Zeig wie das geht!
Max
Obwohl er für das Nachschlagen unbekannter Vokabeln im Wörterbuch mehr Zeit benötigte als mit dem Google - Übersetzer auf seinem Handy, beendete Max nach nur etwas mehr als einer Viertelstunde die Übersetzung der letzten beiden Absätze des Zeitungsartikels. Die meisten asiatischen Kampfsportvideos auf Youtube oder Tik Tok liefen mit englischen Untertiteln und so gehörte Englisch zu den wenigen Fächern, in denen er nicht auf Nachhilfe angewiesen war.
Max reichte Herrn Schneider das Blatt mit der Übersetzung. Einmal mehr fand Max, dass der Englischlehrer mit der zerwurstelten, fast schulterlangen weißen Mähne und dem ebenso weißen Vollbart aussah, als wäre er schon als Weihnachtsmann auf die Welt gekommen.
Herr Schneider warf einen kurzen Blick auf das Blatt. „Sieht gut aus, Herr Weller“, sagte er und drückte Max das Blatt in die Hand.
Ich wette, der hat kein einziges Wort gelesen!
Max schnappte seinen Rucksack. „Sehr hilfreich, der Artikel. Da stand drin, was ich schon immer wissen wollte.“
„Ach echt?“ Herr Schneider grinste wie ein Weihnachtsmann, der Kohlestücken statt Schokoplätzchen an Kinder verteilt. „Ich bin nach der Hälfte des Textes eingeschlafen.“
Und wir mussten den Mist nicht nur lesen, sondern auch noch übersetzen!, fluchte Max leise und verließ den Raum.
Er nahm an, dass Cosmin mutterseelenallein an den Fahrradständern auf ihn warten würde. Doch als er aus der Eingangshalle der Schule ins Freie trat, traute er seinen Augen nicht. Der Vorplatz war zwar verwaist, doch an den Fahrradständern umringten Cosmin, Simon, Moritz und zwei Mädchen ein Fahrrad, an dem Florian den Hinterreifen aufpumpte. Eines der Mädchen war Nervensäge Maja und das andere…
Hazel?
„Hazel!“
Hazel drehte sich zu ihm um, ihr hübsches Gesicht erstrahlte. „Maxi!“
Max sprintete los und riss Hazel an sich. „Was treibst du denn hier? Willst du die Schule wechseln?“
Hazel verpasste Max einen Kuss auf die Wange. „Ich überlege noch. Aber eigentlich bin ich hier, weil ich es nicht erwarten konnte, meinen Lieblingscousin und seinen Stiefbruder zu sehen. Außerdem soll ich dafür sorgen, dass ihr mit mir zum Mittagessen kommt und nicht im Burger King versumpft.“
Sie hakte sich bei Max unter und zusammen gesellten sie sich zu den anderen.
Simon knuffte Max in die Seite. „Bleibt es dabei, heute so gegen halb fünf bei dir auf dem Dachboden?“
Max packte Simons Arm und deutete einen Wurf an. „Klar, du und Cosmin gegen Hazel, meinen Cousin Cal und mich. Das wäre mal was Neues.“
"Und Max… " Simon nickte in die Runde. „Wir rätseln gerade, wie man Spagat auf 'ner Reckstange macht. Zeigst du uns, wie’s geht?“
Max tat so, als würde er den Vorplatz nach einem Reck absuchen. „Hier?“
Hazel schubste ihn sanft. „Dummkopf! Ich will es auch sehen. Zeig uns beim Training, wie es geht!“
Bereits im Korridor des Hauses von Oma Lisa wehte ihnen der Duft nach frittierten Hähnchenstücken, Salaten und frischen Backwaren um die Nasen. Im Wohnzimmer verteilte die Oma Schüsseln mit Salaten auf dem Tisch. „Da seid ihr ja!“, begrüßte sie die Jungen und drückte erst Max und dann auch Cosmin an sich. „Ich hoffe, ihr beiden habt euch gut verstanden, als ich in Hannover war.“
Max schien es, als würde seine Oma ahnen, dass sie sich viel besser als nur gut verstanden hatten. Er schnaubte leise. „Cos-Mi ist der nervigste Stiefbruder, den ich je hatte. Ich durfte uns nicht mal eine Pizza bestellen.“
„Ach ja, und wie viele Stiefbrüder hattest du?“, konterte Cosmin.
„Nur den einen, der so nervig ist“, grinste Max und blickte sich suchend um. „Wo ist mein Lieblingscousin?“
„Mäxy, I am here!“, erönte Cals Kinderstimme vom oberen Ende der Treppe, die bis hinauf ins Dachgeschoss führte. Gleich darauf flog ihm ein zwölf Jahre alter und in Sportsachen gekleideter Knabe in die Arme.
„Wie geht’s, Americano?“ fragte Max und zauste Cals blondes Stoppelhaar.
„Super! Ab nächstes Jahr darf ich auf die Junior Highschool in Palm Springs!“ Cal zerrte an Max’ rechtem Arm. „Come on, Mäxy. Du musst mir nochmal zeigen, wie man gegen die Boxsäcke tritt! Bei mir wollen die nicht richtig wackeln.“ Er bemerkte nun auch Cosmin. „Hey, du bist Mäxys indian brother Cosmin. Du kannst Mäxy helfen, wenn ich mit ihm kämpfe. Los kommt!“
Cal griff nach Cosmins Hand und Cosmin schien dem Drängen des Knaben nachgeben zu wollen, doch Oma Lisa deutete auf den Wohnzimmertisch. „Cal, wir essen in zehn Minuten. Außerdem müssen Max und Cosmin nach dem Essen sicher erst ihre Hausaufgaben erledigen.“
„Die schaffen wir in einer Stunde“, versprach Cosmin und Max fügte hinzu: „Vor den Hausaufgaben zeig’ ich dir noch mal, wo du bei den Boxsäcken hin treten musst, damit die richtig wackeln.“
Während des Mittagessens berichtete Cal stolz, wie er in seinem Karateclub zu den Besten seiner Altersgruppe aufgestiegen war. Aus den Augenwinkeln und durch einen Vorhang seiner blonden Haarsträhnen sah Max, dass Hazel, die ihm am Tisch gegenüber saß, abwechselnd ihn und Cosmin musterte und dabei ein Lächeln ihre Lippen kräuselte.
Sie ahnt was! Cos-Mi und ich, wir hocken wie siamesische Zwillinge zusammen und merken es nicht einmal!
„Wieso geht Cal ab der Siebenten auf eine Junior - Highschool?“, fragte Max, als Cal an einem knusprigen Filetstück nagte und darüber offenbar das Weiterreden vergaß. Max versuchte möglichst unauffällig, ein paar zusätzliche Millimeter zwischen sich und Cosmin zu bringen.
Seine Oma seufzte und verzog ihr Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Das Lächeln schwand von Hazels Lippen.
„Unsere Eltern werden nach Amerika zurückkehren, wenn ich nächstes Jahr mit dem Abi fertig bin. Ich möchte in Hannover bleiben und dort studieren, aber Grandma und Grandpa holen Cal schon diesen Sommer nach Palm Springs.“
„Die Schule dort war viel cooler und mein Freund Hawk geht auf dieselbe Highschool“, platzte Cal mit vollem Mund dazwischen.
Max spürte, dass er bei diesem Thema zwischen die Fronten geraten konnte. Einerseits erinnerte ihn Hazels Wunsch, in Hannover zu bleiben, an Leon. Sein Onkel hatte sich als Dreizehnjähriger mit Händen und Füßen gesträubt, die Eltern nach Costa Rica zu begleiten und war bei dessen Bruder - seinem Vater - geblieben. Andererseits hatte Cal einen Teil seiner Kindheit bei den Großeltern in Kalifornien verbracht und nie einen Hehl daraus gemacht, wie uncool er das Leben in Deutschland fand.
„Ich war mit Leon mal ne Woche in der Nähe von Palm Springs, im Joshua Tree Nationalpark… ein geiles Klettergebiet“, versuchte Max dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, aber nun zog Cosmin ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Nach wie vor schien Cosmin allergisch auf den Namen Leon zu reagieren.
„Apropos Klettern. Glückwunsch zur Quali, Maxi“, wischte Hazel das Thema Auswandern beiseite. „Zeig uns am Samstag in der Kletterhalle diese Route!“
„Ja, Mäxy, zeig uns, wie du die kletterst.“
Max stöhnte leise auf. „So langsam muss ich 'ne Liste machen, was ich alles zeigen soll.“
Nach dem Mittagessen begab sich Max wie versprochen mit Cal auf den Dachboden und demonstrierte an einem der großen Boxsäcke, wie er sie zum „Wackeln“ brachte, während Cosmin der Oma und Hazel beim Abräumen des Geschirrs und der übrig gebliebenen Speisen half.
Anschließend verzogen sich Max und Cosmin in Max’ Zimmer, um die Hausaufgaben des Tages und einige zusätzliche Übungen abzuarbeiten.
Max bemerkte, dass sich unter dem Schreibtisch ihre Beine wie üblich aneinander schmiegten.
Cosmin schien von dieser unter dem Tisch versteckten Zärtlichkeit keine Notiz zu nehmen. „Deine Oma wird Hazel und Cal am Sonntagvormittag zurück nach Hannover bringen und bis Dienstag dort bleiben“, sagte er so, als würde er die Lösung einer Matheaufgabe erklären. „Sie hätte nichts dagegen, wenn ich dich wieder nerve, solange sie in Hannover ist.“
„Echt? Oh Mann!“
Max zog Cosmin kurz an sich. „Nerv’ mich, Cos-Mi!“, flüsterte er Cosmin ins Ohr. „So oft und so lange du willst. Denkst du, dass dein Alter dich lässt?“
Cosmin befühlte Max’ Stirn und verbog die Lippen zu einem Grinsen. „Maxi, so lange dein Fieber nicht weg ist, werde ich weiter auf dich aufpassen müssen.“
Nach den Hausaufgaben löste Max mit Cosmins Hilfe noch einige Übungsaufgaben zum aktuellen Stoff in Mathe. Cosmin rechnete damit, dass die Mathelehrerin Frau Dr. Meyer die Klasse schon bald mit einer unangekündigten Leistungskontrolle überraschen könnte.
Gegen halb vier klopfte es an der Tür und Cal steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Hey, die Stunde für eure Hausaufgaben ist längst um!“
Max sprang vom Stuhl auf und zog Cosmin mit auf die Füße. „Cal hat Recht, genug gepaukt. Jetzt wackeln wir Boxsäcke!“
Aus einem der Schränke im Korridor entnahm Max einen aus Rattan geflochtenen Teppichklopfer.
„Was ist das für ein Ding?“, fragte Cal und schnappte sich den Teppichklopfer.
Max kraulte Cals Stoppelhaar. „Damit kannst du mich gleich verprügeln.“