jacke bekleidet und hielt das Handy ans Ohr.
„Das ist kein Problem, Doreen“, sprach er auf deutsch ins Handy. „Es liegt ja praktisch auf dem Weg. Sie kann sich das Taxi sparen. Wie war noch mal der Name?“
" … "
„Schneidereit? Ich schreibe mir das schnell auf. Dann bis gleich.“
Er trat an den Schreibtisch und griff nach einem Stift. „Hast du einen leeren Zettel für mich, Cosmine?“, fragte er und suchte in den auf dem Schreibtisch herum liegenden Zetteln nach einem unbeschriebenen Blatt. Plötzlich verharrte seine Hand regungslos auf der Tischplatte. „Was… ?“
Cosmin blickte auf und im selben Moment fuhr ihm ein eisiger Schreck durch die Glieder. Auf einem zuvor von anderen Blättern verdeckten Zettel präsentierten zwei Händchen haltende Männer, wen sie in ihren Herzen trugen und stellten zudem ihre Männlichkeit zur Schau. Hastig versuchte Cosmin, nach dem verräterischen Zettel zu greifen, doch sein Vater schnappte sich das Blatt.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er mit einer Stimme, die wie eine Rasierklinge die Stille im Zimmer zerschnitt. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen.
Cosmin schluckte ein paar Mal, ehe er seine Stimme wieder fand. „Nichts, nur ein Scherz. Wir…“
„Bist du sein Liebchen? Bist du seine Hure?“, schrie ihn sein Vater an. Die schwarzen Augen schienen Funken zu sprühen.
Cosmin fühlte sich, als wäre er geohrfeigt worden und starrte auf das vor Wut verzerrte Gesicht des Vaters.
„Antworte!“
Trotz regte sich in Cosmins Brust. Er sprang vom Stuhl auf. „Ich bin nicht seine Hure, ich bin sein Freund. Er liebt mich und ich liebe ihn.“
„Deshalb also… wegen ihm hast du mit Camelia Schluss gemacht. Weil du lieber mit einem Mann…“
So, als würden ihn die Beine nicht mehr tragen können, griff er nach der Stuhllehne. „Und deshalb bist du ihm vor Weihnachten hinterher gelaufen. Mein Gott, ich war immer stolz auf dich und du bringst so eine Schande über unsere Familie. Vielleicht wäre es besser gewesen, du wärst bei dem Messerangriff…“ Er verschluckte den Rest, doch Cosmin verstand.
„Besser was…“, schrie nun auch Cosmin. Tränen, die ihm der Schock über die Worte des Vaters in die Augen trieb, verschleierten seinen Blick. „Dir wäre es lieber, ich wäre tot statt mit dem Menschen zusammen, den ich liebe?“
Auf dem Tisch klingelte das Handy. Sein Vater schnappte danach und starrte aus vom Zorn geweiteten Augen auf das Display.
„Du! Wenn ich dich in die Finger kriege“, Er stieß mit dem Finger auf das Display, als wolle er das Handy erdolchen und brachte das Klingeln zum Verstummen. Dann steckte er Cosmins Handy in seine Hosentasche. „Such deine Sachen zusammen. Wenn ich heute Abend wieder komme, hast du alles gepackt.“
„Ich habe nicht vor zu verreisen“, erwiderte Cosmin trotzig.
„Doch das hast du! Morgen bitte ich meinen Chef um eine Woche unbezahlten Urlaub und danach bringe ich dich nach Porumbita. Dort wird Onkel Radu eine Frau für dich finden, die dich von dieser… dieser Krankheit heilt.“
„Bist du irre! Ich werde jetzt nicht das Abitur…“
Ein harter Schlag auf den Mund brachte Cosmin zum Verstummen. Er wischte sich über den Mund. Sein Handrücken war blutverschmiert.
Für einen Moment schien die Wut im Gesicht seines Vaters einem Erschrecken zu weichen, doch gleich darauf kehrte der Zorn zurück. „Du bist es, der hier irre ist. Ein Mann, der sich in einen Mann verliebt… Pack deine Sachen!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren stürzte er aus der Wohnung.
Cosmin fiel auf seinen Stuhl. Er vergrub das Gesicht in den Händen und ließ den Tränen freien Lauf. Nach der Mutter hatte er soeben auch den Vater verloren. Ihm war klar gewesen, dass sein Vater Schwierigkeiten haben würde, eine homosexuelle Beziehung zu akzeptieren. Aber er hätte nicht erwartet, dass der Vater derart durchdrehen würde.
Cosmin fuhr vom Stuhl auf. Natürlich würde er sich nicht nach Rumänien bringen lassen, schon gar nicht nach Porumbita. Und jäh begriff er, dass er aus der Wohnung flüchten musste, es aber nirgendwo einen Ort gab, zu dem er flüchten konnte.

Und wohin soll ich gehen?

Cosmin

Einige Minuten stand Cosmin an seinem Schreibtisch, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich trugen ihn die Beine hinaus auf den Korridor, wo er vor dem Spiegel stehen blieb. Die Unterlippe war aufgeplatzt, ein Streifen geronnenen Blutes verlief hinunter zum Kinn. Haarsträhnen hingen im wirr im Gesicht und Tränen hatten auf den Wangen feuchte Spuren hinterlassen.
Ich bin eine Schande für ihn.
Ihm wäre es lieber, ich wäre tot.
Cosmin schluchzte auf. Welchen Sinn hatte ein Leben, wenn man es damit verbrachte, sich zu verstecken, das wahre Ich zu verheimlichen?
Er schlüpfte in seine Straßenschuhe, streifte trotz der niedrigen Temperaturen nur eine dünne Jacke über und verließ die Wohnung. Doch statt die Treppe hinunter zu steigen, schlich er sie hinauf. Wie bei fast allen Eingängen des fünfgeschossigen Plattenbaus standen die oberen Wohnungen leer. In der vorletzten Etage war eine der beiden Wohnung unbewohnt. In der anderen Wohnung lebte Herr Richter, ein etwa sechzigjähriger Witwer, der gewöhnlich die Hälfte eines Tages und vielleicht auch einer Nacht am Fenster verbrachte. Cosmin erreichte die obere Etage. Von dort führte eine steile Eisentreppe zum Dachausstieg. Er hatte mehrfach seinem Vater das Essen gebracht, als der auf den Flachdächern benachbarter Plattenbauten mit der Montage von Solaranlagen beschäftigt war, und so wusste er, wie sich die auf zwei Schienen gelagerte Luke öffnen ließ. Er zog an einem an der Arretierung der Luke befestigten Stahldraht. Die Luke fuhr zurück und obwohl Cosmin versuchte, das Zurückgleiten der Luke etwas abzubremsen, stießen die Räder polternd an die Endstücken der Schiene. Er lauschte kurz, ob irgendwo im Treppenhaus eine Tür klappte. Es blieb still.
Ohne weiteres Zögern stieg Cosmin auf das Dach und verharrte etwa einen Meter vor der Dachkante. Von neuem kullerten Tränen über seine Wangen.
Wollte er das wirklich tun? War seine Zukunft so trostlos?
Ich würde das Abi mit 1,0 schaffen und könnte studieren, was immer ich will.
Wahrscheinlich würde er wegen der Bestnoten sogar ein Stipendium erhalten.
Du weißt ja noch nicht einmal, wo du heute Nacht schlafen kannst, sagte eine andere Stimme in seinem Inneren.
Cosmin verspürte jäh das Verlangen, noch etwas dichter an die Dachkante heran zu treten.
„Was tust du denn da?!“, rief eine Stimme hinter ihm. Cosmin fuhr erschrocken herum und sah, dass sich Herr Richter, der Bewohner der vierten Etage, aus der Dachluke stemmte.
„Oh Gott, Junge. Wolltest du dich gerade umbringen?“, fragte der Mann fassungslos und musterte Cosmins Gesicht.
Cosmin trat von der Kante zurück. „Ich wollte nur die Aussicht genießen“, erwiderte er trotzig.
„Was ist mit dir passiert? Du blutest ja. Und hast geweint. Kann ich dir helfen?“
Herr Richter eilte zu Cosmin und zog ihn noch etwas weiter von der Kante zurück. „Dein Vater ist vorhin weggefahren. Aber wenn du möchtest, könnte ich…“
„Ich bin okay. Nur ein dummer Sturz“, fiel ihm Cosmin ins Wort und sagte dann eine Spur freundlicher: „Sie sind sehr nett, danke.“
Er stolperte zurück zur Dachluke und sauste die Treppe hinunter bis zum Keller, um sein Fahrrad zu holen.

Keine Viertelstunde später erreichte Cosmin den Garten von Simons Eltern. War es wirklich erst gestern gewesen, dass er hier zwei schöne Stunden verbracht hatte? Seine Hoffnung, im Garten Simon und Moritz anzutreffen, erfüllte sich nicht.
Niedergeschlagen fuhr er den Gartenweg zurück. Inzwischen musste es bereits um eins sein. Cosmins Gedanken wanderten nach Berlin. Saß Max schon im Zug? Max hatte sicher längst bemerkt, dass er weder Anrufe noch Nachrichten beantwortete. Vermutlich glaubte Max, dass wie ein Blitz aus heiterem Himmel die nächste Krise über sie herein gebrochen war. Womit er auch nicht daneben lag.

Auf der Muldebrücke mit der aus der Stadt hinaus führenden Hauptstraße lehnte Cosmin das Fahrrad gegen das Geländer. Von hier aus konnte er den Plattenbau sehen, in dem er seit fast zwei Jahren mit seinem Vater wohnte. Der Anblick seines Zimmerfensters schnürte ihm erneut die Kehle zu. Zwei Stockwerke höher schaute wieder einmal Herr Richter aus dem Fenster. Cosmin wandte sich fröstelnd ab und beobachtete eine Zeitlang den Verkehr. Jeder um ihn herum hatte ein Ziel, wusste wohin er gehörte.
Nur ihm fiel nichts ein. Sein Blick wanderte hinunter zur träge dahin fließenden Mulde. Nicht weit von hier stand an ihrem Ufer eine Trauerweide, unter der eine silberfarbene Schatulle mit seinen und Max’ Wünschen vergraben war. Cosmin schwang sich wieder aufs Rad…

Max

Nach einem etwa zwanzigminütigem Fußmarsch erreichte Max den Plattenbau, in dem Cosmin mit dessen Vater wohnte. Der Sprühregen war etwas dichter geworden, Nässe tropfte ihm von der Kapuze der zum Glück wasserdichten und gefütterten Jacke. Sein Herz ratterte wie eine altersschwache Schlagbohrmaschine, als er die Klingel der Munteanus drückte.
Niemand öffnete.
Max versuchte es noch einmal, doch die Gegensprechanlage blieb stumm.
Ratlos wandte er sich zum Gehen ohne den Hauch einer Idee, wo er Cosmin finden könnte.
„Warte Junge!“, ertönte eine Stimme. Max fuhr herum und sah, dass ihm ein Mann zuwinkte. Wie so oft schaute er zwei Etagen über Cosmins Zimmer aus dem Fenster, vielleicht um Strichlisten darüber zu führen, wie oft jemand einen Bewohner im Haus besuchte.
Max verharrte auf der Eingangstreppe. Kurz darauf trat ein etwa sechzigjähriger, korpulenter Mann mit ungepflegtem Stoppelbart ins Freie. „Du bist der Stiefbruder des Munteanu Jungen“, japste er und zeigte damit, dass er in der Tat gut informiert war. Er zog Max unter das Vordach. „Ich glaube, der Junge wollte sich umbringen!“
Max gefror das Blut in den Adern. „Er wollte… wieso denn das?“, stieß er aus.
„Ich weiß es nicht, aber ich musste ihn vor ein paar Stunden von der Dachkante wegzerren“, antwortete der Mann und erzählte, dass Cosmin weinend und mit blutverschmierten Mund nur Zentimeter von der Dachkante entfernt im Begriff gewesen war, sich in die Tiefe zu stürzen. " Ich glaube, sein Vater hat ihn geschlagen. Den Krach hat man im ganzen Haus gehört", beendete der Mann seinen Bericht. „Hat du vielleicht eine Ahnung, weshalb sie sich gestritten haben?“
Max Gedanken wirbelten wie Papierfetzen im Zentrum eines Tornados durcheinander. Er kannte Cosmins Vater als netten Menschen, der den einzigen Sohn geradezu vergötterte. Was mochte in ihn gefahren sein und wieso um Himmels Willen sollte Cosmin sich umbringen wollen? Ein Verdacht keimte in Max’ Hirn auf. Hatte Cosmins Vater vielleicht etwas über Cosmins Liebesleben herausgefunden?
Natürlich behielt Max den Verdacht für sich. „Ich habe keine Ahnung. Ist Cosmin noch hier in der Wohnung?“
Der Mann schüttelte den Kopf und deutete zum Stadtausgang. „Ich glaube, ich habe ihn vor zwei Stunden dort mit seinem Rad auf der Brücke stehen sehen. Es sah fast so aus, als wollte er runter ans Ufer der Mulde. Er wird doch nicht etwa…“
Max wirbelte herum. „Ich muss los!“, rief er dem Mann über die Schulter hinweg zu und sprintete in Richtung Muldebrücke davon.

Nur wenige Minuten später fand Max Cosmins Rad. Es lag im Dickicht der Uferböschung.
Und dann sah er ihn.
Cosmin hockte unter der Trauerweide, vermutlich genau dort, wo auch ihre Wünsche begraben waren. Er zitterte am ganzen Körper, die Arme hatte er um seinen Brustkorb geschlungen.
Mein Gott, Cos-Mi! Willst du hier erfrieren?!
Max streifte sich die warme Jacke vom Leib. Er hockte sich neben Cosmin, legte ihm die Jacke über die Schulter und massierte dessen zitternden Oberkörper. Auch Cosmins Lippen bebten. Max strich mit einem Daumen sanft über Cosmins blutverkrustete Unterlippe.
„Du kannst hier nicht bleiben“, sagte Max leise.
Cosmin starrte unverwandt auf den Fluss, fast so, als hätte er Max noch nicht bemerkt. Endlich wandte er Max den Kopf zu, ohne ihn jedoch anzuschauen. „Und wo soll ich hin?“
Max stülpte die Kapuze über Cosmins vor Nässe triefenden Haare. „Hast du keinen Schlüssel für eure Wohnung?“
Ein Schluchzen drang an Max’ Ohr. „Ich wohne nicht mehr dort. Ich bin eine Schande für meinen Vater. Ihm wäre es lieber, wenn die mich damals richtig abgestochen hätten.“
Max schwieg. Er suchte fieberhaft nach einer passenden Antwort und fand keine.
„Das mit uns, Maxi. Wir werden nie ein normales Leben führen können. Entweder wir verstecken uns oder man wird uns verachten, hinter unseren Rücken spotten. Was soll das für eine Zukunft sein?“
Max versuchte, einen Blick in diese Zukunft zu werfen. Er würde sich von niemandem verspotten lassen.
„Ich möchte… sterben.“
„Nein!“ Max packte Cosmins Schulter. „Dann müsstest du mich mitnehmen. Bitte sag nicht so was.“ Max sank in sich zusammen. „Wenn es nicht anders geht, verschwinde ich wieder nach Berlin. Ich kann die Zwölfte dort wiederholen. Aber du darfst nicht so was denken!“
Plötzlich zog ihn Cosmin an sich und zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke. Max sah, dass Cosmin weinte. „Bleib hier, bleib bei mir, Maxi“, schluchzte Cosmin. Offenbar bemerkte er erst jetzt das dünne Shirt, mit dem Max bekleidet war. „Du frierst!“
„Ich bin okay!“, wiegelte Max ab. „Aber wir können hier nicht bleiben.“
„Ich gehe nicht nach Hause zurück. Er will mich morgen nach Rumänien bringen“, sagte Cosmin und endlich erfuhr Max, wie es zur völlig unverhofften Tragödie gekommen war.
„Es tut mir Leid. Ich bin Schuld an diesem blöden Zettel“, sagte er, nachdem Cosmin seinen Bericht beendet hatte.
„Nein!“, widersprach Cosmin. „Die Engstirnigkeit meines Vaters ist Schuld. Irgendwann hätte er es ja doch erfahren.“
Max fühlte, dass der kalte Nieselregen eisige Schauer durch seinen Körper jagte. „Cos-Mi, wir können hier nicht bleiben“, wiederholte er sich.
„Ich weiß nicht, wohin ich gehen kann“, sagte Cosmin leise.
„Wir gehen zu meiner Oma.“
„Und was willst du ihr sagen?“
Max seufzte leise. „Ich schätze mal… die Wahrheit.“

Asyl

Max

Der Plattenbau, in dem Cosmin und sein Vater wohnten, lag auf dem Weg der Jungen vom Ortseingang an der Muldebrücke bis zum Haus von Max’ Großmutter. Offenbar gönnte sich Herr Richter gerade eine Pause; sein Fenster war geschlossen. Den Jungen stand auch nicht der Sinn danach, die Neugier des zweifellos netten Mannes zu befriedigen. Sie wollten einige Sachen aus Cosmins Zimmer holen und danach so schnell wie möglich die Wohnung verlassen.
Max betrat hinter Cosmin die Wohnung. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen hatte, wandte sich Cosmin um und starrte Max aus geröteten Augen an. Noch immer verkrustete etwas Blut die Lippe, obwohl Max am Ufer der Mulde Cosmins Mund und das blutverschmierte Kinn mit einem Papiertaschentuch gesäubert hatte. „Ich bin froh, dass du mich gefunden hast, Maxi.“
Max nahm Cosmin in die Arme. Cosmins Kopf sank gegen Max’ Schulter und Max kraulte die nassen Zotteln in dessen Nacken. „Ich habe es irgendwie gespürt, dass ich dich dort finden würde.“
„Er hat mich noch nie geschlagen. Das war das erste Mal heute.“
Max nahm Cosmins Gesicht in beide Hände und betrachtete die Unterlippe. Immerhin war sie kaum angeschwollen. Max küsste die Lippe. „Vielleicht bereut er es schon.“
„Das glaube ich nicht. Maxi, was machen wir, wenn deine Oma nicht einverstanden ist… ich meine, dass ich bei euch bleibe?“
„Sie wird dich nicht weg schicken, Cos-Mi.“
„Und wenn doch?“
„Dann wird der Steinbruch am Petersberg unser neues Zuhause! Cos-Mi, du musst dir trockene Sachen anziehen.“ Max nahm an, dass Cosmin nach dem stundenlangen Sitzen am Ufer der Mulde bis zur Unterwäsche durchnässt war.
Cosmin nickte und löste sich aus Max’ Armen. „Der Steinbruch ist immer noch besser als dieses hier. Ich packe ein paar Sachen ein und dann lass uns von hier abhauen.“
Nachdem er sich umgezogen und Max’ Kletter- sowie den Schulrucksack mit Kleidung und Büchern vollgestopft hatte, hinterließ er auf dem Küchentisch eine Nachricht.
Offenbar bemerkte er, dass Max versuchte, sie zu entziffern.
„Besser, er weiß nicht, wo ich bin“, murmelte Cosmin.
„Und was steht da?“
Cosmin starrte mit Augen voller Trauer auf den Zettel. „Ich will nicht, dass er mich sucht. Er soll denken, ich wäre bei meiner Mutter.“
Max legte Cosmin eine Hand auf die Schulter. „Weiß er denn, wo meine Oma wohnt?“
„Keine Ahnung, aber ich möchte nicht, dass er ihr Ärger macht.“
Max fragte sich jäh, wie wohl Cosmins Mutter - seine Stiefmutter - reagieren würde, sollte sie von Cosmins Vater erfahren, warum ihr Sohn das Weite gesucht hatte.

Wenige Minuten später verließen sie den Wohnblock. Herrn Richters Pause war offensichtlich beendet und er hatte seinen Beobachtungsposten am Fenster wieder eingenommen. Max winkte ihm einen Gruß zu. Cosmin hingegen tat so, als müsse er sich darauf konzentrieren, den Kletterrucksack auf dem Gepäckträger des Fahrrads zu verschnüren und den Schulrucksack an den Lenker zu hängen.
Anschließend trotteten sie in den kalten Sprühregen hinaus.
Max hatte bereits auf dem Weg zur Wohnung der Munteanus seine Oma angerufen und ihr gesagt, dass er zeitiger als geplant zu ihr kommen und Cosmin mitbringen würde, weil es ein Problem gegeben habe.

Kaum hatte Max die Eingangstür zu ihrem Haus geöffnet, schwang die Wohnzimmertür auf der anderen Seite des Korridors auf. Oma Lisa blieb wie angewurzelt stehen, als ihr Blick auf Cosmin fiel. Sie nahm keine Notiz vom Rucksack, den er mit sich schleppte, sondern musterte die verletzte Lippe und die geröteten Augen.
„Was ist denn mit dir passiert, Kind?“, fragte sie, nahm Cosmin in die Arme und streichelte seine Wange. Max bemerkte, dass Cosmin schon wieder den Tränen nahe war und ihm etwas die Kehle zuschnürte. Zudem begann er erneut mit den Zähnen zu klappern.
„Sein Vater ist ausgerastet“, antwortete Max an Cosmins Stelle. „Cos-Mi kann vorläufig nicht nach Hause, weil ihn sein Vater nach Rumänien abschieben will.“
„Meine Güte!“ Sie drückte auch Max an sich. „Bringt die Sachen hoch auf dein Zimmer und kommt dann ins Wohnzimmer. Ihr habt sicher Hunger. Und dir koche ich einen heißen Tee, Cosmin. Beim Essen erzählt ihr mir, was passiert ist.“
In Max’ Zimmer ließ sich Cosmin auf die Couch sinken und schlang die Arme um seine angewinkelten Beine.
Max setzte sich neben ihn und tastete seine Stirn ab. „Fühlt sich nicht so an, als hättest du Fieber. Ist dir kalt?“
„Nur ein bisschen“, sagte Cosmin, obwohl ihn das Klappern seiner Zähne Lügen strafte. „Ich bin ziemlich müde, Maxi.“
„Hau dich hin!“
Max kramte aus dem Bettkasten der Couch seine Bettdecke und eine zweite Steppdecke sowie ein Kissen hervor. Das Kissen schob er unter Cosmins Kopf und legte die Decken über Cosmins ausgestreckten Körper. Cosmin fielen beinahe augenblicklich die Augen zu. Max betrachtete eine Zeitlang den schlafenden Freund. Dann hauchte er ihm einen Kuss auf den Mund und verließ das Zimmer.

Seine Großmutter hatte inzwischen den Tisch im Wohnzimmer für zwei Personen gedeckt und schaffte aus der Küche mit Salaten und dampfendem Kartoffeln gefüllte Schüsseln heran.
„Was ist mit Cosmin?“, fragte sie, als sich Max auf die Wohnzimmercouch fallen ließ.
„Er schläft bei mir im Zimmer. Ich glaube, er hatte heute einen echt beschissenen Tag“, antwortete Max und befüllte seinen Teller mit Filetstücken, Kartoffeln und Gurkensalat.
Oma Lisa setzte sich mit einer Tasse Kaffee neben ihn. „Cosmins Vater… Hat er euch erwischt?“
Max hatte sich ein extragroßes Stück Fleisch in den Mund geschoben, um sich während des Kauens zu überlegen, wie er ihr möglichst schonend seine Liebe zu einem Jungen gestehen könne. Immerhin blieb ihm das Fleisch vor Schreck nicht im Halse stecken.
„Wieso? Weißt du… Bescheid?“, fragte er verdattert.
Die Großmutter strich ihm Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Eure Augen, Max. Sie haben es mir schon vor Wochen verraten.“
„Okay, daran müssen wir echt arbeiten“, seufzte Max. „Und du bist nicht sauer?“
„Natürlich nicht! Ich bin besorgt, aber nicht sauer. Wie hat es Cosmins Vater erfahren?“
„Er hat uns nicht direkt erwischt“, entgegnete Max, froh darüber, dass er sich ein Geständnis schenken konnte und seine Oma alles andere als schockiert war. Er erzählte von dem verräterischen Zettel, wobei er ausließ, dass die Männer auf dem Zettel nackt gewesen waren und einer der beiden einen erigierten Penis zur Schau gestellt hatte. Max erzählte auch, wie runter gezogen er selber sich gefühlt hatte, weil seine Anrufe und Nachrichten an Cosmin unbeantwortet geblieben waren.
„Als sein Vater weg war, hat ein Nachbar gemerkt, dass Cosmin aufs Dach gestiegen ist. Der Mann sagt, Cos-Mi hätte an der Dachkante gestanden“, fuhr Max in seiner Erzählung fort.
Die Oma starrte Max aus vor Schreck geweiteten Augen an. „Er wollte sich umbringen?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe mich noch nicht getraut, ihn das zu fragen. Aber so, wie Cos-Mi dort am Fluss saß…“ Max bemerkte, dass Tränen seinen Blick verschleierten, als er seine Erzählung fortsetzte. „Ich könnte nicht mehr ohne ihn leben, Omi. Bitte lass ihn hier wohnen, bis wir uns selber was suchen können. Wie du weißt, wollen wir ab September zusammen hier an der Hochschule studieren… falls ich die Prüfungen nicht verhaue.“
„Maxi, selbstverständlich bleibt er hier. Ich habe ihn sehr gern und mache mir Sorgen. Wann wird Cosmin achtzehn?“
„Genau zwei Wochen nach mir.“
Die Oma überlegte kurz. „Noch zwei Monate. Sein Vater hat das Sorgerecht. Ich hoffe, er versucht nicht…“
„Cos-Mi hat ihm eine Nachricht da gelassen, dass er zu seiner Mutter abgehauen ist“, fiel ihr Max ins Wort. „Und falls der Alte wirklich hier aufkreuzt, verstecke ich Cosmin in Berlin!“
„Das wird hoffentlich nicht nötig sein.“ Ihr Gesicht hellte sich etwas auf. „Und ihr wollt wirklich ab September zusammen hier studieren?“
Max nickte und versuchte zu erklären, warum er sich nun für ein Architekturstudium interessierte.
Oma Lisa zauste kurz sein Haar. „Du wirst wissen, was am besten für dich ist.“
Sie erhob sich. „Wenn du gegessen hast, werden wir Opas Büro, wo sonst Cal schläft, für Cosmin herrichten.“
„Omi, Cosmin kann auch mit in meinem Zimmer wohnen.“
Oma Lisa warf Max einen unergründlichen Blick zu. „Cosmin bekommt ein eigenes Zimmer, Max! Ihr seid so gut wie volljährig. Wenn er nachts in deinem Zimmer schlafen möchte, dann werde ich es ganz bestimmt nicht verbieten.“

Cosmins neues Zimmer

Cosmin

Cosmin schreckte aus einem Albtraum auf. Max hatte auf dem Flachdach eines Wohnblocks an der Kante gestanden und war plötzlich nicht mehr da gewesen. Cosmin blinzelte verwirrt und es dauerte einen Moment, ehe er begriff, wie er in Max’ Zimmer geraten war. Die Erleichterung, dem Albtraum entronnen zu sein wich der Bestürzung darüber, dass er sich lediglich in einem anderen Albtraum wiederfand. Er fuhr mit der Zunge über die verletzte Unterlippe. Sein Vater wollte ihn allen Ernstes nach Rumänien schaffen, um sich von den verirrten Gefühlen kurieren lassen? Und das von einer Frau, die Onkel Radu für ihn aussuchen würde?
Cosmin bemerkte, dass er schwitzte, auch weil Max zwei Decken über ihm ausgebreitet hatte. Er dachte daran, dass er Max’ Oma würde beichten müssen, warum er von zu Hause weggelaufen war und die mollige Wärme der Decken erschien ihm wie ein schützender Kokon, den er nun verlassen musste.
Seine Blase drückte.
Als er vom Gang zur Toilette zurückkehrte, öffnete sich gegenüber von Max’ Zimmer die Zimmertür. Max trat auf den Korridor.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er und griff nach Cosmins Arm.
„Es geht“, erwiderte Cosmin und lauschte zur offenen Zimmertür. Offenbar befand sich auch Oma Lisa im Zimmer, das Max soeben verlassen hatte.
„Hast du deiner Oma schon was erzählt?“, zischte er Max seine Frage ins Ohr.
Zu seiner Überraschung grinste Max nicht nur, er zog ihn auch an sich, obwohl die Oma jeden Moment aus dem Zimmer kommen konnte.
„Alles okay, Cos-Mi. Sie wusste längst, dass wir… äh was miteinander haben. Komm, ich zeig dir dein Zimmer.“
„Sie wusste längst?“ Cosmin spürte, dass das Herz in seiner Brust heftig gegen die Rippen hämmerte. „Ist sie böse auf mich?“
Max’ Grinsen wurde noch etwas breiter. „Keine Spur! Und los jetzt. Willst du nicht dein Zimmer angucken? Wir haben schon deinen Kram einsortiert und das Zimmer ein bisschen hergerichtet. Es wird dir gefallen.“
„Maxi, mir reicht bei dir eine kleine Ecke.“
Max zog Cosmin mit sich. „Ach quack! Wir haben genug Platz hier.“
Mit wild pochendem Herzen folgte Cosmin Max ins Zimmer. Er sah, dass die Oma seine Kleidung in einen Schrank einsortierte. Sie bemerkte die Jungen und legte seinen Jogginganzug auf einem Sofa ab. „Wie geht es dir Cosmin? Hast du dich erkältet?“, fragte sie und befühlte kurz Cosmins Stirn.
„Ich war nur müde, Tante Lisa“, antwortete Cosmin und schaute sich im Zimmer um. Es war etwas kleiner als das eigene Zimmer in der Plattenbauwohnung. Die dem Kleiderschrank und Sofa gegenüberliegende Wand verbarg sich hinter raumhohen Aktenschränken. Die Oma folgte Cosmins Blick. „Mein Mann war ebenfalls Steuerberater. Einen Teil der Unterlagen muss ich aufbewahren und für einige seiner Klienten erledige ich nun die Steuerabrechnungen.“
Cosmin knetete seine Hände. Er wusste nicht so recht, ob es zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes noch angemessen war, sein Beileid auszudrücken. Wie es schien, bemerkte sie Cosmins Verlegenheit. Sie deutete auf den wuchtigen Schreibtisch, auf den das Licht eines dreiflügligen Fensters fiel. Cosmin sah, dass seine Bücher bereits im Bücherbord des Schreibtischs standen. Neben dem Computermonitor lagen seine Hefter und ein Smartphone. „Du kannst gerne den Computer benutzen, Cosmin“, sagte Oma Lisa. „Cal hat einige Spiele darauf installiert. Vielleicht richtest du dir ein eigenes Konto auf dem Computer ein.“
„Und das Handy hier ist mein kleines Willkommensgeschenk. Ich hab ein anderes und brauch’s nicht mehr“, ergänzte Max und setzte sich aufs Sofa. „Ziemlich unbequem und eng, das Teil. Wenn du nicht drauf schlafen kannst, kommst du zu mir rüber, meine Couch lässt sich ausziehen.“
Oma Lisa zog hörbar die Luft durch die Nase.
Cosmin fühlte, dass ihn nur die dunkle Haut davor bewahrte, bis zu den Haarwurzeln zu erröten. „Danke für alles“, sagte er leise. „Tante Lisa, Sie ärgern sich nicht über uns, weil wir…“ Er verschluckte den Rest. Ohnehin verstand sie, was er wissen wollte.
„Nein, Cosmin!“ Sie schien nach Worten zu suchen und fuhr dann fort. „Ihr habt euch gern. Ist das was Schlechtes?“
Sie beantwortete ihre Frage sofort selber: „Natürlich nicht! Und… ihr seid keine Kinder mehr.“
„Ich wünschte, ich könnte irgendwie… was für Sie tun, mich revanchieren.“
Sie tätschelte seine Wange. „Das hast du doch schon, Cosmin. Und jetzt wirst du erst einmal was essen.“

Max

Es war für Max und offensichtlich auch für Cosmin seltsam, die Gefühle nicht verheimlichen oder verstecken zu müssen, wenn seine Oma in der Nähe war. Als Max beim Abendessen bemerkte, dass sich Cosmin bei den Leckerbissen zurückhielt, legte er ein Filetstückchen nach dem anderen auf Cosmins Teller. Berührten sich auf dem Tisch ihre Hände, streichelten die Finger einander statt zurück zu zucken. Cosmin half der Oma nach dem Abendessen beim Abräumen des Geschirrs und anschließend blieben die Jungen auf der Wohnzimmercouch sitzen, ohne ständig darauf zu achten zu müssen, dass sie dabei nicht zu dicht aneinander rückten.
Max erzählte seiner Oma vom ersten und etwas verunglückten Kuss, bei dem ihm klar geworden war, was er für Cosmin empfand und berichtete von den darauf folgenden Ausflügen in die Schwimmhalle und dass er sie nur deshalb unternommen, um herauszufinden, ob er schwul war.
Gemeinsam schilderten sie, wie Eifersucht und ein doppeltes Missverständnis um ein Haar zur Trennung geführt hätte, weil sich Maja, ein Mädchen aus der Elften, in Cosmin verknallt hatte.
Die Oma lauschte gebannt, als würde sie ein spannendes Hörspiel verfolgen. Mal lächelte sie, manchmal erschrak sie aber auch darüber, wie fragil die Beziehung der beiden war und welche Schmerzen sie sich gegenseitig zufügten, ohne es zu wollen.
Und zu guter Letzt erfuhr die Oma, wie Max vor zwei Monaten zu seiner dicken Lippe gekommen war.

Nach dem sich Max’ Oma in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, überlegten sie, ob sie Cosmins Mutter von ihrer Beziehung erzählen sollten. Cosmin rechnete damit, dass sie innerhalb der nächsten Tage versuchen würde ihn anzurufen. Sollte sein Vater das Gespräch annehmen, würde sie ohnehin davon erfahren. Max hoffte, dass sie in diesem Fall die Angelegenheit vorerst für sich behielt. Eines traute er sich Cosmin jedoch noch nicht zu fragen: Ob Cosmin wirklich vorgehabt hatte, vom Dach des Plattenbaus zu springen.
Erst als sie sich später auf der Couch in Max’ Zimmer aneinander schmiegten, wagte es Max, das Thema anzuschneiden. Cosmin hatte den Kopf auf Max’ Schulter gebettet, seine Hand glitt unter Max’ Schlafanzugjacke und streichelte die warme Haut darunter.
Das Licht der Leselampe auf dem Nachtschränkchen spiegelte sich in Cosmins schwarzen Augen. „Maxi, ich sollte jetzt besser in mein Zimmer rüber gehen“, flüsterte er.
Max zog Cosmin noch etwas fester an sich, als wolle er genau das verhindern. „Bleib noch ein bisschen“, bat er und spielte mit den Zotteln in Cosmins Nacken.
„Cos-Mi?“
„Hm?“
„Dieser Nachbar von dir, er hat mir erzählt, dass du nur ein paar Zentimeter vor der Dachkante gestanden hast. Wolltest du…?“
„Runter springen?“, beendete Cosmin Max’ Frage. „Der übertreibt. So nah habe ich mich gar nicht ran getraut. Aber es war, als würde ich nicht mehr klar denken können. Ich wusste nicht, wohin ich gehen soll, wo ich bleiben kann.“
Cosmin schloss die Augen und zögerte etwas, ehe er fortfuhr: „Ja, eine Stimme in meinem Kopf sagte mir, wenn ich da runter falle, sind meine Probleme gelöst.“
Er lachte freudlos auf. „Maxi, ich hatte Schiss, noch dichter an die Kante ran zu gehen und anders als die komische Stimme wollte ich es auch nicht.“
Max küsste Cosmins Stirn. „Hör’ nicht auf die Stimme, Cos- Mi. Niemals! Egal, was passiert, okay?“
„Okay!“ Cosmin hob den Kopf von Max’ Schulter und schaute zur Wanduhr über der Couch. „Ich glaube, gleich kommt mein Vater nach Hause. Was er wohl sagt, wenn er merkt, dass ich von zu Hause abgehauen bin?“
„Oh Scheiße, ich bin ein Vollidiot?“

Herr Munteanu

Er hatte sich bemüht, seine miese Laune halbwegs zu verbergen und seiner Kollegin Doreen nicht die Feier zum 45. Geburtstag zu verderben. Zumal er mit der Sekretärin der Firma, für die er arbeitete, seit einiger Zeit ein Verhältnis hatte. Schon einige Male hatte sie ihm die Abwesenheit seines Sohnes Cosmin versüßt.
Cosmin!
Bei dem Gedanken an den Sohn verriss Herr Munteanu das Lenkrad und verfehlte beim Einparken in seine von einer Straßenlampe beleuchteten Stellfläche den daneben abgestellten Fiesta nur knapp. Der Fiesta hatte wahrscheinlich noch mehr Jahre auf dem Buckel als der eigene Dacia und gehörte Herrn Richter, einem der Mitbewohner im Haus. Herr Munteanu warf beim Aussteigen einen Blick hinauf zum Fenster in der vierten Etage. Es brannte ein Licht im Zimmer, abgedunkelt durch Vorhänge, und fast schien es, als hätte sich einer der Vorhänge bewegt.
Im Fenster zwei Stockwerke tiefer spiegelte sich lediglich das Licht der Straßenlampe; im Zimmer war es dunkel.
Schläft der Junge?
Die Erinnerung an Cosmins blutende Lippe und das fassungslose Gesicht des Jungen hatte sich wie Säure hinter Herrn Munteanus Stirn eingeätzt.
Ich wollte Cosmin nicht schlagen.
Aber der Schock über das, was auf diesem ekelhaften Zettel zu sehen war, hatte ihm für einen Moment den Verstand geraubt.
In Porumbita ist so etwas undenkbar! Dort gibt es solche Männer nicht, und falls doch, würde man sie wahrscheinlich wie Aussätzige oder Geisteskranke aus dem Dorf jagen, überlegte Herr Munteanu, während er die Treppe zur Eingangstür hinauf stieg.
Er kramte sein Schlüsselbund aus der Hosentasche, aber noch ehe er die Haustür aufschließen konnte, schwang sie nach innen auf und Herr Richter trat ihm entgegen.
Will er etwa nachschauen, ob der Fiesta Kratzer abbekommen hat?
„Guten Abend, Herr Munteanu… Ihr Sohn“, keuchte Herr Richter und schnappte nach Luft, als hätte er einen Sprint hinter sich.
Ein leiser Schrecken durchfuhr Herrn Munteanus Brustkorb. „Was ist mit meinem Sohn?“
„Er ist mittags hoch aufs Dach gestiegen. Ich glaube, ich habe ihn im letzten Moment von der Dachkante weggerissen!“, antwortete Herr Richter.
Herrn Munteanu stockte der Atem. „Nein! Gott bewahre!“ Er wollte an Herrn Richter vorbei hoch in die Wohnung stürmen, doch der griff nach seinen Arm.
„Ihr Sohn ist nicht zu Hause! Ich habe ihn mit dem blonden, jungen Mann… dem Stiefbruder weggehen sehen“, rief er und berichtete von der Begegnung mit Max und davon, dass Cosmin nach Stunden am Flussufer das Haus mit zwei Rucksäcken beladen verlassen habe.
Schwer atmend betrat Herr Munteanu kurz darauf die verlassene Wohnung. Auf dem Küchentisch fand er einen Zettel mit Cosmins Handschrift.

„Tata, ich werde mich nicht von dir nach Rumänien bringen lassen, schon gar nicht während der Abiturprüfungen. Ich kann bei meiner Mutter bleiben. Und noch was. Ich weiß jetzt, was Liebe ist und ich werde kein Gras essen.“

Herr Munteanu fühlte sich, als wäre sein Kopf leergefegt. Er sank auf einen Küchenstuhl und vergrub das Gesicht in seinen schwieligen Händen.

Tja, Herr Munteanu, jetzt ist Ihr Sohn weg und vielleicht geht Ihnen ja bald schon auf, was Sie an ihm hatten!

Besuch bei einem Technikfreak

Max

Zwei Tage später, am Dienstag, fiel Max durch eine Prüfung. Wäre es eine Abiturprüfung gewesen, hätte er den Plan, zusammen mit Cosmin an der Dessauer Hochschule Architektur zu studieren, wahrscheinlich begraben können.
Insofern war es Glück im Pech, dass es sich bei der verpatzten Prüfung um die Theorieprüfung in der Fahrschule handelte. Er würde sie zwei Wochen später wiederholen können und Cosmin, der einmal mehr mit voller Punktzahl geglänzt hatte, versprach, bis dahin mit ihm auch alle möglichen Prüfungsfragen zu pauken.
Vor dem Debakel mit dem verräterischen Zettel hatten die Jungen überlegt, nach der Theorieprüfung in der Fahrschule bis zum Donnerstagabend einen Campingausflug in den einsamen Steinbruch am Petersberg zu unternehmen. Doch zum einen machte ihnen das regnerische Wetter einen Strich durch die Rechnung und die Wettervorhersage versprach erst ab Freitag eine Besserung. Zum anderen lag Cosmins gesamte Kletter- und Campingausrüstung immer noch in der Plattenbauwohnung. Cosmin traute sich nicht einmal tagsüber zurück in die Wohnung, um diese Sachen zu holen. Er wollte auf keinen Fall dem zum Schläger mutierten Vater begegnen.
Leon hatte sich für Max einige Angriffstechniken überlegt, die Judo und Martial Arts miteinander kombinierten. Simon war sofort bereit, Leons Vorschläge mit Max zu erproben und zu trainieren, zumal er längst gemerkt hatte, dass Max vor allem wegen der Kombination verschiedener Kampfsportarten praktisch jeden ihrer Trainingskämpfe gewann.

Während Max und Simon am Dienstag den späten Nachmittag damit verbrachten, auf Oma Lisas Dachboden die Deckung des anderen auszutricksen und zu überwinden, zog sich Cosmin in sein Zimmer zurück. Soweit Max wusste, tüftelte Cosmin dort schon den zweiten Tag an einer Aufgabe zur Technischen Mechanik, die ihm der Bukarester Architekturstudent Sergiu geschickt hatte. Und das, obwohl Cosmin dem Kumpel aus Rumänien die Lösung gar nicht zusenden konnte. Er hatte nämlich sämtliche Kontakte zusammen mit dem Handy eingebüßt, weil er sich weigerte, Kontaktdaten mit Google zu teilen. Den bislang einzigen Kontakt auf der neuen SIM - Karte hatte Cosmin " Fratele meu Max" genannt. Es war Max nicht schwer gefallen, die Übersetzung herauszufinden: „Mein Bruder Max“.

Nach dem Training und einer Katzenwäsche öffnete Max leise die Tür und spähte in Cosmins Zimmer. Cosmin hockte am Schreibtisch, wetterte leise über sein offenbar falsches Ergebnis und raufte sich die Zotteln, als würde das sein Hirn auf Trab bringen.
„Cos-Mi?“
Cosmin warf einen fahrigen Blick über die Schulter. „Hm?“
„Wir wollen Moritz abholen und uns zur Feier des Tages beim Italiener eine Pizza reinziehen.“
Cosmin strich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich fast bis zur verletzten Unterlippe kringelte. „Du bist durchgefallen, Maxi und wir müssen erst…“
„Wir feiern einfach deine hundert Prozent. Und meine hundert, die ich in zwei Wochen kriege, feiern wir auch. Komm schon!“
„Maxi, ich wollte die Lösung eigentlich noch heute an Sergiu schicken.“
Max runzelte die Stirn. „Hast du nicht gesagt, dass du seine Nummer nur auf dem Handy hast, das dir dein Alter weggenommen hat?“
Ein schwaches Lächeln huschte über Cosmins Lippen. „Sein Bruder Valentin ist Dozent an der Uni in Bukarest. Ich habe auf der Internetseite der Uni an Vali eine Nachricht geschrieben und er hat mir Sergius Nummer geschickt.“
„Schlaues Kerlchen, mein kleiner Bruder“, grinste Max. „Komm, mach ne Pause!“
Cosmin stemmte sich vom Stuhl. „Eigentlich hast du recht, großer Bruder. Ich brauche eine Pause.“

Oma Lisa saß an ihrem Computerarbeitsplatz in der von großen Rundbogenfenstern eingerahmten Nische des Wohnzimmers und schaute vom Monitor auf, als die drei Jungen durch das Wohnzimmer eilten. „Bleibt ihr nicht zum Abendessen?“
„Omi, wir feiern die bestandene Fahrschulprüfung in 'ner Pizzeria“, sagte Max und öffnete die Tür, die in den Hausflur hinaus führte.
„Müsstest du dann nicht hier bleiben, Max?“
„Er feiert heute, weil er die Prüfung übernächste Woche bestehen wird, Tante Lisa“, antwortete Cosmin an seiner Stelle. „Ich habe mir bereits alle möglichen Prüfungsfragen heruntergeladen.“
„Na dann kann ja nichts schief gehen“, sagte sie lächelnd. Simon verabschiedete sich höflich und schloss hinter sich die Tür.
„Echt cool, deine Oma“, wandte er sich an Max.
„Saucool“, bestätigte Max und warf Cosmin einen vielsagenden Blick zu. „Schade, dass ich mich nicht schon in der Elften bei ihr einquartiert habe.“

Moritz wohnte mit seinen Eltern in einer zumeist von Ein- und Zweifamilienhäusern gesäumten Straße am südlichen Stadtrand in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser. Die Jungen schoben ihre Räder durch die Toreinfahrt in einen geräumigen Innenhof auf der Rückseite des Hauses,der auf drei Seiten von Gärten begrenzt wurde. Mehrere Autos parkten im Hof, darunter auch Moritz’ kirschroter Renault Clio.
„Simmi, sagtest du nicht, du darfst dich hier nicht blicken lassen? Ich meine, weil die Alten von Moritz denken, du hättest ihn verschwult?“, fragte Max, während sie die Räder in die Fahrradständer an der Rückseite des Hauses schoben.
„Darf ich auch nicht“, schnaubte Simon. „Die ticken nicht richtig. Zum Glück sind die für zwei Wochen ausgeflogen.“
Auf einer Seite im Erdgeschoss des Hauses befand sich ein Schönheitssalon; die Wohnung von Moritz’ Eltern lag genau darüber. Moritz erwartete die drei Jungen bereits an der Wohnungstür. Er begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung.
„Ich dachte immer, meine Eltern sind daneben“, sagte Moritz, nach dem er die Wohnungstür geschlossen hatte und tätschelte Cosmins Arm. „Aber dein Vater ist noch viel krasser. Meinen Eltern würde nie die Hand ausrutschen. Und er wollte dich echt von deiner…“, er deutete mit den Fingern Anführungszeichen an, " ‚Krankheit‘ heilen, indem er dich nach Rumänien schickt und dir dort eine Frau als Medizin verordnet?"
Cosmin nickte schwach. „Nicht nur das. Er will, dass ich sie auch heirate.“
„Oh Mann!“, stöhnte Moritz.
Max winkte ab. „Der soll sich selber heilen! Cosmin wohnt jetzt bei uns.“
Die Jungen verstauten ihre Jacken an der Flurgarderobe. Max steuerte eine offen stehende Tür am Ende des Korridors an, die offenbar ins Wohnzimmer führte, doch Moritz deutete auf eine Tür gleich neben dem Garderobenschrank. „Warte Max, ich möchte euch mein Zimmer zeigen.“
Max machte auf dem Absatz kehrt und blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Das Zimmer in der elterlichen Wohnung in Berlin hatte schon während seines Vorschulalters eher an einen Fitnessraum erinnert und nicht wie das Zimmer eines kleinen Jungen ausgesehen. Moritz’ geräumiges Zimmer hingegen erschien ihm wie die Werkstatt eines Technikfreaks, was es wahrscheinlich auch war.
Auf der linken Seite beanspruchte eine unglaublich detailgetreue, vielleicht drei Meter lange und mehr als zwei Meter breite Eisenbahnplatte mit Hügeln, kleinen Städtchen, Bahnhöfen und grünen Wäldern einen großen Teil des Zimmers, Sie war an einem aus vier Metallstreben bestehendem Gestell befestigt, das fast bis an die Zimmerdecke reichte. Auf der anderen Seite reihten sich Schränke und mit Werkzeugen, Schrauben und Eisenteilen übersäte Regale aneinander. Auch auf dem Schreibtisch an der Fensterseite des Zimmers lagen Werkzeuge und die Innereien einiger Haushaltsgeräte.
Max blickte sich im Zimmer um. „Gibt’s hier auch so was wie ein Bett?“
„Es gibt“, grinste Moritz. Er griff nach einer Art Fernbedienung, die über einen Draht mit dem Gestell der Eisenbahnplatte verbunden war. Plötzlich ruckelte die Platte und glitt in ihrem Gestell nach oben, bis sie etwa einen halben Meter unterhalb der Decke stoppte. Von der Wand schwang ein Klappbett herunter. Es senkte sich auf einen aus Möbelplatten gefertigten und mit Bettzeug gefüllten Kasten, auf dem vorher die Eisenbahnplatte geruht hatte.
„Man kann sogar drauf schlafen“, kicherte Moritz. Er ließ sich auf das Bett fallen. Aus einer Zimmerecke löste sich ein kleiner Roboter, der an den Androiden R2D2 aus den Star Wars Filmen erinnerte. Cosmin hüpfte erschrocken beiseite, als der kleine Kerl an ihm vorbei rollte. Der Roboter stoppte am Kopfende von Moritz’ Bett. Moritz drückte einen Knopf auf dem Bauch des Roboters und an der Wand neben der Tür erwachte ein Fernsehschirm zum Leben.
„Verrückter Kerl!“, sagte Simon. In seiner Stimme schwang unverhohlener Stolz mit. „Das hat Ritzi alles selber gebastelt.“
„Fast alles!“ Moritz stemmte sich aus dem Bett. Er rückte seine Hornbrille gerade und ein melancholischer Zug dimmte das Strahlen in seinem Gesicht. „Früher habe ich viel zusammen mit meinem Vater hier 'rum gebastelt. Aber seit er weiß, dass ich… mit Simmi zusammen bin, ist es damit vorbei… ich halte es nicht mehr aus mit ihm. Er kennt nur noch ein Thema und versucht mir ständig einzureden, wie schön es wäre, später mal eine richtige Familie zu haben. Ich meine, mit Frau und Kindern und so.“
Max dachte jäh an eines der Gespräche zurück, die er am Wochenende in Berlin mit Leon geführt hatte.
Er ahnte, dass ihm irgendwann auch sein Vater dasselbe erzählen würde.

Heinzelmännchen

Max

Als Max und Cosmin am Abend von ihrem Ausflug in das italienische Pizza - Restaurant in der Nähe von Moritz’ Wohnung heimkehrten, hatte sich Oma Lisa bereits in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie verbrachten den Rest des Abends bei einem Radler auf der Couch im Wohnzimmer. Max’ rechter Arm lag um Cosmins Schulter und Cosmins linke Hand zeichnete unter dem Shirt Max’ Rippen und Muskelstränge nach.
Inzwischen deutete die Wettervorhersage für das Wochenende nicht nur ein Ende der kühlen und regnerischen Witterung an; sie versprach fast schon frühsommerliche Temperaturen. Die Klassenlehrerin Frau Dr. Meyer wollte am Freitag die Ergebnisse der Physikprüfung bekannt geben und Termine für Konsultationen zur Vorbereitung auf die Mathematikprüfung vergeben.
„Danach könnten wir zum Petersberg kutschen“, schlug Max vor und nippte am Radler.
Cosmin starrte auf den Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers, als würde dort ein spannender Film laufen. Das Gerät war jedoch abgeschaltet.
„Ich weiß nicht, Maxi. Ich trau mich nicht so richtig, mein Zeug zu holen. Was mache ich, wenn mein Vater zwischendurch nach Hause kommt, weil es regnet oder er in der Nähe arbeitet?“
Max zog den Arm von Cosmins Schulter und wischte auf dem Display seines Handys herum. „Morgen wird’s wohl nochmal schiffen“, murmelte er. „Aber am Donnerstag bleibt’s trocken. Ich komme mit, Cos-Mi. Falls er wirklich nach Hause kommt und dich wieder schlagen will, halte ich meine Lippe hin, okay?“
Cosmin fuhr mit dem Daumen sanft über Max’ Lippe, die er zwei Monate zuvor mit einem Fausthieb getroffen hatte. „Du meinst, sie ist so was schon gewöhnt?“ Er schien kurz mit sich zu ringen. „Na gut. Aber lass uns so zeitig wie möglich zu mir nach Hause fahren. Am besten noch vor seiner Frühstückspause.“
„Geht klar!“ Max leerte die Flasche und die Gedanken in seinem Kopf begannen um die bevorstehende Nacht zu kreisen. Sie hatten die zurückliegenden beiden Nächte zusammen in seinem Zimmer verbracht, aneinander geschmiegt zwar, aber krampfhaft darauf bedacht, kein Feuer in ihren Lenden zu entfachen.
Cosmin starrte Max aus seinen schwarzen Augen an und erriet offenbar, woran Max dachte.
„Maxi, ich glaube, es ist besser, wenn ich bei mir im Zimmer schlafe.“
„Nee, ich find’ das gar nicht besser“, widersprach Max. „Schnarche ich oder so was?“
„Quatsch! Ich habe nur das Gefühl, dass ich…“, Cosmin schien nach Worten zu suchen, „… deine Oma ist sehr großzügig und wenn ich ständig bei dir schlafe, fühle ich mich so, als würde ich ihr Vertrauen missbrauchen. Außerdem…“
„Hm?“
„Ich habe schon lange nicht, du weißt schon was… gestriffelt. Vielleicht passiert es wieder, dass ich was träume und dich dabei … äh… rammle.“
Max lachte herzhaft auf. „Von mir aus kannst du mich die ganze Nacht durch rammeln. Ich find’s geil. Und meine Oma hat garantiert kein Problem damit, wenn du bei mir pennst.“
Cosmin leerte seine Flasche ebenfalls. „Trotzdem…“, sagte er leise.

Nach der Abendtoilette schlüpfte Max unter seine Bettdecke. Er hoffte einige Minuten, dass Cosmin ihm in der Nacht erneut Gesellschaft leisten würde. selbst wenn sie dabei wieder nur beieinander lagen und die Hände vom Schoß des anderen fernhielten. Aber wie es schien, blieb Cosmin an diesem Abend doch lieber im eigenen Zimmer.
Max löschte das Licht der Leselampe. Nur wenig später entglitten ihm die Gedanken und er döste nächtlichen Träumen entgegen.
Cosmins Flüstern wehte an sein Ohr. „Maxi, schläfst du schon?“
Auch wenn Max nicht mehr so richtig wusste, ob er Cosmins Flüstern bereits träumte, brachte er ein „Nö…“ über die Lippen.

Cosmin

Am Donnerstag brachen beide Jungen gleich nach dem Frühstück ins Plattenbauviertel in der Nähe des Rathauses auf. Falls Cosmins Vater dort irgendwo auf einem Dach arbeitete, würde er möglicherweise zusammen mit einem Kollegen die Frühstückspause am Küchentisch der eigenen Wohnung verbringen. Bis dahin wollten die Jungen wieder aus der Wohnung verschwunden sein.
Sie erreichten den Plattenbau mit der Wohnung von Cosmins Vater und sahen, dass Herr Richter einmal mehr die Aussicht aus seinem Fenster genoss. Allerdings tauchte er ab, sobald er Cosmin und Max erblickt hatte.
„Der Kerl nervt. Wenn der schnallt, was zwischen uns läuft, weiß es morgen die halbe Stadt“, zischte Max, während sie ihre Räder in den Fahrradständer neben der Eingangstreppe des Hauses schoben. Cosmin wandte den Blick vom Dacia seines Vaters ab. Da das Auto vor dem Haus parkte, arbeitete sein Vater entweder ganz in der Nähe oder auswärts.
„Deswegen musst du dir keine Sorgen machen“, beruhigte er Max. „Er glaubt, ich bin immer noch mit einem Mädchen aus Rumänien verlobt und von dir weiß er, dass du schon seit drei Jahren mit einer aus Berlin zusammen bist.“
Die Haustür öffnete sich und Herr Richter trat an die neben der Eingangstür aufgestellten Briefkästen heran. Als die Jungen die Eingangstreppe hinauf stiegen, wandte er sich zu ihnen um. „Dein Vater ist nicht zu Hause, Junge. Er wurde schon heute morgen kurz nach sechs von einem Kollegen mit dem Transporter abgeholt. Er arbeitet also auswärts und kommt bestimmt erst spät nach Hause.“
Cosmin nickte. „Ja ich weiß“, log er und fragte sich, ob bei dem Mann vielleicht doch ein paar Schrauben locker waren, wenn der schon morgens um sechs aus dem Fenster spähte. „Trotzdem danke, Herr Richter.“
Sie wieselten die Treppe hinauf und atmeten auf, nachdem sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte.
„Hier riechts!“, sagte Max.
Cosmin ahnte bereits, was sein Vater angerichtet hatte und schaute in der Küche nach.
„Oh nein!“, stöhnte er. In zwei Töpfen, die auf dem mit Speiseresten verkrusteten Herd standen, fand er eine angebrannte, braune Pampe. Offenbar hatte sein Vater zweimal versucht, Maisbrei zu kochen und hatte dabei nicht nur viel zu viel Maismehl verwendet sondern auch das Umrühren vergessen. Was gestern Abend in der Pfanne gebrutzelt hatte, konnte Cosmin nicht mehr entziffern. Er räumte benutztes Geschirr aus der Spüle und vom Küchentisch in den Geschirrspüler und stellte die Maschine an.
„Was machst du denn da? Wir wollten dein Zeug holen und wieder verschwinden!“, rief ihm Max vom Korridor aus zu.
Cosmin ließ den Blick über die im Wohnzimmer verstreute Wäsche seines Vaters schweifen. Innerhalb einer Woche würde sich die Wohnung in eine Müllhalde verwandeln, wenn niemand für Ordnung sorgte. „Maxi, er kommt erst heute Abend zurück. Ich kann das hier nicht so lassen.“
Max schnaubte leise. „Er hat dich blutig geschlagen.“
„Er hat sich aber auch jahrelang für mich abgerackert“, erwiderte Cosmin und warf einen Blick in den Kühlschrank. Wäre nicht die Sache mit dem verräterischen Zettel dazwischen gekommen, hätte er ihn am Montag mit dem Wocheneinkauf aufgefüllt. Wie erwartet herrschte gähnende Leere im Kühlschrank. „Er ist es nicht gewohnt, allein den Haushalt zu führen“, versuchte Cosmin, die Unordnung zu rechtfertigen.
„Er ist ein erwachsener Mann, Cos-Mi!“, knurrte Max und blickte sich nun ebenfalls im Wohnzimmer um. „Okay, womit fangen wir an? Aber ich fasse nicht seine Unterwäsche an!“
Cosmin drückte Max an sich. „Wieso nicht? Bei meiner hast du dich doch auch nicht so zimperlich.“
Max erwiderte Cosmins Umarmung. „Ich glaube, bei dir beruht das auf Gegenseitigkeit.“
Cosmin fühlte ein Kribbeln, das sich in seinem Bauch ausbreitete, obwohl sie es in der vergangenen Nacht zum ersten Mal seit seiner Flucht zu Max’ Großmutter gewagt hatten, ihren Heißhunger aufeinander wenigstens etwas zu stillen. Er löste sich vorsichtshalber aus Max’ Armen.
„Am besten, wir teilen uns auf.“
Cosmin ging in sein Zimmer. Er hatte gehofft, hier auch sein Handy zu finden, aber wie es schien, trug sein Vater es bei sich. Er kramte aus einem der Fächer seines Schreibtischs einen Fünfzig - Euro - Schein und reichte ihn Max, der ihm ins Zimmer gefolgt war.

Max starrte den Geldschein entgeistert an. „Willst du mich bezahlen, weil ich dir helfe?“
Cosmin setzte sich und begann, eine Einkaufsliste zu erstellen. „Maxi, würdest du ein paar Sachen für meinen Vater einkaufen? Ich könnte mich in dieser Zeit um die Wäsche kümmern und hier sauber machen.“
Max schien nicht gerade begeistert über die ihm zugeteilte Aufgabe zu sein, brach aber kurz darauf zu einem nahe gelegenen Supermarkt auf.

Während Waschmaschine und Geschirrspüler vor sich hin rumpelten, schrubbte Cosmin zur selben Zeit Töpfe und Pfannen. Anschließend reinigte er den Teppichboden des Wohnzimmers mit dem Staubsauger, brachte den Müll sowie die anderen Abfälle nach draußen zu den Containern und wienerte Tische, Herd und Schränke.
Max kehrte, beladen mit zwei prall gefüllten Beuteln, vom Einkauf zurück, stellte sie in der Küche ab und spähte ins Wohnzimmer. " Sieht ja wieder wie 'ne Wohnung aus. Brauchst du noch lange?"
„Ich möchte ihm für ein paar Tage das Essen vorbereiten, sonst sehen die Töpfe morgen wieder so aus.“
Max jaulte leise auf.
„Maxi, so richtig helfen kannst du mir nicht dabei. Vielleicht, wenn du möchtest… du könntest mit ein paar von meinen Sachen schon zurück…“
Weiter kam Cosmin nicht.
„Bist du irre? Ich lass dich nicht alleine hier. Falls dein Alter früher zurück kommt, halte ich die Lippe hin, schon vergessen? Los, was soll ich tun?“
osmin atmete erleichtert auf. „Danke großer Bruder“, sagte Cosmin und drückte Max einen Kuss auf die Wange. „Du könntest die Kartoffeln schälen.“
Auch wenn bei Max von den Kartoffeln nach dem Schälen nicht allzu viel übrig blieb, war Cosmin froh, dass er währenddessen einen großen Topf mit Maisbrei und einen weiteren mit Gulasch zubereiten konnte, ohne dass anschließend angebrannte Pampe die Töpfe verkrustete. Nach dem Abkühlen befüllte er Frischhaltedosen mit den zubereiteten Mahlzeiten, beschriftete auf die Dosen geklebte Zettel und verstaute sie im Kühlschrank und in der Gefriertruhe.

Die Wohnzimmeruhr zeigte bereits 14 Uhr, als Cosmin endlich sämtliche Wäsche im Trockner getrocknet sowie in den Kleiderschränken verstaut und Max das gereinigte Geschirr in die Küchenschränke gestellt hatte. Cosmins Vater würde zudem vier oder fünf Tage kein Essen kochen müssen. Cosmin erwartete nicht, dass sein Vater die Meinung über die Beziehung zu Max ändern würde; aber vielleicht würde er ihn nicht mehr als eine Schande ansehen und eines Tages wieder wenigstens mit ihm reden wollen.

Dieser Tag kam schneller als erwartet.

Bitte komm zurück!

Cosmin

Einen Tag später versammelten sich alle Schüler der zwölften Klassen, die an der Physikprüfung teilgenommen hatten, gegen 10 Uhr im Klausurraum. Frau Dr. Meyer teilte an die Schüler die Prüfungsbögen zur Einsichtnahme aus und gab die Namen der Pechvögel bekannt, die durchgefallen waren und deshalb zur Nachprüfung mussten. Zu diesen Schülern zählten auch Chris und Anton. Cosmins Mitleid mit den beiden hielt sich in engen Grenzen. In der elften Klasse hatten die Kerle ein Jahr lang ihre Physikhausaufgaben von ihm abgeschrieben und in diesem Schuljahr waren es Michel und Norman gewesen, von denen sie sich bei den Hausaufgaben „Hilfe“ geholt hatten.

Nach einer Stunde sammelte die Lehrerin die Prüfungsbögen wieder ein. Die Terminvergabe für die Konsultationen zur Mathematikprüfung wollte sie im Klassenraum ihrer Klasse fortsetzen.
Max und Cosmin erhoben sich wie alle anderen Schüler von den Plätzen, um den Klausurraum zu verlassen, doch Frau Dr. Meyer bat die beiden Jungen zu sich an den Lehrertisch.
„Erst einmal Glückwunsch zu euren Prüfungsnoten“, sagte sie lächelnd und verstaute den Stapel Prüfungsbögen in einem Karton. „Ihr nehmt nächsten Mittwoch auch zusammen an der Geschichtsprüfung teil, oder?“
Cosmin nickte. Max warf ihm einen Blick zu. Vermutlich ahnte er ebenfalls, dass die Lehrerin sie nicht zu sich gebeten hatte, um sich über ihre Teilnahme an der Geschichtsprüfung zu informieren.
„Viel Erfolg auch bei dieser Prüfung.“ Ihr Blick wanderte von Cosmin zu Max und wieder zurück zu Cosmin und blieb an der noch nicht ganz verheilten Verletzung seiner Unterlippe hängen. „Mir wurde etwas für dich gegeben, Cosmin. Hättest du nach der kommenden Stunde ein paar Minuten Zeit?“
Cosmin überlegte fieberhaft, wer etwas bei der Lehrerin für ihn hinterlassen haben könnte, doch ihm fiel niemand ein. „Kein Problem. Aber wer hat Ihnen was für mich gegeben?“
„Darüber möchte ich nach der Stunde mit dir reden.“ Sie wandte sich an Max. „Ich glaube, die Sache betrifft dich ebenfalls, Maximilian. Deshalb hätte ich dich bei dem Gespräch mit Cosmin gern dabei.“
„Geht klar.“ Max zuckte mit der Schulter.

„Sie glaubt doch hoffentlich nicht, dass ich dir die blutige Lippe verpasst habe“, sagte Max, als sie gleich darauf durch den Schulflur zu ihrem Klassenraum schlenderten.
Cosmin schüttelte den Kopf. Inzwischen hatte er einen vagen Verdacht. „Ich bin nicht sicher, wer ihr was für mich gegeben hat, aber meine Mutter weiß nicht, wo wir… also mein Vater und ich, wo wir wohnen. Vielleicht ist sie in Dessau und hat raus bekommen, wo meine Schule ist?“
Max verdrehte die Augen und stöhnte leise auf. Cosmin war ebenso wenig erpicht darauf, ihr hier zu begegnen, aber eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein.
„Meine Mutter würde sich nicht zu deiner Oma wagen. Vielleicht war sie es. Und du bist immerhin ihr Stiefsohn. Frau Dr. Meyer weiß, dass wir Stiefbrüder sind.“
„Und warum hat die dann so auf deine Lippe geguckt?“
Darauf wusste Cosmin keine Antwort. Es hatte fast so ausgesehen, als wüsste die Lehrerin, wie er sich diese Verletzung zugezogen hatte.

In der darauffolgenden Stunde vergab Frau Dr. Meyer Termine für Konsultationen, die interessierten Schülern bei der Vorbereitung auf die Mathematikprüfung helfen sollten. Zudem verteilte sie Zettel mit Aufgaben aus früheren Prüfungen und versprach, die Lösungen zu diesen Aufgaben in einigen Tagen online zur Verfügung zu stellen.

Nach der Stunde warteten Max und Cosmin, bis die anderen Schüler den Raum verlassen hatten und traten an den Lehrertisch. Frau Dr. Meyer deutete auf eine Schulbank. „Setzt euch“, sagte sie, zog sich einen Stuhl heran und nahm auf der anderen Seite der Bank Platz. Sie legte eine Einkaufstüte aus Plastik auf den Tisch. Cosmin konnte zwar nicht erkennen, was sie enthielt, es handelte sich jedoch nur um einen kleinen Gegenstand.
„Cosmin, dein Vater hat mich gestern Abend angerufen. Er wollte wissen, wann du wieder in der Schule bist.“
Ein leiser Schrecken durchfuhr Cosmin. „Sie haben es ihm gesagt?“
Die Lehrerin seufzte, ihr Blick ruhte erneut auf seiner verletzte Lippe. „Ich fand eine solche Frage etwas seltsam, um es mal vorsichtig auszudrücken und wollte wissen, warum er sie dir nicht selber stellt.“
„Wir hatten eine… Meinungsverschiedenheit“, erklärte Cosmin. „Ich bin deshalb von zu Hause…“ Er verschluckte den Rest des Satzes.
„… weggelaufen, ich weiß“, half ihm die Lehrerin, den Satz zu beenden. „Er bat mich, dir das hier zu geben und brachte es heute morgen während der großen Pause vorbei.“ Sie schob die Plastiktüte auf Cosmins Platz.
„Er wirkte sehr betreten und unsicher. Ich glaube, was immer er bei eurer Meinungsverschiedenheit gesagt oder getan hat, es tut ihm Leid. Vielleicht könnt ihr euch aussprechen.“
Max schnaubte leise. „Und dann schnappt er sich Cosmin und schafft ihn doch noch nach Rumänien!“
Cosmin starrte auf die Plastiktüte. Inzwischen ahnte er, was er darin finden würde.
„Ich weiß nicht“, erwiderte er verunsichert. „Für ihn ist es eine Schande“, ergänzte er, ohne ihr zu erklären, was genau die Schande für seinen Vater sei. Ohnehin schien sie zu ahnen, worum es bei der Meinungsverschiedenheit mit seinem Vater gegangen war.
„So wie er von dir sprach, klang es für mich nach Zuneigung und Stolz und nicht nach Schande. Im Zorn sagt man manchmal Worte, die man gar nicht sagen wollte.“
Frau Dr. Meyer erhob sich. „Ich muss zum Unterricht.“ Sie tätschelte kurz Cosmins ineinander verknotete Hände. „Viel Glück! Euch beiden!“

„Ich mag sie“, sagte Max, nach dem Frau Dr. Meyer den Raum verlassen hatte. Er tippte auf die Plastiktüte. „Nun guck’ endlich nach, Cos-Mi!“
Wie Cosmin es vermutete, lag sein Handy im Beutel, außerdem noch ein verschlossener Briefumschlag. „Gibt er dir das Handy zurück, weil wir bei ihm Heinzelmännchen gespielt haben?“, fragte Max und beäugte den Briefumschlag.
Cosmin zuckte mit der Schulter. Er öffnete den Briefumschlag und fischte vier Fünfzig - Euro - Scheine daraus hervor.
„Was soll das? Wofür schickt er mir Geld?“, flüsterte er und entfaltete einen Zettel, der ebenfalls im Briefumschlag gesteckt hatte, wobei er sich beim Lesen mehrmals Tränen aus den Augen blinzeln musste, weil sie seinen Blick verschleierten.
Max umfasste Cosmins Schulter. „Mann, Cos-Mi, sag mir endlich, was da steht!“
Cosmin nickte schwach und begann zu übersetzen:

„Cosmine, mein Junge, ich möchte, dass du zurück kommst. Oder mich wenigstens anrufst. Bei Gott, ich mache mir große Sorgen. Glaube mir, ich bereue, was ich gesagt habe und dass ich dich geschlagen habe. Ich werde auch versuchen, mein Versprechen zu halten, obwohl ich damals dachte, du meintest eine Frau. Ich vermisse dich!
Dein Vater
Ich lege etwas Geld in den Umschlag, damit du dir dein Essen kaufen kannst.“

„Du wirst doch nicht zu ihm zurück gehen, oder?“ Max’ Stimme klang fast so, als wäre er zur Herausgabe sämtlicher Backenzähne verdonnert worden.
Cosmin verstaute in Gedanken versunken die Geldscheine, den Brief und das Handy in seinen Hosentaschen. Die Erinnerung an das vor Wut verzerrte Gesicht des Vaters und an den unseligen Faustschlag hatte sich wie eine missratene Tätowierung in sein Hirn eingebrannt. Würde sie jemals wieder verblassen?
„Ich weiß es nicht“, sagte Cosmin, als er zusammen mit Max aus dem Raum trottete.
„Und das Versprechen… was hatte er dir versprochen?“
Cosmin warf Max einen langen Blick zu. „Dass er es akzeptiert, mit wem ich zusammen sein möchte. Auch dann, wenn ihm meine Wahl nicht gefällt.“