Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Zeig wie das geht!

Max

Obwohl er für das Nachschlagen unbekannter Vokabeln im Wörterbuch mehr Zeit benötigte als mit dem Google - Übersetzer auf seinem Handy, beendete Max nach nur etwas mehr als einer Viertelstunde die Übersetzung der letzten beiden Absätze des Zeitungsartikels. Die meisten asiatischen Kampfsportvideos auf Youtube oder Tik Tok liefen mit englischen Untertiteln und so gehörte Englisch zu den wenigen Fächern, in denen er nicht auf Nachhilfe angewiesen war.
Max reichte Herrn Schneider das Blatt mit der Übersetzung. Einmal mehr fand Max, dass der Englischlehrer mit der zerwurstelten, fast schulterlangen weißen Mähne und dem ebenso weißen Vollbart aussah, als wäre er schon als Weihnachtsmann auf die Welt gekommen.
Herr Schneider warf einen kurzen Blick auf das Blatt. „Sieht gut aus, Herr Weller“, sagte er und drückte Max das Blatt in die Hand.
Ich wette, der hat kein einziges Wort gelesen!
Max schnappte seinen Rucksack. „Sehr hilfreich, der Artikel. Da stand drin, was ich schon immer wissen wollte.“
„Ach echt?“ Herr Schneider grinste wie ein Weihnachtsmann, der Kohlestücken statt Schokoplätzchen an Kinder verteilt. „Ich bin nach der Hälfte des Textes eingeschlafen.“
Und wir mussten den Mist nicht nur lesen, sondern auch noch übersetzen!, fluchte Max leise und verließ den Raum.

Er nahm an, dass Cosmin mutterseelenallein an den Fahrradständern auf ihn warten würde. Doch als er aus der Eingangshalle der Schule ins Freie trat, traute er seinen Augen nicht. Der Vorplatz war zwar verwaist, doch an den Fahrradständern umringten Cosmin, Simon, Moritz und zwei Mädchen ein Fahrrad, an dem Florian den Hinterreifen aufpumpte. Eines der Mädchen war Nervensäge Maja und das andere…
Hazel?

„Hazel!“
Hazel drehte sich zu ihm um, ihr hübsches Gesicht erstrahlte. „Maxi!“
Max sprintete los und riss Hazel an sich. „Was treibst du denn hier? Willst du die Schule wechseln?“
Hazel verpasste Max einen Kuss auf die Wange. „Ich überlege noch. Aber eigentlich bin ich hier, weil ich es nicht erwarten konnte, meinen Lieblingscousin und seinen Stiefbruder zu sehen. Außerdem soll ich dafür sorgen, dass ihr mit mir zum Mittagessen kommt und nicht im Burger King versumpft.“
Sie hakte sich bei Max unter und zusammen gesellten sie sich zu den anderen.
Simon knuffte Max in die Seite. „Bleibt es dabei, heute so gegen halb fünf bei dir auf dem Dachboden?“
Max packte Simons Arm und deutete einen Wurf an. „Klar, du und Cosmin gegen Hazel, meinen Cousin Cal und mich. Das wäre mal was Neues.“
"Und Max… " Simon nickte in die Runde. „Wir rätseln gerade, wie man Spagat auf 'ner Reckstange macht. Zeigst du uns, wie’s geht?“
Max tat so, als würde er den Vorplatz nach einem Reck absuchen. „Hier?“
Hazel schubste ihn sanft. „Dummkopf! Ich will es auch sehen. Zeig uns beim Training, wie es geht!“

Bereits im Korridor des Hauses von Oma Lisa wehte ihnen der Duft nach frittierten Hähnchenstücken, Salaten und frischen Backwaren um die Nasen. Im Wohnzimmer verteilte die Oma Schüsseln mit Salaten auf dem Tisch. „Da seid ihr ja!“, begrüßte sie die Jungen und drückte erst Max und dann auch Cosmin an sich. „Ich hoffe, ihr beiden habt euch gut verstanden, als ich in Hannover war.“
Max schien es, als würde seine Oma ahnen, dass sie sich viel besser als nur gut verstanden hatten. Er schnaubte leise. „Cos-Mi ist der nervigste Stiefbruder, den ich je hatte. Ich durfte uns nicht mal eine Pizza bestellen.“
„Ach ja, und wie viele Stiefbrüder hattest du?“, konterte Cosmin.
„Nur den einen, der so nervig ist“, grinste Max und blickte sich suchend um. „Wo ist mein Lieblingscousin?“
„Mäxy, I am here!“, erönte Cals Kinderstimme vom oberen Ende der Treppe, die bis hinauf ins Dachgeschoss führte. Gleich darauf flog ihm ein zwölf Jahre alter und in Sportsachen gekleideter Knabe in die Arme.
„Wie geht’s, Americano?“ fragte Max und zauste Cals blondes Stoppelhaar.
„Super! Ab nächstes Jahr darf ich auf die Junior Highschool in Palm Springs!“ Cal zerrte an Max’ rechtem Arm. „Come on, Mäxy. Du musst mir nochmal zeigen, wie man gegen die Boxsäcke tritt! Bei mir wollen die nicht richtig wackeln.“ Er bemerkte nun auch Cosmin. „Hey, du bist Mäxys indian brother Cosmin. Du kannst Mäxy helfen, wenn ich mit ihm kämpfe. Los kommt!“
Cal griff nach Cosmins Hand und Cosmin schien dem Drängen des Knaben nachgeben zu wollen, doch Oma Lisa deutete auf den Wohnzimmertisch. „Cal, wir essen in zehn Minuten. Außerdem müssen Max und Cosmin nach dem Essen sicher erst ihre Hausaufgaben erledigen.“
„Die schaffen wir in einer Stunde“, versprach Cosmin und Max fügte hinzu: „Vor den Hausaufgaben zeig’ ich dir noch mal, wo du bei den Boxsäcken hin treten musst, damit die richtig wackeln.“

Während des Mittagessens berichtete Cal stolz, wie er in seinem Karateclub zu den Besten seiner Altersgruppe aufgestiegen war. Aus den Augenwinkeln und durch einen Vorhang seiner blonden Haarsträhnen sah Max, dass Hazel, die ihm am Tisch gegenüber saß, abwechselnd ihn und Cosmin musterte und dabei ein Lächeln ihre Lippen kräuselte.
Sie ahnt was! Cos-Mi und ich, wir hocken wie siamesische Zwillinge zusammen und merken es nicht einmal!
„Wieso geht Cal ab der Siebenten auf eine Junior - Highschool?“, fragte Max, als Cal an einem knusprigen Filetstück nagte und darüber offenbar das Weiterreden vergaß. Max versuchte möglichst unauffällig, ein paar zusätzliche Millimeter zwischen sich und Cosmin zu bringen.
Seine Oma seufzte und verzog ihr Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Das Lächeln schwand von Hazels Lippen.
„Unsere Eltern werden nach Amerika zurückkehren, wenn ich nächstes Jahr mit dem Abi fertig bin. Ich möchte in Hannover bleiben und dort studieren, aber Grandma und Grandpa holen Cal schon diesen Sommer nach Palm Springs.“
„Die Schule dort war viel cooler und mein Freund Hawk geht auf dieselbe Highschool“, platzte Cal mit vollem Mund dazwischen.
Max spürte, dass er bei diesem Thema zwischen die Fronten geraten konnte. Einerseits erinnerte ihn Hazels Wunsch, in Hannover zu bleiben, an Leon. Sein Onkel hatte sich als Dreizehnjähriger mit Händen und Füßen gesträubt, die Eltern nach Costa Rica zu begleiten und war bei dessen Bruder - seinem Vater - geblieben. Andererseits hatte Cal einen Teil seiner Kindheit bei den Großeltern in Kalifornien verbracht und nie einen Hehl daraus gemacht, wie uncool er das Leben in Deutschland fand.
„Ich war mit Leon mal ne Woche in der Nähe von Palm Springs, im Joshua Tree Nationalpark… ein geiles Klettergebiet“, versuchte Max dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, aber nun zog Cosmin ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Nach wie vor schien Cosmin allergisch auf den Namen Leon zu reagieren.
„Apropos Klettern. Glückwunsch zur Quali, Maxi“, wischte Hazel das Thema Auswandern beiseite. „Zeig uns am Samstag in der Kletterhalle diese Route!“
„Ja, Mäxy, zeig uns, wie du die kletterst.“
Max stöhnte leise auf. „So langsam muss ich 'ne Liste machen, was ich alles zeigen soll.“

Nach dem Mittagessen begab sich Max wie versprochen mit Cal auf den Dachboden und demonstrierte an einem der großen Boxsäcke, wie er sie zum „Wackeln“ brachte, während Cosmin der Oma und Hazel beim Abräumen des Geschirrs und der übrig gebliebenen Speisen half.
Anschließend verzogen sich Max und Cosmin in Max’ Zimmer, um die Hausaufgaben des Tages und einige zusätzliche Übungen abzuarbeiten.
Max bemerkte, dass sich unter dem Schreibtisch ihre Beine wie üblich aneinander schmiegten.
Cosmin schien von dieser unter dem Tisch versteckten Zärtlichkeit keine Notiz zu nehmen. „Deine Oma wird Hazel und Cal am Sonntagvormittag zurück nach Hannover bringen und bis Dienstag dort bleiben“, sagte er so, als würde er die Lösung einer Matheaufgabe erklären. „Sie hätte nichts dagegen, wenn ich dich wieder nerve, solange sie in Hannover ist.“
„Echt? Oh Mann!“
Max zog Cosmin kurz an sich. „Nerv’ mich, Cos-Mi!“, flüsterte er Cosmin ins Ohr. „So oft und so lange du willst. Denkst du, dass dein Alter dich lässt?“
Cosmin befühlte Max’ Stirn und verbog die Lippen zu einem Grinsen. „Maxi, so lange dein Fieber nicht weg ist, werde ich weiter auf dich aufpassen müssen.“
Nach den Hausaufgaben löste Max mit Cosmins Hilfe noch einige Übungsaufgaben zum aktuellen Stoff in Mathe. Cosmin rechnete damit, dass die Mathelehrerin Frau Dr. Meyer die Klasse schon bald mit einer unangekündigten Leistungskontrolle überraschen könnte.

Gegen halb vier klopfte es an der Tür und Cal steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Hey, die Stunde für eure Hausaufgaben ist längst um!“
Max sprang vom Stuhl auf und zog Cosmin mit auf die Füße. „Cal hat Recht, genug gepaukt. Jetzt wackeln wir Boxsäcke!“
Aus einem der Schränke im Korridor entnahm Max einen aus Rattan geflochtenen Teppichklopfer.
„Was ist das für ein Ding?“, fragte Cal und schnappte sich den Teppichklopfer.
Max kraulte Cals Stoppelhaar. „Damit kannst du mich gleich verprügeln.“

Das war knapp!

Cosmin

Cosmin hatte geahnt, dass Oma Lisa in ihrer Jugend wie ihre Kinder Turnerin gewesen war, zumal sie immer noch mit einer Figur glänzte, um die sie vermutlich viele Frauen beneideten.
Dennoch war er überrascht, sie hier auf dem Dachboden in Trainingssachen zu sehen. Sie stand neben dem Reck und wachte nicht nur mit Argusaugen über Hazels Turnübungen an der tiefer gelegten Stange, sie stützte auch Hazels in der Schwebe gehaltenen Oberkörper. Mit einem eleganten Rückwärtssalto ließ sich Hazel von der Stange gleiten.
„Maxi, zeig mir, wie du das mit dem Spagat auf der Stange gemacht hast.“ Ihre Stimme verriet, dass sie mehrere erfolglose Versuche hinter sich hatte.
Max winkte ab. „Das ist nur so 'ne Gleichgewichtsübung für’s Klettern, Hazel, und hat nicht allzu viel mit Turnen zu tun.“
„Nun zeig ihr doch mal, wie du es gemacht hast“, mischte sich nun auch Oma Lisa ein. „Aber lass die Stange hier unten.“
„Nö, so krieg ich das nicht hin“, erwiderte Max und löste die Arretierung der Reckstange, um sie höher zu schieben.
Cosmin fasste mit zu und half ihm dabei. „Ist das nicht gefährlich, Maxi?“, raunte er Max zu. „Wenn du da runter fällst… ich weiß nicht, ob ich dich auffangen kann.“
„Ich lass mich in deine Arme fallen, okay?“
Cosmin schnaubte leise. „Vergiss es! So was machst du mit Absicht. Ich trete beiseite, wenn du runter fällst!“
Max erwiderte Cosmins Schnauben mit einem Grinsen. Er stieg in seine Turnsachen, griff anschließend in eine mit Talkum gefüllte Schüssel und verrieb etwas von dem weißen Pulver auf seinen Händen.
Dann zog er sich an der Stange mit einer Leichtigkeit nach oben, als würde für ihn die Erdanziehung nicht existieren. Max’ Oberkörper flog an der Reckstange vorbei, bis er sein Gewicht mit gestreckten Armen an der Stange abstützte.
Zwar schaffte es Cosmin inzwischen ebenfalls, einen Klimmzug mit dem Stützen des Körpers an der Reckstange zu kombinieren, freilich weit weniger elegant als es Max gerade vorgeführt hatte.
Max begann die Beine zu spreizen, bis sie eine Linie bildeten. Cosmin bemerkte, dass ihm der Mund offen stand.
„Bis dahin schaffe ich es auch“, rief ihm Hazel zu. „Aber wie bekommt man die Beine auf die Stange, ohne dabei abzurutschen?“
„Keine Ahnung, ich mach’ das immer so hier.“
Die Muskelstränge an Max’ Armen schwollen an, als er den Griff um die Stange verstärkte. Erst als sich die Füße auf die Stange senkten, lockerte Max den Griff, behielt aber die Hände an der Stange.
„Wow!“ Hazel zückte ihr Handy und schoss mehrere Fotos. „Mein Dad wollte es nicht glauben, als Omi ihm das Foto schickte.“
„Crazy, Mäxy!“ Cal klatschte begeistert in die Hände. „Kannst du die Stange auch loslassen?“
Oma Lisa schüttelte mit dem Kopf. „Nein, das ist zu gefährlich!“
„Ach was, geht alle beiseite, falls ich abspringen muss“, rief Max von der Reckstange herunter.
Cosmin verharrte mit ausgestreckten Armen unterhalb der Reckstange. Zwar bedeckten weiche Matten den Boden, aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche Folgen ein Sturz haben konnte. „Maxi, echt jetzt, das reicht! Komm runter dort!“
„Cosmin hat Recht, lass den Unfug!“, stimmte Hazel zu und zog Cal vom Reck weg.

Max

Natürlich hatte Max es oft genug bei dieser zugegebenermaßen recht ausgefallenen Gleichgewichtsübung ausprobiert, die Reckstange loszulassen. Aber er hatte die Hände stets so gehalten, dass er die Stange sofort packen konnte, wenn er das Gleichgewicht verlor.
Vielleicht war es Cals Begeisterung, die Max unvorsichtig werden ließ, vielleicht mischte auch Trotz mit, weil er erst etwas zeigen sollte und das dann plötzlich Unfug war, den er bleiben lassen sollte. Max löste die Hände von der Stange.
Er spannte jeden seiner Muskelstränge, um den Körperschwerpunkt bei der Bewegung der Hände haargenau über der Stange zu halten.
Im Zeitlupentempo verschränkte er die Arme, grinste zu Cal hinunter und zwinkerte Hazel zu, die aus weit aufgerissenenen Augen zu ihm hinauf starrte.
„Und jetzt pups’ mal, Mäxy!“
„Hey, nicht wenn…“ Der Rest des Satzes blieb Max im Halse stecken. Er kippte nach hinten. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappte er nach der Stange, doch seine Hände griffen ins Leere.
Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Plötzlich ging ihm auf, dass er bei einem Sturz aus dieser Höhe und einer Bruchlandung auf dem Kopf oder dem Rücken sich das Genick oder das Rückgrat brechen konnte.
„Scheiße!!! Cos-Mi!!!“
Wie aus weiter Ferne hörte er einen Aufschrei der Oma, dann knallte sein Kopf gegen etwas Hartes. Cosmin stieß hinter ihm einen Fluch aus, zugleich fühlte Max, dass Cosmins Körper seinen Sturz bremste. In Cosmins Armen krachte Max auf die Matten.
Max wälzte sich von Cosmin herunter und sah, dass sich Cosmin krümmte und die rechte Hand gegen die Stirn presste.
Er nahm Cosmin in die Arme. „Scheiße, das wollte ich nicht, bist du okay, Cos-Mi?“
Cosmin stöhnte leise. „Du hast mir wahrscheinlich ein Horn verpasst!“
„Und du hast mich vielleicht vor’m Rollstuhl gerettet, oder vor was noch Schlimmeren“, flüsterte Max ihm ins Ohr. „Danke, Cos-Mi!“
Ein schwaches Lächeln huschte über Cosmins Lippen. „Gern geschehen, Stiefbruder!“
Oma Lisa und Hazel hockten sich neben beide Jungen. „Meine Güte Cosmin, wenn du nicht gewesen wärst…“ Oma Lisa strich Cosmin sanft die Locken aus der Stirn. „Hast du dir sehr weh getan?“
Cosmin richtete sich auf. „Nichts passiert, Tante Lisa. Nur ‚ne kleine Beule glaub‘ ich. Aber Max muss sich heute einen anderen Sparringpartner suchen. Noch eine Beule lass’ ich mir nicht verpassen.“
Oma Lisa wandte sich zu Max um. „Wenn ich sehe, dass du da oben nochmal so was machst, lasse ich das Reck abbauen.“
„Omi, diese Nummer ist doch uralt“, maulte Max. „Es wäre auch nichts passiert. Aber dann musste ich drüber nachdenken, ob es mich aus dem Gleichgewicht bringt… ich meine, wenn ich einen fahren lasse.“
Hazel seufzte leise. „Ich kann ehrlich gesagt im Moment noch nicht so richtig darüber lachen. Aber ihr wart unglaublich. Ihr alle beide.“
Cal tippte Max mit dem Teppichklopfer an. „Mäxy… und was mache ich jetzt mit dem Ding hier?“
Max sprang auf und half Cosmin beim Aufstehen. „Damit darfst du mir gleich den Hintern versohlen… falls du ihn triffst!“

Cosmin

Wenig später saß Cosmin zusammen mit Hazel auf der Umkleidebank. Sie schnürten ihre Kletterschuhe und Cosmin bemerkte, dass ihm beim Binden der Schnürsenkel die Hände zitterten, obwohl die Schmerzen nach dem Zusammenprall mit Max weitestgehend abgeklungen waren. Doch noch saß ihm der Schreck in den Knochen. Er hatte bei Max’ verunglückter Vorführung genau unter der Reckstange gestanden und war zurückgesprungen, um Max aufzufangen. Dabei war er auch noch über die eigenen Füße gestolpert. Cosmin fiel es nicht schwer sich auszurechnen, was passiert wäre, hätte er nur eine halbe Sekunde später reagiert oder wenn er vor dem Reck gestanden hätte.
Hazel schaute zu Max und Cal hinüber. Max hatte sich eine Augenbinde umgebunden. Cal attackierte ihn mit dem Teppichklopfer, und Max wehrte die Hiebe ab, wobei er offensichtlich einige Treffer zuließ, über die Cal jedes Mal lauthals jubelte.
„Dieser verrückte Kerl! Ohne dich… er hätte sich bei dem Sturz sämtliche Knochen brechen können.“ Hazel wandte ihr Gesicht Cosmin zu.
Cosmin erwiderte den Blick aus ihren kristallklaren Augen. „Das konnte ich nicht zulassen. Außerdem… Maxi hätte dasselbe auch für mich getan.“
Es schien, als würde Hazel in seinen Augen nach Antworten auf Fragen suchen, die sie nicht zu stellen wagte.
„Komm, lass uns bouldern, Cosmin. Maxi sagt, du bist beim Klettern ein Naturtalent.“

Vielleicht zeigt er es lieber?

Max

Am Abend saßen Hazel und Max zusammen auf der Couch im Wohnzimmer. Wie an jedem Winterabend knisterte im Kamin ein Holzfeuer. Oma Lisa hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um sich dort ungestört eine Fernsehserie anzuschauen. Cal hingegen waren bereits kurz nach dem Abendbrot die Augen zugefallen.
Hazel studierte auf ihrem Handy ein Video, das Max ihr geschickt hatte. Es zeigte die Durchsteigung der „Quali“ - Route in der Kletterhalle.
„Ich verstehe nicht, wie du dich an diesen kleinen Griffen halten kannst“, murmelte sie. „Da passen nur zwei Fingerkuppen drauf und die halten dein Körpergewicht?“
Max nippte an seinem Orangensaft. „Die Füße halten mit. Ich zeig dir am Samstag, wie es geht, Hazel.“
„Beim ‚Zeigen, wie es geht‘ hättest du dir heute sonst was brechen können, wäre Cosmin nicht gewesen“, sagte Hazel und legte das Handy beiseite.
Max bemerkte, dass sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, als wäre es ein aufgeschlagenes Buch. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und hoffte, so auch seine Gefühle etwas besser verbergen zu können.
Sonst hat sie mir immer Löcher in den Bauch gefragt, ob ich ein Mädel habe. Weiß sie längst, dass es keinen Sinn hat, mir eine solche Frage zu stellen?
Er würde das Gespräch von Cosmin weg lenken müssen.
Zudem wollte er lieber nicht an die Schrecksekunde oben auf dem Reck erinnert werden.
„Das wollte ich gar nicht zeigen. Idiotische Angeberei! Wann kommt ihr eigentlich morgen aus Dresden zurück?“
Oma Lisa wollte am nächsten Tag mit Hazel und Cal einen Ausflug nach Dresden unternehmen, wo ihr Elternhaus stand und ihre ältere Schwester Claudia lebte.
„Ich würde mir gern das Grüne Gewölbe und das Hygienemuseum anschauen. Außerdem die Frauenkirche und so was. Und zum Kaffee sollen wir bei Tante Claudia und Onkel Steffen vorbei schauen. Ich schätze, nicht vor um sieben abends.“
„Schade.“ Max wagte es, die Augen zu öffnen. Das Gespräch hatte eine unverfängliche Richtung genommen. „Cal hatte heute echt Spaß beim Training mit Simmi und mir. Warum wollen eure Eltern eigentlich wieder zurück nach Amerika?“
Hazel stieß einen tiefen Seufzer aus. „Maxi, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir am Samstag. Dann haben wir den ganzen Tag Zeit.“

Max

Anders als es Max sich erhofft hatte, war die Kletterhalle am Samstagnachmittag gut besucht. Bereits am Anmeldetresen erfuhr er, dass die Qualifikationsroute Spitzenkletterer aus anderen Teilen Sachsen-Anhalts und sogar aus Leipzig und Berlin nach Dessau lockte. Doch spätestens an der Schlüsselstelle, wo man das eigene Gewicht an einem kleinen Griff für die linke Hand bis zum Ende der riesigen, wie eine auf dem Kopf stehende Pyramide aus der Wand ragenden Rippe ziehen musste, scheiterten die Versuche der Kletterer, sich an dieser Route für die Meisterschaft im Hallenklettern zu qualifizieren.
Im Obergeschoss standen sieben oder acht Kletterer an einem Geländer, von dem aus man nicht nur die aus dem Erdgeschoss aufragenden Wände im Blick hatte, sondern auch eine ausgezeichnete Sicht auf die aus der Wand ragende Rippe. Sie beobachteten einen vielleicht zwanzigjährigen, drahtigen Kletterer, der sich an der Rippe hinauf kämpfte. Vereinzelt ertönten Anfeuerungsrufe. Sobald Max, Hazel, Cosmin und Cal das Obergeschoss erreichten, flitzte Cal zum Geländer. „Wow! Schaut euch das an!“, rief er den anderen zu und deutete auf den Kletterer an der Rippe.
Max trat zusammen mit Hazel und Cosmin an das Geländer heran. Er analysierte die Bewegungen des Kletterers und nahm an, dass der Mann beim Einhängen des Seils in den nächsten Sicherungskarabiner aus der Wand fliegen würde. Tatsächlich rutschte der Kletterer schon nach dem übernächsten Zug ab und baumelte zwei Meter von der Wand entfernt am Seil, ehe er von seinem Sicherungsmann abgeseilt wurde.
„Come on Mäxy, you… du zeigst jetzt, wie du das gemacht hast. Du hast es versprochen!“, rief Cal laut genug, dass man es vermutlich auch noch zwei Etagen tiefer im Erdgeschoss hören konnte. Ausnahmslos jeder der Zuschauer drehte sich nun zu Cal und Max um, was auch an Cals hartem amerikanischen Akzent liegen mochte. Aber einige der am Geländer herum stehenden Leute erkannten Max, andere tuschelten miteinander.
„Das erledigen wir später. Jetzt zeig’ mir erst mal, was du drauf hast“, erwiderte Max, nickte einen Gruß in die Runde und wandte sich an Cosmin. „Hazel würde gerne das Dach versuchen, Cos-Mi. Zeig’ du ihr, wie es geht. Ich möchte mich ein bisschen um meinen Americano kümmern.“
Hazel und Cosmin schienen mit diesem Arrangement zufrieden zu sein, obgleich Max sicher war, dass sich die beiden nach der gemeinsamen Kletterei nicht Händchen haltend voneinander verabschieden würden.
„Willst du dich wirklich von Cal sichern lassen, Maxi?“, vergewisserte sich Hazel, während sie zur Umkleide schlenderten.
„Warum nicht? Ich mache nur, was Cal auch schafft. Und an der Quali, da passt mein Bruderherz mal wieder auf mich auf.“
Zwar kletterte Max an diesem Nachmittag nur relativ leichte Routen, aber er genoss es, Cal vorzusteigen und ihm Kräfte sparende Techniken zu demonstrieren. Hin und wieder schauten sie sich aber auch weitere vergebliche Qualifikationsversuche an. Max vermutete, dass viele Kletterer einfach nur ausprobierten, bis zu welchem Griff an der Rippe die eigene Kraft ausreichte. Und jedes Mal, wenn ein Kletterer aus der Wand segelte, drängelte ihn Cal, den Leuten endlich zu zeigen, wie man es richtig machen müsse.
Hazel und Cosmin hatten sichtlich Spaß an den gemeinsamen Klettertouren, zumal ihre Grenzen etwa im selben Schwierigkeitsbereich lagen. In den Kletterpausen hockten sie zusammen auf den Matten; sie redeten und lachten dort miteinander wie alte Freunde. Doch Max bemerkte auch, was Cosmin ihm mit Blicken zu sagen versuchte:
Es ist alles okay, Maxi!

Am frühen Abend hatten die meisten der Kletterer, die vor allem wegen der Qualifikationsroute angereist waren, die Halle verlassen. Max und Cosmin begaben sich zum Einstieg in die Qualifikationsroute ins Erdgeschoss, während Hazel und Cal am Geländer der oberen Etage mit gezückten Handys warteten. Auch einige der in der Halle verbliebenen Kletterer traten an das Geländer.
„Wirst du es nochmal schaffen heute?“, fragte Cosmin und starrte zur Rippe hinauf, die über ihren Köpfen aus der Wand ragte.
Max winkte ab. „Bleib locker, Cos-Mi! Wenn ich noch ein paar Mal zeige wie’s geht, komme ich an dem Teil mit verbundenen Augen hoch.“
Da er die Route inzwischen zum dritten Mal kletterte, bewegte sich Max geradezu mit schlafwandlerischer Leichtigkeit an der Rippe nach oben und nach jedem seiner Züge ertönten Cals Anfeuerungs- und Jubelrufe. Am letzten Griff wandte er sich kurz zu den Zuschauern am Geländer des Obergeschosses um und sah, dass beinahe jeder der Zuschauer seine Kletterei auf dem Handy festhielt.
„Hazel, jetzt kommt die Schlüsselstelle, von der ich dir erzählt habe“, rief er und dann zog er sich mit der linken Hand zum oberen Rand der Rippe, unterstützt von seinen zum Spagat gespreizten Beinen, deren Füße er gegen zwei runde Knubbel presste. Begleitet vom Beifall der Zuschauer schwang sich Max auf den Absatz oberhalb der Rippe.

Auch an diesem Abend blieben Max und Hazel im Wohnzimmer auf der Couch sitzen, nachdem sich Oma Lisa in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und Cal völlig erschöpft ins Bett gefallen war. Max genehmigte sich ein Radler und öffnete für Hazel eine Flasche mit Orangensaft.
Inzwischen hatte Hazel ihm erzählt, weshalb ihre Eltern nach Kalifornien zurückkehren wollten. Nicht nur, weil sie als Informatiker dort viel mehr verdienen würden. Tante Claras Eltern wussten offenbar nicht, wohin mit ihren Dollars und hatten in Palm Springs eine Villa für Hazels Eltern gekauft.
„Schade, dass ihr morgen wieder zurück müsst. Ich werde euch vermissen“, sagte Max und nippte an der Flasche.
Hazel lächelte und strich mit den Fingern über seine Wange. „Du bist ja morgen nicht allein hier. Maxi…?“
Max horchte auf. „Hm…?“
„Ich habe dir gestern von meinem Freund in Hannover erzählt, stimmt’s?“
„Und ich habe zugehört“, erwiderte Max vorsichtig.
„Ich finde, heute ist die Reihe an dir…“
„… von einer Freundin zu erzählen?“
„Oder einem Freund.“
Max fühlte, dass er bis zu den Haarwurzeln errötete. Vermutlich leuchtete sein Gesicht wie eine rote Verkehrsampel.
„Hazel, ich… äh… du meinst Cosmin?“, stammelte er.
Hazel streichelte immer noch seine inzwischen glühende Wange. „Wenn ihr das geheim halten wollt, müsst ihr noch ziemlich viel üben, Maxi. Mir ist schon letzten Herbst im Belantis aufgefallen, wie er dich anguckt und wie du zurück guckst. Ich nehme an, er hat wegen dir mit seiner rumänischen… Verlobten Schluss gemacht.“
„Hazel!“ Max war klar, dass er seiner Cousine nichts vormachen konnte. Er senkte seine Stimme. „Ich verstehe es selber nicht. Ich stehe echt nicht auf Kerle“, fuhr er fort und erzählte von den Ausflügen in eine Schwimmhalle, um herauszufinden, ob ihn halbnackte Kerle anmachten. „Aber bei Cos-Mi? Okay, ja, ich liebe ihn, ich vermisse ihn bereits, wenn er sich nur umdreht.“
Hazel schien für einen Moment durch Max hindurch zu schauen. „Es ist nicht schwer, sich Cosmin als Mädchen vorzustellen. Vielleicht war er in seinen ersten Wochen im Bauch der Mutter sogar ein Mädchen und dann hat er es sich anders überlegt. Cosmin ist eigentlich kein ‚Kerl‘. Er ist ein zauberhaftes Wesen. Irgendwie ist es wie ein Wunder, dass ihr euch… gefunden habt und dass ihr dasselbe füreinander empfindet. Wie habt ihr das gemerkt?“
Max schloss die Augen. Die Erinnerung an den ersten Kuss mit Cosmin trieb ihm erneut Schamröte ins Gesicht. „Kurz nachdem ihr im Herbst hier wart war das“, erwiderte er leise. „Wir saßen wie jeden Tag zusammen bei Cosmin am Schreibtisch und plötzlich war sein Gesicht ganz nah. Für mich war es wie ein Schock, als mir aufging, dass ich ihn küssen wollte. Vielleicht wäre es nicht passiert, hätte sich Caroline nicht so…“ Max verschluckte das „zickig gehabt“ und fuhr stattdessen fort: „… wäre ich zu der Zeit noch mit Caro zusammen gewesen. Aber inzwischen würde ich nicht mehr wollen, dass es anders gelaufen wäre. Auch wenn es bei mir und Cos-Mi ständig rauf und runter geht und wir ziemlich oft miteinander Schluss machen.“ Er erzählte vom Wechselbad der Gefühle, das sie inzwischen durchgemacht hatten und dass er sich bislang lediglich seinem Onkel Leon anvertraut hatte. „Glaubst du, dass unsere Omi was ahnt?“, fragte er schließlich.
Sie tätschelte seinen Unterarm. „Maxi, wegen ihr brauchst du dir sicher keine Sorgen machen. Omi ist nicht blind und hat bestimmt längst gemerkt, wie verliebt ihr beiden euch anschaut.“
Max fluchte leise in sich hinein. „Mist, daran müssen wir echt arbeiten. Weißt du, was ich komisch finde?“
„Was?“
„Wenn mich Cos-Mi so verliebt anguckt, wieso hat er mir noch nie gesagt, dass er mich… liebt?“
Hazel betrachtete das Etikett ihrer Saftflasche, als würde sie dort nach der Antwort auf Max’ Frage suchen. „Vielleicht zeigt er es lieber statt es zu sagen?“

Wozu brauchst du ein Moped?

Cosmin

Nach einigen warmen Tagen Ende Februar kehrte Anfang März für mehr als eine Woche der Winter zurück und überzog die Wiesen, Gärten und Parks der Stadt mit einer geschlossenen Schneedecke.
Doch in der zweiten Märzwoche stiegen die Temperaturen derart sprunghaft an, dass die weiße Pracht innerhalb eines Tages dahinschmolz.
Max und Cosmin hatten inzwischen den theoretischen Teil ihres Fahrschulkurses hinter sich und begannen mit den Fahrstunden. Zudem brachen die letzten regulären Unterrichtswochen ihrer Schulzeit an. In beinahe jedem Fach standen Abschlussklausuren an.
Zu Beginn dieser mit Leistungskontrollen angefüllten Wochen murrte Max bei fast jeder der Übungsstunden in Cosmins Zimmer über den damit verbundenen Stress und die Zeit, die er für die Klausurvorbereitung verplemperte, statt sie für die Vorbereitung auf den Kampf mit Tang oder die Meisterschaft im Hallenklettern zu nutzen.
Doch sein Murren verstummte bereits nach der Abschlussklausur in Mathe mit Aufgaben aus zurückliegenden Abiturprüfungen. Max schaffte eine glatte Zwei, was sein Selbstbild offenbar gehörig durcheinander wirbelte. Zudem schien ihm klar zu sein, dass Cosmin bei den Abschlussklausuren auch ohne zeitaufwändige Vorbereitung Bestnoten erzielen würde.

Am letzten Freitag im März endeten die stressigen und oft mit Leistungskontrollen angefüllten Schultage. Dennoch saßen Max und Cosmin nach dem Unterrichtsschluss wie an jedem Schultag zusammen in Cosmins Zimmer. Ihre zuvor knurrenden Mägen waren mit Baguettes gefüllt, die Max’ Großmutter für sie gebacken und mit Salaten und leckeren Hähnchenstücken gefüllt hatte.
Beide Jungen planten, in den selben Fächern die Abiturprüfungen abzulegen und die erste dieser Prüfungen - die Abiturprüfung im Fach Physik - stand bereits am kommenden Mittwoch bevor.
Doch statt am Schreibtisch saßen sie auf Cosmins Couch und dösten vor sich hin. Ihre Köpfe lehnten aneinander, Max’ rechter Arm lag um Cosmins Schulter, Cosmins linke Hand streichelte die warme Haut unter Max’ Shirt.
Cosmins Vater arbeitete ganz in der Nähe auf dem Dach eines Plattenbaus. Die Firma seines Chefs montierte dort Solarmodule und da er jederzeit und unverhofft in der Wohnung aufkreuzen konnte, wagten es die Jungen nicht, auch den Hunger aufeinander, ein schier unersättliches Verlangen, zu stillen. Die letzte gemeinsam verbrachte Nacht lag inzwischen mehr als fünf Wochen zurück und so behielt Cosmin lieber die engen Jeans an, welche seine Erregung halbwegs verbargen.
„Du hast vorhin was von einer Überraschung erzählt, Maxi.“
Max öffnete schläfrig die Augen. „Cos-Mi, wenn ich es dir jetzt schon verrate, ist es keine Überraschung, sondern 'ne Verratung.“
Cosmins Blick tauchte in Max’ geöffnete Augen ein. „Hat es etwas mit Berlin und dem nächsten Wochenende zu tun?“, bohrte Cosmin weiter. Max’ Wohnung in Berlin war bis Mitte April an ein gutbetuchtes Ehepaar aus Korea vermietet. Es sorgte zwar dafür, dass sich Max’ Konto mit weiteren Tausendern füllte. Doch zugleich bedeutete dieser Geldregen auch, dass Max und Cosmin die in einer Woche beginnenden Ostertage in Dessau verbringen würden. Es sei denn, die Koreaner reisten unerwartet ab.
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Du guckst, als ob du mich mal wieder beißen willst, Dracula.“
„Und du guckst, als ob du willst, dass ich dich beiße. Also was ist?“
Max’ Grinsen wurde noch etwas breiter. „Beiß mich!“
Dann schwand das Grinsen aus seinem Gesicht. „Vergiss Berlin, Cos-Mi. Morgen Vormittag hole ich dich ab. Um zehn. Wir machen eine Spritztour. Mehr verrate ich nicht.“
Max’ Lider schlossen sich und Cosmin wandte seinen Blick ab, als das Leuchten in Max’ Gesicht erlosch.
„Cos-Mi, weißt du, was mich anstinkt?“, hörte er Max leise murmeln.
„Dass mein Vater nicht irgendwo an der Ostsee arbeitet?“, vermutete Cosmin.
„Ja, das auch“, seufzte Max. „Wir werden im Herbst nicht mehr zusammen an einer Schulbank sitzen. Ich bräuchte einen Durchschnitt von 1,5, wenn ich an der Uni in Berlin Architektur studieren möchte.“
Cosmin starrte Max verblüfft an. „Du möchtest Architektur studieren?“
Max zuckte mit der Schulter. „Ich möchte mit dir zusammen sein.“
Und dafür würdest du sogar Architektur studieren?
Cosmins Gedanken schwirrten durcheinander wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Einige dieser wirbelnden Gedanken begannen, sich wie Puzzleteile zusammen zu fügen und eine Idee zu formen. „Du würdest echt Architektur studieren?“
„Cos-Mi, schon vergessen? Eins - Komma - Fünf! Ich schaffe wahrscheinlich nicht mal 2,5!“
„Doch, das schaffst du!“ Cosmin packte Max’ linke Hand. „Maxi, mit einer 2,5 könntest du hier in Dessau an der Hochschule Architektur studieren. Wir beide könnten hier studieren. Wir suchen uns zusammen eine Wohnung, so wie das viele Studenten hier machen.“ Cosmin erhob sich und zerrte an Max’ linkem Arm. „Los komm, lass uns mit Physik beginnen. Du brauchst in der Prüfung am Mittwoch eine Zwei!“
Max zog Cosmin zurück auf die Couch. „Physik kann warten, bis wir hören, dass dein Alter kommt.“

Am nächsten Vormittag befüllte Cosmin in der Küche einen Vorratsbehälter mit frisch zubereitetem Maisbrei, als kurz vor dreiviertel zehn Uhr das Handy in seiner Hosentasche läutete.
„Du bist eine Viertelstunde zu früh“, murrte Cosmin und sah, dass ihm sein Vater vom Fernsehsessel aus einen fragenden Blick zuwarf.
„Max. Er will mit mir irgendwo hin fahren, um mir was zu zeigen. Mehr weiß ich auch nicht…“
Cosmin angelte das Handy aus der Hosentasche. „Maxi, du sagtest um zehn. Ich bin noch nicht fertig.“
„Dann beeil dich, ich warte vor dem Haus auf dich. Zieh dir was Warmes an und bringe deine Klettersachen mit. Für draußen!“
„Für draußen? Wieso für draußen?“
Cosmin hörte Max leise schnauben. „Überraschung, Cos-Mi, schon vergessen?“
Cosmin erklärte seinem Vater in knappen Worten, was er neben dem Maisbrei für das Mittagessen vorbereitet hatte und hastete in sein Zimmer, um sich dort warme Sachen überzustreifen. Die Märzsonne strahlte durchs Fenster und Cosmin vermutete, dass er einen Teil der Sachen schon nach dem ersten Kilometer auf dem Rad ablegen würde.

Kurz darauf trat er aus der Haustür ins Freie und blieb wie vom Donner gerührt mitten auf der Eingangstreppe stehen. Auf dem Parkplatz vor dem Haus hockte ein behelmter Kerl lässig auf einem lindgrünen, in der Sonne funkelnden Moped und winkte ihm mit einem zweiten Helm zu.
„Maxi?!“
Max zog sich den Helm vom Kopf und strich sich das Haar aus der Stirn. „Worauf wartest du? Steig auf!“
Cosmin hastete zum Parkplatz und beäugte das Moped von allen Seiten. Es glänzte, als wäre es erst vor wenigen Monaten vom Band gerollt, doch am Typenschild erkannte Cosmin, dass das Moped mindestens 35 Jahre auf dem Buckel hatte.
„Ein S51 mit vier PS. Du hast mindestens dreitausend Euro dafür bezahlt. Maxi, wozu brauchst du das Moped? In nicht mal zwei Monaten wirst du achtzehn und willst ein Auto kaufen.“
Max drückte ihm den Helm in die Hand. „Hör auf zu quasseln, Cos-Mi. Die Kohle hole ich beim Pferderennen wieder raus. Außerdem habe ich nur zwei sieben bezahlt und unsere tollen Helme hier… die gab’s gratis dazu.“
NUR zwei sieben!
Für Cosmin ein Vermögen. Er hatte noch nie viel mehr als einhundert Euro besessen.
„Für die zwei Monate hätten wir doch unsere Fahrräder…“
„Cos-Mi! Wir kutschen nach Löbejün, das sind über vierzig Kilometer bis dort hin. Spring endlich auf!“
„Löbeljün? Nie gehört. Was soll das für ein Nest sein?“
„Löbejün! Da soll’s das absolut geilste Klettergebiet weit und breit geben.“
Eine knappe Stunde später erreichten sie Löbejün.
Obgleich das kleine Städtchen von Hügeln umgeben war, konnte sich Cosmin nicht vorstellen, wo es hier ein Klettergebiet geben sollte, das auch nur ansatzweise das Adjektiv „geil“ verdiente. Andererseits schien jeder in der Stadt, den sie nach dem Weg fragten, das sogenannte „Kletterparadies Felsental“ zu kennen. Sie folgten einer engen, gewundenen Straße, die aus der Stadt herausführte und fanden endlich den für Kletterer bestimmten Wegweiser ins „Felsental“. Ein Schotterweg endete nach vielleicht zweihundert Metern in einer Wendeschleife. Mehrere Autos parkten dort am Rand des Weges.
Cosmin schwang sich vom Moped und zog den Helm vom Kopf. Von den oft sehr holprigen Straßen tat ihm der Hintern weh und ein bisschen fragte er sich, ob das sogenannte „Kletterparadies“ die Strapazen dieser Fahrt wert gewesen war. Akazien und Gebüsch versperrten den Blick auf das hinter der Wendeschleife gelegene Gelände und nirgendwo ragte ein Felsen aus dem kahlen Dickicht.
Und doch musste es hier Felsen geben, denn eines der am Wegrand parkenden Autos mit Magdeburger Kennzeichen war mit dem Schriftzug „Klettersüchig und Felsengeil“ dekoriert. Max löste seinen Rucksack vom Gepäckträger des Mopeds und blickte sich suchend um. Er deutete auf eine Schneise, die links von ihnen ins Dickicht hinein führte.
„Da geht’s lang!“
Baumwurzeln querten den Trampelpfad durch das Gehölz und schon nach ein paar Dutzend Metern ragte nackter Fels aus dem mit Gestrüpp überwucherten Erdreich. Der abschüssige Pfad bog etwas nach rechts ab. Cosmin hatte den Blick auf die eigenen Füße gerichtet, um auf dem mit Geröll übersäten Pfad nicht auszurutschen und lief um ein Haar in Max hinein, der plötzlich stehen geblieben war.
Vor ihnen endete das Dickicht, was eine freie Sicht ins vermeintliche Felsental gestattete.
„Ein Steinbruch!“, entfuhr es Cosmin, während er staunend die schroffen Felsgrate betrachtete, die auf der anderen Seite des Talgrundes eine Höhe von dreißig oder vierzig Metern erreichten. Mitten in einer der glatten, rötlich schimmernden Wände klebte ein Kletterer, ein paar Meter weiter hangelte ein anderer an einer überhängenden Kante dem oberen Ende der Felswand entgegen.

Im Grund des Steinbruchs durchzogen Trampelpfade eine Wiese, aus der einzelne Baumgruppen wie kleine Inseln heraus ragten. In einem von grob behauenen Baumstämmen umzäunten Bereich standen zwei Zelte und mehrere aus Brettern zusammen gezimmerte Tische und Bänke sowie ein Dixi- Klo. Ein geschotterter Feldweg führte vom Campingplatz in den hinteren Teil des Steinbruchs.
Vor ihnen versperrte eine aus einem armdicken Ast gefertigte Schranke den Weg. Max studierte bereits eine Hinweistafel neben der Schranke.
Cosmin trat neben ihn. Die Tafel listete Verhaltensregeln auf. Ihm stach besonders ins Auge, dass das Klettern im Steinbruch nur Mitgliedern des Alpenvereins gestattet war und zehn Euro am Tag kostete, um den Unterhalt des Klettergebietes zu finanzieren. Schüler und Studenten hingegen mussten nur fünf Euro bezahlen. Zudem durfte lediglich auf der eingezäunten Fläche und das nur mit Genehmigung zum stolzen Preis von 25 Euro pro Nacht gezeltet werden.
„Was machen wir jetzt? lch bin nicht im Alpenverein. Und du?“, fragte Cosmin.
„Keine Ahnung, müsste Leon fragen. Aber der Typ mit der Glatze dort in der Wand ist dieser Gerd, der die Kletterführer schreibt“, erwiderte Max mit einem Nicken zu den Felswänden auf der anderen Seite des Talgrunds. „Der hat hier den Hut auf und wirft uns bestimmt nicht raus. Ich bleche die zehn Mäuse und dann legen wir endlich los hier.“
„Maxi, ich bleche die zehn Euro.“
„Alles klaro, Cos-Mi“, grinste Max und zückte seine Brieftasche. „Du hast gestern zwei Stunden Physik mit mir gepaukt. Du bist mein bester Freund und wirst mir hoffentlich nur zehn Mäuse pro Nachhilfestunde abknöpfen. Also wer zahlt den Zehner für den Eintritt?“
Cosmin schnaubte leise. „Ich finde es doof, dass du alles für uns bezahlst.“
Max entnahm einem Kasten an der Infotafel ein Anmeldeformular, füllte es aus und steckte es zusammen mit dem Zehn - Euro - Schein in einen Briefumschlag, obwohl auf der Hinweistafel ausdrücklich um eine online Zahlung gebeten wurde. „Und ich finde es doof, dass du in keinem Fach meine Hilfe brauchst. Meinst du nicht auch, dass wir uns prima ergänzen?“, entgegnete er und schob den Umschlag durch den Schlitz einer Metallbox, die am Schlagbaum befestigt war.

Während sie sich an einem der Tische des kleinen Campingplatzes umzogen, verfing sich Cosmins Blick an den beiden Zelten. Obwohl er in zwei Monaten achtzehn Jahre alt werden würde, hatte er noch nie in einem Zelt übernachtet.
Max hatte oft von seinen Campingabenteuern mit Leon geschwärmt, wie es war, abends - umgeben von steil aufragenden Felswänden - am Lagerfeuer zu sitzen.
Ich weiß nicht einmal, wie man so ein Zelt aufbaut!
Er stellte sich vor, wie es wäre, eine Nacht mit Max im Zelt zu verbringen.
Gibt es eigentlich auch Schlafsäcke, in die man zu zweit hinein passt?
„Nächsten Freitag kommen die Schwester meiner Oma und ihr Mann aus Dresden zu uns nach Dessau und bleiben bis Montag. Ist es nicht schön, dass wir jetzt ein Moped haben? Nette Leute, die Dresdner, aber…“, Max deutete auf die Zelte, „… ich würde viel lieber hier mit dir nach Ostereiern suchen.“

Pläne für die Ostereiersuche

Cosmin

Hier also wollte Max mit ihm auf Ostereiersuche gehen?
Cosmin fragte sich einmal mehr, ob Max seine Gedanken lesen konnte. Ihm entging auch nicht die Zweideutigkeit im letzten Teil des Satzes, zumal Max die Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen hatte.
„Du hast schon wieder versaute Gedanken, Maxi!“
„Du etwa nicht?“
Cosmin ließ die Frage unbeantwortet. „Ich habe nicht einmal einen Schlafsack, nur den, den du bei mir gelassen hast. Und ein Zelt haben wir auch nicht.“
Max winkte ab. „Das Zelt besorge ich am Montag. Wollte eh eins kaufen für unsere Tour nach Rumänien. Und ich habe auch so einen Schlafsack wie den, der bei dir ist. Beide kann man zum Doppelschlafsack verbinden. Es sind All - Season - Schlafsäcke. Wir werden es mollig warm haben.“
Cosmin versuchte das Kribbeln in seinen Lenden zu ignorieren. „Wenn wir da drin… du weißt schon was machen. Es ist bestimmt eklig, da am nächsten Tag wieder rein zu kriechen.“
„Erwischt!“, kicherte Max. „Cos-Mi, hör auf, dir deswegen deinen Kopf zu zerbrechen. Dafür gibt’s den Innenbezug.“
„Trotzdem! Wenn wir wirklich vier Nächte hier…“
Max Grinsen wurde noch etwas breiter. „Ich hab’ bei mir im Zimmer ein Zehnerpack Gummis versteckt. Damit bleibt alles schön sauber.“
Cosmin benötigte nicht länger als einen Wimpernschlag, um sich auszurechnen, dass Max’ Zehnerpack wahrscheinlich schon nach zwei Nächten aufgebraucht sein würde. Und wieder einmal schien es, als hätte Max seine Gedanken erraten.
„Okay, okay, Cos-Mi. Ich besorg’ uns noch ein Zehnerpack!“
Kurz darauf schlenderten sie zu einer etwas mehr als zwanzig Meter hohen Felskante, die wie die gezackte Rückenflosse eines riesigen Barsches aus einer sonst fast glatten Wand heraus ragte. Cosmin konnte es kaum erwarten, zum ersten Mal an einer Wand aus echtem Fels zu klettern.
Max blätterte in Gerds Kletterführer. „Das Ding heißt Himmelsleiter und ist eine Sieben Minus.“
„Das schaffe ich, Maxi! Lass mich…“
„Cos-Mi, das hier ist keine Kletterhalle. Hier sind die Haken weiter auseinander. Ich steige vor und du guckst dir an, wie man im Fels sichert.“ Max nickte zu etwa zehn bis zwanzig Meter hohen Felswänden, an denen auf der linken Seite das „Felsental“ endete. Ein älterer Mann versuchte dort, gesichert von seiner Frau, eine glattes Wandstück zu überwinden und rutschte immer wieder an der selben Stelle ins Seil. „Dort werden wir nachher sichern und abseilen üben.“

Als Cosmin nach Max’ Vorstieg an der Kante kletterte - gesichert mit dem von der oberen Umlenkung durch etwa ein Dutzend Karabiner verlaufenden Seil - begriff er, warum Max ihn ausgebremst hatte. Anders als in der Halle lagen zwischen zwei benachbarten Sicherungshaken manchmal mehr als drei oder vier Meter. Um im Falle eines Sturzes allzu große Fallhöhen zu vermeiden, hatte Max das Seil durch Karabiner geführt, die an in Rissen verklemmten, kleinen Stahlkeilen oder an um Zacken gelegte Bandschlingen befestigt waren. Am oberen Haken mit dem Abseilring genoss Cosmin den Blick über den Talgrund. Er sah, dass sich auch auf der Seite mit dem Abstieg ins Tal Felswände aus dem Dickicht aus Büschen und kahlen Laubbäumen erhoben. Unweit des Campingplatzes glitzerte ein von mannshohem Gebüsch gesäumter Teich in der Märzsonne.

Unter ihm hatten sich der Mann mit der Glatze und eine Frau zu Max gesellt und schauten zu ihm auf.
„Du kannst mich runter lassen!“, rief er Max zu und hatte wenige Augenblicke später wieder festen Boden unter den Füßen.
„Es ist wunderschön hier.“
„Darum haben wir den Steinbruch umbenannt in Kletterparadies Felsental“, wandte sich der Mann mit der Glatze an Cosmin. „Hi, ich bin Gerd, so ein bisschen das Auge und das Ohr an diesem Ort und das ist meine Frau Kristin.“
Cosmin schätze, dass die zierliche und zugleich durchtrainierte Frau etwa fünfzehn Jahre jünger war als Gerd. Sie reichte ihm die Hand. „Du kannst Kris zu mir sagen.“
„Hallo, äh… ich bin Cosmin.“
„Cos-Mi, Gerd möchte, dass ich ihm dort beim Versiegeln von Bohrhaken helfe.“ Max deutete auf die vierzig Meter hohe, glatte Wand, an der Gerd bei ihrer Ankunft gehangen hatte. „Es dauert vielleicht zwei bis drei Stunden.“
„Und in der Zeit würde ich mit dir klettern, Cosmin“, ergänzte die Frau. „Du kannst mir vertrauen. Ich führe hier schon seit mehr als zehn Jahren Kletterkurse durch.“
Cosmin nickte zaghaft. Fast klang es, als würden ihn Gerd und Kris um die Erlaubnis bitten, sich Max von ihm auszuleihen.
„Wir dürfen über Ostern hier zelten“, raunte Max ihm zu.
„Und unser Verein übernimmt eure Campgebühr für die vier Nächte“, ergänzte Gerd. „Die Route hat Jake, einer der besten Kletterer Europas, angelegt. Er nannte sie ‚Possibile‘, aber ich komme trotzdem weiter oben nicht an die Haken ran. Max ist wahrscheinlich einer der wenigen, die es bis zum letzten Haken schaffen. Jake hatte wohl keine Zeit gehabt, seine Bohrlöcher zu versiegeln und wenn wir sie nicht schließen, fallen irgendwann die Haken raus.“
„Ist das nicht gefährlich für Max, wenn die Haken nicht fest sitzen?“, fragte Cosmin besorgt und vernahm neben sich Max’ leises Schnauben.
„Jake hat die Route letzten Sommer eingerichtet und geklettert. Noch sitzen die Haken“, versicherte ihm Gerd.
„Okay.“ Cosmin wandte sich an Kristin. „Ich weiß nicht, ob es Max gesagt hat, aber ich bin Anfänger.“
Kristin lachte auf. „Ach so? Cosmin, ich habe in Dessau gesehen, dass du das Dach geklettert hast. Ein starkes Stück für einen Anfänger“, erwiderte sie.
„Und ich habe ungefähr in deinem Alter mit dem Klettern angefangen und brauchte zwei Jahre, ehe ich meine erste Acht beziehungsweise sächsische Neun geschafft habe“, ergänzte Gerd.

Gerd hatte sich nicht getäuscht in Max. Zwar dauerte es tatsächlich volle drei Stunden, ehe Max den letzten Haken an der „Possibile“ - Route erreichte. Aber Cosmin hatte von Kristin auch erfahren, dass es bislang noch keinem anderen Kletterer gelungen war, Jakes obere Haken zu erreichen. Kristin entpuppte sich als geduldige Kletterlehrerin und übte mit Cosmin das Anbringen verschiedener Sicherungen beim Vorstieg, zeigte ihm, wo Gefahren lauerten und wie man sich selber von der Umlenkung am Ende einer Route abseilen konnte.

Gerd und Max traten an den Tisch, an dem Kristin und Cosmin saßen und Apfelstücken aus einer Frischhaltedose naschten. Max hingen verschwitzte Haarsträhnen im geröteten Gesicht; er hielt eine zur Hälfte geleerte Mineralwasserflasche in der Hand. Ihm standen die Strapazen der Kletterei am Limit und der Abdichtungsarbeiten an den Haken im Gesicht geschrieben, dennoch lag ein schiefes Grinsen auf seinen Lippen, als er sich zu Cosmin an den Tisch setzte.
„Max würde nächsten Freitag Possibile für mich vorsteigen“, wandte sich Gerd an seine Frau. „Mit Schummeln müsste ich es schaffen und könnte nochmal alle Haken überprüfen.“
Er legte Max die rechte Hand auf die Schulter. „Vielen Dank, Max. Ich schätze, in Deutschland gibt es höchsten eine Handvoll Kletterer, die es bei Possibile bis zum Umlenker schaffen. Und dir danke ich auch, Cosmin. Ich bringe euch nächstes Wochenende ein kleines Dankeschön mit.“
Cosmin räusperte sich. „Eigentlich muss ich mich bei Kristin bedanken. Sie ist eine gute Lehrerin.“
„Wenn Gerd dir Max nächsten Freitag ausspannt, machen wir mit dem Unterricht weiter“, erwiderte Kristin lächelnd und erhob sich.
„Maxi…“, sagte Cosmin, nachdem sich Gerd und Kristin zurück zur Felswand begeben hatten.
Max hatte sich ein halbes Baguette auf einmal in den Mund geschoben, die Wangen wölbten sich wie Hamsterbacken aus seinem Gesicht.
„Mhm…“
„Ich bin total stolz auf dich.“
Max benötigte einige Augenblicke, ehe er wieder reden konnte. „Cos-Mi, dasselbe könnte ich von dir sagen. Ich bin mit dem schlausten Kerl der Schule zusammen.“
„Ach so? Sagtest du nicht, ich wäre nicht schlauer als meine Plüschkatze?“
„Nur manchmal. Und ich bin manchmal nicht schlauer als der Schrank, auf dem die steht.“
Max nickte zu den Felswänden. „Und jetzt erzähl mir, was du noch klettern möchtest!“

Max

Max glaubte nicht so recht daran, dass er auf dem Abizeugnis einen Durchschnitt von unter 2,5 schaffen könne. Doch wollte er sich die kleine Chance, auch nach dem Sommer zusammen mit Cosmin an einer Schulbank zu sitzen, nicht entgehen lassen. Er erzählte weder seinem Vater noch Leon etwas darüber, dass er sich möglicherweise für ein Architekturstudium an der Hochschule in Dessau bewerben würde. Sie hätten sich vermutlich gefragt, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Er vertraute sich lediglich seiner Großmutter an, die sich über Max’ Eifer bei der Vorbereitung auf die Physikprüfung wunderte. Zwar freute sich Oma Lisa darüber, dass Max vielleicht in ihrer Nähe bleibe würde und sie ihn so auch weiterhin bemuttern konnte. Doch zugleich schien sie zu ahnen, dass der Grund für Max’ Sinneswandel braunhäutig war und schulterlange, pechschwarze Locken hatte.

Am Morgen vor der Physikprüfung wartete Cosmin wie an jedem Schultag an der Eingangstreppe zum Rathaus. Max schwang sich von seinem Rad und umarmte ihn kurz. Cosmin wirkte nervös, fast so, als hätte er Angst, bei der bevorstehenden Prüfung durchzufallen. Was keinen Sinn ergab. Max war sicher, dass Cosmin locker die volle Punktzahl schaffen würde.
„Maxi, ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen“, sagte Cosmin, während sie inmitten der zur Schule strömenden Schülerscharen über den Marktplatz schlenderten.
„Hä?“
„Und du musst so schnell wie möglich darauf antworten“, fuhr Cosmin fort. „Fangen wir mit der Kinematik an. Du lässt einen Stein in einen tiefen Brunnen fallen und hörst ihn nach genau 5 Sekunden aufklatschen. Wie kann man die exakte Tiefe des Brunnens bestimmen?“
Max benötigte einige Sekunden, ehe ihm einfiel, dass man das Aufklatschen nicht sofort hörte und erklärte, wie er die Tiefe berechnen würde. Cosmin nickte und ergänzte hastig Max’ Lösungsvorschlag. Als sie die Fahrradständer vor dem Schulhaus erreichten, hatte Max ein Dutzend solcher Fragen beantwortet. Cosmins Nervosität war verschwunden. „Maxi, du wirst eine Zwei schaffen, da bin ich sicher!“, sagte er, als sie die Eingangshalle der Schule betraten.
Max fiel es schwer, angesichts seiner Physiknoten in den Vorjahren Cosmins Zuversicht zu teilen. Aber das behielt er vorläufig für sich.

Hoffen wir , dass Max die Physikprüfung nicht verhauen hat! Achtung Spoiler: Hat er nicht!

Beiden Jungen sei nun erst einmal die Ruhe vor dem nächsten Sturm vergönnt. Begleiten wir sie in den nächsten Kapiteln bei ihrem ersten gemeinsamen Campingabenteuer.

Das Campingabenteuer beginnt

Max

„Ich nehme an, du hast nur Tütensuppen und Fertignudeln im Rucksack. Hier ist etwas Verpflegung für euch.“
Oma Lisa stellte einen prallgefüllten Beutel auf dem Teppichboden in Max’ Zimmer ab, der mit Campingausrüstung, Karabinern, Schlingen und Klamotten übersät war.
„Omi, wir fahren mit dem Moped und nicht mit einem Lastwagen nach Löbejün“, nörgelte Max und beäugte aus den Augenwinkeln den Beutel. Ihm entströmte der Duft nach ofenfrischen Baguettes.
„Dort gibt es auch einen Supermarkt, wo wir uns heute und am Samstag mit Futter eindecken können“, ergänzte er lahm. Die Brötchen aus dem Supermarkt konnten mit den selbstgebackenen und großzügig mit Lachs oder Schinken belegten Baguettes seiner Oma natürlich nicht mithalten.
Seine Großmutter ließ ihren Blick über die auf dem Boden ausgebreiteten Sachen schweifen und verließ kopfschüttelnd und mit einem Lächeln auf den Lippen das Zimmer.
Max schaute kurz auf das Display seines Handys. Es war höchste Zeit, alles im Rucksack zu verstauen. Er hatte Cosmin versprochen, ihn 14 Uhr von zu Hause abzuholen.
Gerade als er mit dem Packen beginnen wollte, läutete das Handy in seiner Hosentasche.
Er sah, dass Leon ihn anklingelte und nahm das Videotelefonat an.
Auf dem Handydisplay materialisierte sich das Gesicht seines Onkels.
„Champ, dein Vater hat mir erzählt, dass du die Physikprüfung überstanden hast. Glückwunsch!“, begrüßte ihn Leon. „Morgen früh breche ich hier in Bratislava die Zelte ab. Sehen wir uns über Ostern?“
„Hi Onkelchen, meine Bude in Berlin ist leider besetzt.“
„Maxi, schon vergessen? Du hast immer noch ein Zimmer in meinem Haus.“
Leon bemerkte nun offenbar, dass es im Zimmer aussah wie in einem Basislager. „Sag mal, willst du eine Campingtour machen?“
„Jepp, es gibt hier in der Nähe ein total geiles Klettergebiet“, erwiderte Max und erzählte seinem Onkel vom Felsental und vom Moped, das er gekauft hatte, um sich in der prüfungsfreien Zeit an den Felswänden des Löbejüner Steinbruchs auf die Meisterschaften im Hallenklettern vorzubereiten.
„Ich nehme an, du zeltest dort mit deinem… Freund?“, fragte Leon und das Wort „Freund“ sprach er aus als würde er über Nasenschleim reden.
Max schnaubte verärgert. „Leon, du hast mir gesagt, du hast kein Problem mit…“
„Hey, schon gut Kleiner, reg dich ab!“, fuhr ihm Leon ins Wort. „Ich möchte nur nicht, dass du die Sache mit Tang aus den Augen verlierst. In drei Monaten willst du ihn zerlegen und ordentlich dabei absahnen. Komm nach Ostern an den Wochenenden zu mir nach Berlin. Ich übernehme jetzt wieder dein Kampftraining.“
Max suchte fieberhaft nach Gründen, weshalb er einige der Wochenenden in Dessau verbringen müsse und Leon schien sein Zögern zu bemerken.
„Maxi, deinen Freund kannst du mitbringen.“
Max’ Ärger verflog. „Im Ernst?“
„Im Ernst!“
„Bleibst du denn jetzt in Berlin?“
Die Düsternis verschwand aus Leons Gesicht. „Ich muss deinem Vater etwas Arbeit abnehmen und außerdem…“
„… vietnamesisch lernen?“, grinste Max.
Leon erwiderte Max’ Grinsen. "Echt 'ne schöne Sprache, Kleiner. Okay… " Leon schwenkte das Handy, sodass Max einen Blick in Leons Zimmer werfen konnte, in dem dasselbe Chaos herrschte wie in seinem eigenen Zimmer. „Wie du siehst, habe ich noch viel zu tun. Machs gut, Champ.“
„Machs gut, Onkelchen.“

Mit einer Viertelstunde Verspätung traf Max am Wohnblock ein, in dem Cosmin und sein Vater wohnten. Allerdings hatte auch Cosmin viel länger als erwartet gebraucht, um alle Sachen im von Max geborgten Kletterrucksack zu verstauen.
Bepackt, als wären sie zu einer Hochgebirgsexpedition unterwegs, zuckelten sie auf einem in die Jahre gekommenen Moped ihrem ersten gemeinsamen Campingabenteuer entgegen.

Eine Stunde später erreichten sie den Parkplatz am Rande des Steinbruchs. Wie schon vier Tage zuvor parkte dort neben zwei weiteren Autos der Dacia mit dem Schriftzug „Klettersüchtig und Felsengeil“. Max vermutete, dass der Dacia Gerd gehörte. Beladen mit ihren schweren Rucksäcken stiegen sie den Pfad hinab zum Schlagbaum am Eingang ins Felsental. Dort griff sich Max ein Anmeldeformular aus der Box neben der Hinweistafel, und sah, dass Cosmin einen Zwanziger aus seiner Jacke fischte.
„Was willst du damit?“
Cosmin hielt ihm den Schein hin. „Den Eintritt für uns bezahlen.“
„Cos-Mi, nicht schon wieder…“ Max schob sanft Cosmins Hand mit dem Geldschein von sich weg. „Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich gestern garantiert durch die Prüfung gerauscht. Heb’ dir die Kohle für’s Pferderennen auf, okay? Außerdem…“ Er deutete zum Campingplatz, wo Gerd und Kristin ihr Zelt aufbauten. „Gerd will nicht, dass wir das Geld hier in den Kasten rein schmeißen. Ich hab’ die zwanzig Mäuse vorhin überwiesen.“
Neben dem Zelt, welches Gerd und Kristin gerade aufbauten, standen zwei weitere Zelte auf der eingezäunten Fläche. An einem der Tische saß ein Mann, der Anfang Vierzig sein mochte, und redete mit weit ausholenden Gesten auf Gerd und Kristin ein. Max fand, dass der in einem gebügelten Anzug gekleidete Mann in dem Camp für Kletterer so deplatziert wirkte wie eine Schneekanone am Badestrand einer Tropeninsel. Wohl frisierte, graumelierte Haare krönten ein kreisrundes Gesicht mit rosafarbenen Pausbacken und die Anzugjacke umspannte gerade noch so die Leibesfülle des Mannes. Als sich Max und Cosmin dem Campingplatz näherten, verstummte der Mann. Sein Blick wanderte von Max zu Cosmin und blieb dort haften. Zunächst vermutete Max, dass der Mann sich an Cosmins exotischem Aussehen störte, doch gleich darauf ging ihm auf, weshalb der Mann Cosmin anstarrte.
Es ist nicht zu fassen, der Kerl ist scharf auf Cosmin!
Max löste seinen Blick von dem Mann. „Hallöchen alle miteinander!“
Gerd und Kristin begrüßten Max und Cosmin mit einem freundschaftlichen Handschlag. Dann wandte sich Gerd an den Mann. „Torsten, diese Jungs gehören zu den besten Kletterern im Land. Sie helfen mir bei den Sicherungsarbeiten. Max, Cosmin… Herr Knauer ist Geschäftsführer des Unternehmens, dem dieser Steinbruch hier gehört. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir in diesem Steinbruch klettern und zelten dürfen.“
Herr Knauer strahlte, als wäre ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen worden. „Man tut, was man kann.“
Er erhob sich ächzend. „Dann will ich nicht weiter stören. Im Büro wartet noch jede Menge Arbeit auf mich.“ Er warf Cosmin einen letzten Blick zu und schien einen Moment zu hoffen, dass Cosmin den Blick erwidern würde. Doch Cosmin fummelte am Rucksack, den er vom Rücken gestreift hatte. Nach einem Kopfnicken in Gerds Richtung schlurfte Herr Knauer auf dem in den hinteren Teil des Steinbruchs führenden Feldweg davon.
„Mit ihm kann man wenigstens reden“, sagte Gerd, nachdem Herr Knauer außer Hörweite war. „Sein Vorgänger, der wollte uns aus dem Steinbruch raus werfen.“
„Aber du solltest auch erwähnen, dass unsere IG inzwischen über 5000 Euro Pacht im Jahr zahlt“, schimpfte Kristin. „Und eben war der hier, um uns zu erklären, warum die Pacht erhöht werden müsse.“
Gerd zuckte mit der Schulter. „Nun wisst ihr, warum wir hier Eintritt verlangen. Lassen wir das jetzt.“ Er zog zwei in Folie verpackte Bücher aus einem Seesack. „Da ihr im Sommer in Rumänien klettern wollt, habe ich was für euch. Bestimmt findet ihr ein paar Anregungen da drin.“
Max las den Titel des Buches. „Romania la verticala… ist das Buch auf deutsch?“
„Auf deutsch und rumänisch“, erwiderte Gerd.
„Und Sie haben das geschrieben?“, fragte Cosmin, während er das Buch in den Händen wendete.
„Sag du zu mir, Cosmin. Und ja, zusammen mit Kristin. Viele der Klettergebiete haben wir selber besucht. Aber uns haben auch rumänische Kletterer zugearbeitet. Das Buch ist inzwischen so gut wie vergriffen und wir planen eine Neuauflage.“
Max und Cosmin bedankten sich. Gerd legte eine Hand auf Cosmins Schulter. „Vielleicht brauche ich ja bald jemanden, der die rumänische Übersetzung neuer Textpassagen Korrektur liest.“
„Das könnte ich für Sie… äh für dich machen“, erwiderte Cosmin.
„Super! Ach ja, Jungs…“, Gerd deutete auf einen Wasserkanister, der auf einem der Tische abgestellt war. „Trinkwasser für euch. Da sind zehn Liter drin. Ich nehme an, das könnt ihr gebrauchen.“
Max und Cosmin warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Sie hatten zwar Tütensuppen, Fertignudeln und auch Teebeutel im Gepäck, aber keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie dafür auch sauberes Wasser benötigten.
„Danke, Gerd.“ Max deutete auf die Felswand mit der extrem schweren „Possibile“ - Route. „Wann willst du da ran?“
„Wir bleiben bis Samstag. Wenn du möchtest, nehmen wir uns das für morgen vor. Dort gibt es noch drei weitere, aber etwas leichtere Zehner - Routen…“
Max ahnte, dass Gerd auch für diese Routen einen Vorsteiger suchte. „Okay, wenn wir einmal dort sind, probieren wir auch die mal aus. Und jetzt…“, er wandte sich zu Cosmin um, der mit glänzenden Augen auf die steil aufragenden Felswände starrte, „bauen wir erst einmal unser Häuschen für die nächsten vier Nächte auf.“

Ein Klettertag im Felsental

Max

Nachdem sie das Zelt aufgebaut und ihre Sachen darin verstaut hatten, schlenderten die Jungen zu den Felswänden. Zunächst wählten sie an einer der niedrigen Wände eine relativ leichte Route, um Finger und Muskeln aufzuwärmen. Allerdings hatte Cosmin bereits während des Zeltbaus mit großen Augen immer wieder zu einer Stelle gestarrt, wo zwei im rechten Winkel aufeinander stoßende Felswände eine fast vierzig Meter hohe Ecke bildeten. Drei Kletterer versuchten dort nacheinander, das obere Ende der gewaltigen, teils überhängenden Verschneidung zu erreichen. Nach einem letzten erfolglosen Versuch rafften sie ihr Seil zusammen und verließen den Einstieg in die Route.
Max sah, dass Cosmin in Gedanken bereits in der Verschneidung hinauf hangelte.
Er blätterte in Gerds Kletterführer, während er hinter Cosmin auf einem Trampelpfad durch das kniehohe Gras zum Einstieg in diese Route stapfte. „Cos-Mi, der Weg heißt Zitterbacke und ist eine Sieben bis Sieben Plus.“
„Das schaffe ich. Ich weiß, wie man Sicherungen…“
Max hielt Cosmin zurück. „Ich mache das als Erster und baue die Sicherungen. Dann kannst du vorsteigen und nimmst meine Sicherungen. Cos-Mi, das hier ist keine Kletterhalle.“
„Das sagtest du bereits“, maulte Cosmin, ließ jedoch Max den Vortritt.

Ein Riss, mal schmaler als ein Finger und mal so breit, dass darin eine Faust hinein passte, durchzog die Route dort, wo die Felswände aufeinander stießen. Da auch bei dieser Route die Abstände der im Fels befestigten Sicherungshaken teilweise sogar größer als fünf Meter waren, verklemmte Max im Riss mehrere kleine Stahlkeile oder Knotenschlingen und führte das Seil durch die mit den Keilen oder Schlingen verbundenen Karabinerhaken.
Max empfand die Route als schwer für eine Sieben und hoffte, dass sich Cosmin an ihr nicht die Zähne ausbeißen würde.
Nachdem Max wieder festen Boden unter den Füßen hatte, erklärte er Cosmin, wo sich die schwierigsten Stellen der Route befanden und wie man sie meistern konnte.
Cosmin erfuhr bereits auf halber Höhe der „Zitterbacke“ genannten Route, wieso die Erstbegeher ihr diesen Namen verpasst hatten. Doch gelang es ihm zunächst, das Zittern der Knie und manchmal auch des Hinterteils unter Kontrolle zu bringen, bis er an der schwierigsten Stelle beim Versuch, das Seil in den Karabiner am nächsten Sicherungshaken einzuklinken, abrutschte und in eine der Schlingen fiel, die Max mit einem Knoten im Riss verkeilt hatte.
Ein paar Augenblicke zappelte Cosmin im Seil und erinnerte an eine am eigenen Faden hängende Spinne. Nach einer kurzen Schaukelei bekam er den Fels zu fassen und hangelte bis zu der Sicherungsschlinge. Dort ruhte er kurz aus und kletterte anschließend erneut zu der Stelle, an der er abgerutscht war. Max spürte, dass auch er selber jeden Muskel anspannte, als Cosmin trotz zitternder Knie am Seil zog und es in den Karabiner einklinken konnte.
Cosmin gönnte sich eine weitere Ruhepause, ehe er das letzte Stück bis zum oberen Haken mit dem Abseilring hinauf hangelte.
Anschließend kletterte Max die Route noch einmal. Zum einen, um dabei alle Karabiner sowie die Schlingen und Klemmkeile einzusammeln. Zum anderen war er besorgt, dass Cosmin beim Abseilen ein Fehler unterlief. Wenig später hingen die Jungen gemeinsam am Abseilring des oberen Haken.
„Ich hab’ mich irgendwie doof angestellt“, murrte Cosmin. „Ich werde es morgen oder am Samstag noch einmal versuchen, ohne Sturz und Ausruhen im Gurt.“
Max tätschelte Cosmins Schulter und deutete auf die drei Kletterer weit unter ihnen, von denen sich einer auf den Einstieg in eine der benachbarten Routen vorbereitete. „Die klettern mit Sicherheit schon viel länger als du und haben hier keinen Stich gesehen. Bei so einem Riss ist auch Technik gefragt. Die bringe ich dir auch noch bei, okay?“
Cosmin nickte. „Ohne deine Knotenschlinge da im Riss wäre ich bestimmt zehn Meter tief geflogen. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, einen Knoten im Riss zu verklemmen.“
„Lass mich einfach noch ein paar Tage als erstes ran, dann lernst du das auch. Und jetzt will ich sehen, wie du hier abseilst.“
„Maxi, hast du Schiss, dass ich dabei schon wieder einen Abflug mache?“
Max ließ seinen Blick über Cosmins verschwitztes Gesicht schweifen. „Cos-Mi, es gibt drei Dinge, die ich zum Leben brauche. Luft, was zu futtern und zu trinken und… dich. Also passe ich lieber auf, dass du keinen Abflug machst.“
Cosmin schien nach einer passenden Antwort zu suchen. Ein bisschen hoffte Max, aus Cosmins Mund etwas Ähnliches zu hören.
Doch Cosmin wandte seinen Blick ab und schaute sich über seine Schulter im Felsental um. „Und wie hast du dann siebzehn Jahre überlebt?“
Max seufzte leise und fragte sich einmal mehr, warum Cosmin Worte, nach denen er sich sehnte, nicht über die Lippen brachte. Doch plötzlich zog Cosmin Max’ Gesicht an sein Gesicht heran und für einen Augenblick spürte Max Cosmins weiche Lippen auf den eigenen.
„Pass auf mich auf, mein schöner Lehrer“, hauchte ihm Cosmin ins Ohr und wollte das Seil aus dem Karabiner klicken, um es durch den Abseilring zu fädeln. Max griff blitzschnell nach dem Seil. „Cos-Mi! Wenn dir das Seil aus der Hand rutscht, was für ein Problem haben wir dann?“
Cosmin starrte Max aus vor Schreck geweiteten Augen an. „Oh Mann! Wir würden hier beide am Ring hängen und kämen nicht mehr runter.“ Hastig schlang er eine Schlaufe ins Seil und befestigte sie an seinem Gurt.
Max half Cosmin beim Einziehen des Seils. „Heute hätten uns Gerd und Kris hier raus geholt. Aber allein und ohne Handy wäre man so ziemlich am Arsch.“

Cosmin

Inzwischen waren weitere Kletterer im Steinbruch eingetroffen und das Camp war auf fünf Zelte angewachsen. Unweit des Teiches schichteten Gerd und zwei andere Männer abgestorbene Zweige und Äste für ein Lagerfeuer auf.
Nach der Zitterpartie an der „Zitterbacke“ genannten Route und dem Schreck darüber, wie schnell man beim Klettern in eine missliche Lage geraten konnte, verspürte Cosmin vorerst kein Verlangen, eine weitere schwere Route vorzusteigen. Zumal vom Campingplatz, wo Kristin und eine weitere Frau an einem Standgrill hantierten, der Geruch nach gegrillten Bratwürsten bis an seine Nase wehte und ihn daran erinnerte, dass sein Magen mal wieder eine Füllung benötigte.
Max führte ihn zu einer nahezu glatten, höchstens fünfzehn Meter hohen Felsplatte. Sie lehnte in einem Winkel von vielleicht sechzig oder siebzig Grad gegen die dahinterliegende Felswand und war übersät mit weißen Magnesiaspuren.
Wie es schien, kitzelte der Geruch nach Grillwürsten auch Max’ Nase. „Wir klettern nur noch diese Reibungswand hier, okay?“, schlug er vor und deutete auf die hinter der Platte aufragende Felswand. „Das da vergessen wir, ist eh nur noch Spielerei.“

Als sie nach der letzten Kletterei des Tages zum Campingplatz zurückkehrten, saßen Kristin und Gerd zusammen mit sechs weiteren Frauen und Männern an einem der Tische und ließen sich dort die duftenden Bratwürste schmecken.
Kristin winkte den Jungen zu. „Cosmin, Max, ihr könnt euch gerne zu uns setzen. Wir haben euch ein paar von den Würsten aufgehoben.“
Die Jungen bedankten sich für die Einladung und brachten ihre Kletterausrüstung zum Zelt.
Nach einer Katzenwäsche im klaren Wasser des Teiches baute Max auf dem Nachbartisch seinen Kartuschenkocher auf und platzierte darauf einen mit Wasser gefüllten Topf, während Cosmin ihre Essensvorräte durchforstete und sich schließlich für die frischen, von Oma Lisa gebackenen Baguettes entschied.

Am Tisch wurden sie von den Männern und Frauen wie alte Bekannte begrüßt, obwohl die Leute mindestens zwanzig Jahre älter waren als die beiden Jungen.
„Max ist bislang der einzige, der in Dessau die Quali und hier die Possibile geschafft hat und Cosmin klettert inzwischen schon Achter - Wege; dabei hat er erst vor ein paar Monaten mit dem Klettern angefangen“, erklärte Gerd den anderen am Tisch.
Cosmin bemerkte, dass ihm einige von Gerds Freunden Blicke zuwarfen, als hätte er Gold bei Olympia geholt. „Naja, eigentlich nur Acht Minus“, korrigierte er leise.
Kristin schob ihm und Max Pappteller mit je zwei Würsten auf den Platz. „Cosmin, so wie du dich anstellst beim Klettern, wird spätestens im Sommer aus dem Minus ein Plus.“
Während sich die Jungen die Würste schmecken ließen, stellte Kristin die mit am Tisch sitzenden Kletterer vor. Anschließend nahmen die Leute ihre unterbrochenen Gespräche wieder auf.
Gerd erhob sich. „Ich zünde schon mal unser Lagerfeuer an.“ An Max und Cosmin gewandt fuhr er fort. „Ihr kommt doch auch, oder? Max, du sagtest mir neulich, dass ihr Radler trinkt und ich habe zufällig welches dabei.“

Die Schatten der anbrechenden Nacht vertrieben die Reste des Tages aus dem Felsental, doch vor den tanzenden Flammen des von Gerd entzündeten Lagerfeuers mussten die Schatten zurückweichen. Angelockt vom Knacken des brennenden Holzes und dem Lodern der Flammen erhoben sich nun auch die anderen Kletterer und begaben sich zum Lagerfeuer. Die drei Kletterer, die sich zuvor vergeblich an der „Zitterbacke“ abgemüht hatten, campierten offenbar auch hier. Sie saßen an einem der Nachbartische und unterhielten sich leise.
Cosmin genoss das Abendessen im Kerzenschein und unter einem Himmel, an dem immer mehr Sterne aufleuchteten und wie kleine Glühlämpchen ins Tal hinunter schauten.
Max befüllte ihre Trinkbecher mit frisch aufgebrühtem Früchtetee.
„Campen ist irgendwie… romantisch. Ich habe so was noch nie gemacht.“ Cosmin ließ den Blick über die Zelte schweifen und schlürfte etwas von dem heißen Tee. „Ich schätze, wochentags hätten wir das Tal hier für uns ganz allein.“
Cosmins Blick kehrte zu Max zurück. Das Flackern des Lagerfeuers spiegelte sich in Max’ Augen und wieder einmal schien es, als würden die Flammen auch hinter diesen Augen lodern.
„Falls nicht dieser Lustmolch hier aufkreuzt, Klauer oder wie der hieß“, fauchte Max. „Meine Fresse, ich glaub’, der war total spitz auf dich.“
„Knauer hieß der“, korrigierte Cosmin. Ihm waren die lüsternen Blicke des Mannes nicht entgangen, auch wenn er so getan hatte, als würde er sie nicht bemerken. „Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich nicht auf Kerle stehe?“, raunte er Max zu.
„Normalerweise?“
„Normalerweise!“

Nach dem Abendessen unter freiem Himmel gesellten sich Max und Cosmin zu den anderen Kletterern, die bereits am Lagerfeuer saßen.
Max bat Gerd und Kristin um Tipps zu den Hunderte Meter hohen Kletterrouten im rumänischen Bucegi Massiv. Gerd überließ es Kristin, die Kletterei an den beiden bekanntesten und von ihnen durchstiegenen Routen in diesem Bergmassiv zu beschreiben. Er suchte auf seinem Handy nach Kontakten, die den Jungen bei ihrem Kletterabenteuer in Rumänien von Nutzen sein konnten und sandte sie an Max’ Handy.
Nachdem Kristin ihren Bericht beendet hatte, griff Max nach seinem Handy und riss erstaunt die Augen auf.
„Was ist los?“, fragte Cosmin und statt zu antworten, reichte ihm Max das Handy.
Gerd hatte per WhatsApp mehrere Links zu rumänischen Bergsportseiten an Max geschickt. Außerdem befand sich eine Nachricht von einem „Andy in Predeal“ auf dem Handy.
Max tippte auf die Nachricht. „Lies das!“
Cosmin überflog die Nachricht.

„Hallo Max und Cosmin, ich wohne in Predeal, nur ein paar km von den Felswänden des Bucegi - Gebirges entfernt und habe im Haus zwei kleine Ferienwohnungen. Ihr könnt dort für wenig Geld übernachten und während der Klettertour Euer Auto bei mir auf dem Hof stehen lassen. VG Andre.“

„Dieser Andre sprich fehlerfrei deutsch“, murmelte Cosmin und wandte sich an Gerd. „Wer ist der Mann?“
Gerd schien für einen Moment etwas in den tanzenden Flammen des Lagerfeuers zu sehen, das Jahrzehnte zurücklag. „Ein Kletterfreund aus meinen Jugendzeiten. Er ist auch aus Magdeburg und vor ein paar Jahren mit seiner Frau nach Rumänien gezogen. Ihr könnt ihm vertrauen.“
Cosmin sah, dass Max eine Antwort an den Andy aus Predeal ins Handy tippte, in der er sich für das Angebot bedankte und schrieb, sie würden die Reise nach Rumänien voraussichtlich Anfang Juni nach dem Ende ihrer Abiturprüfungen antreten.
Anschließend leerte Max die Flasche Radler. Gerd bot den Jungen eine weitere Flasche an.
Cosmin verzichtete lieber, um nachts nicht die Wärme des Schlafsacks wegen einer drückenden Blase verlassen zu müssen und Max winkte ebenfalls ab. „Ich halte abends nicht sehr lange durch.“
Er tippte auf die geleerte Flasche. „Wohin damit?“ Ein kahlköpfiger Mann mit ergrautem Vollbart, von dem Cosmin nur wusste, dass er Peter hieß, zeigte zum Zeltplatz. „Da steht ein Plastikkorb am Zaun. Legt die leeren Flaschen dort rein.“
Die Jungen verabschiedeten sich von den am Lagerfeuer versammelten Leuten und stapften im Licht einer Taschenlampe zu ihrem Zelt.

Während Max im Zelt die Campingmatten ausbreitete und beide Schlafsäcke miteinander verband, verzog sich Cosmin mit Zahnbürste und Zahnpasta nach draußen.
Nach seiner Rückkehr half er Max dabei, den geräumigen Doppelschlafsack mit dem Innenbezug auszukleiden. Danach verließ Max, bewaffnet mit seiner Zahnbürste und der Zahnpasta, das Zelt.
Cosmin schlüpfte aus seinen Sachen und nur im Slip bekleidet glitt er in den Schlafsack. Er lauschte gedämpften Stimmen, die aus einem der benachbarten Zelte ertönten. Sie gehörten vermutlich zu den drei Kletterern, die sich erfolglos an der „Zitterbacke“ versucht hatten.
Cosmin seufzte leise. Die Kondome würden heute Nacht wohl unbenutzt bleiben.
Max kroch zurück ins Zelt. Im Schein der an der am Zeltgestänge baumelnden Campinglampe leuchteten seine Augen wie klare Teiche, die im Licht eines Sonnenuntergangs funkeln.
„Maxi, du guckst jetzt aber auch so wie dieser Knauer“, flüsterte Cosmin. Max grinste nur und schlüpfte ebenfalls aus seinen Sachen. Cosmin versuchte vergeblich so zu tun, als würde ihn das Muskelspiel auf Max’ nacktem Oberkörper und die Beule im Slip darunter kalt lassen. Er fühlte Hitzewellen durch seinen Bauch bis hinauf zu den Ohrenspitzen branden.
„Cos-Mi!“ Max kicherte leise. „Du guckst, als müsstest du mal wieder striffeln.“
Er kroch zu Cosmin in den Schlafsack und zog ihn an sich. „Möchtest du, dass ich dir beim Striffeln helfe?“ Cosmin stöhnte leise auf, als er Max’ Erektion an seinen Lenden spürte. „Maxi, wir sind hier nicht alleine“, zischte er Max ins Ohr. „Du möchtest doch nicht…“
Max erstickte den Rest des Satzes mit einem Kuss. „Wir begnügen uns eben mit der leisen Variante“, flüsterte er und erkundete mit den Fingern die Innenseite von Cosmins Slip, ohne jedoch den knüppelharten Penis darin zu berühren.
Cosmin unterdrückte ein Stöhnen, das wahrscheinlich auch im Nachbarzelt zu hören gewesen wäre. Er zerrte Max’ Slip bis hinunter zu den Knien und versuchte auch den eigenen Penis aus dem textilen Gefängnis zu befreien, doch Max wischte seine Hand beiseite.
„Schon vergessen? Ich bin dafür zuständig!“, hauchte er in Cosmins Ohr und knabberte am Ohrläppchen. „Möchtest du, dass ich dich striffle?“
„Maxi“, japste Cosmin. „Wenn du nicht gleich anfängst damit, striffle ich mich selber.“

Possibile

Cosmin

Cosmin erwachte am nächsten Morgen, weil er spürte, dass etwas fehlte. Es war die Wärme von Max’ nacktem Körper. Sie hatten sich beim Schlafen aneinander geklammert, als würden sie befürchten, der andere könne sich mitten in der Nacht aus dem Staub machen oder in Luft auflösen.
Wo war Max?
Cosmin öffnete die Augen und blinzelte überrascht. Die Zeltwand über ihm glitzerte. Er schabte an der glitzernden Patina und weiße, eisige Flöckchen rieselten ihm ins Gesicht. Die Temperatur war über Nacht im Felsental auf unter Null Grad abgesunken.
Da Max nicht auftauchte, streifte sich Cosmin warme Sachen über und blickte sich suchend im Kopfteil des Zeltes um. Dort hätten vier benutzte Kondome herum liegen müssen, doch er konnte sie nirgends finden.
Er trat aus dem Zelt. Der mit Gehölz überwucherte Abhang, an dem auch der steile Pfad in das Felsental hinunter führte, wurde bereits von der Sonne angestrahlt, während der Talgrund noch im Schatten lag und Reif die Wiesen überzog. Cosmin erblickte Max in der Nähe des Teiches und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
Verrückter Kerl!
Max hatte zwei Seilstücke um den Ast eines Baumes geschlungen und zog daran seine morgendlichen Klimmzugserien durch.
„Cos-Mi, hey… wenn dir kalt ist, mach mit hier“, rief Max, als Cosmin sich zu ihm gesellte.
„Und wenn mir nicht kalt ist?“
Max glitt mit einer eleganten Bewegung vom improvisierten Sportgerät. „Dann bist du trotzdem an der Reihe.“
„Na okay.“ Cosmin streifte die warme Jacke ab und griff nach den vom Ast herabhängenden Seilschlingen. „Maxi?“
„Putzmunter!“
„Die Gummis, ich wollte sie irgendwo verstecken und konnte sie nicht finden.“
Max grinste und nickte zu den Resten des abendlichen Lagerfeuers, aus denen immer noch eine dünne Rauchfahne aufstieg. „Die findet niemand mehr. Sie sind längst verdampft.“

Während die Jungen anschließend an einem der Tische frisch gebrühten Kaffee schlürften und sich Oma Lisas Pfannkuchen schmecken ließen, schafften es die Strahlen der Märzsonne endlich bis ins Tal. Sie ließen den Reif auf den Wiesen verschwinden, als wäre er nur ein nächtlicher Spuk gewesen und lockten auch andere Camper aus ihren Zelten.
Kristin und Gerd traten an den Tisch heran und grüßten beide Jungen. Gerd zeigte auf die Wand mit den schwierigsten Routen des Steinbruchs, in deren Schatten sich der Frost der Nacht vor der Wärme des Tages versteckte. „Max, ich glaube, wir warten lieber, bis es etwas wärmer ist.“
Max reckte den Daumen. „Im Moment ist Possibile ziemlich impossibile.“
Nach dem Frühstück wählte Max an den von der Sonne aufgewärmten Felswänden einige kurze Routen aus, an denen er verschiedene Klettertechniken demonstrierte.

Am späten Vormittag hatte die Frühlingssonne die nächtliche Kälte auch aus dem hintersten Winkel des Talgrundes vertrieben und die ersten Kletterer hangelten in T - Shirts und halblangen Hosen die Wände hinauf.
Inzwischen war das Camp auf acht Zelte angewachsen und an die zwanzig Kletterer tummelten sich im Felsental.
Doch als Max und Gerd letzte Vorbereitungen für den Einstieg in die Possibile Route trafen, machten es sich die meisten Leute auf der Wiese in der Nähe des Wandfußes bequem. Nicht alle Tage bekam man die Gelegenheit, bei der Durchsteigung einer Route zuzuschauen, die vermutlich nur eine Handvoll Kletterer des Landes bis zum oberen Ende schaffte. Kristin und Cosmin hockten zusammen auf einem Felsbrocken, um von dort aus Max und Gerd die Daumen zu drücken.
Cosmin bemerkte, dass beinahe jeder Zuschauer Max’ geradezu katzenhafte Bewegungen an der glatten Wand aus aufgerissenen Augen und aufgesperrten Mündern verfolgte. Die nur an schwachen Magnesiaspuren erkennbaren Griffe und Tritte waren vermutlich schmaler als ein Finger, zudem hing die Wand auf ihrer gesamten Länge etwas über.
Erst etwa zehn Meter unterhalb der oberen Felskante schienen Max die Kräfte zu verlassen. Er hockte wie ein Frosch kurz vor dem Sprung in der Wand, die Knie beinahe in derselben Höhe wie die Finger, die sich an unsichtbaren Griffe klammerten.
Cosmin stieß den angehaltenen Atem aus. „Was tut er da?“
Kristin beschattete mit der Hand ihre Augen. „Ich glaube, er muss die nächsten Griffe anspringen.“
„Anspringen?“, keuchte Cosmin. „Wie soll denn das…“
Max stieß sich wie ein hüpfender Frosch von den Tritten ab, doch wonach auch immer er mit der rechten Hand zu schnappen suchte, er verfehlte es und baumelte plötzlich etwa fünf Meter tiefer am Seil. Nach einer Verschnaufpause griff Max ins Seil und hangelte zurück zum Haken, wo er sich ein paar Minuten ausruhte, ehe er sich aufrichtete und erneut zum Sprung ansetzte.
Cosmin hielt den Atem an.
Max schnellte nach oben, hing jäh mit der rechten Hand an einem Griff und zog sich daran soweit hoch, dass die linke Hand ebenfalls etwas zu fassen bekam. Mit einer blitzschnellen Bewegung klinkte er das Seil zusammen mit dem an der Expressschlinge befestigten Karabiner in den nächsten Haken ein.
„Los Maxi, du schafft es!“, stieß Cosmin aus und so, als hätte Max den Anfeuerungsruf gehört, hangelte er mit einigen schier unmöglich erscheinenden Verrenkungen zum Abseilring an der oberen Felskante. Ringsum brandete Beifall und anerkennendes Gemurmel auf.
Max gönnte sich eine Verschnaufpause und zog dann so lange das Seil durch den Ring, bis beide Enden auf dem Boden lagen. Das Seil hatte also eine Länge von mindestens achtzig Metern. Ein Strang verlief durch die Karabiner an der Felswand, der andere Strang hing frei herunter und sein Ende war etwa fünf Meter von der Wand entfernt auf dem Boden gelandet. Offensichtlich hing die Felswand viel stärker über, als es auf dem ersten Blick erschien.
Kurz darauf begann Gerd, gesichert von Max, sich in der glatten Wand nach oben zu kämpfen. Obwohl Gerd die Fünfzig längst überschritten hatte, erreichte auch er das obere Ende der Route, wenngleich er an den meisten Haken ausruhen und manchmal auch die Expressschlingen an den Haken als Griffe benutzen musste. Erneut brandete Beifall auf.
Als Max endlich wieder auf festem Boden stand, eilte Cosmin zu ihm und nahm ihn kurz in die Arme. „Du warst unglaublich, Maxi.“
„Ach was!“ Max löste das Seil mit dem Abseilgerät aus dem Gurt und wischte sich dann den Schweiß von der Stirn. „Mir geht’s wie dir mit der Zitterbacke. Ich hätte das Teil gerne ohne Sturz und die zwei Kunstpausen geklettert.“

Nach einem Mittagsimbiss setzten Gerd und Max die Kletterei an den schwersten Routen im Steinbruch fort, wo Gerd ebenfalls die Sicherungshaken überprüfen wollte.
Kristin führte Cosmin zu den aus dem Dickicht heraus ragenden Felswänden auf der gegenüberliegenden Seite des Talgrunds. Sie waren teilweise nur zehn Meter hoch und dienten ihr in den Kletterkursen als Übungsfelsen.
Cosmin erfuhr, dass Kristin auch als Lehrerin arbeitete, was vermutlich ihre Geduld beim Erläutern und Demonstrieren verschiedener Sicherungs - und Klettertechniken erklärte.
Sie hatte keine Einwände, als Cosmin ihr sagte, er würde die „Zitterbacke“ gerne noch einmal vorsteigen und die Sicherungen dafür auch selber am Fels anbringen.
Dieses Mal nutzte Cosmin jeden halbwegs guten Stand, Kräfte zu sammeln und das Zittern der Beine unter Kontrolle zu bringen, sowie Keile und Schlingen so im Riss zu verklemmen, wie er es bei Max gesehen hatte. Er überwand die schwierigste Stelle ohne Sturz und sein kurzer Jubelruf am Ende der Route drang offensichtlich bis an Max’ Ohren. Bei einem Blick über die Schulter sah er, dass Max ihm von der glatten Felswand aus zuwinkte und den Daumen reckte.
Cosmin winkte zurück und schüttelte unmerklich mit dem Kopf.
Maxi! Im Vergleich zu dir sehe beim Klettern bestimmt aus wie ein Trampel.

Wie schon am Tag zuvor verbrachten beinahe alle Kletterer den Abend am Lagerfeuer. Gerd reichte jedem der Jungen eine Flasche Radler, als sich Max und Cosmin nach dem Abendessen mit ans Feuer hockten.
Cosmin entging nicht, dass die meisten der anwesenden Kletterer Max mit bewundernden Blicken musterten, die an ihm jedoch wie Regentropfen an einem Fenster abperlten.
Gerd prostete den Jungen mit einer Bierflasche zu. „Max, die Leute hier wollen wissen, wie schwer du ‚Possibile‘ einschätzt“, sagte Gerd nach einem Schluck aus seiner Bierflasche.
Max starrte in die Flammen, als würde er dort nach einer Antwort suchen. „Mit Ausruhen an den Haken vielleicht eine Zehn oder Zehn Plus“, erwiderte er nach einer Weile, ohne den Blick von den lodernden Flammen zu lösen. „Was raus kommt, wenn man durchzieht… null Ahnung, ich hab’s ja nicht geschafft.“
„Du willst es noch einmal versuchen, oder?“, fragte Gerd.
Max warf ein Stück Holz in die Flammen. „Wir haben nur ein Fünfzig Meter Seil. Ich glaub’, damit kann ich die Sache vergessen.“
Gerd tätschelte Max’ Schulter. „Ich bin übrigens in eurem Alter auch auf so einem Moped zum Klettern gefahren. Ich lasse euch mein langes Seil hier. Gebt es zusammen mit dem Kanister und eurem Abfall bei Peter ab. Er bleibt bis Montagabend und bringt mir alles vorbei.“
„Echt? Mann, Gerd… danke.“ Max blickte sich suchend unter den am Lagerfeuer versammelten Männern um. „Sorry Leute, ich kann mir keine Namen merken. Wer von euch ist dieser Peter?“
Cosmin schaute auf und sah, dass ihm der glatzköpfige Mann mit dem ergrauten Vollbart zuzwinkerte. Dann wandte sich der Mann an Max. „Das kann man sich ganz einfach merken, Max. Gerd ist hier der Glatzkopf ohne Bart und Peter der Glatzkopf mit Bart.“

Worauf stoßen wir an?

Cosmin

Am nächsten Morgen war es ein Geräusch wie das leises Trommeln von Fingern auf einer Tischplatte, das Cosmin aus nebulösen Träumen holte. Er öffnete die Augen und sah, dass Max, den Kopf auf dem angewinkelten rechten Arm abgestützt, ihn aus großen Augen anstarrte. Es schien, als würde er versuchen, ein kniffliges Rätsel zu lösen.
Cosmin gähnte. „Warum guckst du so?“, fragte er verschlafen.
Ein Lächeln kräuselte Max’ Lippen. „Ich finde es schön, dir beim Schlafen zuzugucken.“
„Ach so?“ Cosmin runzelte die Stirn. „Rede ich jetzt etwa auch im Schlaf?“
Max’ linke Hand, die eben noch auf Cosmins Bauch gelegen hatte, tauchte aus dem Schlafsack auf und strich die Zotteln aus Cosmins Stirn. „Du ziehst 'ne süße Schnute beim Schlafen, Cos-Mi. Sie ist zum Anbeißen.“
Cosmin kicherte leise. „Für’s Beißen bin ich zuständig, schon vergessen?“ Er nickte zum Zelteingang. „Und jetzt raus mit dir zum Frühsport.“
Max’ Finger spielten mit Cosmins Ohrläppchen. „Hörst du, was ich höre?“
„Oh nee!“ Cosmin ließ den Kopf auf den zum Kopfkissen umfunktionierten Rucksack zurück sinken. „Es schifft!“
Max begrub Cosmin unter sich und strich mit den Lippen über Cosmins Wange. „Ich hätte so eine Idee, wie wir die Zeit totschlagen könnten“, flüsterte er.
Cosmin versuchte vergeblich, Max von sich runter zu schieben.
Das kann ich mir vorstellen!
Als Cosmin am Abend vom Gang in die Büsche und dem Zähneputzen ins Zelt zurückgekehrt war, hatte Max bereits geschlafen.
„Komm schon Cos-Mi, ich merke doch, dass du auch willst, was ich will“, hauchte ihm Max ins Ohr und griff nach Cosmins morgendlicher Erektion.
„Es geht jetzt nicht“, japste Cosmin.
„Ah ja, du musst kacken.“
Cosmin kniff Max in eine Pobacke. „Runter von mir, sonst pinkle ich mir in die Hose.“
„Vergiss nicht, dir vorher eine anzuziehen“, kicherte Max und wälzte sich von Cosmin herunter.

Regenschleier wanderten träge durch das Felsental, als Cosmin ins Freie trat. Abgesehen von überhängenden Wänden hatte der Regen die Felsen ringsum so durchnässt, dass an eine Kletterei zumindest in den nächsten Stunden nicht zu denken war, obwohl der Himmel im Westen bereits aufriss. Aus einigen Zelten drangen gedämpfte Stimmen nach draußen und ein Pärchen kochte im Schutz des Vordachs Kaffee auf einem Kartuschenkocher.
Als Cosmin von der Morgentoilette zurückkehrte, sah er, dass sich Max einen Tainingsanzug übergestreift und ebenfalls Kaffeewasser im Schutz des Vordaches aufgesetzt hatte.

Der nächtliche Regen wich einem bewölkten Himmel, in dem die Sonne hin und wieder eine Lücke fand.
Die Jungen rechneten damit, dass sich die Camper nach dem Frühstück um die wenigen trocken gebliebenen Felswände reißen würden und entschlossen sich, in einem der Supermärkte des Städtchens ihre Lebensmittel - und Trinkwasservorräte aufzufüllen.

Erst am Nachmittag gewann die Sonne die Oberhand über die grauen Wolken. Max steckte offenbar noch die extreme Kletterei vom Vortag in den Knochen. Er begnügte sich nach dem Mittagessen damit, zusammen mit Cosmin den Steinbruch zu erkunden und Kristins Sicherheitstraining und ihren Kletterunterricht für Cosmin fortzusetzen.
Im Supermarkt hatten sich Max und Cosmin neben einigen Flaschen Radler auch mit Grillwürstchen und Grillfleisch eingedeckt. Peter und seine Frau hatten nach Gerds und Kristins Abreise im Steinbruch den Hut auf und gestatteten ihnen am Abend, den Grill zum Rösten ihres Grillfleisches zu benutzen.

Während Max und Cosmin Fleisch und einige der Würstchen rösteten, hockten die meisten Camper wie schon an den Abenden zuvor am Lagerfeuer.
Das Lagerfeuer erhellte auch einen Teil des Campingplatzes; zudem hatte Max die Campinglaterne auf ihren Tisch gestellt.
Cosmin angelte das duftende Fleisch und die Würstchen vom Grill, verteilte sie auf zwei Aluteller und schob einen der Teller auf Max’ Platz. Max öffnete zwei Flaschen Radler und reichte eine davon Cosmin.
„Worauf stoßen wir an?“, fragte Cosmin. Max warf einen Blick über die Schulter und Cosmin folgte diesem Blick. Zwei Tische weiter saßen ein paar Kletterer, die erst am Nachmittag im Steinbruch eingetroffen waren und die sich angeregt unterhielten. An deren Nachbartisch hielt sich ein Pärchen in den Armen und schien im nächtlichen Sternenhimmel nach Glück bringenden Sternschnuppen zu suchen.
Max’ Blick kehrte zu Cosmin zurück. „Dass das mit uns niemals endet.“
Cosmin rechnete kurz nach. Inzwischen waren mehr als sieben Wochen seit ihrer letzten Krise vergangen. „Das wird es nicht… falls wir nicht jedes Mal miteinander Schluss machen, wenn uns ein Mädchen über den Weg läuft“, sagte er leise und prostete Max zu. Ein Lächeln verzauberte Max’ Gesicht.
Cosmin war unfähig, seinen Blick von Max zu lösen.
Er ist wunderschön, wenn er so lächelt.
Und er ist glücklich darüber, dass auch ich für immer mit ihm zusammen bleiben will.
Das Lächeln in Max’ Gesicht verblasste etwas. „Okay, niemals wird nicht klappen. Dann eben bis einer von uns abtritt…“
Cosmins Bierflasche verharrte auf halbem Weg zum Mund. Cosmin wollte den jäh aufblitzenden Gedanken wegwischen wie ein lästiges Insekt, doch der Gedanke bohrte sich wie der Stachel des Insekts in sein Hirn. Was wäre, würde Max durch einen Verkehrsunfall oder einem Absturz bei einer Bergtour aus dem Leben gerissen werden? Max hatte ihm erst vor zwei Tagen erzählt, dass er ohne ihn nicht leben könne.
Mir geht es genauso! Max ist längst zum Mittelpunkt meines Lebens geworden.
„Maxi, bis dahin haben wir noch sechzig oder siebzig Jahre Zeit“, versuchte Cosmin, den düsteren Gedanken beiseite zu fegen. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und schnupperte am duftenden Grillfleisch. „Und jetzt lass uns endlich essen.“
Anders als an den anderen Tagen hatte Max nach dem Abendessen keine Lust, den Rest des Abends am Lagerfeuer zu verbringen und es fiel Cosmin nicht schwer, in Max’ Augen den Grund dafür zu lesen. Allerdings würde sich Max gedulden müssen. Cosmin griff nach dem Handy. Sein Vater hatte am Tage mehrmals versucht, ihn anzurufen und Cosmin war ein bisschen besorgt, dass sein Vater mit dem Alleinsein über Ostern nicht zurecht kam.
Während Max sich zu einer Katzenwäsche an den nahegelegenen Teich begab, wählte Cosmin auf dem Handy die Nummer seines Vaters. Erst nach dem sechsten oder siebenten Rufzeichen nahm sein Vater das Gespräch an.
„Cosmine, mein Junge, ist etwas passiert?“
Cosmin runzelte verblüfft die Stirn. „Tata, schon vergessen? Du hast mich heute ein paar Mal angerufen. Ich dachte, bei dir ist was passiert.“
Sein Vater schien einige Sekunden nach einem Grund für die Anrufe zu suchen. „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob ihr… äh wegen des Regens heute Morgen… ob ihr schon heute nach Hause kommt und … äh … euch frohe Ostern wünschen.“
Die Runzeln gruben sich noch etwas tiefer in Cosmins Stirn. Sein Vater klang, als wäre er bei etwas Verbotenem erwischt worden.
„Wer ruft dich denn um diese Zeit noch an, Florin?“, hörte Cosmin eine Frauenstimme.
„Mein Sohn. Er will mir frohe Ostern wünschen“, antwortete sein Vater der Frau auf deutsch. „Äh… eine Bekannte aus der Firma, Cosmine“, wandte er sich auf rumänisch an Cosmin. „Sie wäre heute Abend auch allein gewesen und da dachten wir… äh… wir könnten mal ein Glas Wein zusammen trinken.“
Cosmin fand ganz und gar nicht, dass sein Vater wegen des Damenbesuches ein schlechtes Gewissen haben müsse. Ganz im Gegenteil, vielleicht würde sein Vater so endlich den Schmerz über die Scheidung von dessen Frau überwinden. „Ist sie deine Freundin?“
„Cosmine…“ Sein Vater atmete tief durch. „Sie ist nicht die Frau, die ich vermisse. Ist es nicht kalt nachts im Zelt? Habt ihr was Warmes zu essen?“, wechselte er abrupt das Thema.
„Die Schlafsäcke sind sehr warm“, erwiderte Cosmin und verschwieg freilich einige Details. Er erzählte, dass sie sich mit einem Gaskartuschenkocher warme Getränke und auch Suppen zubereiten konnten und dass sie bis Montagnachmittag im Steinbruch bleiben würden.
Max kehrte von der Abendtoilette zurück und setzte sich neben Cosmin an den Tisch. „Dein Alter?“, fragte er, nachdem Cosmin das Gespräch beendet hatte.
„Halt dich fest, Maxi. Mein Vater hat eine Frau zu Besuch.“
„Cos-Mi, was erwartest du? Sich selber striffeln ist auf Dauer ziemlich uncool, oder?“, grinste Max.
Cosmin verscheuchte hastig die Bilder, die sich bei Max’ Bemerkung in seinen Kopf drängelten. „Hör auf, so was zu sagen.“
Das Grinsen in Max’ Gesicht wurde etwas schmaler. „Hey komm schon, dachtest du, dein Alter ist weg davon?“
„Maxi, wenn du nicht gleich aufhörst damit, suche ich für mich eine andere… äh Striffelvorlage“, maulte Cosmin und musste plötzlich selber über den Unfug lachen, den er redete. Max stimmte in Cosmins Lachen ein.
Die Gespräche der Kletterer an den anderen Tischen verstummten kurz. Max winkte ihnen zu, als wolle er ihnen sagen, dass sie weiter machen können und wandte sich wieder Cosmin zu. „Bitte such dir keine andere Striffelvorlage, ich will den Job behalten“, bettelte er mit einem breiten Grinsen auf den Lippen und erhob sich. „Los Cos-Mi. Wir haben noch viel vor heute.“

Osterüberraschungen

Max

Max erwachte im Morgengrauen, weil das leise Geschmatze und Geschniefe nicht so richtig zum Traum passen wollte, der ihn ins Atelier seiner Mutter teleportiert hatte. Dort hatte er ihr dabei zugeschaut, wie sie Cosmin porträtierte, obwohl der nicht mit im Raum gewesen war.
Max wollte unter keinen Umständen in einen Albtraum abdriften, in dem Cosmin mal wieder spurlos verschwunden war.
Er öffnete die Augen und atmete erleichtert auf. Cosmin war nicht nur nicht verschwunden, er klammerte sich mit allen Vieren an ihn; den Kopf hatte er auf Max’ Schlüsselbein gebettet.
Offenbar ging es in Cosmins Traum ordentlich zur Sache, denn seine Gesichtszüge waren in ständiger Bewegung. Und plötzlich bemerkte Max, dass nicht nur Cosmins Gesichtszüge in ständiger Bewegung waren. Auch Cosmins Unterleib bewegte sich und Max spürte, dass sich dabei Cosmins Erektion an seinem Becken rieb.
Augenblicklich war Max hellwach.
Cos-Mi rubbelt an mir seinen Stängel!
Dabei hatten sie sich am Abend gegenseitig befriedigt, auch wenn er anschließend ziemlich schnell eingenickt war, während Cosmin vielleicht gerne eine zweite Nummer durchgezogen hätte.
Max verrenkte den Hals, um Cosmins Gesicht besser betrachten zu können. Vielleicht hatte er sich dabei etwas zu hastig bewegt, denn jäh erschlafften Cosmins Bewegungen.
Max rührte sich nicht, in der Hoffnung, dass Cosmin in den feuchten Traum zurückfinden würde.
Komm schon, mach weiter!
So, als wäre sein Bitte erhört worden, begann Cosmin sich wieder zu regen.
Ein Grinsen wölbte Max’ Lippen, als er neuerlich die sanften Stöße an seinem Becken verspürte.
Bei dem Gedanken daran, was sich gerade in Cosmins Traum abspielte, regte sich nun auch der kleine Max und wurde rasch größer. Cosmins Geschmatze und Geschniefe ließ Max’ Phantasie geradezu auflodern. Behutsam, um Cosmin nicht aus diesem Traum zu schubsen, griff Max mit der Linken nach der eigenen Erektion. Für ihn als Rechtshänder war das etwas ungewohnt, doch der rechte Arm lag um Cosmins Hüfte.
Cosmins Stöße wurden heftiger und plötzlich spürte Max warme Nässe, die sich über sein Becken ergoss. Cosmin rührte sich nicht mehr, seine Gesichtszüge glätteten sich und zufrieden wie ein sattes Kätzchen setzte er seinen Schlaf fort. Max vergaß für den Moment die eigene Erektion und tastete mit der linken Hand im Kopfteil des Zeltes herum, bis er eines der Papiertaschentücher erwischte.
Vorsichtig begann er damit, die Hinterlassenschaften des feuchten Traums von seinem Becken und Cosmins Bauch zu wischen.
Cosmin hob plötzlich den Kopf und schlug die Augen auf.
„Was machst du da?“, fragte er verschlafen und schien dann zu begreifen, weshalb Max an seinem Bauch herum wischte. „Du hast gestriffelt!“
„Cos-Mi, schrei doch nicht so“, zischte Max und wedelte mit dem durchnässten Taschentuch, ehe er es in eine Ecke warf, in der sie auch die beiden benutzten Kondome abgelegt hatten. „Das Zeug ist von dir, okay? Und dafür, dass du mich wie ein Karnickel gerammelt hast und ich uns sauber machen musste, könntest du mir ein bisschen von deinem Traum erzählen.“
Cosmin starrte Max entgeistert an. „Wir waren bei dir in Berlin und…“ Offenbar fiel nun der Groschen. "Oh Mann, Maxi. So was passiert mir sonst nur, wenn ich lange nicht… " Er verschluckte den Rest des Satzes. „Tut mir Leid, wenn ich du wegen mir nicht schlafen konntest.“
Max zog Cosmin fester an sich und küsste seine Lippen. „Hör auf, dich zu entschuldigen“, flüsterte er. „Ich fand’s geil. Außerdem habe ich nun einmal rammeln gut bei dir.“
Cosmin bettete seinen Kopf wieder auf Max’ Schlüsselbein. „Vergiss es, nicht jetzt“, murmelte er. „Ich will noch etwas schlafen.“
„Warte, ich habe was für dich.“ Max griff hinter sich, kramte in seinen Sachen und reichte Cosmin seine kleine Osterüberraschung, die aussah wie ein in bunte Alufolie eingewickeltes Ei.
Cosmin zögerte. „Maxi, wir hatten ausgemacht, dass wir uns keine…“
„Komm schon, wickel es aus, es ist nur eine Kleinigkeit.“
Cosmin entfernte vorsichtig die Alufolie. „Ein Überraschungsei? Wo ist die Schokolade?“, fragte er.
Max’ Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Sorry, die hab ich mir gegönnt. Mach’s auf!“
Cosmin hielt das Plastikei an sein Ohr und lauschte, ob was im Inneren klapperte. Dann öffnete er es und entnahm ihm einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel.
„Ein Büchergutschein!“, stieß er aus, nachdem er den Zettel auseinander gefaltet hatte, und er schien nicht zu wissen, ob er sich freuen oder protestieren solle. „Hundert Euro. Maxi, ich will nicht, dass du ständig…“
„Jaja, das sagtest du schon. Cos-Mi, fünfzig sind von meiner Oma, von mir sind nur die anderen fünfzig.“ Max kraulte die Zotteln in Cosmins Nacken. „Kauf’ uns dafür Bücher, die wir ab September brauchen und erklär’ mir, was drin steht.“
Cosmin rutschte etwas höher und hauchte Max einen Kuss auf die Lippen. „Danke, Maxi. Und du willst wirklich Architektur in Dessau studieren?“
Max strich Cosmin schwarze Locken aus dem Gesicht und küsste die gefurchte Stirn. „Ich will mit dir zusammen sein.“
Cosmin seufzte. „Ich habe kein Geschenk für dich.“
„Doch, das hast du.“
„Du denkst an was Versautes, stimmt’s?“
Max zuckte mit den Schultern. „Nicht nur…“ Er ließ offen, womit Cosmin ihn sonst noch beschenken könne. Das sollte Cosmin selber heraus finden.
„Okay…“ Max schloss die Augen. „Lass uns noch ne Runde pennen.“

Als beide Jungen später am Morgen aus dem Zelt krochen, spannte sich trotz der Wettervorhersage, die für den Nachmittag einige Regenschauer oder sogar Graupelschauer ankündigte, ein wolkenloser Himmel über dem Felsental. Die Sonne hatte bereits einen großen Teil des Talgrunds erobert; über den vom Tau durchnässten Wiesen waberten Dampfwölkchen. Aus den Resten des nächtlichen Lagerfeuers kringelte sich eine Rauchfahne kerzengerade in den Morgenhimmel. Die meisten Camper frühstückten an den Tischen und eine Gruppe Kletterer brach zu den von der Sonne beschienen Felswänden auf.

Nach ihrer Morgengymnastik und einem späten Frühstück ließ Max bei der Aufwärmtour an einer mit vielen Bohrhaken gesicherten Route Cosmin den Vortritt.
Anschließend begaben sie sich zur Felswand mit der „Possibile“ - Route.
Cosmin starrte an der Felswand nach oben, die düster über ihren Köpfen aufragte und ihren Schatten in den Talgrund hinein warf. „Ich kapiere nicht, wie jemand da hoch kommt“, murmelte er so, als würde er ein Selbstgespräch führen, während er Gerds Achtzig - Meter - Seil auseinander legte. „Denkst du, dass du es ohne Sturz schaffst?“, wandte er sich an Max.
Max verknotete das Seil in seinem Gurt. Er fühlte sich fit. Er hatte befürchtet, nach Cosmins feuchtem Traum nicht wieder einschlafen zu können und war dann doch noch einmal eingenickt.
„Cos-Mi, dieser Jake ist hier hoch, ohne ins Seil zu rutschen oder an den Haken auszuruhen. Es wäre nett, wenn ich das auch schaffen würde. Gib mir immer genug Seil, wir packen das, okay?“
Er sah, dass Cosmin einen Blick über die Schulter warf. Mindestens ein Dutzend Kletterer hatten es sich in der Nähe bequem gemacht und warteten darauf, dass er in die Route einstieg. Max zuckte mit der Schulter. Die Zuschauer würde er schon nach den ersten Zügen in der Route ausgeblendet haben.
„Ich glaub’s nicht!“, stöhnte Cosmin und verzog plötzlich das Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen.
„Häh, was glaubst du nicht?“, fragte Max und folgte Cosmins Blick. Im selben Moment stockte ihm der Atem. Ein paar Schritte vom Campingplatz entfernt unterhielt sich Gerds Freund Peter mit einem jungen Mann, der nicht nur blendend aussah, sondern auch gekleidet war, als käme er geradewegs von einer Modenschau. Nur der leichte Rucksack auf dem Rücken des Mannes passte nicht so recht zu der vornehmen Kleidung.
Peter deutete in Max’ Richtung und nun wandte sich der Mann zur Felswand mit der Possibile - Route um.
„Leon…?!“
Max winkte seinem Onkel einen Gruß zu und verspürte einen Wirbel widerstreitender Gefühle. Einerseits freute er sich darüber, Leon zu sehen. Andererseits ahnte er, dass Cosmin nicht gerade glücklich über das Zusammentreffen mit Leon sein würde. Zudem fragte er sich, ob es möglicherweise einen weiteren Grund für Leons überraschendes Aufkreuzen im Camp geben könnte.