Der Nebel am Ende des Regenbogens (Bleib bei mir 2)

Eine Biene mitten im Februar?

Max

Auch am nächsten Schultag tauschten Max und Cosmin unter der Schulbank Zärtlichkeiten aus, wenn sie sie sich unbeobachtet fühlten. Das war allerdings seltener als am Tag zuvor der Fall. Schon als beide Jungen am Morgen den Klassenraum betraten, bemerkte Max das Getuschel und die verstohlenen Blicke, die Cosmin von Mädchen und Jungen gleichermaßen zugeworfen wurden. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass Cosmin mit einer exotischen Schönheit befreundet war.

Auch die Jungen der Parallelklasse kannten in der Hofpause nur ein Thema und versuchten Cosmin Löcher in den Bauch zu fragen. Cosmin beantwortete ihre Fragen einsilbig und unterhielt sich später leise mit Moritz.
Simon knuffte Max Rippen. „Trainieren wir heute zusammen? Ich will dir die Würfe für den zweiten Dan zeigen.“
Max erwiderte den Rempler. „Super. Und ich zeige dir, wie man den Boxsäcken das Fliegen beibringt.“
Simon lachte auf. „Und dann fliegen sie mir um die Ohren. Ich begreife echt nicht, wie du das anstellst, Max.“
Max zuckte mit der Schulter. „Ich mache das schon ziemlich lange.“
Wahrscheinlich hatte ich noch Windeln um, als ich damit anfing.
Simons Lächeln verblasste. „Ist bei euch alles im Lot? Ich meine bei dir und Cosmin.“
„Simon, mir geht die ziemlich auf’n Sack!“, antwortete Max leise, um zu vermeiden, dass das morgen die gesamte Schule wusste.
„Kann ich verstehen“, entgegnete Simon ebenso leise. „Würde sich eine so an Ritzi ran schmeißen, ich weiß nicht, für mich wäre das ein Albtraum.“
Für mich ist es ein Albtraum!
Aber inzwischen war er zuversichtlich, dass der Albtraum morgen enden würde.

Nach der Deutschstunde, der letzten Stunde des Tages, fischte Cosmin sein Handy aus der Hosentasche und las eine Nachricht, die er offenbar während des Unterrichts erhalten hatte. Das hätte Max nicht weiter interessiert, doch plötzlich zog Cosmin ein Gesicht, als wären ihm all seine Mathebücher weggenommen worden.
„Cos-Mi, hey, was ist los?“
Cosmin starrte Max aus fassungslos aufgerissenen Augen an.
„Cos-Mi! Rede mit mir!“
Cosmin schüttelte den Kopf, als würde er aus einem Trance erwachen.
„Nichts passiert, Maxi!“, sagte er und schnappte sich seinen Rucksack von der Schulbank.
Sie verließen das Schulhaus und zu Max’ Erleichterung wartete auf dem Vorplatz keine exotische Schönheit. Am Rathaus verabschiedeten sich die Jungen voneinander. Onkel Radu plante für den späten Nachmittag eine Spritztour nach Berlin. Deshalb würden sich beide Jungen anders als an anderen Tagen nicht noch einmal zum gemeinsamen Training oder zur Nachhilfe sehen. Max wollte sich auf sein Rad schwingen, doch plötzlich hielt ihn Cosmin am Arm fest.
„Maxi?“
„Hier!“
„Ganz ehrlich. Würdest du dich gerne mal mit Camelia treffen?“
Max traute seinen Ohren nicht.
„Was ist denn das für eine bescheuerte Frage? Herrgott Cos-Mi, ich träume Tag und Nacht von der.“
Und zwar Albträume!, fügte er in Gedanken hinzu, verpasste Cosmin einen Klaps auf die Schulter und radelte in Richtung des Stadtparks davon.
Am Rande des Stadtparks gruppierten sich ein Dutzend Bänke um einen Springbrunnen, der aber Winterschlaf hielt. Die Sonne schien von einem blankgeputzten Himmel und einige der Leute auf den Parkbänken genossen ihre wärmenden Strahlen bereits in kurzärmligen Shirts. Max radelte an jener Stelle vorbei, wo er es im September mit elf Schlägern aufgenommen und die Freundschaft mit Cosmin ihren Anfang genommen hatte.
Auf einer Parkbank etwa hundert Meter vor ihm sah er ein schwarzhaariges Mädchen. Sie hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt, ihr Körper bebte unter Weinkrämpfen. Jäh ging ihm auf, wer da auf der Bank saß.
Zunächst wollte er Camelia ignorieren und weiter fahren, doch an der Bank legte er eine Vollbremsung hin, ließ sein Rad in Gras fallen und setzte sich neben Camelia.
Er angelte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Übersetzungs - App.
Max räusperte sich. „Camelia?“
Camelia blickte überrascht auf, in ihren schwarzen Augen schimmerten Tränen. Anders als bisher schien sie erfreut zu sein ihn zu sehen.
Verdammt, sie sieht echt süß aus!
Er hielt ihr sein Handy hin.
„Was ist los? Hat dich jemand belästigt?“
Sie schluchzte und schnäuzte sich die Nase, dann tippte sie eine Antwort in ihr Handy. „Es ist wegen Cosmin. Ich glaube, er will mich nicht mehr.“
Max versuchte so gut es ging die Freudensprünge seines Herzens zu verbergen.
„Das tut mir Leid“, schwindelte er.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, schrieb sie.
Das kann ich dir sagen! Schnapp deinen Alten und verschwindet aus meinem Leben.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er stattdessen und hoffte, dass sie verneinen würde. Er verplemperte hier nur seine Zeit.
Plötzlich zerrte sie auf ihrem Kopf an den Haaren.
„Da ist Biene!“, kreischte sie und riss weiter an ihren Haaren. Max fragte sich, was mitten im Winter eine Biene in Camelias Haaren verloren hatte.
„Du gucken! Schnell!“
Max verdrehte unauffällig die Augen und warf einen Blick auf ihren Kopf. Sie betrachtete im Handy ihren Scheitel und zerrte an einem Haarbüschel. „Dort was ist?“
Max schob ein paar Haarsträhnen auseinander und schüttelte den Kopf. „Dort sind nur Haare.“
Und Läuse vielleicht?
Camelia tippte etwas in ihr Handy. „Ich will Haare waschen und muss nach Hause.“
Max sprang von der Bank auf. „Ich auch.“

Cosmin

„Cosmi, dein Freund Max ruft mich ständig an und möchte sich nachher mit mir treffen. Mal sehen, was er von mir will. Ich liebe dich.“

Cosmin hatte sich in seinem Zimmer auf der Couch ausgestreckt und las erneut Camelias Nachricht, obwohl er sie inzwischen in - und auswendig kannte.
Sie ergab einfach keinen Sinn!
Max reagierte geradezu allergisch auf Camelia und verspürte sicher keine Lust, sich mit ihr zu treffen. Und woher sollte Max Camelias Handynummer kennen? Für ihn stand inzwischen fest, dass Camelia versuchte, einen Keil zwischen ihn und Max zu treiben und Misstrauen säte.
Die Grübelei über Camelias Nachricht ermüdete ihn und er glitt in einen Traum, in dem Camelia nach der Schule auf dem Vorplatz wartete, sich dort aber Max in die Arme warf.

Das Schrillen der Klingel riss ihn aus dem Schlaf.
Er schlurfte zur Wohnungstür und öffnete sie. Camelia sprintete die Treppe des Hausflures hinauf und fiel ihm um den Hals.
Wenig später saßen sie in Cosmins Zimmer auf der Couch. Zwar hatte er einen Arm um ihre schmale Schulter gelegt, doch anders als bei Max verspürte er nicht das überwältigende Verlangen, mit den Händen jeden Zentimeter ihres Körpers zu erforschen.
„Und? Hast du dich mit Max getroffen?“, fragte er eher wie nebenbei, weil er inzwischen fest davon überzeugt war, dass sie ihm etwas vormachte.
Statt einer Antwort wischte sie über das Display ihres Handys und hielt es ihm unter die Nase.
Cosmin starrte fassungslos auf das Foto. Er zeigte Max, der Camelias Haare befummelte.
„Er hat gesagt, dass er in mich verliebt ist, aber ich will ihn nicht.“
Der Schock, Max’ zärtliche Hände in Camelias Haaren zu sehen, trieb ihm Tränen in die Augen und griff mit eisigen Fingern nach seinem Herzen. Gestern Abend hatte Max ihn hier auf diesem Sofa eine Stunde oder länger in den Armen gehalten und gestreichelt. Und nur einen Tag später versuchte er, ihm die Freundin auszuspannen?
Ein Wirbel aus Wut, Verzweiflung und Enttäuschung fegte durch seinen Kopf. Er schnappte sein Handy, um Max zur Rede zu stellen und bemerkte zu seiner Überraschung, dass Max ihm geschrieben hatte.
„Cosmi, du hast ihr echt gesagt, dass sie verduften soll? Hab sie im Stadtpark getroffen. Sie saß dort auf einer Bank und hat deswegen geflennt. In 24 Stunden sitzen wir im Zug.“
Cosmin warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Dort hatte er sich einige Bücher zurecht gelegt, die er mit nach Berlin nehmen wollte. Und daneben lag ein Schlüsselbund. Max hatte die Schlüssel für die Berliner Wohnung nachfertigen lassen und sie ihm schon am Montag in die Hand gedrückt.
Cosmins Gedanken überschlugen sich. Er hatte gestern mit Camelia einen Spaziergang unternommen und ihr im Stadtpark auch jene Stelle gezeigt, an der Max mit elf Idioten fertig geworden war. Sie wusste also, auf welchem Weg Max von der Schule nach Hause radelte. Konnte es sein, dass sie Max dort abgepasst hatte, um ihn in eine Falle zu locken?
„Zeig mir nochmal das Foto!“
Dieses Mal betrachtete Cosmin das Foto genauer. Es war verwackelt. Kein Wunder, Camelia hatte es vermutlich heimlich geschossen. Es schien fast, als würde Max in Camelias Haaren nach Läusen suchen.
Blieb die Frage, wieso Max Camelias Haare befummelte.
Die eisigen Finger des Schocks zogen sich langsam aus Cosmins Herz zurück. Sollte Max wirklich vorhaben, ihm Camelia auszuspannen, würde er in Dessau bleiben wollen und irgend einen Grund erfinden, weshalb sie die Flucht nach Berlin verschieben müssten. Doch danach sah es nicht aus. Camelia schien zu bemerken, dass sich Cosmin etwas entspannte.
„Er hat gesagt, dass er sich morgen wieder mit mir treffen will“, legte sie nach. „Cosmi, Ich dachte, er ist dein Freund…“
Cosmin schwieg und starrte hinauf zum Kleiderschrank. Die Plüschkatze erwiderte seinen Blick mit kalten Augen.
Camelias Lippen strichen über seine Wange. „Glaubst du mir nicht?“
Er schüttelte leicht den Kopf, sodass sich ihre Lippen von seinen Wangen lösten. „Max will morgen gleich nach der Schule zu seiner Freundin nach Berlin fahren“, mogelte er und sein Blick fand ihre Augen. „Ich verstehe nicht, wie er sich zugleich mit dir treffen kann.“
Sie ließ ihren Kopf an seine Brust sinken und anders als er es sich erhofft hatte konnte er so nicht sehen, ob sie sich ertappt fühlte.
„Vielleicht lügt er dich an?“, fragte sie nach einer Weile. „Er wollte, dass ich morgen dort im Park nach der Schule wieder auf ihn warte.“
Cosmin seufzte leise. „Ach ja, und was hast du gesagt?“, fragte er und kam sich etwas albern vor, dass er dieses Spiel mitspielte.
„Dass ich das nicht will.“ Sie hob ihren Kopf und er blickte in große, unschuldige Augen. „Aber ich könnte ihm sagen, dass ich doch komme. Und du kommst auch und wirst sehen, wie er versucht, mich zu küssen.“
Cosmin überlegte, wie Camelia Max dazu bringen wollte, sie zu küssen. War an der Geschichte vielleicht doch etwas dran? So ganz wollten die eisigen Finger nicht aus seinem Herzen verschwinden.
Draußen im Flur klappte die Wohnungstür und gleich darauf schaute Onkel Radu ins Zimmer. Ein breites Grinsen trat in sein Gesicht, als sein Blick auf Cosmin und Camelia fiel und es schien, als würden die Enden seines gewaltigen Schnurrbartes zu den Ohren wandern. „Florine, schau dir unsere beiden Kleinen an!“ Cosmins Vater blickte nun ebenfalls ins Zimmer und Onkel Radu hieb ihm seine Pranke auf die Schulter. „Nicht mehr lange, und du bist auch Großvater“, polterte Onkel Radu und lachte schallend.
Cosmin entging nicht, dass sich ein Schimmer der Hoffnung im Gesicht seines Vaters ausbreitete.

Max tappt in die nächste Falle

Cosmin

Erst spätabends kehrten Cosmin und sein Vater aus Berlin zurück. Onkel Radu hatte die Spritztour in die Hauptstadt offenbar nur unternommen, um die Raserei auf den deutschen Autobahnen in vollen Zügen auszukosten. Statt einige der interessantesten Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, hatten sie den größten Teil des Abends in einem rumänischen Restaurant verbracht.
Nachdem sich Cosmin unter seine Decke verkrochen hatte, überlegte er kurz, Max anzurufen. Doch inzwischen war es kurz vor Mitternacht und Max befand sich um diese Zeit längst in einem seiner Träume. Und ein bisschen fragte sich Cosmin, ob Max vielleicht doch von Camelia träumte.

Max

Bereits bei ihrer morgendlichen Begrüßung am Rathaus fiel Max auf, dass mit Cosmin etwas nicht stimmte. Max’ Umarmung erwiderte Cosmin nur halbherzig und starrte schweigend seine Füße an, während sie über den Marktplatz in Richtung der Schule trotteten.
Litt Cosmin etwa selber darunter, dass er mit Camelia Schluss machen würde oder schon Schluss gemacht hatte?
„Cos-Mi, war es schwer, das mit deiner Süßen?“, brach Max das Schweigen.
Cosmin blickte mit gerunzelter Stirn auf. „Was soll schwer gewesen sein?“
„Na hast du ihr nicht gesagt, dass du sie nicht mehr so richtig… liebst?“
Erst jetzt schien Cosmin Max’ Frage zu verstehen. „Ach das. Eigentlich habe ich gar nichts gesagt.“
Max versuchte nicht, seine Enttäuschung zu verbergen. „Und warum saß die gestern dort im Stadtpark und heulte mir die Ohren voll, dass du sie nicht mehr willst? Ich dachte erst, dass ihr jemand an die Wäsche gegangen ist.“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Keine Ahnung. Sie ist manchmal ziemlich launisch. Maxi?“
„Hm?“
„Wir fahren doch nachher nach Berlin, oder?“
Max schien es, als würde Cosmin auf die Antwort lauern. „Das ist der Plan. Wie war es gestern dort?“
Cosmin winkte ab. „Onkel Radu hat sich eine Handvoll Strafzettel wegen Falschparkens eingefangen und die meiste Zeit saßen wir in einem Restaurant.“

Zwar berührten sie sich während der Unterrichtsstunden unter der Schulbank wie sonst auch mit den Beinen oder Füßen, doch schien es Max, als würde dabei weniger Wärme von Cosmin zu ihm herüber fließen.

In der letzten Stunde erhielten sie von Frau Dr. Meyer die Halbjahreszeugnisse. Cosmin blieb Klassenprimus. Da ihm Herr Recke nun auch in Sport eine Eins eingetragen hatte, glänzte Cosmin mit einem Durchschnitt von 1,0. Max hingegen freute sich darüber, dass keine Vieren auf seinem Zeugnis standen.
Er atmete erleichtert auf, als sie nach dem Ende des Schultages auf den Vorplatz hinaus traten und er Camelia nirgendwo erblickte. Auf dem Weg zum Rathaus schien Cosmin in Gedanken versunken und Max fühlte leise Stiche in seiner Brust. Er hatte nicht erwartet, dass Cosmin der Abschied von Camelia so schwer fallen könnte.
„Wir sehen uns also kurz vor drei auf dem Bahnhof“, verabschiedete sich Max am Rathaus von Cosmin.
„Ich werde da sein.“

Wie einen Tag zuvor waren am Rande des Stadtparks fast alle Bänke am Springbrunnen vor allem mit älteren Leuten besetzt, die das Frühlingswetter mitten im Februar genossen.
Max radelte auf dem geschotterten Weg in den Park hinein und traute seinen Augen nicht. Camelia saß auf derselben Bank wie gestern. Sie winkte ihm zu und erhob sich.
Was soll der Scheiß?, fluchte er leise. Wird das jetzt zur Gewohnheit?
„Max! Kann ich reden mit dir?“, rief sie und ging ihm entgegen.
Max blieb im Sattel. „Nur kurz, okay?“
Sie fummelte umständlich am Handy, weil sie einen angebissenen Apfel in der Hand hielt.
„Ich will mich von Cosmin trennen“, knarrte eine Computerstimme aus ihrem Handy. Max kippte fast vom Sattel. „Du? Aber…“
Er stieg nun doch vom Rad, lehnte es gegen die Bank und zückte das eigene Handy. „Gestern hast du wegen Cosmin geweint und heute willst du mit ihm Schluss machen. Warum?“
Sie warf einen Blick an Max vorbei in die Richtung, aus der gekommen war, als würde dort die Antwort zu finden sein und tippte etwas in ihr Handy.
„Es gefällt mir hier nicht. Cosmin will aber nicht in Rumänien leben“, ertönte die Computerstimme ihres Handys. Sie biss herzhaft in ihren Apfel und wartete offenbar auf Max’ Antwort.
Er fragte sich, ob Cosmin es gespürt hatte, dass Camelia ihm beim Schluss machen zuvor kommen wollte und deshalb so übellaunig gewesen war. Ihm fiel nichts ein, was er ihr dazu sagen sollte. Zudem lief ihm die Zeit davon.
Er schrieb schließlich: „Du findest in Rumänien bestimmt den Richtigen“ und wollte sich sein Rad schnappen, doch plötzlich krümmte sich Camelia unter einem Hustenanfall und griff sich an den Hals.
Max packte ihre Schulter. „Hey, was ist los?“, rief er erschrocken und sah, dass Camelia offenbar keine Luft mehr bekam.
Sie deutete auf eine Stelle unterhalb ihrer Brust. „Drücken fest“, krächzte sie.
Max wirbelte herum, presste seine Arme von hinten gegen ihren Brustkorb und fluchte leise, dass man den Heimlich - Griff für solche Fälle nicht in der Schule lernte. Camelias Husten war inzwischen nur noch ein Röcheln. Max presste noch etwas fester.

„Bist du irre?! Lass sie los!“

Max fuhr herum und sah, dass Cosmin auf ihn zustürmte. Irgendwo in seinem Hinterkopf blitzte die Frage auf, wieso Cosmin hier aufkreuzte. „Cos-Mi,verdammt, sie erstickt!“
Camelia wehrte sich gegen seinen Griff und schrie etwas auf rumänisch. Max ließ sie los, als er sah, dass ihm Cosmins rechte Faust entgegen flog. In diesem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen - Camelia hatte ihn reingelegt!
Es wäre ein Leichtes gewesen, Cosmins Faust abzuwehren. Doch er nahm den Kopf nur etwas zurück und ohne zu blinzeln schaute er resigniert zu, wie Cosmins Faust seine Oberlippe traf und bemerkte zugleich Camelias spöttisches Grinsen.
Max wischte mit dem Handrücken über seinen Mund, der dort einen dünnen Blutfaden hinterließ.
Cosmin blickte erschrocken auf Max’ Hand.
Max hob seinen Blick und sah Cosmin in die Augen. „Zufrieden?“
„Ich wollte es nicht glauben!“, stieß Cosmin aus. „Du machst dich an meine Freundin ran? Was sollte das jetzt?“ Wut, Verzweiflung und Enttäuschung verzerrten Cosmins Gesichtszüge. „Wolltest du sie hier vergewaltigen?“
Max verspürte plötzlich in seinem Inneren eine unbeschreibliche Leere. Nicht nur, dass der Mensch, der ihm alles bedeutete, soeben die Lippe blutig geschlagen hatte. Traute ihm Cosmin tatsächlich so etwas zu?
„Ich nehme an, nachdem du deine Freundin vor dem Vergewaltiger gerettet hast, wirst du die auch heiraten.“
Cosmins Augen füllten sich mit Tränen. „Wenn es sein muss! Du bekommst sie jedenfalls nicht!“
Max griff nach seinem Rad. „Du hast einen Durchschnitt von 1,0, Cosmin! Aber benimmst dich, als hättest du nicht mehr Verstand als deine Plüschkatze. Versuchs mal mit nachdenken!“
Er wandte sich zu Camelia um und deutete auf den Apfel in ihrer Hand. „Die Nummer war echt oskarverdächtig! Verschluck’ dich am Rest dieses Apfels da!“
Dann schwang er sich aufs Rad und radelte wie im Trance nach Hause.

Ein kleiner Trost

Max

Knapp zwei Stunden nach dem Drama im Stadtpark stieg Max in den Zug nach Berlin. Er hatte bis zur Einfahrt des Zuges gehofft, dass Cosmin seinen Verstand einschalten und mit ihm in den Zug einsteigen würde. Doch Cosmin ließ sich nicht blicken.
Vielleicht ist es auch besser so!
Es hatte Max bis ins Mark getroffen, dass Cosmin ihn allen Ernstes verdächtigte, er habe Camelia vergewaltigen wollen.
Trotz des Ferienbeginns fand Max im Zug eine leere Sitzgruppe mit zwei Bänken und einem kleinen Tisch in der Mitte.
Nach der Abfahrt des Zuges griff sich Max sein Handy und betrachtete die Oberlippe. Sie war etwas geschwollen und hätte Max den Kopf bei Cosmins Faustschlag nicht zurückgezogen, wäre jetzt wohl auch ein Zahn locker. Seiner Oma hatte er erzählt, dass er vor Freude über sein Halbjahreszeugnis vom Stuhl gefallen war, was sie ihm natürlich sofort abgekauft hatte.
Er fragte sich, wie es nach den Ferien weiter gehen würde. Camelia hatte nun noch mehr als eine Woche Zeit, Cosmin zu beackern.
Erst als eine salzige Flüssigkeit seine Lippen benetzte, bemerkte Max, dass er weinte.
Zwei ältere Damen, die auf den Bänken auf der anderen Seite des Ganges saßen, schauten ihn voller Mitgefühl an.
Auch das noch!
Max öffnete WhatsApp auf seinem Handy. Leon wollte wissen, ob er schon im Zug saß und versprach, spätestens am Montag in Berlin zu sein. Caroline schrieb ihm von einer bevorstehenden Klassenfahrt und dass ihre Ferien erst eine Woche später beginnen würden.
Max schloss die Augen. Ohne Zweifel sah Camelia wahnsinnig gut aus, fast so wie eine orientalische Prinzessin. Doch hätte er nur diese Wahl, würde er sich ohne Zögern für Caroline entscheiden. Er beantwortete die Nachrichten der beiden. Außerdem schrieb er Oskar, dass er den morgigen Nachmittag im Budokeller seines Berliner Martial - Arts - Kampfsportclubs verbringen wolle. Das Kampftraining mit den ehemaligen Clubkamaraden würde ihm vielleicht helfen, Frust abzulassen und auf andere Gedanken zu kommen. Obwohl es ihm die Kehle zuschnürte, öffnete er auch den Chat mit Cosmin. Er hatte nicht vor zu schreiben; dafür saß die Kränkung zu tief. Vielmehr wollte er wissen, ob Cosmin ihn blockiert hatte, was allerdings - zumindest im Moment - nicht der Fall war. Dann stellte Max seinen Handywecker auf kurz vor halb fünf, um spätestens zehn Minuten vor der Ankunft auf dem Bahnhof Charlottenburg aufzuwachen.
Max lehnte sich in seinem Sitz zurück. Doch das Herz in seiner Brust schlug so heftig, dass der Herzschlag auch im Kopf hämmerte. Inzwischen war er vor allem wütend auf sich selbst. Er hatte sich von Camelia regelrecht übertölpeln lassen. Eine Biene im Haar?
Miststück!
Sie hatte ein Foto von ihm geschossen, während er in ihrem Haar nach der angeblichen Biene suchte und es Cosmin gezeigt. Deshalb also war Cosmin schlecht drauf gewesen heute. Er hatte ihn verdächtigt, dass er sich an Camelia ran machen wolle.
Ich habe gegen ein Plüschkätzchen verloren!
Schließlich versank Max in einen einen Strudel aus Träumen, in denen er mit Plüschkatzen im Ring stand oder Cosmin und Camelia beim Küssen zuschauen musste.
Zwei Stunden später betrat Max seine Wohnung. Seit Wochen hatte er diesen Moment herbeigesehnt, doch ohne Cosmin erschien ihm die Wohnung trotz der gemütlichen Möbel kalt und leer.
Würde ihm hier in den den Winterferien die Decke auf den Kopf fallen?
Auf dem Wohnzimmertisch fand er einen Zettel mit einer Nachricht seines Vaters.
„Wir haben Dir den Kühlschrank gefüllt. Ruf mich an, wenn Du hier bist!“
Max warf einen Blick in den gut gefüllten Kühlschrank. In der Gefriertruhe fand er zudem zahlreiche fertig zubereitete Mahlzeiten. Immerhin blieb ihm der Weg in den Supermarkt erspart.
Er wählte die Nummer seines Vaters.
„Hallo Maximilian, willkommen zurück.“
„Hallo Vater, danke für den vollen Kühlschrank.“
„Eigentlich hast du den deiner Stiefmutter zu verdanken. Sie hat auch darauf bestanden, die Mahlzeiten für dich zu kochen.“
Max war es etwas unangenehm, dass seine Stiefmutter offenbar versuchte, sich bei ihm einzukratzen. „Nett von ihr.“
„Wie sieht dein Halbjahreszeugnis aus?“, kam sein Vater zur Sache.
Max schnaubte leise. „Ich bin natürlich nicht so eine Leuchte wie Cosmin. Der hat alles Einsen. Aber ich habe keine Vier.“
„Versuche diese Noten zu halten, sie reichen für den Studienplatz. Leon kann es kaum erwarten, dich neben ihm im Büro sitzen zu sehen. Ist Cosmin auch mitgekommen?“
Max schluckte und rang die Verzweiflung nieder, die ihm erneut Tränen in die Augen trieb. „Er ist in Dessau mit seiner Verlobten beschäftigt.“
Wahrscheinlich knutschen und befummeln sie sich gerade.
„Schade, Bianca hatte gehofft, ihn zu sehen.“
Sein Vater erzählte ihm noch, wie viel Haus und Wohnung in letzter Zeit verdient hatten, was Max im Moment nicht wirklich interessierte. Außerdem erwartete sein Vater, dass sich Max in den Ferien bei ihm blicken lassen würde. Anschließend telefonierte Max mit seinem Kumpel Oskar. Zusammen mit Nicholas und ein paar anderen Leuten plante Oskar eine Zechtour durch billige Gartenkneipen am Spreeufer. Max entschloss sich, mit zu zechen statt allein in seiner Wohnung Trübsal zu blasen.
Nach den beiden Telefonaten begab sich Max in das Kellergewölbe des Hauses. Leon hatte ihm dort einen Fitnessraum eingerichtet. Mehr als eine Stunde marterte er seinen Körper mit Gewichten oder Turnübungen und traktierte Boxsäcke.

Am Abend erlebte Max eine tröstliche Überraschung.
Er lag ausgestreckt auf der Couch und starrte geistesabwesend auf den riesigen Flachbildschirm, auf dem ein Youtube - Video über ein chinesisches Kampfsportturnier vor sich hin flimmerte. Bis zum Treffen mit Oskar blieb ihm noch mehr als eine Stunde. Max schnappte sich das Handy vom Couchtisch. Simon hatte ihm geschrieben und gefragt, ob sie bereits in Berlin seien.
Max erwog zunächst, Simon zu schreiben, dass ihn Camelia reingelegt hatte. Über Moritz würde das wahrscheinlich auch bis zu Cosmin vordringen. Allerdings wollte er sich nicht über Dritte an Cosmin ran schleichen und zudem würde Cosmin ohnehin annehmen, dass es gelogen war.
„Ich bin allein in Berlin, Cosmin konnte sich nicht von der trennen.“
Beinahe postwendend erschien Simons Antwort zusammen mit einem weinenden Smiley.
„Mist!!!“
Die Klingel schrillte.
Für einen Moment schien Max’ Herzschlag auszusetzen.
Cosmin?
Er sauste zur Gegensprechanlage der Wohnungstür.
„Maxi, ich bin’s. Oski hat mir erzählt, dass du hier bist“, ertönte Carolines Stimme aus dem Lautsprecher.
Kurz darauf öffnete er Caroline die Wohnungstür. Sie sah bezaubernd aus. Ihr blondes Haar fiel in seichten Wellen auf die Schulter, in ihren hellgrauen Augen las Max ein Versprechen, das er während ihrer anderthalbjährigen Beziehung vergeblich darin gesucht hatte.
„Darf ich reinkommen oder bist du mit deiner Freundin hier?“
Max tippte auf seine Oberlippe. „Die hat mir das hier verpasst“, sagte Max und bemerkte, dass Caroline ihre Freude über das mutmaßliche und schlagkräftige Ende seiner Beziehung nicht zu verbergen suchte.
Sie trug unter der Winterjacke ein Shirt mit Spaghettiträgern, auf der sich ihre Brustwarzen abzeichneten und so sehr sich Max auch abmühte sie nicht anzuglotzen, immer wieder verfing sich sein Blick an diesen herausragenden Stellen ihres Shirts.
Caroline durchwanderte Max’ Wohnung und ließ sich dann auf die Couch sinken. „Maxi, dieses Haus gehört echt dir?“
Max winkte ab. „Ehrlich gesagt hab ich nicht viel dafür getan. Eigentlich überhaupt nichts. Wollen wir eine Flasche Sekt killen?“
Plötzlich erschien es ihm reizvoller, den Abend mit Caroline zu verbringen, statt mit Oskar und den anderen von einer Kneipe zur nächsten zu ziehen.
„Worauf willst du denn anstoßen?“
Darauf, dass der wichtigste Mensch in meinem Leben nichts mehr von mir wissen will?
„Brauchen wir denn einen Grund?“
Er holte eine Flasche Sekt und zwei Gläser aus dem Wohnzimmerbuffet.
Max setzte sich neben Caroline.
„Wie sieht’s bei dir aus Caro, bist du mit einem Kerl zusammen?“, fragte er, nachdem sie sich zugeprostet hatten.
Caroline schlug die Beine übereinander.
„Die Kerle an unserer Schule sind alles Tölpel“, erwiderte sie und fuhr mit dem Finger über Max geschwollene Lippe. „Du hättest ihren Schlag locker abfangen können, oder?“
Max genoss die Berührung. „Ich wollte ihr ein Erfolgserlebnis verschaffen.“
Ihre Finger wanderten weiter, fuhren durch Max’ Haare und kraulten seinen Nacken.
„Möchtest du, dass ich heute Nacht hier bleibe?“
Max’ Wangen glühten. Vielleicht lag es daran, dass er sich seine Manneskraft für diesen Abend aufgespart hatte oder es regte sich das längst verloren geglaubte Verlangen, das er so oft in ihrer anderthalbjährigen Beziehung gespürt hatte. Seine Hand glitt unter ihr Shirt und tastete sich zu den von Brustwarzen gekrönten Hügeln voran.
„Bleib hier, Caro!“, sagte er und zog sie an sich.
Er fühlte nicht diese totale Verschmelzung wie bei den Küssen mit Cosmin. Aber er fühlte immerhin, wie sich die Leere in seiner Brust mit Begierde füllte. Zum allerersten Mal drangen Max’ Finger in die heiße Nässe zwischen ihren Beinen ein. Caroline ließ es nicht nur geschehen, sondern stöhnte lustvoll auf und reckte ihren Schoß Max’ Fingern entgegen. Noch ehe sie die Flasche geleert hatten, zogen sie sich gegenseitig ins Schlafzimmer und rissen sich auf dem Bett die Sachen vom Leib.
„Ich habe nichts zum Verhüten“, keuchte Max, als er in sie eindrang. Caroline packte seinen Hintern und presste ihn gegen ihren Schoß.
„Maxi, Frauen haben auch Tage, an denen so gut wie nichts passieren kann.“

Begrabene Wünsche

Cosmin

Cosmin begriff nicht, was im Stadtpark in Max gefahren war. Er fand es schlimm genug, dass Max versucht hatte, ihm die Freundin auszuspannen. Aber Max war zudem wie ein Raubtier über Camelia hergefallen. Während sie vom Stadtpark zu seiner Wohnung gingen, berichtete ihm Camelia unter Tränen, wie sie sich gegen Max vergeblich gewehrt und er sein steifes Glied gegen ihr Hinterteil gepresst hatte.
Eine Szene lief wie in einer Endlosschleife in seinem Kopf ab. Er hatte reflexartig zugeschlagen, um Max zum Loslassen zu zwingen. Max hatte die Faust nicht abgewehrt, sondern den Schlag ohne zu blinzeln und mit einem resignierten Gesichtsausdruck hingenommen. Cosmin drängte den Anblick des Blutfadens auf Max’ Handrücken aus seinem Kopf.

Da Onkel Radu über Mittag in Braunschweig einen seiner unzähligen Cousins besuchte, brieten sie sich zusammen in der Küche der Munteanus ein paar Eier als Mittagsimbiss. Später saßen sie in Cosmins Zimmer auf der Couch. Camelia schmiegte sich an ihn, während er sich einfach nur leer und ausgelaugt fühlte. Sein Handy zeigte inzwischen 15 Uhr an. Wahrscheinlich stieg Max in diesem Moment in den Zug nach Berlin.
Cosmin fragte sich, wann Max begonnen hatte, Camelia nachzustellen. War es wirklich erst vorgestern gewesen, dass Max ihn hier auf der Couch in seinen Armen gehalten, ihn gestreichelt und an seinem Ohr geknabbert hatte? Eine Träne kullerte über seine Wange. Waren all diese Zärtlichkeiten nur noch vorgetäuscht gewesen? Was hatte Max für ihn empfunden?
Cosmins Blick fiel auf seinen Schreibtisch und der Anblick des Stuhls, auf dem Max seit September bei der gemeinsamen Erledigung der Hausaufgaben gesessen hatte, schnürte ihm die Kehle zu. Unter dem Schreibtisch lag ein kleiner Spaten. Seit mehr als fünf Wochen fristete er dort sein einsames Dasein.
Cosmin richtete sich kerzengerade auf. Würde er Antworten finden, wenn er Max geheime Wünsche kannte? Oder zumindest verstehen, was Max im Stadtpark geritten hatte?
„Was ist los, Cosmi?“
„Ich muss was erledigen“, erwiderte Cosmin und zog Camelia auf die Füße. „Ich bringe dich in eure Wohnung. Wir sehen uns dann später.“
Aus ungläubig aufgerissenen Augen verfolgte Camelia, wie Cosmin den Spaten unter dem Schreibtisch hervor zog und in seinen Rucksack verstaute.

Es fiel Cosmin nicht schwer, die Weide am Ufer der Mulde zu finden, unter deren traurig herab hängenden Zweigen er zusammen mit Max an Silvester die Schatulle mit ihren Wünschen vergraben hatte.
Er bahnte sich einen Weg durch das hüfthohe Dornengestrüpp, bis er eine mit faustgroßen Steinen markierte Stelle fand.
Noch konnte man bei genauerem Hinschauen erahnen, dass unter dem kleinen Steinhaufen etwas vergraben war. Cosmin blickte um sich. Straßengeräusche drangen an sein Ohr, allerdings versperrten die mannshohen Büsche an der Uferböschung die Sicht auf die Straße und den Fußweg. Er schachtete vorsichtig die Grube aus, bis der Spaten mit einem metallischen Klong auf die im Erdreich versteckte Schatulle stieß.
Cosmin legte sie soweit frei, dass er sie aus ihrem Versteck bergen konnte und befreite sie von den Plastiktüten, die sie vor Nässe schützen sollten.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er den Schlüssel ins Schloss einführte und die Schatulle öffnete. Darin lagen zwei Umschläge, einer war mit „Cosmin“, der andere mit „Max“ beschriftet. Cosmin gab sich keine Mühe, Max’ Umschlag so zu öffnen, dass er unversehrt blieb. Sie würden ohnehin nicht wie geplant zusammen hier herkommen, um zu schauen, ob ihre Wünsche in Erfüllung gegangen waren.
Cosmin faltete den Zettel mit Max’ Wünschen auseinander. Beim Anblick der vertrauten Schrift sammelten sich Tränen in seinen Augen. Er blinzelte und begann in der Hocke, verborgen vom Gestrüpp ringsum, zu lesen:

„Was ich mir wünsche: Cosmi, ich habe dir schon ein paar Mal gesagt, wie sehr ich dich liebe. Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, dass es weh tut. Ich vermisse dich schon, wenn wir uns nach der Schule am Rathaus verabschieden. Aber du hast mir noch nie gesagt, dass du mich liebst. Das ist mein erster Wunsch.“

Cosmin wischte sich Tränen aus den Augen und las weiter.

„Natürlich wünsche ich mir, dass du nicht diese Trulla aus Rumänien heiratest. Cosmi, ich weiß, jetzt zeigst du mir einen Vogel. Aber wenn es ginge, würde ich dich heiraten. Ich will, dass wir zusammen bleiben, bis wir alt und grau sind. Cosmi, ich wünsche mir, dass du mich nicht auslachst und mir keinen Vogel zeigst, wenn ich dich frage, ob du mich echt heiraten würdest. Nicht gleich. Vielleicht, wenn wir mit dem Studium fertig sind. Spätestens jetzt, wo du das liest, weißt du, was ich mir wünsche. Lachst du mich jetzt etwa aus? Zeigst du mir einen Vogel?“

„Nein…“, beantwortete Cosmin leise die Fragen, obwohl ihm bei diesem Wunsch der Atem stockte. Max hatte ihm allen Ernstes einen Heiratsantrag machen wollen?

"Natürlich wünsche ich mir, dass wir nach der Schule zusammen in Berlin leben. Es ist mir egal, was Leon davon hält. Oder mein Alter.

Und ich wünsche mir doch noch was Versautes. Du weißt schon was. Ich weiß jetzt, wie man es macht, ohne dass es weh tut. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich."

Dem Text folgte ein gemaltes Herz mit der Inschrift „Max & Cosmin“.

„Maxi, ich verstehe es nicht“, schluchzte Cosmin. „Wenn du mich so sehr geliebt hast… wieso dann das mit Camelia?“ Tränen rannen ihm über die Wangen und er zog hastig das Blatt beiseite, weil sie auf das Papier tropften.
Er las sich noch zweimal Max’ Wunschzettel durch. Und jedes Mal durchzog beim vierten Wunsch ein seichter Stromstoß seine Lenden.
Cosmin schoss ein Foto von Max’ Wunschliste und steckte den zusammengefalteten Zettel zurück in den Umschlag.
Auch nachdem er die Schatulle wieder vergraben hatte, blieb Cosmin. Er hockte auf einem Stück Treibholz, starrte auf den träge dahin fließenden Fluss und ließ seinen Tränen freien Lauf. Er weinte um eine Liebe, die irgendwann in den letzten Tagen zerbrochen war. Er würde nie wieder einen Menschen wie Max finden. Aber er weinte auch, weil die Ferien nun ganz anders ablaufen würden, als er es sich vorgestellt hatte. Onkel Radu plante, am Sonntagvormittag zu seinem Bruder nach Augsburg aufzubrechen und der dortigen Verwandtschaft das junge Brautpaar vorzustellen. Cosmins rechte Hand grub sich in seine schwarzen Zotteln. Er hatte absolut keine Lust, seine Ferien bei fremden Leuten zu verbringen und Camelias Bräutigam zu spielen. Zwar war er nicht bereit gewesen, sie Max zu überlassen. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass er sie im Sommer heiraten wollte.

Am Abend erhielt Cosmin einen Vorgeschmack darauf, was ihn bei Onkel Radus Bruder in Augsburg erwartete.
Onkel Radu hatte aus Braunschweig mehrere Flaschen rumänischen Hausweins mitgebracht. Bereits beim üppigen Abendessen in der kleinen Küche der Munteanus leerten der Onkel und sein Vater die erste Flasche. Auch Cosmin genehmigte sich ein Glas in der Hoffnung, dass der Alkohol die Schmerzen in seiner Brust etwas lindern würde.
Cosmin und Camelia zogen sich nach dem Essen in sein Zimmer zurück. Zu seiner Erleichterung hängte sich Camelia nicht wie eine Klette an ihn. Sie hockte sich ans Fußende der Couch und begann mit ihren Freundinnen zu chatten, während sich Cosmin auf der Couch ausstreckte und auf dem Handy Max’ Wunschliste studierte. Er fragte, sich, wie Max diesen Abend verbrachte.
Das Handy in seiner Hand bimmelte.
Camelia runzelte die Stirn und warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Meine Mutter“, sagte er und tippte auf das grüne Symbol.
„Hallo Mutter!“
„Cosmin, mein Junge, Alex… mein Mann, er hat vorhin mit Maximilian telefoniert. Schade, dass ihr nicht zusammen gekommen seid.“
Cosmin schluckte. „Wir haben hier Besuch, Mutter.“
„Ja, Maximilian sagte es bereits, du möchtest die Ferien mit deiner Ver… mit deiner Freundin verbringen.“
Das war eigentlich nicht mein Plan, erwiderte Cosmin in Gedanken. „Ich… wir sehen uns ja nur sehr selten, Mutter.“
Sie seufzte. „Du wirst wissen, was für dich das Richtige ist. Maximilian sagte auch, du hättest nur Einsen auf deinem Halbjahreszeugnis. Ich wollte dir vor allem gratulieren und dir sagen, wie stolz ich auf dich bin.“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Danke!“
Sie erzählte ihm noch, dass sie am Vormittag mit ihrem Mann in Max’ Wohnung gewesen war, um Kühlschrank und Gefriertruhe mit Lebensmitteln und zubereiteten Mahlzeiten zu füllen.
Wenigstens muss sich Max jetzt nicht auch selber was kochen!
Das hätte wohl zu Cosmins Aufgaben gehört, wäre Max’ zweiter und dritter Wunsch in Erfüllung gegangen.
Cosmin verabschiedete sich von seiner Mutter und bemerkte, dass er die Plüschkatze oben auf dem Kleiderschrank anstarrte.
Ja, ich hatte heute auf dem Halbjahreszeugnis einen Durchschnitt von 1,0. Und benehme mich, als hätte ich weniger Verstand als die Katze da oben?
Warum sagst du so was, Max? Weil ich nicht zugucke, wie du dich an Camelias Hinterteil aufgeilst?
In selben Augenblick stutzte er. Camelia war geradezu angeekelt gewesen, dass sie bei Max’ Umarmung dessen steifes Glied gespürt hatte. Cosmin hatte oft genug die Beule in Max’ Jeans nicht nur gesehen, sondern auch gestreichelt. Ebenso war ihm das Funkeln der Erregung in Max’ Augen vertraut. Doch als Max nach dem Faustschlag wie ein begossener Pudel vor ihm gestanden hatte, war keine Beule in Max’ Jeans gewesen - sie wäre ihm aufgefallen! Außerdem hatte Max alles andere als erregt ausgesehen.
Gelächter drang aus dem Wohnzimmer. Cosmin schob den Gedanken daran, dass Camelia bei ihrer Schilderung von Max’ Übergriff im Stadtpark übertrieben haben könnte, vorerst beiseite, erhob sich und spähte ins Wohnzimmer.
Sein Vater und Onkel Radu fläzten auf der ausgezogenen Bettcouch und schienen sich über ihre Jugendstreiche zu amüsieren. Im Fernseher lief derselbe Film, den sie sich schon einmal angeschaut hatten.
Onkel Radu bemerkte Cosmin. „Cosmine, Jungchen, hol uns noch eine Flasche aus der Küche“, lallte er und sein Vater ergänzte: „Bring den Rotwein, Cosmine!“
Cosmin hätte ihm lieber Wasser gebracht. Sein Vater hatte bereits glasige Augen.
Er stellte den beiden Männern den in eine Mineralwasserflasche abgefüllten Wein auf den Couchtisch und huschte zurück in sein Zimmer.
Camelia hatte sich inzwischen auf seiner Couch ausgestreckt. Cosmin setzte sich ans Kopfende der Couch, doch sie umfasste seinen Bauch und zog ihn zu sich heran.
„Cosmi, du stellst dich an, als ob du Angst davor hast, mich zu küssen.“
„Quatsch!“, schnaubte er und legte sich zu ihr. Camelia beugte sich über ihn und im nächsten Moment drang ihre Zunge in seinen Mund ein.
Er erwiderte ihren Kuss. Aber er verspürte nicht einmal ansatzweise die Begierde, mit der Zunge so tief wie möglich in ihren Mund vorzustoßen.
„Hat Max dich eigentlich noch einmal angerufen?“, fragte Cosmin, nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten.
Camelia strich Cosmins Zotteln etwas beiseite und fuhr mit ihren Lippen über seinen Hals. "Zwei- oder dreimal, glaube ich. Aber ich rede nicht mehr mit ihm. Wärst du nicht gekommen… "
Sie erzitterte leicht und sah ihm voller Bewunderung in die Augen. „Du hast ihn blutig geschlagen.“
Cosmin schloss die Augen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass ein Mensch ohne zu blinzeln dabei zugucken kann, wie ihn eine Faust mitten ins Gesicht trifft. Max hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

Irgendwann verstummten die lauten Gespräche und das Gelächter im Wohnzimmer. Cosmin erhob sich von der Couch, um nachzuschauen, ob Onkel Radu und sein Vater noch halbwegs geradeaus gucken konnten. Die beiden Männer lagen, alle Viere von sich gestreckt, auf der Bettcouch und schliefen laut schnarchend ihren Rausch aus.
Er stellte den Fernseher ab und kehrte in sein Zimmer zurück. „Dein Vater schläft. Ich bring dich in eure Wohnung.“
Camelia sprang von der Couch auf. „Cosmi, ich will hier schlafen.“
Ein leiser Schreck durchfuhr Cosmin. Nach einem vorehelichen Sex wäre er nach den Gesetzen Porumbitas vermutlich zur Heirat geradezu verpflichtet! „Camelia, wir sind noch nicht… äh… verheiratet.“
Sie schmiegte sich an ihn. „Ich wünschte, wir wären es.“
Cosmin erwiderte zaghaft die Umarmung und seufzte leise. „Okay, du kannst auf der Couch schlafen.“
Er zog die Couch aus und entnahm dem Bettkasten nicht nur Decke und Laken, sondern auch eine Campingmatratze und einen Schlafsack. Nachdem er für Camelia das Bett bezogen hatte, breitete er für sich die Matratze auf dem Boden aus.
Camelia verzog sich unterdessen mit einem von Cosmins Schlafanzügen ins Bad.
Eine Viertelstunde später kroch Cosmin in den Schlafsack und ließ einen schlechten Tag hinter sich.

Verlieren…

Max

Max leistete in der Nacht Schwerstarbeit.
Es schien ihm, als wolle Caroline in einer Nacht all das nachholen, was sie ihm in den anderthalb Jahren ihrer Beziehung verwehrt hatte. Mit dem Anbruch des neuen Tages kehrten die Schmerzen in seinen Brustkorb zurück, die während ihrer nächtlichen Aktivitäten etwas in den Hintergrund getreten waren. Sie küsste ihn, doch es waren Cosmins Lippen, nach denen sich Max sehnte.
Während Caroline nach dem Aufstehen das Bad benutzte, zog Max seine morgendlichen Liegestützserien durch. Sie fielen ihm schwerer als sonst, er fühlte sich dabei, als wäre er über Nacht um dreißig Jahre gealtert. Anschließend saßen sich Max und Caroline an der Küchentheke bei einer Tasse Kaffee gegenüber. Max nagte lustlos an einen Baguette.
„Maxi?“
Max blickte auf. Caroline griff nach seiner Hand.
„Wollen wir es noch einmal miteinander versuchen?“
Zweifellos hatte Caroline seine Schmerzen gelindert. Aber er ahnte, dass diese Schmerzen in seiner Brust nie wieder ganz verschwinden würden.
„Keine Ahnung, Caro. Ich hatte vor, mal 'ne Pause zu machen.“
„Du liebst sie noch, oder?“
Max zuckte mit der Schulter.
Natürlich liebe ich ihn! Ich bin verrückt nach ihm!
Er vermied es, sie vor den Kopf zu stoßen, es hatte ihm gut getan, sie in den Armen zu halten. „Caro, wegen der habe ich jetzt 'ne dicke Lippe! Sehen wir uns nochmal in dieser Woche?“
„Du sagtest gerade, dass du eine Pause machen willst“, erwiderte Caroline verschnupft. Sie schaute auf ihre Uhr und erhob sich. „Maxi, ich habe viel zu erledigen heute. Gib mir Bescheid, wenn deine Pause zu Ende ist.“
Max begleitete Caroline bis zur Wohnungstür. Er zog sie in seine Arme. „Ich bleibe mindestens bis Samstag“, raunte er ihr ins Ohr.
„Ich trag es mir in den Kalender ein.“ Sie wandte sich zum Gehen, drehte sich dann doch noch einmal zu Max um und hauchte ihm einen Kuss auf den Mund. „Wir hätten das schon früher tun sollen“, sagte sie leise und eilte aus dem Haus.
Ja, das hätten wir. Dann wäre ich jetzt vielleicht nicht in einen Kerl verknallt!

Max kehrte mit hängenden Schultern ins Wohnzimmer zurück. Oskar hatte versprochen, ihn gegen 14 Uhr zum Training im Budokeller des Kampfsportclubs abzuholen und Max überlegte, wie er die fünf langen Stunden bis dahin hinter sich lassen könnte. Hier in seiner Wohnung würde ihm spätestens nach einer Stunde die Decke auf den Kopf fallen. Er warf einen Blick durch die Terrassentür des Wohnzimmers hinaus in den Garten. Wie schon an den Tagen davor schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel. Er entschloss sich, dem Haus seines Onkels Leon einen Besuch abzustatten. Leon besaß in seinem Garten einen künstlichen Kletterfelsen und im Keller des Hauses wartete ein üppig ausgestattetes Fitnessstudio.

Wie schon beim Frühsport kam sich Max bei seinem Training in Leons Haus wie ein alter Mann vor. Er nahm an, dass sich die Boxsäcke über seine Schläge und Tritte krank gelacht hätten, würden sie lachen können. Und am Kletterfelsen in Leons Garten rutschte er von Griffen ab, die er normalerweise locker hielt. Max fragte sich, ob seine Trübseligkeit die Muskeln aufzuweichen begann.

Kurz nach 14 Uhr traf Oskar ein. Max traute seinen Augen nicht, als er ihm die Tür öffnete. Oskar sah wegen seiner bulligen Figur und der groben Gesichtszüge ohnehin in etwa so liebenswürdig wie eine Bulldogge aus. Er hatte seinen Kopf kahl rasiert, was den Stiernacken erst recht zur Geltung brachte.
„Was denn mit dir passiert, Welli?“, fragte Oskar und deutete auf Max’ Lippe.
„Ich wollte dich gerade dasselbe fragen, Oski“, erwiderte Max. Sie umarmten sich kurz und Max erfuhr, dass Oskars neue Freundin auf Männer mit Glatze stand.
„Oski, ich bin nicht gut drauf heute“, seufzte Max. Sie saßen nebeneinander an der Küchentheke und schlürften einen Cappuccino.
Oskar grinste und verpasste Max einen Hieb auf die Schulter.
„Kann mir denken, wieso. Geht mir auch so nach 'ner anstrengenden Nacht. Nimmste mich für 'ne Trainingsrunde. Dann stehe ich im Budokeller endlich mal im Ring mit dir, ohne dass du mir die Fresse polierst. Und falls du bis Dienstag wieder gut drauf bist… am Dienstagnachmittag macht Coach Benning bei uns an der Schule mit den vier Zwölften ein Basketballturnier. Der hätte bestimmt nichts dagegen, wenn du bei uns mitspielst.“
Max nickte schwach. Die Begegnung mit den ehemaligen Schulkameraden und Sportlehrer Benning würde vielleicht für einige Stunden die trübsinnige Gedanken aus seinem Kopf vertreiben.

Der Budokeller, in dem Max bis zum Sommer trainiert hatte, war kein finsteres Kellergewölbe, sondern ein auch von Boxern, Judokas und anderen Kampfsportlern genutzter Saal im Kellergeschoss eines modernen, mehrstöckigen Bürogebäudes im Berliner Westen.
Zwei Kampfsporttrainer leiteten das Training. Der jüngere der beiden, ein dunkelhaariger Mann Anfang Dreißig, hieß Hardy und zählte zu Leons besten Freunden. Er umarmte Max bei der Begrüßung und deutete auf die etwa vierzig Jugendlichen und Erwachsenen, die im Halbkreis um zwei benachbarte Boxringe herum saßen. In einem rangen zwei junge Frauen miteinander, daneben zwei dreizehn - oder vierzehnjährige Jungen.
„Wir machen nur Sparringkämpfe heute, Max. Ich schätze, jeder hier würde da gerne mal mit dir im Ring stehen.“
Max winkte ab. „Sensei, ich hab schlecht geschlafen letzte Nacht und trete etwas kürzer heute.“
Er bemerkte, dass mehrere der Zuschauer seine dicke Lippe anstarrten. Er nickte ihnen einen Gruß zu und hockte sich neben Oskar auf den mit Matten gepolsterten Boden. Doch schon ein paar Minuten später bat ihn Nils, ein durchtrainierter Mann Mitte Zwanzig um einen Sparringkampf. Nils hatte auch am Pferderennen im letzten Herbst teilgenommen, war aber schon in der Vorrunde ausgeschieden. Max und Nils legten Zahnschutz und Handschuhe an. Unter der Aufsicht des älteren der beiden Trainer lieferten sich die beiden anschließend einen fünfminütigen Kampf. Max fiel es schwer, sich auf den Kampf zu konzentrieren, weil seine Gedanken immer wieder abdrifteten. Dennoch hatte er mehr als einmal die Gelegenheit, Nils anzählen zu lassen.
Anschließend hockte er sich wieder neben Oskar. Die Sparringkämpfe seiner Clubkameraden halfen ihm dabei, nicht ständig daran zu denken, was Cosmin und Camelia gerade miteinander anstellten. Eine halbe Stunde nach seinem Kampf gegen Nils trat er mit Oskar in den Ring. Max probierte mehrere Kombinationen, die er mit Cosmin und Simon geübt hatte. Allerdings ließ er hin und wieder auch Oskar zum Zuge kommen.
Als Max nach dem Kampf Handschuhe und Zahnschutz ablegte, hörte er jemanden im Saal klatschen. Er wandte sich um und erstarrte im selben Moment. Tang gesellte sich zu den Zuschauern, ein breites Grinsen im Gesicht.
„Du auch gegen mich kämpfen heute, Max?“
„Setz dich, Tang!“, forderte Hardy den Chinesen auf. „Max hat gerade gekämpft. Jetzt sind andere dran.“
Tang wartete, bis Max und Oskar sich in den Kreis der Zuschauer eingereiht hatten und hockte sich neben Max.
Kumpelhaft legte er einen Arm um Max’ Schulter. Max biss die Zähne zusammen. Es kostete ihn einige Überwindung, nicht sofort Tangs Arm zu packen und den Chinesen über die Schulter zu werfen.
„Ich sehe, du geschlagen wurdest. Wer war das gewesen? Ein Mädchen?“
Max tat so, als wäre er von Tangs Scharfsinn überwältigt. „Woher du gewusst?“ Er griff Tangs Hand und schob sie von seiner Schulter. Dabei bemerkte er, dass sich fast alle Augenpaare auf ihn und Tang richteten. Jeder im Saal wusste wahrscheinlich, dass Tang ihn nach dem Pferderennen im Herbst herausgefordert hatte. Es schien, als würden sie auf großes Kino hoffen. Max hatte allerdings nicht vor, darin eine der beiden Hauptrollen zu übernehmen.
Doch Tang sah das offenbar anders.
Nach dem Sparringkampf zweier älterer Männer stieg er ungefragt in den Ring, schob sich den Zahnschutz in den Mund und streifte die Handschuhe über. Allerdings fand sich niemand, der zu ihm in den Ring steigen wollte. Hardy trat mit gerunzelter Stirn an Tang heran. „Was soll das werden, Tang? Eine Soloeinlage?“
Tang nickte in Max’ Richtung. „Warte auf Maksch“, nuschelte er wegen des Zahnschutzes. „Wir euch scheigen werden einen guten Kampf.“
Oskar stupste Max an. „Scheiße Welli, der will dich!“
Max hörte, dass ihn einige der Zuschauer anspornten. Einer der älteren Männer meinte, Tang solle sich zum Teufel scheren.
Hardy warf Max einen fragenden Blick zu. „Max?“
Max erhob sich. „Klar! Das ist genau das, was mir heute gefehlt hat.“
Er schob sich nun ebenfalls den Zahnschutz in den Mund und stieg in die Handschuhe. Ihm entging nicht, dass Tang geradezu darauf brannte, ihn nach Strich und Faden zu vermöbeln.
Hardy gab das Startsignal und noch ehe Max die Verbeugung vor dem Trainer beendet hatte, knallte Tangs Knie an seine Stirn. Max versuchte vergeblich, den Sternenregen hinter seiner Stirn weg zu blinzeln. Tang schlug zu und instinktiv wollte Max wie beim Reaktionstraining Tangs Faust schnappen. Doch dann riss er die Arme hoch und Tangs Fäuste landeten in seiner Deckung.
So hatte er nicht preisgegeben, dass er Tang hätte übers Knie legen können.
Außerdem habe ich mir eine Abreibung verdient! Lasse mich zweimal hintereinander von dieser Dorftrulla reinlegen!
Tangs Fuß krachte in seine Seite. Max taumelte und sah, dass ihm ein gestrecktes Bein entgegen flog. Er ließ sich fallen, tauchte unter diesem Bein ab und säbelte das andere Bein vom Boden. Tang schlug einen Backflip, so etwas wie einen Salto rückwärts und war schneller als es Max erwartet hatte wieder auf den Beinen. Dann ging er wie ein Berserker auf Max los. Vielleicht hätte Max ihm Paroli geboten, wären da nicht die Sterne, die immer noch um ihn herum tanzten und hätte er seine unglaublichen Reflexe offenbart. Zudem fühlten sich seine Muskeln immer noch so an, als wären sie über Nacht erschlafft. Noch ehe die fünf Minuten um waren, griffen beide Trainer ein und rissen Tang von Max weg.
Max hockte sich einen Moment auf den Boden und Hardy ergriff seine Schulter.
„Max, alles okay?“, fragte der Trainer besorgt.
„Hab’sch ja geschagt, ischt nischt mein Tag heute“, nuschelte Max, zerrte die Handschuhe von den Händen und fischte den Zahnschutz aus dem Mund. Eines hatte ihm der Kampf gezeigt: Tang ließ sich nicht gern von den Füßen holen. Nachdem ihm Max den Fuß weg gesäbelt hatte, war Tang zu einem wütenden Stier geworden.
Hardy sah Max in die Augen, als würde er nach Anzeichen für eine Gehirnerschütterung suchen.
„Echt jetzt“, schnaubte Max und stand vorsichtig auf. „Mein Schädel hat 'ne harte Schale.“
„Ich fahre dich nach dem Training nach Hause.“
Max winkte ab. „Nee, nicht nötig, Sensei. Ich bin mit Oski hier, der kann mich ins Bettchen bringen.“
Hardy tätschelte Max’ Schulter. „Ich mag den Kerl nicht. Er kämpft unsauber. Außerdem wiegt er bestimmt zehn Kilo mehr als du. Ich finde, du hast dich wacker geschlagen, Max.“
Dann brauchst du 'ne Brille, Hardy!
Max schlurfte zu seinem Platz neben Oskar, verfolgt von vierzig Augenpaaren. Tang hatte etwas abseits gestanden. Er trat neben Max und beugte sich zu ihm hinunter. „Du bis Juni richtig trainieren. Es macht kein Spaß zu kämpfen gegen Flasche.“ Dann verschwand er aus dem Saal, ohne sich noch einmal nach den anderen Leuten umzublicken.
„Idiot!“, zischte Max ihm hinterher.
„Arrogantes Arschloch!“, sekundierte Oskar und rempelte Max in die Seite. „Ich wünschte, du hättest ihn fertig gemacht.“
„Das hebe ich mir für später auf“, stieß Max zwischen den zusammen gebissenen Zähnen hervor.

und gewinnen

Max

Oskar begleitete Max nach dem verpatzten Kampftraining bis zum schmiedeeisernen Tor der Zufahrt, die auf Max’ Grundstück führte. „Wenn du willst, kommen Nick und ich nachher bei dir vorbei. Etwas Feuerwasser wird dir bestimmt gut tun“, sagte er beim Abschied, doch Max schüttelte den Kopf. „Oski, ich glaub, ich hau mich lieber 'ne Runde aufs Ohr.“
Zwar hatte sich der Sternenregen hinter seiner Stirn gelegt, dafür brummte ihm der Schädel. Obwohl sich Max etwas benommen fühlte, gönnte er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Er wischte sich die Haare aus der Stirn und betrachtete mit der Flasche in der Hand sein Gesicht im Spiegel der Flurgarderobe. Der dicken Lippe hatte sich eine bläulich gefärbte Beule mitten auf der Stirn hinzugesellt.
Max presste die eisig kalte Flasche gegen das Horn und wankte zur Couch. Auf dem Wohnzimmertisch bimmelte sein Handy.
Auch ohne aufs Display zu schauen wusste er, wer ihn anklingelte. Leons Gesicht erschien auf dem Display.
„Onkelchen, es ist alles in Ordnung! Ich weiß jetzt vielleicht, wie man Tang erledigt.“
„Ach ja?“ Leon tastete mit den Augen Max’ Gesicht ab. „Hardy hörte sich aber gar nicht so an.“
Max erzählte seinem Onkel, dass er sich in der Nacht zuvor verausgabt hatte und deshalb beim Kampf mit Tang nicht in Bestform gewesen war.
Leon schien sich etwas zu beruhigen, vielleicht auch, weil ihm Max erzählte, mit wem er sich verausgabt hatte.
„Okay Kleiner, ich sehe dich Montagnachmittag bei mir. Dann zeigst du mir, wie du Tang fertig machst. Was ist eigentlich mit deinem Stiefbruder? Wie ich hörte, ist er schwer beschäftigt und konnte nicht mitkommen.“
Max rang mit den Schmerzen, die nun durch seinen Brustkorb brandeten. „Scheint so, als wäre er so gut wie verheiratet.“
"Sehr erfreulich. Soll sich mit seiner Dame vergnügen und nicht… "
Max’ Schnauben stoppte ihn mitten im Satz. „Hey, ich meine ja nur… Okay, Maxi. Ich sehe dich am Montag.“
Leons Gesicht verschwand vom Display. Max presste noch einmal die Flasche gegen die pochende Stirn, leerte sie und ließ seinen Kopf auf die Couch sinken…

Cosmin

Cosmins Tag begann am Morgen mit dem verzweifelten Versuch, einen Traum festzuhalten, der ihm eine heile Welt vorgegaukelte. Er saß mit Max auf einer Bank in der Kletterhalle. Ein Kuss verschmolz ihre Köpfe miteinander. Tageslicht zwängte sich unter Cosmins Augenlider und ließ das Traumbild verblassen. Es half auch nichts, dass Cosmin die Augen zusammen kniff. Max entschwand zusammen mit der Kletterhalle im Nirgendwo. Es dauerte einige Augenblicke, ehe er begriff, wieso er auf einer Campingmatte lag und in einem Schlafsack steckte.
Er wühlte sich aus dem Schlafsack und sah, dass Camelia noch schlief. Sie hatte ihr langes Haar zu einem Zopf zusammen gebunden, dessen Ende vom Bett herunter hing. Cosmin betrachtete ihr Gesicht und musste sich einmal mehr eingestehen, dass er hier kein schöneres Mädchen finden würde. Dennoch empfand er keinen Drang, unter ihre Decke zu schlüpfen oder mit seiner Zunge in ihren leicht geöffneten Mund einzudringen.
Nach dem Gang auf die Toilette warf er einen Blick ins Wohnzimmer. Sein Vater und Onkel Radu lagen wie Schnapsleichen auf der Schlafcouch und schnarchten lauthals um die Wette. Ihr alkoholisierter Atem erfüllte das Wohnzimmer mit einem säuerlichen Geruch.
Er verkroch sich wieder in den Schlafsack und öffnete auf seinem Handy das Foto mit Max’ Wünschen, obwohl er sie inzwischen fast schon auswendig aufsagen konnte. Sie beantworteten zwar die Frage, was Max für ihn empfunden hatte, ließen freilich offen, wann Max’ Liebe zu ihm wie das Traumbild vom Kuss in der Kletterhalle verblasst war. Zum ersten Mal hatten sich Max und Camelia auf der Fahrt vom Flughafen nach Dessau unterhalten und hatten - sofern Camelia nicht log - schon bei der Gelegenheit ihre Handynummern ausgetauscht. Das fand Cosmin merkwürdig. Max hatte sich auf der Fahrt eigentlich eher so verhalten, als würde er Camelia lieber gehen als kommen sehen. Für die Anrufe nutzte er wahrscheinlich eine Übersetzungssoftware.
Mindestens die Hälfte von dem, was Camelia ihm über Max’ Annäherungsversuche erzählt hatte, war vermutlich gelogen oder zumindest stark übertrieben.
Er bemerkte, dass Camelia sich aufgerichtet hatte und ein Selfie mit ihm im Hintergrund schoss. Dann wuselten ihre Finger über das Display des Handys und Cosmin wollte lieber nicht wissen, wie viele Freundinnen nun an ihrem morgendlichen Erwachen in seinem Zimmer teilhaben würden. Sie schwang die Beine aus dem Bett.
„Cosmi, kann ich bei dir duschen?“
„Klar!“
Cosmin erhob sich und kramte zwei Handtücher aus seinem Kleiderschrank. Sie legte ihr Handy auf Cosmins Nachtschränkchen ab, hauchte Cosmin einen Kuss auf die Lippen und flitzte mit den Handtüchern auf dem Arm aus dem Zimmer.
Cosmin stockte der Atem, als sein Blick auf Camelias Handy fiel. Dort versteckte sich die Antwort auf die Frage, wann Max begonnen hatte, ihr nachzustellen.
Er griff sich das Handy und stellte enttäuscht fest, dass Camelia das Display ihres Handys vor dem Verlassen des Zimmers gesperrt hatte. Fieberhaft überlegte Cosmin, welches Passwort sie für die Entsperrung verwendete. Offenbar bestand es aus Buchstaben oder Zahlen oder aus einer Kombination aus beiden. Zunächst probierte er es mit ihrem und mit seinem Namen, dann mit ihrem Geburtsdatum, jedoch ohne Erfolg. Anschließend versuchte er es mit seinem Spitznamen: „Cosmi“, und wieder erschien eine Fehlermeldung. Er versuchte es noch einmal, nun aber nur mit kleinen Buchstaben. Das Display leuchtete auf und zeigte Camelias Startseite bei Facebook. Cosmins Herz hämmerte, als er die Liste mit den Anrufen öffnete. Seit ihrer Ankunft in Leipzig hatte Camelias Handy etwa dreißig Anrufe registriert, doch Max’ Nummer suchte er vergeblich.
Cosmin runzelte die Stirn. Hatte Max einen Messengerdienst für die Anrufe benutzt? Neben Facebook verwendete Camelia WhatsApp und Telegram. Doch auch hier wurde Cosmin nicht fündig, ebenso wenig bei den SMS.
Ein Verdacht keimte in seinem Kopf.
Erneut durchsuchte Cosmin die installierten Programme. Inzwischen schlug das Herz wie ein Abbruchhammer gegen seine Rippen. Er fand keinen weiteren Messengerdienst. Hastig schloss er alle von ihm geöffneten Programme, sperrte das Handy und legte es zurück auf den Nachtisch. Völlig widerstreitende Gefühle wirbelten durch seinen Kopf, unbändige Freude mischte sich mit Fassungslosigkeit, Wut und Verzweiflung.
Für Cosmin bestand kein Zweifel:
Max war zweimal in dieselbe Falle getappt! Nicht er hatte Camelia nachgestellt, sie hatte ihm aufgelauert.
Cosmin sank auf das Bett, schockiert darüber, dass er erst Camelias Handy knacken musste, um das herauszufinden. Max’ Liebe zu ihm war weder zerbrochen noch im Nirgendwo entschwunden. Deshalb hatte im Stadtpark nicht einmal der Hauch einer Erregung in Max’ Augen gelodert und deshalb also hatte Max den Fausthieb ohne mit den Wimpern zu zucken hingenommen.
Irgendwie - und noch hatte Cosmin keine Idee wie - musste Camelia Max genau im richtigen Moment dazu gebracht haben, sie von hinten zu umklammern. Aber Max hatte gewiss nicht vorgehabt, sich an ihrem Hintern aufzugeilen.
Was habe ich bloß angerichtet?
Cosmin versuchte sich vorzustellen, was in Max vorgegangen war, als ihn seine Faust getroffen hatte, als er allein in den Zug gestiegen war, als er allein die Berliner Wohnung betreten hatte. Max’ Schmerzen pressten nun auch das Herz in seinem eigenen Brustkorb zusammen.
Maxi, es tut mir schrecklich Leid!
Aus einem ersten Impuls heraus griff er sein Handy, um Max zu schreiben, zögerte einen Moment und legte es wieder beiseite.

Er hatte eine Entscheidung getroffen!

Allerdings erwies sich die Umsetzung als gar nicht so einfach.
Nach einem späten Frühstück wollte Onkel Radu einen Automarkt besuchen. In der Annahme, der wäre irgendwo in der Nähe, stieg Cosmin zusammen mit Camelia und seinem Vater in Onkel Radus Auto und fand sich eine halbe Stunde später in einem kleinen Kaff in der Nähe von Leipzig wieder. Erst am späten Nachmittag kehrten sie nach Dessau zurück. Onkel Radu und sein Vater planten ein Nickerchen und Camelia ein Vollbad in der Gästewohnung.
Kaum hatte sich sein Vater auf dem zerwühlten Bett im Wohnzimmer ausgestreckt, suchte Cosmin einige Sachen zusammen. Er verstaute sie zusammen mit den Büchern, die er sich auf dem Schreibtisch zurecht gelegt hatte, in seinem Schulrucksack. Außerdem stopfte er noch Klettergurt und Kletterschuhe hinein, da Max ursprünglich auch einen Ausflug zu einem künstlichen Kletterfelsen am Stadtrand Berlins geplant hatte. Onkel Radus ungebetene Geschenke befanden sich nach wie vor in ihren Originalverpackungen. Cosmin kramte die Geschenke aus dem Schrank und legte sie auf seinen Schreibtisch. Obenauf hinterließ er einen Zettel mit dem Vorschlag, die Geschenke an Camelias neuen Bräutigam weiter zu reichen. Max’ Wohnungsschlüssel steckte er in die Hosentasche und huschte auf leisen Sohlen aus der Wohnung. Er würde seinen Vater vom Zug aus anrufen und ihm erklären, warum er sich aus dem Staub machte. Auf dem Weg in den Stadtpark rief er Camelia an und sagte ihr, dass er sich mit ihr an der Bank treffen wolle, wo er sie am Vortag aus Max’ Armen befreit hatte.
Er musste mehr als eine halbe Stunde warten, ehe Camelia sich endlich zu ihm auf die Parkbank setzte. Sie schien etwas irritiert wegen des Rucksacks. Vielleicht auch, weil Cosmin ihren Kuss nur widerwillig erwiderte.
„Camelia, wann hat dich Max das letzte Mal angerufen?“
„Gestern Abend, glaube ich.“
„Auf deinem Handy?“, bohrte Cosmin weiter.
Camelia rückte etwas von ihm ab und schaute ihn an, als wäre er auf den Kopf gefallen. „Wo denn sonst?“
„Camelia, ich habe vorhin mit Max telefoniert“, schwindelte er und blickte ihr fest in die Augen. „Er ist zwar mein Stiefbruder, aber für mich ist es so, als wäre er mein richtiger Bruder. Max sagt, dass er dich nie angerufen hätte.“
„Der Idiot lügt!“, brauste sie auf.
„Er sagte, wenn ich ihm nicht glaube, soll ich mir von dir seine Handynummer auf deinem Handy zeigen lassen.“
„Was bildet der sich ein?!“ Ihre schwarzen Augen blitzten auf.
„Camelia, ich möchte dir glauben. Zeig mir einfach seine Nummer auf deinem Handy, dann sehe ich selber, dass Max nicht die Wahrheit gesagt hat.“
Camelia zog ein Gesicht, als wäre sie beim Ladendiebstahl erwischt worden.
„Max hat dich nicht angerufen, oder? Du hast zweimal hier auf ihn gewartet.“
„Er ist ein Idiot! Er wollte nicht, dass wir heiraten. Ich hasse ihn!“
Cosmin erhob sich und zog den Verlobungsring vom Finger. „Ich habe Max weh getan und werde jetzt zu ihm fahren, um mich zu entschuldigen.“
Er drückte ihr den Ring in die Hand. „Ich möchte keine Frau, die mich belügt.“
Camelia explodierte, Wut verzerrte ihr hübsches Gesicht.
„Du Idiot! Ich hasse dich! Ich hasse deinen Freund! Lass dich nie wieder bei uns blicken. Ich werde Alin sagen, dass er dir die Zähne ausschlagen soll, dass er…“ Ein Weinkrampf verschluckte, was Alin noch alles mit ihm anstellen sollte.
„Vielleicht wäre es für alle das Beste, du würdest Alin den Ring geben“, sagte Cosmin leise und griff nach seinem Rucksack. Er würde sich beeilen müssen, um den 17 Uhr - Zug nach Berlin zu erwischen.
„Viel Glück Camelia!“, sagte er zum Abschied und meinte es ehrlich. Dann wandte er sich um und sprintete in Richtung Hauptbahnhof davon.

Max

Max’ Blase erlöste ihn aus einem bizarren Traum, in dem Cosmin mit Tang im Ring stand und in dem irgendwie auch die komische Plüschkatze aus Cosmins Zimmer mit von der Partie war. Nach dem Gang aufs Klo wankte Max zum Kühlschrank. Zwar knurrte sein Magen, aber beim Gedanken, an seiner Küchentheke allein beim Abendbrot zu sitzen, verging ihm der Appetit. Er griff sich eine Flasche Bier und schlurfte zur Couch zurück.
Das Handy auf dem Couchtisch zeigte 19 Uhr an; er hatte länger als eine Stunde geschlafen und fühlte sich dennoch wie gerädert. Wenigstens hatten die Kopfschmerzen etwas nachgelassen.
Das sind also die Ferien, auf die ich mich seit Wochen gefreut habe?
Er fragte sich, was Cosmin gerade trieb und wischte die Antwort beiseite, um die Kopfschmerzen nicht mit solchen Gedanken zu füttern.
Stattdessen spülte er seinen Frust mit einem Schluck Bier hinunter und ließ den Kopf zurück aufs Kissen sinken. Gerade als ihn die ersten Bilder eines neuen Traums umschwirrten, vernahm er ein leises Klopfen. Zunächst hielt er es für die akustische Untermalung eines beginnenden Traums. Doch das Klopfen wurde etwas forscher und ließ die Traumbilder platzen wie Seifenblasen.

Jemand klopfte an der Wohnungstür.

Sein Vater? Oder seine Stiefmutter?
Oder einer der Hausbewohner?
Max rieb sich die Müdigkeit aus den Augen, trottete zur Wohnungstür und öffnete.
Er starrte den Menschen vor der Tür aus weit aufgerissenen Augen an und war sich einen Moment nicht sicher, ob er noch in einem Traum steckte.
„Cos-Mi?“
Cosmin schien von einem Fuß auf den anderen zu treten. „Du siehst überrascht aus, Maxi. Kann ich rein kommen?“
Max packte Cosmins Schulter, riss ihn an sich und schloss mit dem Fuß die Wohnungstür
Tränen kullerten über seine Wangen. „Cos-Mi! Ich dachte, ich hätte dich an Camelia verloren.“
Cosmins Arme schlossen sich hinter Max’ Rücken, er schmiegte sein Gesicht an Max’ Wange und küsste die geschwollene Lippe. „Maxi, es tut mir Leid. Aber ich dachte dasselbe.“

Die beste Medizin

Cosmin

Auf dem Weg ins Wohnzimmer fiel Cosmin auf, dass Max leicht schwankte. Mehrere Flaschen standen auf dem Wohnzimmertisch, eine davon noch fast voll.
Hatte Max versucht, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken? Sein Atem roch nicht nach einer Alkoholfahne.
„Cos-Mi, es sah gestern vielleicht so aus, aber ich habe mich nicht an Camelia ran gemacht“, sagte Max, setzte sich auf die Couch und ließ den Kopf gegen die gepolsterte Lehne sinken.
Cosmin machte es sich neben Max bequem und legte seinen linken Arm um Max’ Schulter. Seine rechte Hand strich über Max’ Wange. „Ich weiß, sie hat uns beide reingelegt. Maxi, du guckst so komisch… hast du Fieber?“
Seine Hand glitt unter schweißnasse Haarsträhnen, die Max’ Stirn bedeckten und wischten sie beiseite. Darunter kam ein bläulich schimmernder Bluterguss zum Vorschein.
„Oh mein Gott, Maxi! Wie ist das passiert?“
„Hab vorhin Bekanntschaft mit Tangs Knie geschlossen“, erwiderte Max und erzählte von seiner Begegnung mit Tang im Budokeller.
Cosmin hatte letzten Herbst Tangs Kämpfe im Livestream verfolgt und gesehen, wie zwei von Tangs Gegnern auf Tragen aus dem Ring abtransportiert werden mussten. „Maxi, geh lieber nicht zu diesem blöden Pferderennen. Dieser Tang wird dich fertig machen.“
„Wird er nicht!“, widersprach Max. „Ich war nur nicht besonders gut drauf heute.“
Cosmin ahnte, dass Max auch wegen ihm nicht gut drauf gewesen war. „Und wenn du gut drauf bist?“
Max sank noch etwas tiefer in die Polsterung der Couch. „Dann mach ich ihn fertig!“
Cosmin seufzte leise und tastete vorsichtig die Beule an Max’ Stirn ab. „Leg dich hin! Das muss gekühlt werden. Ich hole was.“
Er sprintete ins Bad und kehrte mit einem feuchten Handtuch zurück.
Dann bettete er Max’ Kopf auf seinem Schoß. Max blickte zu ihm auf, als könne er es immer noch nicht so richtig glauben, wer mit dem Handtuch die ramponierte Stirn kühlte. Cosmin fuhr mit einem Finger über Max geschwollene Lippe.
„Ich wollte das nicht, Maxi. Ich dachte, du wehrst den Schlag ab.“
Max grinste schwach. „Vielleicht wollte ich wenigstens was von dir mit nach Berlin nehmen?“
„Maxi?“
„Hm?“
"Wie hat es Camelia angestellt, dass es so aussah, als würdest du… "
„… sie vergewaltigen?“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „So ungefähr. Und einen Tag vorher hatte sie mir ein Foto gezeigt, auf dem du in ihren Haaren herum fummelst.“
Max’ strahlend blaue Augen richteten sich auf die mit Stuck verzierte Zimmerdecke. Sein Blick verschleierte sich. „Am Donnerstag verarschte sie mich mit einer Biene, die ihr mitten im Winter durchs Haar krabbelt.“ Max erzählte, wie es Camelia gelungen war, mit der Kamera ihres Handys heimlich ein Foto von ihm zu schießen.
"Und gestern… " Max blickte zum Tisch. „Cos-Mi, ich muss meine Kehle spülen.“
Cosmin griff nach der Bierflasche und hielt sie Max an die Lippen. Anschließend nahm er selber einen Schluck aus der Flasche und stellte sie zurück auf den Tisch. Max war der einzige Mensch, mit dem er aus ein und derselben Flasche trinken konnte.
„Mann, ich hätte nicht gedacht, dass die so gerissen ist. Vielleicht ist sie durch den Film darauf gekommen.“
„Welcher Film?“
„Den sie sich mit deinem Alten und diesem Onkel anguckten, als ich bei euch war. Sie biss in den einen Apfel und tat plötzlich so, als würde sie daran ersticken. Kennst du den Heimlich - Griff?“
Cosmin nickte schwach. Jäh fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Sogar an den Apfel erinnerte er sich. Dessen Griebsch hatte Camelia auf dem Heimweg in hohem Bogen ins Gras geworfen.
„Den Rest kennst du ja. Ehe ich dir alles erklären konnte, klatschte mir deine Faust ins Gesicht.“
Cosmin beugte sich zu Max hinunter und küsste seine Lippen. „Wir haben echt ein Talent dafür, uns gegenseitig weh zu tun“, sagte er leise.
"Maxi… "
„Hm?“
„Ich versprech’s dir. Von jetzt an werde ich dir zuerst zuhören bevor ich aushole und im Zweifel werde ich dir glauben.“
Ein Lächeln huschte über Max’ Gesicht. „Ich versprech’ dir dasselbe. Obwohl… ich könnte bei dir nie ausholen.“
Cosmin seufzte leise. "Maxi, ich habe bei dir ausgeholt, weil ich wusste, dass ich dich sowieso nicht treffe.
„So kann man sich irren! Was ist nun eigentlich mit deiner Prinzessin. Bist du immer noch ihr Prinz?“
„Sie hat jetzt zwei Verlobungsringe“, sagte Cosmin und berichtete von seiner letzten Begegnung mit Camelia im Stadtpark. Nach der Ankunft in Berlin hatte Cosmin auch mit seinem Vater telefoniert und erfahren, dass Onkel Radu im Moment außer sich vor Wut war, weil der künftige Lieblingsschwiegersohn das Weite gesucht hatte.
„In Porumbita kann ich mich jedenfalls nicht mehr blicken lassen“, beendete Cosmin seinen Bericht.
„Maxi?“
„Hm?“
„Gibt’s hier was zu essen?“
„Deine Mutter war so freundlich und hat den Kühlschrank mit Futter vollgestopft. Cos-Mi, ich bin ziemlich erledigt und lass das Essen heute Abend ausfallen.“
Cosmin bemerkte, dass sich Max anhörte, als würde er jede Minute einschlafen. Er bettete Max’ Kopf auf einem Kissen und legte das feuchte Handtuch wieder auf die Stirn.
„Maxi, vielleicht solltest du mal deinen Magen fragen, der knurrt nämlich. Halte das Handtuch solange selber an die Stirn. Ich mache dir was zu essen und füttere dich, wenn’s sein muss.“
Cosmin inspizierte Kühl- und Gefrierschrank. Im Kühlschrank fand er eine nicht ganz halbvolle Flasche Sekt. Ein leiser Stich fuhr durch Cosmins Brust. Die Sektflasche hatte Max sicher nicht für seine Kumpel geöffnet. Doch gleich darauf wischte Cosmin den Anflug von Eifersucht beiseite. Wie oft hatte er sich in den letzten Tagen mit Camelia in Max’ Beisein geküsst?
Er belegte Toastscheiben mit Schinken und Käse und schob sie in den Backofen. Mit der Sektflasche und zwei Gläsern kehrte er zu Max zurück.

Max’ Augen weiteten sich, als er sie Sektflasche in Cosmins Händen erblickte und Cosmin ahnte, dass Max nach Worten suchte.
„Deine Ex war gestern hier?“
„Cos-Mi, ich hatte einen verdammt schlechten Tag gestern“, sagte Max leise und schloss die Augen.
Cosmin bettete Max’ Kopf wieder auf seinen Schoß und übernahm auch die Kühlung des Blutergusses auf dessen Stirn.
„Dieser Kerl, der für mich das Wichtigste in meinem Leben ist, schlug mir fast die Zähne aus und sagte, dass er von mir nichts mehr wissen will. Weißt du, wie sich diese Bude hier ohne ihn anfühlt?“
Max schien auf eine Antwort zu warten, aber Cosmin schwieg und strich mit den Fingern über Max’ Wangen.
„Ja, Caro war hier“, fuhr Max fort. Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick über Cosmins Gesicht schweifen. „Meine Schmerzen waren nicht weg davon, ich dachte, ich werde sie nie wieder los. Aber es tat nicht mehr so weh, als sie hier war.“
Cosmin beugte sich zu Max hinunter und küsste seine Lippen. „Dieser Kerl ist ein Scheißkerl.“
„Und trotzdem bin ich süchtig nach ihm. Von dieser Sucht werde ich auch nicht mehr los kommen.“
Cosmin war es plötzlich egal, ob sich Max und Caroline geküsst hatten. Seine Lippen verschmolzen mit Max’ Lippen.
Das zärtliche Spiel ihrer Zungen endete erst, als der Duft nach gebackenem Käse bei beiden Jungen das Wasser im Mund zusammen laufen ließ.

Zwar war es nicht nötig, dass Cosmin Max beim Abendessen fütterte, doch schon während Cosmin nach dem Essen das benutzte Geschirr in die Spülmaschine räumte, streckte sich Max wieder auf der Couch aus.
Cosmin setzte sich zu ihm auf die Couch.
Max schüttelte den Kopf, als ihm Cosmin das zur kalten Kompresse umfunktionierte Handtuch auf die Stirn legen wollte. „Ich krieg Schüttelfrost davon.“ Er griff nach Cosmins Hand und lächelte schwach. „Tut mir Leid, Cos-Mi. Ich bin echt ein Langweiler heute, aber mir brummt ein bisschen der Schädel.“
„Maxi, vielleicht sollten wir einen Arzt rufen?“
„Nö, das ist morgen wieder weg. Meine Rübe ist so was gewohnt. Ich brauch bloß 'ne Mütze voll Schlaf.“
Cosmin fuhr mit der Hand durch Max’ samtweiches Haar. „Okay Schlafmütze, ruh dich aus.“
Max fielen die Augen zu und Cosmin begann auf dem Handy nach Informationen über Symptome und Folgen einer Gehirnerschütterung zu suchen. Sollte sich Max Zustand am nächsten Tag nicht bessern, würde er den Notarzt rufen.

Cosmin hatte sich den Abend etwas anders vorgestellt. Statt mit Max Zärtlichkeiten auszutauschen, arbeitete er sich durch ein Kapitel des Architekturlehrbuchs, das ihm Max in den Weihnachtsferien gekauft hatte.
Ebenso wenig hatte er erwartet, dass er sich allein in das große Doppelbett des Schlafzimmers legen würde. Doch Max schlief wie ein Murmeltier auf der Couch und so verzichtete Cosmin darauf, ihn wachzurütteln und bedeckte Max mit einem Federbett.
Doch wie es schien, hatte Max Recht, dass eine Mütze Schlaf ihn wieder auf die Beine bringen würde.
Irgendwann am frühen Morgen kroch Max mit unter Cosmins Decke und sich gegenseitig in den Armen haltend verbrachten sie den Rest der Nacht.

Als Cosmin erwachte, drang ihm Max’ Keuchen an die Ohren. Im ersten Moment nahm er an, dass Max masturbierte, doch neben ihm war das Bett leer. Er richtete sich auf und spähte über die Bettkante. Unter ihm rackerte sich Max mit einarmigen Liegestützen ab, die rechte Hand ruhte auf seinem Gesäß. Der nackte Oberkörper glänzte bereits vom Schweiß. Cosmin starrte wie gebannt auf das Muskelspiel an Max’ Schultern und den Beinen. Nach etwa fünfzig Liegestützen sprang Max auf. Ein schiefes Grinsen verzauberte sein Gesicht, als er Cosmin bemerkte.
„Guten Morgen, wer ist hier die Schlafmütze, hm? Es ist schon neun Uhr durch!“
Cosmins Blick huschte über Max’ Bauch und verfing sich kurz an der Wölbung in Max’ Slip.
Cosmin räusperte sich. „Geht es dir besser?“
Max zog Cosmin vom Bett und drückte ihn an sich. „Ich halte gerade meine beste Medizin in den Armen“, flüsterte er ihm ins Ohr.
Ein Ameisenheer schien durch Cosmins Lenden zu krabbeln, als sich Max’ im Slip verstecktes Glied an seinen eigenen Penis schmiegte, dessen morgendliche Erektion noch nicht ganz abgeklungen war. Max schien zu spüren, was sich in Cosmins engem Schlafanzughöschen abspielte.
„Cos-Mi, du hast schon lang nicht mehr gestriffelt, oder?“
Cosmin behielt für sich, dass er sich die Manneskraft eigentlich für den ersten Ferienabend aufgespart hatte. „Ist eine Weile her.“
Max liebkoste mit den Lippen Cosmins Ohrläppchen mit der kleinen L - förmigen Narbe. „Wir lassen heute Abend zusammen Druck ab, okay? Und jetzt runter mit dir, wir liegestützen die nächsten Serien zusammen!“

Nach dem Frühstück rief Cosmin seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass er die Ferienwoche nun doch in Berlin verbringen würde, weil die Beziehung zu Camelia in die Brüche gegangen war. Anders als er befürchtet hatte, sparte sie sich kluge Ratschläge. Er spürte er ihre Erleichterung darüber, dass er auch über den Sommer hinaus unverheiratet bleiben würde. Allerdings wollte sie ihn nun natürlich sehen, am besten sofort. Sie versprach, sein Lieblingsgericht, gefüllte Paprikaschoten und Püree aus gerösteten Auberginen zum Mittagessen zuzubereiten. Cosmin hätte widerstanden, zumal Max’ Kühl- und Gefrierschrank gut gefüllt waren.
Doch Max plante ohnehin einen Besuch bei seinem Vater und so erfüllte er ihren Wunsch und unternahm mittags mit Max einen ausgedehnten Spaziergang bis zu dessen Elternhaus.

Versuch Nr.2

Max

Max war heilfroh, als er das gemeinsame Mittagessen mit seinem Vater und seiner Stiefmutter und die unvermeidlichen Gespräche vor allem mit seinem Vater endlich hinter sich hatte. Auch verstand er nicht, was Cosmin an den gefüllten Paprikaschoten und dem Auberginenbrei so toll fand. Aber Cosmin brauchte ein Fahrrad und Max wusste, dass im Keller seines Elternhauses mehrere Fahrräder ungenutzt vor sich hin rosteten. Deshalb hatte er Cosmin gebeten, den Wunsch der Mutter nach einem Wiedersehen schon heute zu erfüllen.
Nach dem Mittagessen wählte er im Keller seines Elternhauses zusammen mit Cosmin ein Rad aus, das früher einmal Leon gehört hatte. Sie nutzen ein anderes Fahrrad als Ersatzteilspender und machten Leons alten Drahtesel wieder fahrtauglich.
In einem Newsletter hatte Max vor einigen Tagen gelesen, dass man in der Magic - Mountain - Kletterhalle mehrere Routen im zehnten Schwierigkeitsgrad geschraubt hatte. Am Nachmittag erfüllte Cosmin auch ihm einen Wunsch und sie radelten zusammen in die Kletterhalle, wo Max einige der neuen Routen durchstieg. Doch auch Cosmin entpuppte sich einmal mehr als ein Naturtalent im Hallenklettern und bezwang zwei Achterrouten.
Trotz des gut gefüllten Kühlschranks hielt Max auf der Rückfahrt von der Kletterhalle an einem Pizzaladen an und kaufte dort zwei Pizzen.

Die von uralten Linden gesäumte Zufahrt zu Max’ Haus wurde bereits von mehreren mit Bewegungsmeldern ausgestatteten Laternen aus der Dunkelheit gerissen, als sie von ihrer Klettertour heimkehrten.
Während sich die Jungen an der Wohnungstür die Schuhe von den Füßen streiften, drückte Max die Tüte mit den Pizzakartons Cosmin in die Hand. „Schmeiß die Dinger schon mal auf die Teller. Ich muss kurz Leon anbimmeln“, bat Max und zuckte bedauernd die Schultern, weil Cosmin ein Gesicht zog, als würde man ihm sämtliche Backenzähne ziehen. Leon hatte am Nachmittag bestimmt ein halbes Dutzend mal versucht, ihn zu erreichen.
Cosmin verzog sich mit den Pizzen in den Küchenteil des Wohnzimmers, vermutlich um nicht in den Sichtbereich von Max’ Handykamera zu geraten.
Max wählte den Videochat mit Leon und augenblicklich materialisierte sich das Gesicht seines Onkels auf dem Handydisplay.
„Maxi, ich konnte heute nicht weg hier! Hab vielleicht einen Interessenten, der unser Projekt in Bratislava weiter führt und ein hübsches Sümmchen dafür locker machen würde. Aber er will sich ausgerechnet morgen mit mir treffen. Unser Training fällt also leider aus. Ich mache mir Sorgen, dass der Chinese dich zerlegt. Das gestern war nur ein Vorgeschmack darauf, was er mit dir anstellen will.“
„Onkelchen, ich hab die Sache mit Tang im Griff, echt jetzt! Schade, ich wollte dich morgen eigentlich vermöbeln.“ Max erklärte seinem Onkel, dass er durchaus Chancen habe, Tang aufs Kreuz zu legen.
Ein Grinsen huschte über Leons Gesicht. „Versteh’ ich das richtig? Du willst, dass kein Schwein auf dich setzt und mit einer Traumquote absahnen?“
„Das ist der Plan. Leon… ?“
„Angenehm überrascht, dass du so ein Schlitzohr bist!“
„Wenn dieser Jemand euer Projekt dort in Bratislava weiter führt, kommst du dann zurück?“
Leons Grinsen wurde noch etwas breiter. „Auch das ist der Plan.“
Max erwiderte Leons Grinsen. „Der Plan spricht zufällig vietnamesisch?“
"… und ist verdammt hübsch! Eigentlich wollte ich in dieser Woche auch wegen ihr nach Berlin… "
Er brach ab, das Grinsen gefror ihm im Gesicht. „Ist das da in der Küche dein Stiefbruder? Ich dachte, der ist mit seiner Braut beschäftigt?“
Max warf einen Blick über die Schulter. Offenbar war Cosmin kurz in den Sichtbereich der Handykamera geraten, während er auf der Küchentheke aus Gurken und Tomaten einen Salat zubereitete. Cosmin tat so, als würde er sich auf das Zerschnippeln einer Gurke konzentrieren, doch Max nahm an, dass Cosmins unter den schwarzen Zotteln versteckten Ohren gespitzt waren.
„Sie haben sich gezofft und er ist ziemlich am Boden deswegen“, erklärte Max.
„Und nun sucht er Trost bei dir? Bist du nicht wieder mit deiner Caro zusammen?“
Max schnaubte genervt. „Ich bin zufällig auch Cosmins bester Freund. Logisch, dass ich versuche, ihn zu trösten. Ich kapier nicht, was das mit Caro zu tun haben soll!“
Leon stieß einen Seufzer aus. „Pass auf dich auf, Maxi. Ich versuche, in der kommenden Woche wenigstens für ein oder zwei Tage nach Berlin zu kommen.“
Sie verabschiedeten sich voneinander und Max hockte sich neben Cosmin an die Küchentheke.
Cosmin starrte Max mit einem unergründlichen Blick an. „Bist du denn wieder mit deiner Caro zusammen, Maxi?“
Max erwiderte Cosmins Blick und das Verlangen, Cosmin an sich zu ziehen, war geradezu überwältigend. Er griff nach Cosmins Hand. „Der Mensch, mit dem ich zusammen sein will, mit dem ich am liebsten auf eine einsame Insel ziehen würde, der guckt mich gerade so komisch an.“
Cosmin kicherte leise und schob ein Schälchen mit Gemüsesalat neben Max’ Pizza. „Guten Appetit, mein schöner Robinson!“

Während sie sich die Pizza und den Salat schmecken ließen, rieben sich ihre Knie aneinander oder spielten ihre Füße miteinander. Beide Jungen füllten sich zwar die Bäuche, doch den Hunger aufeinander vermochte die Pizza ebenso wenig zu stillen wie das kalte Bier die Hitze in ihren Körpern linderte. Nach dem Essen zogen sie sich gegenseitig von den Stühlen. Offenbar wollte Cosmin den Weg zur Couch einschlagen, aber Max hielt ihn zurück.
„Cos-Mi, ich rieche bestimmt wie ein Pferd aus dem Hintern.“
„Du auch?“
Max’ Finger strichen über Cosmins glühende Wangen. „Ich hab da so eine Idee, wie wir das ändern“, raunte Max in Cosmins Ohr.
„Ich auch.“

Augenblicke später standen sie eng umschlungen unter der Dusche und ließen warmes Wasser auf ihre überhitzten Körper rieseln. Max umfasste Cosmins Erektion und erbebte unter Stromstößen einer überschäumenden Wollust, als Cosmins Finger begannen, an seinem Penis zu reiben.
Am Rande seines von der Erregung getrübten Bewusstseins fiel ihm auf, dass er beim Sex mit Caroline nicht einmal ansatzweise eine derartige Begierde verspürt hatte.
Heiße Begierde brandete offenbar auch durch Cosmins bebenden Körper. Seine Lippen saugten am Hals in Max’ Nacken und sein lustvolles Stöhnen peitschte neue Wellen der Erregung durch Max’ Lenden.
Max’ linke Hand strich an Cosmins Wirbelsäule hinunter, glitt bis an die Pofalte und verharrte dort. Obwohl die Erregung seinen Verstand trübte, wusste Max, dass es Cosmin den Fingern der Hand nicht erlauben würde, in die Pofalte hinein zu gleiten.
Cosmins Lippen wischten über sein rechtes Ohr. „Maxi…?“
„Cos-Mi, ich will dich so sehr…“ Max bemerkte selber, dass sich seine Stimme wie ein Flehen anhörte. Zu seiner Überraschung spürte er, dass Cosmins Finger etwas taten, was sie seit dem verunglückten Sex in jenem Berliner Hostel nicht mehr gemacht hatten - sie begannen, Max’ Po zu erkunden.
„Ich will dich auch…“, wehte Cosmins Erwiderung an sein Ohr. „Hast du solches Duftöl hier wie damals im Hostel?“
Max hatte nicht nur Duftöl. Doch er hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass es ihm irgendwann noch einmal von Nutzen sein könnte und das Fläschchen zusammen mit speziellen Cremes, Kondomen und einem Dildo in seinem Trainingskeller versteckt.
„Möchtest du, dass ich es hole?“, fragte Max ungläubig.
In Cosmins Augen schien ein Feuer zu lodern. „Hol’s her, Maxi!“

Cosmin

Cosmin musste mehrere Minuten auf Max’ Rückkehr warten und genoss in dieser Zeit nicht nur den warmen Regen aus dem Duschkopf, sondern auch das Streicheln der eigenen Erektion.
In seinen sexuellen Phantasien war Cosmin recht häufig in Max eingedrungen, so wie damals in dem Berliner Hostel. Doch in diesen Phantasien blieben ihm auch die Schmerzen erspart, unter denen er am darauffolgenden Morgen gelitten hatte. Das Urinieren hatte sich angefühlt, als würde Säure durch den Penis fließen.
Cosmin wollte im Moment nichts von Heiraten wissen und erst recht nichts von einer Hochzeit mit einem Mann. Diesen Wunsch würde er Max zumindest vorläufig nicht erfüllen. Aber Max’ vierter Wunsch hätte auch sein eigener Wunsch sein können, wäre da nicht die Angst vor den Schmerzen. Max hatte ihm bereits mehrmals versichert, dass er inzwischen wisse, wie man es richtig macht.
Max kehrte mit einem Fläschchen und einer Cremetube in der Hand sowie mit einem von der Erregung gerötetem Gesicht ins Bad zurück. Er stieg hastig aus seiner Jogginghose, zerrte sich ein T- Shirt vom Leib und warf beides achtlos beiseite.
Cosmin fragte sich einen Augenblick lang, woher Max das Öl und die Creme geholt haben mochte, dann fielen beide Jungen wie ausgehungerte Raubtiere übereinander her. Sie drangen mit ihren ölbeschmierten Fingern in den anderen ein und sofort breitete sich im Bad ein durchdringender Duft nach Rosen aus.
„Lass uns im Bett weiter machen“, krächzte Max später und es kostete Cosmin einige Mühe, sich von Max zu lösen, um sich halbwegs trocken zu rubbeln.

Max hatte bereits zwei Badetücher auf dem Bett ausgebreitet. Darauf lagen mehrere Cremetuben, Kondome und die Nachbildung eines erigierten Gliedes aus Gummi. Cosmin betastete den Dildo. „Erzähl jetzt nicht, dass du mir dieses Gummiding in den Hintern schieben willst.“
Für einen Moment schien Max etwas verlegen zu sein. „Hab gelesen, dass es damit besser funktioniert“, erwiderte er. Die Verlegenheit wich aus seinem Gesicht, als sein Blick auf Cosmins steifen Penis fiel. Er zog Cosmin aufs Bett und wälzte sich auf Cosmins wie vom Fieber erhitzten Körper. „Cos-Mi, hundert Pro. Diesmal wird’s nicht weh tun.“

Max

Vielleicht hatte Max bei den Prozenten etwas übertrieben. Es war bereits kurz vor Mitternacht, als beide Jungen gesättigt und vom stundenlangen Sex ermattet und erschlafft nebeneinander unter der Bettdecke lagen und sie ihre verschwitzten Körper aneinander schmiegten.
Max hatte sich trotz der überschäumenden Erregung unglaublich viel Zeit gelassen, ehe er in Cosmin eingedrungen war. Cosmins Stöhnen hatte unter Max’ Stößen höchstens anfangs ein wenig schmerzerfüllt und dann immer lustvoller geklungen. Und als Max mit einer unbeschreiblichen Eruption der Wollust seinen Höhepunkt erreichte, hatte Cosmin Max’ Schoß an sich gepresst, als wolle er diese innige Verbindung für alle Zeiten beibehalten.
Offenbar wirkte das Balsam zur Entkrampfung des Schließmuskels Wunder. Auch Max hatte kaum Schmerzen gespürt, als Cosmin später in ihn eindrang. Allerdings würde er morgen Hals und Schulter auf verräterische Spuren untersuchen müssen. Offenbar wurde Cosmin bissig, wenn er in Ekstase geriet.
Max küsste sanft Cosmins weiche Lippen. „Cos-Mi, ich hab so was noch nie erlebt.“ Im schwachen Lichtschein des Radioweckers auf dem Nachtschrank sah Max, dass Cosmin ihn aus halb geöffneten Augen anstarrte.
„Ich wünschte, wir hätten damit schon viel früher angefangen“, erwiderte Cosmin leise und schloss die Augen. Max kraulte Cosmins unter verschwitzen Locken versteckten Nacken.
Und ich wünschte, wir hören nie wieder damit auf!

Ferientage in Berlin

Cosmin

Cosmin erwachte am Morgen, weil Max neben ihm sich drehte und wendete, um den Hintern und das Vorderteil nach Blessuren abzusuchen. Augenblicklich fluteten Erinnerungen an ihr wildes Treiben am Vorabend Cosmins Kopf und bildeten dort einen Wirbel aus Scham und neuerlich aufloderndem Lustgefühl.
„Alles okay bei dir, Maxi?“
Max grinste und schlüpfte unter Cosmins Decke. „Du hast mich dreimal gerammelt, Cos-Mi. Ich dich nur zweimal. Darf ich ran?“
Cosmin schnaubte und versuchte, Max von sich runter zu schieben. „Geht nicht, ich muss kacken!“
Wie erhofft zog sich Max zurück, griff aber nach Cosmins Penis und schlug die Bettdecke zurück.
Max zog die Vorhaut zurück und beide Jungen betrachteten die entblößte Eichel. „Der Bengel sieht aus wie immer“, stellte Max fest. „Tut’s weh?“
Cosmin schüttelte erleichtert den Kopf. „Kein bisschen.“
„Und hinten?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Cosmin und betastete vorsichtig sein Hinterteil. Er fühlte keine Verletzung und auch keine Schmerzen, als er sich aufrichtete. „Ich werde es wohl erst wissen, wenn ich auf dem Klo sitze.“
Max ließ von Cosmin ab und stieg in seinen Slip. „Frühsport, Cos-Mi!“
Cosmin bemerkte mehrere knallrote Flecken an Max’ Schulter. Er griff nach Max’ Arm. „Warte kurz, Maxi! Wie ist das passiert?“, fragte er und strich mit dem Finger über einen der Flecken, der verdächtig nach einer Bissspur aussah.. „War ich das?“
Max griff nach Cosmins Kinn und verpasste ihm einen Schmatzer auf den Mund. „Wer sonst, Dracula?“
Cosmins unter seinen Zotteln versteckte Ohren schienen plötzlich in Flammen zu stehen. „Tut mir Leid, Maxi. Ich weiß nicht, wieso ich so was mache, wenn ich dich… äh…“
„… ficke?“, beendete Max Cosmins Frage. „Mir gefiel’s. Jetzt im Winter sieht’s ja keiner.“
Er sprang aus dem Bett. „Und jetzt lass uns endlich liegestützen!“

Anders als vier Monate zuvor nach ihrem ersten Sex hatten beide Jungen weder bei der Benutzung der Toilette noch beim Gehen Probleme oder gar Schmerzen.
„Wie sieht dein Plan für heute aus?“, fragte Cosmin, während sie nebeneinander an der Küchentheke saßen und sich mit Konfitüre bestrichene frische Brötchen schmecken ließen, die Max für das Frühstück in einer nahen Bäckerei gekauft hatte.
„Mit dir den ganzen Tag im Bett weiter machen?“
Cosmin rempelte unter der Theke Max’ Bein an. „Und uns von deinem Vater erwischen lassen, wenn er zufällig hier aufkreuzt?“
Max hob beide Hände, als würde er sich ergeben. „Okay, okay, du hast Recht, das wäre nicht so toll. Cos-Mi, draußen ist es wie im Mai.“ Max griff nach Cosmins linker Hand. „Lass uns am Vormittag bei Leon trainieren und dann toben wir uns an seinem Kletterfelsen aus. Und am Nachmittag bist du der Boss und ich bin dein persönlicher Guide für Berlin.“
Cosmins Begeisterung hielt sich in Grenzen. Max’ Plan für den Vormittag weckte düstere Erinnerungen. Vor Leons Haus hatte er sich bei einem Raubüberfall eine Stichverletzung eingefangen, von der auf der rechten Seite unterhalb des Brustkorbs eine knapp zehn Zentimeter lange Narbe geblieben war. Zudem wollte ihn Leon sicher nicht in seinem Haus haben.
„Können wir das mit dem Training nicht hier durchziehen? Wenn dein Onkel erfährt, dass ich auch dort war…“
„Er wirds überleben. Komm schon, Cos-Mi, der Kletterfelsen wird dir gefallen“, bettelte Max und tätschelte Cosmins Hand.
„Sorry, muss was nachschauen“, sagte Cosmin und entzog Max seine Hand, um nach dem Handy zu greifen. Er rief mehrere Webseiten auf und fand, womit er den Nachmittag verbringen wollte.
„Also gut, ich komme mit, aber… heute Nachmittag schauen wir uns erst das Naturkundemuseum und dann diese Mauer - Gedenkstätte an.“
Max jaulte leise auf. „Das wäre das hundertste Mal, dass ich mir diese Dinger angucke, aber hey… du bist der Boss.“
„Und morgen will ich den Reichstag sehen und dann gibt es diese Museumsinsel…“
„Auch das noch“, sagte Max und verdrehte die Augen. „Aber danach fahren wir zum Teufelsberg, der Kletterturm dort ist fast fünfzehn Meter hoch.“
Cosmin zuckte mit der Schulter und fuhr fort: „Am Mittwoch werden wir uns noch das Bauhaus und das Museum für…“ Cosmins Handy klingelte und unterbrach seine Ferienplanung. Er bemerkte, dass Max den Hals reckte, um einen Blick auf das Display zu werfen.
„Moritz“, zischte Cosmin ihm zu. Er tippte auf das grüne Telefonsymbol und stellte den Lautsprecher an, sodass Max mithören konnte.
„Hallo Moritz, wie geht’s?“
„Hi Cosmin, super! Simmis Eltern haben uns vier Nächte in einer Pension in Carlsfeld spendiert. Das ist ein Nest im Erzgebirge. Wir sind noch bis Donnerstag hier. Super Gegend, wir machen gleich 'ne Skiwanderung.“
„Das klingt toll!“, erwiderte Cosmin. Erst vor kurzem hatte ihm Moritz erzählt, wie gern er mit Simon verreisen würde.
Cosmin seufzte leise.
Ich wünschte, wir würden auch mal so eine Reise machen, zusammen für ein paar Tage oder - noch besser - Wochen in ein Gebirge…
„Liegt denn genug Schnee? Hier ist es wie im Frühling.“
„Tagsüber taut es ein bisschen. Aber im Wald liegt mehr als ein halber Meter“, erzählte Moritz und schwärmte von Loipen durch tief verschneite Wälder. Aus den Augenwinkeln sah Cosmin, dass Max nur noch mit einem halben Ohr zuhörte und auf dem eigenen Handy herum wischte, während er an einem Brötchen nagte.
„Äh Cosmin? Was machst du so in den Ferien?“ Die Begeisterung in Moritz’ Stimme war plötzlich wie weggewischt. „Simmi sagte mir, dass du in den Ferien nun doch mit deiner äh … Freundin zusammen bist.“
Cosmin warf Max einen Blick zu. Max erwiderte Cosmins Blick und schien darauf zu warten, was Cosmin antworten würde.
Cosmin räusperte sich. „Simmi ist nicht auf dem neuesten Stand. Ich bin in den Ferien mit meinem Freund zusammen“, entgegnete er, ohne den Blick von Max abzuwenden. Ein Lächeln verzauberte Max’ Gesicht, auch wenn das Lächeln wegen der noch geschwollenen Lippe schiefer als sonst erschien.
„Echt? Dann seid ihr beide in Berlin?“ Die Begeisterung war in Moritz’ Stimme zurückgekehrt. „Simmi und ich, wir waren ein bisschen runter, weil wir dachten, dass … naja, dass ihr Schluss gemacht habt.“
„Ich habe mit Camelia Schluss gemacht“, erwiderte Cosmin und berichtete in knappen Sätzen, wie sie versucht hatte, die Freundschaft mit Max zu zerstören.
„Hab mir so was gedacht“, sagte Moritz leise. Simon schien Moritz etwas zuzurufen. „Ich soll euch von Simmi grüßen. Er freut sich schon darauf, mal wieder mit Max Boxsäcke zu verdreschen. Na okay, wir wollen jetzt los. Macht’s gut.“
„Ihr auch.“
Cosmin beendete das Gespräch und sah, dass Max ihm sein Handy neben den Teller geschoben hatte. Es zeigte eine steile, mehrere hundert Meter hohe, senkrechte Felswand.
„Sieht schön aus. Was ist ist das?“
Max griff wieder nach Cosmins linker Hand. „Cos-Mi, sobald ich achtzehn bin, kaufe ich ein Auto. Und nach den Abiprüfungen fahren wir beide damit zusammen dort hin. Das Gebirge heißt Bucegi und liegt in Rumänien.“
Für einen Moment stockte Cosmin der Atem. „Maxi, das wäre… ein Traum. Ich… wie könnte ich mich revanchieren?“, fragte er mehr sich selber.
Max’ strahlend blaue Augen wurden zu Seen, in die Cosmin eintauchte. „Mir reicht’s, wenn du mich ein bisschen gern hast.“
Cosmins Rechte schob sich unter Max’ weiches Haar und umfasste den Hals darunter. „Maxi, wie du weißt, habe ich dich ein bisschen mehr als ein bisschen gern“, entgegnete Cosmin und zog Max zu sich heran, bis ihre Lippen miteinander verschmolzen.

Der wichtigste Mensch in meinem Leben

Max

Leon überwachte sein Haus in einem Villenviertel am westlichen Stadtrand von Berlin mit mehreren Kameras. Eine Kamera schaltete sich automatisch ein, als beide Jungen den Eingangsbereich des Hauses betraten. Eine andere Kamera überwachte die Terrasse und den Garten auf der Rückseite des Hauses. Max war nicht sicher, ob auch das Fitnessstudio im Keller des Hauses mit einer versteckten Kamera ausgestattet war.
Vorsichtshalber hatte er Cosmin, aber auch sich selber eingeschärft, alles zu unterlassen, was Leon in dessen ohnehin bestehenden Verdacht bestärken könne, sie hätten was miteinander.
In Leons geräumigen Fitnesskeller flutete Tageslicht durch mehrere großzügige Lichtschächte. Während Max Boxhandschuhe und Gesichtsschützer aus einem Schank kramte, bestaunte Cosmin Leons ultramoderne Kraftstation, die sicher an die zehntausend Euro gekostet hatte.
Zunächst verlief das Reaktionstraining in der Kampfsportecke des Kellers wie sonst auch. Max hielt die Hände hinter seinem Rücken, bis Cosmin zuschlug oder mit den nackten Füßen zutrat. So sehr sich Cosmin auch abmühte, Max wehrte die Attacken mühelos ab.
„Maxi, ich kapiere es nicht, wie Tang dich da an der Stirn erwischt hat“, murrte Cosmin in der Trainingspause. Sie hockten auf einer Bank am Boxring und stärkten sich mit einem Müsliriegel. „Mir kommt es so vor, als wüsstest du bei mir schon vorher, wie ich angreifen will.“
„Cos-Mi, du machst das toll. Tang hat an der Verbeugung zum Trainer gespart. Ich war noch beim Bückling, da flog mir Tangs Knie ins Gesicht. Ich hätte es spüren müssen, dass er angreift, hab’s aber nicht“, erklärte Max und holte einen Zahnschutz und eine Augenbinde aus dem Schrank.
„Es gibt da einen Film mit Van Damme, dem Vorbild für die meisten Leute bei uns im Club. Am Ende kämpft er blind gegen einen koreanischen Killer und erledigt ihn trotzdem. Ab jetzt trainieren wir das auch. Aber so wie du inzwischen zuschlägst, muss ich meine Beißerchen schützen.“
Cosmin schüttelte ungläubig den Kopf. „Maxi, das ist doch irre!“, schnaubte er.
„Probieren wir’s aus!“
Schon beim ersten Versuch landete Cosmin einen Treffer. Max hatte einen Kinnhaken erwartet und die Deckung hochgerissen, doch stattdessen traf Cosmins Fuß traf seinen rechten Oberschenkel. Immerhin gelang es ihm, den Fuß zu erwischen und Cosmin aufs Kreuz zu legen.
„Das hat keinen Sinn, Maxi. Nimm die Augenbinde wieder ab“, sagte Cosmin und rappelte sich vom mit Matten gepolsterten Boden auf.
Doch Max ahnte, worum er daneben gelegen hatte. Statt den Beginn der Attacke abzuwarten, hatte er bereits vorab vermutet, wie Cosmin angreifen würde und entsprechend agiert, statt zu reagieren.
„Cos-Mi, lass es uns nochmal versuchen“, bat er, spannte all seine Muskeln an und lauschte angestrengt. Ein leises Rascheln von unten, vielleicht weil sich Cosmins Fuß von der Matte löste, um zuzutreten? Max reagierte mit seinem rechten Bein, fing Cosmins Bein ab und blitzschnell fegte er Cosmins Standbein von der Matte.
Er hörte ein Platschen und Cosmins leises Fluchen.
Max zog sich die Binde vom Kopf und half Cosmin beim Aufstehen.
„Maxi! Hast du irgendwo noch ein Auge?“
Max grinste und hob einen Fuß. „Vielleicht ein Hühnerauge?“
Max bedeckte seine Augen mit der Binde. „Los, nochmal.“
Dieses Mal erahnte Max mehr einen Luftzug in Höhe seines Gesichts als dass er ihn spürte. Er riss beide Arme hoch, um Gesicht und Oberkörper zu schützen. Cosmins Schlag landete in seiner Deckung. Er verzichtete auf eine Gegenattacke, da Cosmin keinen Gesichtsschutz trug.

Nicht immer gelang es Max, Cosmins Schläge oder Tritte abzufangen, aber er würde daran arbeiten und fragte sich, was Leon zu einem solchen Training sagen würde.
Am Nachmittag erfüllte Max Cosmins Wünsche und radelte mit Cosmin kreuz und quer durch die City, zeigte ihm seine alte Schule und führte ihn durch das Naturkundemuseum und durch die Mauer - Gedenkstätte.

Bei den für Dienstag geplanten Museumsbesuchen jedoch übernahm seine Stiefmutter die Rolle des Fremdenführers für Cosmin. Schneeregenschauer ließen die Radtour zum Teufelsberg buchstäblich ins Wasser fallen und während seine Stiefmutter mit Cosmin von einem Museum zum nächsten kutschierte, verbrachte Max den Nachmittag in der Turnhalle seiner ehemaligen Schule. Dort veranstaltete sein ehemaliger Sportlehrer Coach Benning, ein in Berlin lebender ehemaliger Ausbilder der US - Armee, ein Basketballturnier der vier zwölften Klassen der Schule. Der Sportlehrer war sichtlich erfreut, Max zu sehen, ebenso wie viele der Mädchen auf den Zuschauerbänken. Coach Benning gestattete ihm sogar, im zweiten Spiel seiner ehemaligen Klasse beim Kampf um den dritten Platz nicht nur als Zuschauer, sondern als Spieler zu helfen. Allerdings erwiesen sich die Jungen der gegnerischen Klasse als so schwach, dass Max’ Klasse auch ohne seine Hilfe den dritten Platz geschafft hätte.

Den Rest des Nachmittags verbrachte Max mit Oskar, Nicholas und ein paar anderen Jungen seiner Berliner Klasse in einem KFC Fastfood - Restaurant.
Er kaufte für das Abendessen zwei große Buckets, gefüllt mit knusprigen Hähnchenstücken. Seine Kumpel Oskar und Nicholas trauten ihren Ohren nicht, als sie erfuhren, dass Max eines der Buckets dem vormals so verhassten Stiefbruder spendieren wollte. Einmal mehr fragte sich Max, was sie sagen würden, wenn sie erführen, was zwischen ihm und Cosmin lief.
Gegen 18 Uhr kehrte Max in seine Wohnung zurück. Cosmin saß auf der Couch und brütete über irgendwelchen Berechnungen, mit denen er den Wohnzimmertisch übersät hatte. Max stellte die Tüte mit dem Abendessen auf der Küchentheke ab, legte sein Handy auf den Tisch und setzte sich zu ihm auf die Couch. Cosmin warf den Stift beiseite und ließ den Kopf gegen Max’ Schulter sinken. Max Finger strichen über Cosmins glühende Wangen.
„Und Cos-Mi, bist du klar gekommen mit deiner Alten?“

Cosmin

Cosmin hatte befürchtet, dass ihm seine Mutter auf die Nerven gehen könnte. Aber wie es schien, hatte in seinem Herzen etwas von der Liebe zu ihr überlebt. Als sie ihn beim Abschied an sich gedrückt hatte, hatte er ihre Umarmung nach kurzem Zögern sogar erwidert.
„Meine Mutter war fast vierzehn Jahre der wichtigste Mensch in meinem Leben. Das ist vorbei. Aber es war ganz okay mit ihr.“
Max zupfte zärtlich an Cosmins Ohr. „Wer ist jetzt der wichtigste Mensch in deinem Leben?“
Das weißt du doch längst!
Cosmin seufzte. „Das klingt jetzt ziemlich schräg. Der wichtigste Mensch in meinem Leben kann manchmal ganz schön anstrengend sein und hat einen … Pimmel.“
Max kicherte leise. „Komisch. Bei mir ist es genauso.“
Sein Handy signalisierte mit einem kurzen Summen den Eingang einer Nachricht. Er griff danach und Cosmin bemerkte, dass Max’ Gesicht beim Lesen der Nachricht immer länger wurde.
„Was ist passiert?“, fragte Cosmin.
Max strich sich die Haare aus der Stirn. „Leon ist über Nacht in Berlin, um sich mit seiner Kleinen zu treffen. Er will mich unbedingt sehen und fragt, ob ich morgen früh zum Flughafen komme.“
„Wann morgen früh?“
„Um fünf.“
„Oh Mann! Vergiss einfach, den Wecker zu stellen“, stöhnte Cosmin, doch Max schüttelte den Kopf. „Ich werd’s überleben.“
Ein leises Unbehagen bohrte sich durch Cosmins Gedanken. Irgendwann würde Max sich zwischen ihm und Leon entscheiden müssen, auch wenn auf Max’ Wunschzettel stand, dass es ihm egal sei, was Leon über ihre Beziehung dachte.
Der Duft nach frittiertem Hähnchen wehte an Cosmins Nase und verdrängte für den Moment die düsteren Gedanken. Zwar war er ein paar Stunden zuvor mit seiner Mutter in ein Bistro nahe der Museumsinsel eingekehrt, doch er hatte sich nur einen kleinen Imbiss gegönnt. Er wollte nicht, dass seine Mutter Geld für ihn ausgab, um sich seine Zuneigung zu erkaufen. Cosmin erhob sich und linste in die KFC - Tüte.
„Maxi, ich will lieber nicht wissen, was das gekostet hat.“
Max kramte zwei Teller aus dem Küchenschrank. „Bleib locker, Cos-Mi. Ich habe immer noch Kohle, die Tang für mich verdient hat.“
Cosmin stellte vier Flaschen Radler auf die Küchentheke. „Mein bescheidener Beitrag zum Abendessen.“

Nach dem Abendessen saßen sie zusammen auf der Couch und nippten an ihrem Radler. Max hatte seinen rechten Arm um Cosmins Schulter gelegt, Cosmins linke Hand erkundete unter dem Shirt Max’ durchtrainierten Oberkörper.
Am Vorabend war Max in Cosmins Armen eingenickt und es hatte Cosmin einige Mühen gekostet, Max ins Schlafzimmer zu bugsieren. Cosmins Finger krochen zum Bund von Max’ Trainingshose, auf deren Vorderseite sich zusehends eine Beule aufwölbte. Max zog Cosmin an sich und kaum hatten die Lippen der Jungen zueinander gefunden, glitt Max’ linke Hand zu Cosmins Slip. Cosmin stöhnte leise auf, als Max’ Hand die Beule im Slip umschloss.
„Maxi, ich müsste erst mal unter die Dusche, glaub ich“, japste Cosmin und fühlte, wie sich sein Penis versteifte. Hitze schoss von seinen Lenden bis hinauf zu den Ohrenspitzen.
Max zog Cosmin mit sich auf die Füße, ohne die Erektion loszulassen. „Was für ein Zufall“, grinste er. „Da wollte ich auch gerade hin.“

Wie schon zwei Abende zuvor erlebten die Jungen im Schlafzimmer mehrere Eruptionen der Wollust, ehe sie erschöpft und einander in den Armen haltend in einen tiefen Schlaf sanken.
Cosmin tauchte aus diesem Schlaf nur einmal kurz auf, als gegen vier Uhr das Gebimmel des Handyweckers Max aus dem Schlaf riss.

Finstere Gedanken

Leon

Leon stieß einen lautlosen Fluch aus. Statt bis zur letzten Minute die ohnehin viel zu kurze Nacht mit Huong, seiner unglaublich süßen Vietnamesin, zu genießen, hockte er seit fast zehn Minuten auf einer Holzbank an einem kleinen Teich, den der nächtliche Bodenfrost mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen hatte. Aber er wollte endlich Klarheit darüber, ob zwischen Max und diesem nervigen Stiefbruder mehr lief als ihm Max erzählt hatte. Der Gedanke, sein kleiner Liebling und Zögling könnte ein Verhältnis mit einem Kerl haben und vielleicht sogar schwul sein, fraß sich wie Schwefelsäure in sein Herz.
Die kahlen Bäume der gepflegten Parkanlage gestatteten den Blick auf das viergeschossiges Wohnhaus. Die rechte Giebelseite des Hauses war in fahles Mondlicht getaucht und einzig aus einem kleinen Fenster im Erdgeschoss drang ein Lichtschein ins Freie.
Leon warf einen Blick auf seine Uhr. Wenn Max mit der S - Bahn bis um fünf den Flughafen in Schönefeld erreichen wollte, würde er so langsam mit der Morgentoilette im Badezimmer fertig werden müssen.
Das Licht im Bad erlosch.
Kurz darauf öffnete sich die Eingangstür des Hauses und Max schob sein Rad ins Freie. Von seinem Versteck aus verfolgte Leon, wie sich Max aufs Rad schwang. Helle Haarsträhnen lugten unter der Kapuze der Winterjacke hervor und das Licht des Mondes gewährte einen kurzen Blick auf ein ungewöhnlich attraktives Gesicht, ehe Max in den Schatten der Linden eintauchte, die die Zufahrt zum Parkplatz vor dem Haus säumten.
Kein Mädel könnte meinem kleinen Champ widerstehen!
Doch statt in seinem Schlafzimmer eine Braut zu vernaschen, quartierte Max einen Kerl bei sich ein, auch wenn Max ihm versichert hatte, dass Cosmin auf der Eckcouch im Wohnzimmer schlief.
Max schob sein Rad durch die Pforte hinaus auf die Straße und verschwand aus Leons Blickfeld.
Vermutlich würde er bis zum Bahnhof Charlottenburg radeln und dort in eine S - Bahn zum Flughafen steigen.
Leon stellte vorsorglich den Lautsprecher des Handys ab und warf einen kurzen Blick auf den kleinen Rucksack, den er auf der Bank abgelegt hatte. In den nächsten fünf Minuten würde mit Sicherheit niemand hier vorbei kommen. Und viel mehr Zeit blieb ihm ohnehin nicht für den Blick in Max’ Wohnung, wenn auch er bis um fünf den Flughafen erreichen wollte.
Er eilte zum Haus und betrat im Schein der Displaybeleuchtung seines Handys den Treppenflur. An der Tür zu Max’ Wohnung verharrte Leon und lauschte am Türblatt. Er vernahm nur den eigenen Herzschlag. Wie ein Dieb auf nächtlichem Beutezug, allerdings mit einem passenden Schlüssel, öffnete er die Tür und schlich auf leisen Sohlen in die Wohnung, ohne das Licht anzuknipsen. Zunächst warf er einen Blick ins Wohnzimmer und ein letzter Funken Hoffnung erlosch.
Max hatte ihn belogen, die Ledercouch war leer!
Also schliefen die beiden Bengel zusammen in einem Bett.
Als er die Badtür öffnete, schlug ihm ein Geruch entgegen, der mehr an einen Blumenladen als an eine Toilette erinnerte.
In der Duschkabine fand Leon den Grund für den Blumenduft. Die Ablage für Shampoo und Seife enthielt neben dem Duschgel auch ein Fläschchen Badeöl mit Rosenduft, eine Tube mit Gleitcreme und zwei ballonförmige Geräte zur Darmreinigung.
Eine Sturzflut aus Ekel, Wut und Frustration brandete durch Leons Nervenbahnen. Also hatte der Stiefbruder Max inzwischen soweit ‚rum gekriegt, dass sie sich gegenseitig die Ärsche pimperten?
Mit zusammengebissenen Zähnen verließ Leon das Bad. Vor der Schlafzimmertür hielt er inne, um sich zu beruhigen, sonst hätte er sie wahrscheinlich eingetreten.
Er blinzelte.
Wut und Frustration hatten ihm Tränen in die Augen getrieben.
Erst als der Herzschlag nicht mehr wie ein Rüttelstampfer gegen den Brustkorb hämmerte, wagte er es, leise die Tür zu öffnen.
Und dann sah er IHN im Licht des Vollmonds, welches durch das Fenster ins Zimmer flutete.
Der Geruch nach Sex und Schweiß füllte Leons Nasenlöcher. Max‘ Stiefbruder lag quer in dem riesigen Bett, eines seiner schlanken, braunen Beine lugte fast vollständig unter der Bettdecke hervor. Leons Blick glitt von dem nackten Bein hinauf zu Cosmins Gesicht. Zweifellos sah der Bengel nicht nur exotisch, sondern auch sehr hübsch aus. Was freilich kein Wunder bei dieser Mutter war. Hätte er als Mädchen das Licht der Welt erblickt, würde er garantiert bei jeder Misswahl abräumen. Angewidert starrte Leon auf Cosmins nur zur Hälfte bedecktes Hinterteil. Ohnehin hätte sich Leon denken können, dass der Kerl nackt war. Dessen Slip lag zusammen mit einem Handtuch und zerknüllten Papiertüchern neben dem Bett auf dem Boden. Im Schatten des Bettes sah Leon außerdem einen länglicher Gegenstand und es dauerte einige Sekunden, ehe er begriff, dass es sich um einen einen Silikonpenis, handelte.
Leon ballte die Faust.
Ich könnte das Würstchen mit einem einzigen Hieb erledigen. Oder das Kissen nehmen. Der hätte nicht den Hauch einer Chance!
Leon wandte sich ab, um seinen erneut aufquellenden mörderischen Zorn abzukühlen.
Soviel stand fest: Die beiden mussten irgendwie voneinander getrennt werden!
Max konnte noch die Kurve kriegen. Leon hatte Max’ Freundinnen kennengelernt, eine süßer als die andere. Entweder Max würde wieder so ein Mädchen über den Weg laufen, das ihn auf den richtigen Weg zurück führte oder es musste ein Weg gefunden werden, diesen braunhäutigen Bengel aus Max’ Leben verschwinden zu lassen, koste es was es wolle.

Leon verließ ebenso leise wie er gekommen war das Haus. Als er die Parkbank erreichte, auf der er seinen kleinen Rucksack gelassen hatte, wählte er den Taxiruf. Es war höchste Zeit aufzubrechen. In gut zwei Stunden startete sein Flieger nach Bratislava und vorher wollte er auch noch ein Wörtchen mit seinem Neffen reden, der für ihn auch der kleine Bruder war.

Max

Kurz nach fünf Uhr erreichte Max den Abflugbereich des Flughafens. Leon erwartete ihn mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen an einem der Eingänge des Terminals. Max konnte sich denken, dass Leon lieber auch den Rest der Nacht mit der vietnamesischen Freundin verbracht hätte statt im Gedränge des Flughafens.
Sie umarmten sich. Für Max fühlte sich Leons Umarmung ein bisschen so an, als ob sein Onkel befürchten würde, er könne sich bei ihm eine ansteckende Krankheit holen.
„Alles klar bei dir, Onkelchen?“
„Ich bin kein Frühaufsteher, Champ.“ Leon wischte Max’ Kapuze vom Kopf und strich mit den Fingern über die Stirn. „Der Chinese hat dir auch eine dicke Lippe verpasst?“
Max befühlte kurz die Schwellung der Oberlippe. Leon hatte einen Blick für Kampfspuren; die Schwellung war kaum noch spürbar. „Nee, bin letzten Freitag bei der Zeugnisausgabe vor Freude vom Stuhl gekippt.“
Ein Grinsen huschte über Leons Gesicht. „Klingt besser als so was wie… hab vergessen, mir die Tür aufzumachen.“
Er packte Max’ Schulter. „Schön dich zu sehen, Kleiner! Komm, lass uns zusammen ein Käffchen schlürfen.“
Sie fanden ein Bistro, von dem aus sie auch den Zugang zu den Sicherheitskontrollen im Auge behalten konnten.
„Erzähl’ mir, wie du in vier Monaten mit Tang fertig werden willst“, sagte Leon, während er Milch und Zucker im Kaffee verrührte. „Kein Schwein wird mehr auf dich setzen.“
Max nippte an seinem Kaffee und deutete auf seine Brust. „Falsch! Ich setze auf mich.“
Er berichtete vom Training mit Simon und Cosmin und davon, dass er die Abwehr von Attacken nun auch mit verbundenen Augen übte. Zwar zog Leon bei der Erwähnung Cosmins ein Gesicht, als hätte er Salz statt Zucker im Kaffee, stimmte aber zu.
„Hardy hat mir erzählt, dass Tang dich kalt erwischt hat. Beim Pferderennen werden ihm Regeln erst recht schnuppe sein. Vielleicht bin ich bald wieder in Berlin. Dann werden wir jedes Wochenende zusammen trainieren. Gewinnst du, räumen wir wahrscheinlich mit einer Traumquote ab.“
„Wann wird es sich entscheiden, ob du zurück kommst?“
„Vielleicht schon heute Nachmittag. Maxi, wenn ich den Deal eingetütet habe, ist dein Anteil in unserer Firma mit einem Schlag hunderttausend Mäuse mehr wert. Gern geschehen!“
Max hatte nicht die leiseste Ahnung, wie groß sein Anteil an der Firma war und wieso er ohne eigenes Zutun plötzlich um hunderttausend Euro reicher sein könne. „Kapier’ ich nicht.“
Leon legte eine Hand auf Max’ rechten Unterarm. „Das mit dem Kapieren kriegen wir auch noch hin.“ Sein Griff um Max’ Arm wurde fester.
„Max!“
Max horchte auf. Es kam so gut wie nie vor, dass Leon ihn Max nannte. Er ahnte bereits, zu welchem Thema sein Onkel wechseln würde.
„Hm?“
„Du hattest bisher Vertrauen zu mir und konntest mit jedem noch so beschissenen Problem zu mir kommen. Ich habe immer versucht, dir zu helfen, oder?“
Max nippte am Kaffee. „Klar.“
„Dann verstehe ich nicht, warum du mir nicht erzählen willst, was zwischen dir und deinem Stiefbruder abgeht.“
„Was soll da abgehen?“
Leon schwieg und blickte Max unverwandt an. Für einen Moment überlegte Max, das Thema abzuhaken, doch schließlich siegte der Wunsch, endlich jemandem das Herz auszuschütten.
Wem, wenn nicht Leon?

Geständnis

Max

Max stieß den angehaltenen Atem aus.
„Versprich mir, mit niemandem darüber zu reden!“
Leon nahm einen tiefen Schluck aus der Tasse, ohne Max aus seinen stahlblauen Augen zu lassen. „So wie immer, wenn du mich darum gebeten hast. Ich versprech’s!“
„Okay. Leon, ich habe Cosmin eigentlich zum ersten Mal gesehen, bevor meine Mam… verunglückt ist.“
Leon warf einen kurzen Blick zu den Sicherheitskontrollen. Max folgte dem Blick. Noch hatten sich keine größeren Schlangen gebildet. Der Blick des Onkels kehrte zu ihm zurück, sein Gesicht blieb ausdruckslos.
„Hm… Alex hat mir davon erzählt. Das war echt ein krasser Zufall. Und wann hat’s zwischen euch gefunkt?“
Max blickte kurz zu den Nachbartischen. Keiner der anderen Leute schien sich für ihr Gespräch zu interessieren. Trotzdem senkte er die Stimme. „Onkel, du könntest mir tausend nackte Kerle von fünfzehn bis fünfzig vor die Nase setzen und kein einziger würde mich anmachen. Ich war sogar zweimal nur deswegen in einer Schwimmhalle… um raus zu finden, ob ich… du weißt schon,… ob ich… schwul bin. Bin ich nicht. Aber Cosmin? Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. So was wie Resonanz? Jedenfalls geht es ihm genauso wie mir. Er steht nicht auf Kerle. Normalerweise. Leon, ich… liebe ihn. Wir wollen zusammen bleiben. Ich meine nach dem Abi. Zusammen studieren und zusammen wohnen.“
Max schenkte sich aus dem Kännchen Kaffee nach, um die trockene Kehle anzufeuchten. Aber auch, um Leons Blicken auszuweichen.
Offenbar benötigte sein Onkel ein paar Sekunden, ehe er das Gesagte halbwegs verdaut hatte.
Leon räusperte sich.
„Maxi, bis dahin sind es noch mehr als sechs Monate. Weißt du, wie oft ich schon geglaubt habe, dass ich in eine Braut verliebt bin und mit ihr zusammen bleiben will? Fünfzig Mal? Hundert Mal? Und zwei Wochen später hing sie mir zum Halse raus.“
Max blickte auf. „Und deine jetzige Freundin?“
Leons Gesicht glättete sich für einen Moment und ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Falls wir im nächsten Winter immer noch zusammen sind, mache ich ihr einen Antrag.“
Das Lächeln verblasste wieder.
„Schau in den Spiegel, Kleiner! Bis zum Sommer wird sich bestimmt wieder ein Mädel in dich vergucken, das so süß ist wie deine Julia oder deine Caro und der Stiefbruder hängt dir dann zum Halse raus.“
Max schüttelte leicht mit dem Kopf. „Vergiss es! Ich bin… süchtig nach ihm. Ich würde ihn am liebsten äh… heiraten.“
Leons Kaffeetasse verharrte auf halbem Weg zum Mund. Er schaute Max entgeistert an und stellte die Tasse zurück. „Maxi, bist du völlig durchgeknallt?! Du bist siebzehn! Hör auf, von einer Heirat zu quasseln.“ Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Schon gar nicht mit einem Kerl.“
Max verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Also bist du dagegen! Ich meine, gegen meine… meine Beziehung zu Cosmin?“
Max’ Frage klang eher wie eine Feststellung.
„Das habe ich nicht gesagt.“ Leon schaute kurz auf seine Uhr und dann zum Bereich mit den Sicherheitskontrollen. Das Gedränge an den Zugängen war in den letzten Minuten zusehends dichter geworden.
„Ich will nur nicht, dass du dich mit achtzehn in eine Ehe stürzt, die du mit neunzehn bereust, okay? Ansonsten… behalte einen kühlen Kopf. Ich werde es akzeptieren, wenn du mit deinem… Freund zusammen bleiben willst.“
Leon erhob sich.
„Maxi, ich muss mich auf die Socken machen! Also, halte auch die Ohren steif und nicht nur den Schwengel.“
Max stand ebenfalls auf. Bei dem Gedanken daran, wer im Moment nackt in seinem Bett lag, wanderte ein Kribbeln wie von einer Ameisenschar durch seinen Bauch hinunter zu ebendiesem Schwengel. Hastig wischte Max den Gedanken an Cosmin beiseite und folgte seinem Onkel zu einem der Zugänge zu den Sicherheitskontrollen.
Leon reihte sich in das Ende einer der Schlangen ein, wandte sich zu Max um und zog ihn in seine Arme. „Mach’s gut, kleiner Bruder. Ich melde mich heute Abend. Hoffentlich mit guten Neuigkeiten.“
Max erwiderte die Umarmung. „Danke Onkelchen, dass du mir zugehört hast und nicht ausgeflippt bist.“
Leon kraulte Max’ blondes Haar. „So wie immer.“
„So wie immer“, bestätigte Max und löste sich aus Leons Armen. Erst als er Leon im Gedränge auf der anderen Seite der Sicherheitskontrolle aus den Augen verlor, wandte sich Max dem Ausgang zu.

Leon

Den letzten Rest an Selbstbeherrschung verbrauchte Leon, als er sich kurz vor dem Erreichen der Sicherheitskontrolle noch einmal zu Max umdrehte, die Lippen dabei zu einem Lächeln verbog und ihm einen Abschiedsgruß zuwinkte.
Er hatte als Dreizehnjähriger Max am Tag nach dessen Geburt in den Händen gehalten, ein unglaublich süßes Würstchen mit klaren, strahlend blauen Augen. Nach „Mam“ war „Leo“ Max’ zweites Wort gewesen. Erinnerungen blitzten in Leons Kopf auf.
Er hatte Max gewindelt, im Kinderwagen spazieren gefahren, fast jeden Tag aus der Krippe oder dem Kindergarten abgeholt, ihm schon im Krippenalter gezeigt, wie man kämpft oder an Mauern hoch klettert.
Als Max sich mit dreizehn zum ersten Mal in ein Mädchen verknallt hatte, war er zu ihm gekommen, um zu erfahren, wie man Sex macht. Dummerweise war Max’ erste Liebe nach dem Tod der Mutter zerbrochen.
Und ich habe mit dafür gesorgt, dass der Junge bereits Millionär ist!
Leon fluchte leise in sich hinein. Die Sache zwischen Max und dem Stiefbruder war noch ernster, als er es ohnehin befürchtet hatte. Max wollte diesen Zigeuner allen Ernstes heiraten? Für Leon stand fest, dass sich der Stiefbruder diese Gelegenheit, an Max’ Reichtum heranzukommen, nicht entgehen lassen würde. Aber für Leon stand ebenso fest, dass es nicht dazu kommen würde.
„Junger Mann, bitte legen Sie Ihre Jacke und Ihren Gürtel ab“, riss ihn eine ältere Sicherheitsbeamtin aus den Gedanken. Erst jetzt bemerkte Leon, dass er die Sicherheitskontrolle erreicht hatte.

Cosmin

Cosmin tauchte aus einem tiefen Schlaf mit flüchtigen und diffusen Träumen auf, weil seine Blase drückte. Tageslicht flutete seine Augen.
Unter der Bettdecke lag eine Hand regungslos auf seinem Schoß und umfasste die morgendliche Erektion.
Es war nicht die eigene Hand.
Cosmin drehte sich zur Seite und sah, dass Max den Kopf samt Kissen in die linke Armbeuge gebettet und den rechten Arm nach ihm ausgestreckt hatte. Ein Lächeln verzauberte das schlafende Gesicht. Cosmin vergaß für einen Moment die Blase und richtete den Oberkörper auf, um Max’ Gesicht zu betrachten. Die Schwellung an der Oberlippe war so gut wie verschwunden. Nur ein feiner Riss erinnerte an den Blutfaden, der nach dem Fausthieb aus der Lippe gesickert war. Haarsträhnen verdeckten die Prellung an der Stirn. Cosmin wünschte, Max’ Mutter würde leben und den Anblick dieses wunderschönen Gesichts auf einem Gemälde verewigen.
Ich würde es „Mein schlafender Engel“ nennen.
Behutsam löste er Max’ Finger von seinem Glied.
„Geh nicht weg, Cos-Mi!“, murmelte Max, ohne die Lippen zu bewegen. Offenbar redete er mit dem Cosmin in seinem Traum.
„Ich muss pinkeln, Maxi. Bin gleich wieder da“, flüsterte Cosmin ihm zu und schlüpfte aus dem Bett.
Als er von der Toilette zurückkehrte, sah er, dass Max sich aufgerichtet hatte und ihn verschlafen anschaute, wobei sich Max’ Blick schließlich an seinem inzwischen erschlafften Glied verfing.
„Frühsporten wir zusammen?“, fragte Cosmin und bedauerte etwas, dass er vor dem Gang zur Toilette kein Foto vom schlafenden Engel geschossen hatte.
Max gähnte herzhaft. „Klar! Aber das läuft nicht davon.“ Er hob die Bettdecke an. „Los komm, lass uns vorher noch ein bisschen … quatschen oder so was.“
Nach dem geradezu hemmungslosen Treiben des Vorabends verspürte Cosmin im Moment nur wenig Lust auf Sex. „Maxi, ich muss…“
„… kacken, ich weiß.“
Cosmin schlüpfte mit unter Max’ Bettdecke und Max zog ihn in seine Arme. Halbherzig wehrte sich Cosmin, als er merkte, dass Max ihn küssen wollte. „Ich hab mir meine Zähne nicht geputzt, Maxi!“
„Bloß gut, ich hasse Zahnpastageschmack!“, grinste Max und erstickte Cosmins Widerrede mit einem Kuss, den Cosmin nach wenigen Augenblicken erwiderte.
„Was wollte dein Onkel von dir?“, fragte Cosmin, nachdem sich ihre Zungen Minuten später voneinander gelöst hatten. Sie lagen eng umschlungen beieinander. Cosmins Blick versank in Max’ Augen, die wie tiefe Seen an einem wolkenlosen Sommertag glitzerten.
Max suchte offenbar nach Worten und das Glitzern in seinen Augen schien zu schwinden.
„Maxi?!“
„Okay!“ Das Strahlen kehrte in Max’ Augen zurück. „Ich glaub’, er wollte von mir die Wahrheit wissen… ich meine über das zwischen dir und mir.“
Cosmin runzelte die Stirn. „Du hast ihm doch hoffentlich nicht erzählt, dass wir äh… zusammen sind sozusagen.“
„Ich hätte ihm nichts vormachen können. Cos-Mi. Bis er nach Bratislava gegangen ist, hat er jeden Tag mit mir trainiert und so. Schon in der Kinderkrippe hatte ich von ihm gelernt, wie man die anderen Jungs aufs Kreuz legt. Und als ich meine erste Freundin hatte… damals war ich in der siebenten Klasse… da hab’ ich mir von ihm erklären lassen, wie man das mit den Mädchen macht. Aber hey, Leon hat es ganz gut aufgenommen.“
Cosmin schwieg.
„Er hat mir gesagt, dass er nichts dagegen haben wird, wenn wir nach der Schule zusammen bleiben und hier wohnen werden“, fuhr Max hastig fort und fügte leise hinzu, als wäre es nur für seine Ohren bestimmt: „Er will nur nicht, dass ich dich heirate.“
Cosmin tat so, als hätte er die Anspielung auf Max’ zweiten Wunsch auf dem Wunschzettel überhört. Nach dem er endlich das Problem mit einer heiratswütigen Braut und seinem Möchtegern - Schwiegervater gelöst hatte, wollte er von diesem Thema vorläufig verschont bleiben. Er fragte sich, ob Leon wirklich seine Meinung geändert haben könnte.
Cosmin wandte seinen Blick von Max ab und starrte zur Zimmerdecke, als würde er dort nach Antworten suchen.
„Maxi, denkst du echt, dass dein Onkel nichts dagegen haben wird?“
Cosmins Blick kehrte zu Max zurück und er beantwortete seine Frage sofort selber. „Dein Onkel hasst mich. Ich glaube, er macht dir was vor!“

Ich werde euch nicht im Weg stehen!

Max

„Ich wollte mal nachfragen, ob Deine Pause beendet ist. Morgen Abend komme ich von der Klassenfahrt zurück und könnte am Freitag bei dir vorbei schauen. Caro“

Oh Scheiße!
Max überflog die eben eingegangene WhatsApp - Nachricht ein zweites Mal, warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Cosmin am Geschirrspüler herum werkelte.
Da Cosmin nun bei ihm war, hatte er seine Einladung an Caroline völlig vergessen. Die letzten drei Tage waren für Max die glücklichsten dieses Jahres gewesen und was er im Moment am wenigsten gebrauchen konnte, war eine neue Komplikation.
Er befüllte aus dem Kaffeeautomaten zwei Becher mit Cappuccino. Einen schob er auf Cosmins Platz an der Küchentheke und warf einen weiteren Blick über seine Schulter. Cosmin hockte, nur in Unterwäsche gekleidet, immer noch vor dem Geschirrspüler und versuchte, das Geschirr in der Maschine so zu stapeln, dass auch die Tassen und Teller des Frühstücks mit hinein passten. Schwarze Zotteln hingen ihm im Gesicht und fielen auf seine Schultern. Das Krafttraining der vergangenen Monate hatte an Cosmins schokoladenbraunen Armen und Beinen seine Spuren hinterlassen.
„Cos-Mi, wir schmeißen die Maschine einfach nochmal an, wenn nicht alles rein geht.“
Cosmin wischte die Haarsträhnen aus dem Gesicht. "Verschwendung! Das passt auch noch rein. Ich muss nur… " Er ließ offen, was er nur machen musste und sortierte die Töpfe, Teller und Tassen im Geschirrspüler um.
Max grinste in sich hinein. Cosmin erinnerte im Moment an einen jungen Wilden, der irgendwie aus dem Dschungel in seine Küche geraten war und nun versuchte, mit moderner Technik klarzukommen.
Herrgott, ich liebe diesen Kerl!
Max wandte sich wieder seinem Handy zu und suchte nach Worten, mit denen er die Einladung an Caroline zurücknehmen konnte, ohne sie zu kränken. Er schrieb etwas, löschte es wieder oder formulierte es um, bis er schließlich mit folgender Nachricht antwortete:

„Caro, im Moment ist eine feste Freundin kein Thema für mich. Ich brauche mal eine große Pause, sorry. Max“

„Deine Ex?“
Max zuckte leise zusammen. Cosmin hatte sich neben ihn gesetzt, aber Max war so vertieft ins Verfassen einer halbwegs diplomatischen Antwort gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte.
„Cos-Mi, kannst du nicht anklopfen?“
Cosmin kicherte und klopfte auf die Tischplatte.
„Deine Ex?“, wiederholte er die Frage.
Max beließ die Antwort einige Sekunden auf dem Display des Handys. „Meine Ex, ja. Ich hab ihr zum hundertsten Mal geschrieben, dass ich im Moment keine feste Freundin will.“
„Wieso nicht?“, bohrte Cosmin weiter und nippte genüsslich am Cappuccino.
Max’ linke Hand glitt unter die Locken in Cosmins Nacken. Er nickte zu Tür, die in den Korridor führte. „Da im Flur ist ein Spiegel. Wenn du rein guckst, siehst du die Antwort.“
Cosmins glühender Blick strich über Max’ Gesicht.
„Maxi?“
„Hm?“
„Dein Onkel. Was machen wir, wenn er uns bei deinem Vater verpetzt?“
„Vergiss es!“ Max zog Cosmins Gesicht zu sich heran und ließ den Daumen über feine Härchen gleiten, die wie ein Schatten Cosmins Oberlippe umrandeten. „Er hat mir vorhin versprochen, das für sich zu behalten und Leon hält, was er verspricht, okay?“
„Okay!“ Zumindest für den Augenblick schien Cosmin das Thema Leon abzuhaken. Seine Hand glitt nun ebenfalls in Max’ Nacken und die Lippen der Jungen verschmolzen miteinander, während ihre Zungen begannen, sich aneinander vorbei zu drängeln.

Cosmin

Bereits am frühen Vormittag schmolzen die glitzernden Hinterlassenschaften des nächtlichen Bodenfrostes auf den Wiesen und der Nachmittag fühlte sich erneut wie ein Frühlingstag im Mai an.
Cosmin stellte sich nach dem Frühstück als Sparringspartner für Max’ Kampftraining zur Verfügung. Während Max anschließend sein alltägliches Fitnessprogramm absolvierte, wandte sich Cosmin wieder Sergius Matheaufgaben zu, die er zwei Tage zuvor auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet und danach dort liegen gelassen hatte, ohne daran weiter zu arbeiten. Sergiu wartete wahrscheinlich bereits sehnsüchtig auf Cosmins Zuarbeiten.
Den Nachmittag verbrachten die Jungen auf dem Teufelsberg. Für Max bot der Kletterfelsen nur wenige Herausforderungen. Aber für Cosmin war das Klettern an einem haushohen Felsen, auch wenn er nur aus Beton bestand, eine völlig neue Erfahrung. Er hatte bislang noch nie auf dem Gipfel eines Felsens gestanden und Max brachte ihm bei, wie man ein Abseilgerät benutzen musste.

Der Teufelsberg hatte neben dem Kletterfelsen und einer grandiosen Aussicht auf Berlin auch eine Art Abenteuer - Spielplatz zu bieten. Eine Stunde lang führte Max ihn durch Ruinen und eine von den Amerikanern verlassene Abhöranlage aus der Zeit des Kalten Krieges.

Am Abend traf sich Max mit seinem Kumpel Oskar und anderen Leuten seiner Berliner Klasse und Cosmin nutzte die Gelegenheit, die Arbeit an Sergius Aufgaben fortzusetzen.
Als sie am nächsten Tag mittags von einer Radtour durch die Berliner Innenstadt zurückkehrten, fanden sie auf dem Wohnzimmertisch eine Nachricht von Max’ Vater, der sie zum Abendessen einlud.
Jedes Mal hatte Cosmin beim Verlassen der Wohnung sein Bettzeug auf der Wohnzimmercouch ausgebreitet und Max hatte alles in seinem Keller verschwinden lassen, was Aufschluss über ihre nächtlichen Aktivitäten hätte geben können. Cosmin wollte lieber nicht darüber nachdenken, was nach dem unerwarteten Aufkreuzen von Max’ Vater in der Wohnung passiert wäre, hätten sie insbesondere die letztere der beiden Vorsichtsmaßnahmen nicht ergriffen.
Am späten Abend lag Cosmin noch wach, als neben ihm Max bereits die ersten Träume durchlebte.
Statt für Onkel Radu den künftigen Lieblingsschwiegersohn zu mimen, hatte er unvergessliche Ferientage hinter sich. Cosmin bezweifelte, dass es Max’ Onkel Leon mit dem Akzeptieren ihrer Beziehung ernst meinte und er teilte nicht einmal ansatzweise Max’ Freude über dessen baldige Rückkehr nach Berlin. Dennoch begann er zu glauben, dass er nach der Schule mit Max in Berlin leben und studieren würde - natürlich ohne Trauschein.

Doch schon am nächsten Tag zerschmolz sein Optimismus wie der nächtliche Reif in den Strahlen der Februarsonne.
Am Vormittag unternahmen beide Jungen Ausflüge zur Technischen Universität und zur Hochschule für Technik. Max befürchtete, dass seine Abiturnoten allenfalls für ein Studium an der Hochschule reichen würden, doch Cosmin versicherte ihm, dass er es auch an die Uni schaffen könne, wenn sie sich noch etwas mehr Zeit für die Nachhilfe nehmen würden.
Am Nachmittag wollte sich Max mit Oskar im Budokeller des Kampfsportclubs treffen. Einerseits war Cosmin ganz froh darüber, weil er ungestört im Architekturlehrbuch weiter schmökern konnte, andererseits befürchtete er, dass Max dort erneut eine Keilerei mit Tang riskierte.
Als sich Max von Cosmin verabschiedete, versprach er, sich nicht von Tang provozieren zu lassen, sollte der Chinese ebenfalls im Budokeller trainieren.

Cosmin vertiefte sich in das Buch, markierte mit einem Bleistift Textpassagen, die ihm besonders wichtig erschienen oder zu denen er weitere Informationen im Internet suchen wollte.
Die Klingel der Wechselsprechanlage läutete.
Cosmin warf einen Blick auf das Display seines Handys und sah, dass er bereits länger als zwei Stunden im Buch las.
Er erhob sich und trottete zur Wohnungstür.
„Ich weiß, du pausierst. Darf ich trotzdem reinkommen?“, ertönte eine Mädchenstimme aus dem Lautsprecher. Cosmin ahnte, wer draußen am Tor stand und fühlte einen leisen Stich in der Brust.
„Äh hallo, Max ist nicht hier. Er ist erst um fünf zurück“, erwiderte Cosmin und hoffte, dass Caroline wieder verschwinden würde.
„Aber wer…?“
„Ich bin Max’ Stiefbruder.“
Caroline schien kurz zu überlegen. „Ach… ich dachte. Na egal. Ich muss mit ihm reden und warte dann eben eine halbe Stunde. Du kannst mich rein lassen.“
Cosmin verdrehte die Augen und betätigte den Türöffner. Kurz darauf klopfte es an der Wohnungstür. Er öffnete und für einen Moment stockte ihm der Atem. Caroline sah aus, als wäre sie dem Cover eines Magazins für pubertierende Jungen entstiegen. Ihre blonden Haare fielen in lockeren Wellen auf ihre geöffnete Jacke. Darunter trug sie ein enges Shirt, das mehr von ihren Brüsten verriet als es verbarg. Cosmin ahnte, wessen Blick sie dort einfangen wollte.
„Du bist also der verhasste Stiefbruder“, sagte sie und hing ihre Jacke an einen der freien Garderobenhaken. Es schien Caroline nicht zu stören, dass sich auch sein Blick auf den beiden Hügeln in ihrem Shirt verfing.
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Max hat es sich anders überlegt, glaub’ ich.“
Sie steuerte im Wohnzimmer einen der Sessel an und schaute eher gelangweilt zu den auf dem Tisch ausgebreiteten Büchern. Cosmin setzte sich wieder auf die Couch. Ihm entging nicht, dass sie ihn interessanter fand als die Bücher. Er wusste nicht, worüber er mit dem Mädchen reden sollte und hätte sich am liebsten in das unbeheizte Arbeitszimmer verzogen.
„Ich muss für Montag einen Vortrag vorbereiten“, schwindelte er und deutete auf das vor ihm liegende Buch. Offenbar verstand Caroline den Wink mit dem Zaunpfahl und begann auf ihrem Handy herum zu wischen.
Cosmin versuchte, sich wieder in das Buch zu vertiefen, doch die Aneinanderreihung der Buchstaben wollte einfach keinen Sinn mehr ergeben. Er verstand plötzlich viel besser, wie sich Max in der letzten Woche gefühlt haben musste.
Nach einer Weile hielt es Caroline nicht mehr im Sessel aus. Sie stand auf, das Handy am Ohr. Cosmins Hoffnung, dass sie vom Warten genug hatte und gehen wollte, erfüllte sich jedoch nicht.
Ganz im Gegenteil!
„Ja, ich bin’s!“, fauchte Caroline ins Handy und verzog sich in den Flur. „Ich bin jetzt bei dir.“
Sie schloss hinter sich die Tür.
„Was weiß ich. Er arbeitet an einem Vortrag.“ Carolines Stimme war laut genug, dass Cosmin mithören konnte.
„Ja, das hatte ich verstanden. Aber war es das nicht, was du immer wolltest, Maxi? Meine Güte, du hat mich letzten Freitag viermal in einer Nacht bestiegen. Da finde ich es völlig normal, wenn ich dich…“
Cosmin war wie gelähmt.
Im Flur wetterte Caroline weiter, aber Cosmin hörte nicht mehr hin.
Max hatte offenbar am Freitagabend nicht nur Trost gefunden, sondern sich prächtig amüsiert.
Viermal in einer Nacht!
Vermutlich würde es heute mit den Besteigungen weiter gehen, wäre er nicht hier. Das Bild von Carolines vom Shirt nur spärlich bedecktem Busen waberte durch seinen Kopf. Damit konnte er natürlich nicht dienen!
Cosmin fuhr von der Couch auf. Er hatte vorgehabt, mit Max bis Sonntag in Berlin zu bleiben. Doch jetzt hielt er es keine Minute länger mehr hier aus. Der Gedanke daran, was sich ein paar Tage zuvor im Schlafzimmer abgespielt hatte, schnürte ihm die Kehle zu.
Ich werde euch nicht im Wege stehen!
Er stopfte die Bücher in seinen Rucksack.
Caroline betrat das Wohnzimmer und verfolgte verdutzt, wie sich Cosmin den Rucksack über die Schulter warf. „Gehst du?“
„Sorry, ja. Ich verpasse sonst meinen Zug.“ Er drängelte sich an Caroline vorbei und nur ein paar Minuten später stürmte er aus der Wohnung.

Sag nicht, dass schon wieder Schluss ist!

Max

Max hatte es nicht eilig gehabt, in seine Wohnung zurückzukehren. Zum einen hoffte er, dass Caroline die Warterei satt gehabt und sich inzwischen verzogen hatte. Zum anderen musste er sich etwas einfallen lassen, wie er Cosmin notfalls die vier „Besteigungen“ in einer Nacht erklären konnte.
Bereits beim Betreten der Wohnung sah er, dass sich seine Hoffnung nicht erfüllt hatte. Der Duft nach Carolines teurem Deospray drang in seine Nase, außerdem hing ihre Jacke an der Flurgarderobe. Dafür war Cosmins Jacke verschwunden!
Ein leiser Schreck durchfuhr seine Brust.
Wo steckt Cosmin? Ist er sauer?
Max riss die Wohnzimmertür auf.
Caroline hatte es sich im Sessel gemütlich gemacht und schaute mit ausdruckslosem Gesicht zu ihm auf. Max’ Blick huschte ohne zu verweilen über den Ausschnitt ihres Shirts weiter zum Wohnzimmertisch. Auch die Bücher und Zettel, die Cosmin schon vor Tagen dort ausgebreitet hatte, waren verschwunden.
„Caro, wo ist Cosmin?“
Caroline verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Falls du mit Cosmin deinen verhassten Stiefbruder meinst, scheint er dir ja auf einmal ziemlich wichtig zu sein.“
Max bemerkte selber, dass er seine Gefühle allzu offen zur Schau stellte und er sich bremsen musste. „Wir gehen zusammen in eine Klasse und haben uns angefreundet. Wo ist er? Wir wollten was Dringendes bequatschen.“
Caroline zuckte mit der Schulter. „So dringend war es wohl nicht für ihn. Er hatte Sorge, dass er seinen Zug verpasst und ist abgehauen.“
Scheiße! Nicht schon wieder!
Max versuchte, sich die Frustration nicht anmerken zu lassen. „Er hätte auch den nächsten Zug nehmen können“, sagte er und tat so, als wäre das Thema damit für ihn abgehakt. „Okay, ich muss kurz aufs Klo.“
Im Badezimmer zerrte er das Handy aus der Tasche und öffnete WhatsApp.
„Cosmi, komm zurück. Komm schon, ich vermisse dich!“
Als hätte Cosmin auf Max’ Nachricht gewartet, tippte er eine Antwort, die gleich darauf auf Max’ Handy aufpoppte: „Ich sitze schon im Zug! Außerdem will ich nicht im Weg sein, wenn Du sie heute Nacht wieder besteigst. Wusste gar nicht, dass Du das so oft in einer Nacht schaffst!“
Max’ Finger zitterten, als er hastig eine Antwort tippte. „Caro bleibt nicht hier. Bitte steig an der nächsten Station aus und nimm den nächsten Zug zurück. Ich hole dich vom Bahnhof ab.“
„Nein, ich kann nicht.“
Max’ Finger hatten beim Tippen inzwischen Schwierigkeiten, den richtigen Buchstaben zu erwischen. „Sag jetzt nicht, dass schon wieder Schluss ist.“
Cosmins Antwort ließ auf sich warten. Caroline rief ihm aus dem Wohnzimmer etwas zu und fragte, ob er ins Klo gefallen sei.
Max fluchte leise.
Endlich antwortete Cosmin: „Wir sehen uns Montagmorgen am Rathaus und reden darüber.“
Was soll dieser Scheiß!, rief ihm Max in Gedanken zu und schrieb: „Du wirst dich wieder mit Camelia treffen, oder? Wann hauen die ab? Am Sonntag?“
Er wartete vergeblich auf eine Antwort.
Niedergeschlagen kehrte er ins Wohnzimmer zurück, um Caroline zu sagen, dass er an diesem Abend allein bleiben wolle.

Cosmin

Cosmin fühlte sich, als würde das Herz in seinem Brustkorb mal wieder in einem Schraubstock stecken. Er saß in einem vollbesetzten Zug und teilte sich die aus zwei Bänken und einem kleinen Klapptisch bestehende Sitzgruppe mit einem Ehepaar, das zusammen wahrscheinlich fünf Zentner auf die Waage brachte und mit deren quengeliger Tochter.
Während er auf Max’ Nachricht antwortete, fragte er sich, ob er nicht überreagiert hatte. Max hatte vor einer Woche bei Caroline Trost gesucht. Aber gefunden hatte er mehr als nur Trost. Kein Mann schaffte es, viermal in einer Nacht mit einer Frau zu schlafen, wenn sie nicht seine Begierden weckte. Und Caroline verstand es offenbar sehr gut, den kleinen Max im Schoß des großen Max ordentlich auf Trab zu bringen. Weit mehr, als er selber es vermochte.
Bei mir schläft er spätestens nach dem zweiten Mal ein.
Max bat ihn, an der nächsten Station auszusteigen. Der Schock darüber, wie leicht es Caroline gefallen war, Max zu Höchstleistungen anzutreiben, saß tief.
„Nein, ich kann nicht.“
Weil ich für ein paar Tage Abstand von dir brauche! Reden wir am Montagmorgen darüber, dann tut es vielleicht nicht mehr so weh!
„Sag jetzt nicht, dass schon wieder Schluss ist.“
Max, wenn du so auf ein Mädchen wie Caroline anspringst, bin ich irgendwann ohnehin abgeschrieben.
Cosmin wollte natürlich nicht, dass Schluss ist.
„Du wirst dich wieder mit Camelia treffen, oder? Wann hauen die ab? Am Sonntag?“
Ein eisiger Schrecken durchfuhr Cosmin. An Camelia und den großmäuligen Onkel hatte er keinen Gedanken mehr verschwendet.
Er wählte die Nummer seines Vaters.
„Tata, ich bin’s. Ich wollte dich fragen, ob Onkel Radu und Camelia wieder zurück sind und noch zu uns kommen“, sprudelte es auf rumänisch aus ihm heraus, kaum dass sein Vater das Telefonat angenommen hatte.
„Horst, es tut mir Leid“, antwortete sein Vater auf deutsch. „Ich kann heute Abend nicht. Mein Cousin aus Rumänien ist gerade bei mir“, ergänzte er und beendete das Gespräch.
Cosmin sackte in seinem Sitz in sich zusammen. Er ahnte, was sein Vater ihm hatte sagen wollen. Onkel Radu war gerade bei ihm!
So ein Mist!
Wo sollte er die Nacht verbringen? Und wo die letzten beiden Ferientage? Sein Geld würde vielleicht für ein Hostelbett reichen, doch für den Check - in benötigte er die Einverständniserklärung seines Vaters.
Das quengelige Mädchen neben ihm wollte von ihrem Vater wissen, welche Sprache der Mann neben ihr spricht.
„Das war indisch, mein Kind“, klärte ihr Vater sie auf. „Er ist bestimmt hier, weil man dort nicht so viel Geld verdient.“
Cosmin verzichtete auf eine Richtigstellung. Auf dem Handy poppte eine neue Nachricht auf. Sein Vater schrieb ihm, dass er bis Sonntag in Berlin bleiben solle.
Ich kann nicht!
Jäh fiel ihm die Gartenlaube von Simons Eltern ein, in der sie Silvester gefeiert hatten.
Er zwängte sich an dem Ehepaar vorbei und fand eine Toilette im Nachbarwaggon, wo er halbwegs ungestört telefonieren konnte. Dort wählte er Moritz’ Nummer.
„Hey Cosmin!“, ertönte Moritz’ Stimme aus dem Handy. „Alles klar bei euch in Berlin?“
„Äh, Moritz. Es gibt ein Problem. Ich bin aus Berlin abgehauen und sitze im Zug nach Dessau.“
„Waaas? Sag jetzt bloß nicht, dass ihr schon wieder Schluss gemacht habt!“
„Es ist ziemlich kompliziert. Ich kann nicht zu mir nach Hause und weiß nicht, wo ich übernachten soll.“ Cosmin erzählte in knappen Sätzen, dass er Camelia und ihrem Vater aus dem Weg gehen müsse und fragte, ob er zwei Tage in der Gartenlaube von Simons Eltern bleiben könne.
„Warte mal, Simmi hat mitgehört und will selber mit dir reden“, entgegnete Moritz.
„Hi Cosmin, irgendwie werde ich nicht schlau aus euch beiden“, ertönte nun Simons Stimme. „Max war letzten Freitag total am Boden und nun ist schon wieder Schluss?“
Cosmin seufzte leise. „Eigentlich nicht so richtig. Ich brauche nur etwas Abstand. Ich erzähl’s später.“
„Okay. Cosmin, in der Laube ist es bestimmt arschkalt in der Nacht, selbst wenn wir den Ofen anschmeißen. Aber du kannst bei mir zu Hause übernachten“, schlug Simon vor. „Meine große Schwester wohnt nicht mehr bei uns, ihr Zimmer ist frei.“
„Mir wäre die Laube lieber. Ich habe Silvester gesehen, dass ihr Decken dort habt. Das wäre okay für zwei Nächte.“ Vor allem wollte Cosmin allein sein und niemanden nerven.
„Na gut. Ritzi und ich wir haben eh keinen Plan für heute Abend. Ich mache dir ein Feuer dort und werfe den Grill an.“
Cosmin war erleichtert, dass Simon nicht versuchte, ihn umzustimmen.
„Danke Simmi.“
„Kein Problem, ich reiche dich an Ritzi weiter.“
„Wann bist du in Dessau, Cosmin?“, fragte Moritz. „Ich hole dich vom Bahnhof ab.“

Wie versprochen erwartete ihn Moritz am Parkplatz vor dem Bahnhof. Moritz lehnte an einem in die Jahre gekommenen kirschroten Renault Clio.
„Ist das dein Auto?“, fragte Cosmin nach einer kurzen Umarmung.
„Gesponsert von all meinen Omas und Opas“, grinste Moritz und streichelte die Motorhaube. „Mit der Karre waren Simmi und ich im Erzgebirge. Bin schon zweimal von den Bullen kontrolliert worden, weil die dachten, ich dürfte noch keinen Lappen haben.“
Was Cosmin nicht wunderte. Im Schein der Parkplatzbeleuchtung sah Moritz aus, als hätte er gerade mal die Jugendweihe hinter sich. Der Bratenduft eines Dönerstands erinnerte Cosmin daran, dass er seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte.
„Moritz, können wir an einem Supermarkt halten? Ich möchte das Grillzeug für heute Abend kaufen.“
Moritz öffnete die Haube des Kofferraums, um Cosmins Rucksack darin zu verstauen und deutete auf eine prall gefüllte Einkaufstüte. „Nicht nötig, hab schon was besorgt. Und dein Frühstück ist auch da drin.“
Während der Fahrt zur Kleingartenanlage erzählte Moritz von den Ferientagen im Erzgebirge.
Doch Cosmin bemerkte, dass Moritz ihm hin und wieder verstohlene Blicke zuwarf. Offenbar fiel es Moritz schwer, seine Neugier zu zügeln.
„Wann kommt eigentlich Max zurück?“, fragte er, als sie den Parkplatz der Gartenanlage erreichten.
Der Schraubstock in Cosmins Brust meldete sich zurück. „Am Sonntag, glaub’ ich.“
Moritz seufzte und drückte Cosmin eine Tasche in die Hand. „Das ist mein Schlafsack. Neu, also sind noch keine Fürze drin.“
Simon hatte bereits einen Standgrill auf der Terrasse des Gartenhauses aufgebaut. Er begrüßte Cosmin mit einem Handschlag. „Du kannst es dir immer noch überlegen, ob du nicht lieber mit zu mir nach Hause kommen willst.“
Cosmin tippte auf die Tasche mit Moritz’ Schlafsack. „Danke Simon, aber ich schätze ich komme klar hier.“
Die Eingangstür zur Laube führte direkt in das mit rustikalen Holzmöbeln eingerichtete Wohnzimmer. Im kleinen Kaminofen knisterte ein Feuer, davor standen zwei mit Holzscheiten gefüllte Eimer. Cosmin glaubte nicht, dass er in der Nacht all die auf dem Sofa ausgebreiteten Decken benötigen würde, der Kamin spendete ausreichend Wärme. Moritz betrat den Raum, stellte mehrere Flaschen Radler auf den bereits gedeckten Tisch und öffnete zwei Flaschen. Eine davon reichte er Cosmin. Offenbar bemerkte er Cosmins verdutzten Blick. „Meins ist alkoholfrei. Worauf stoßen wir an?“
Cosmin fiel kein passende Antwort ein. „Auf euch beide“, erwiderte er.
Nach dem Abendessen wollten Moritz und Simon das benutzte Geschirr spülen, doch Cosmin versprach, sich um den Abwasch zu kümmern. Also saßen die Jungen eine Weile schweigend am Tisch und nippten an ihrem Radler. Cosmin hatte zwar etwas über die Ferientage in Berlin erzählt, doch den Grund für seine überstürzte Flucht noch nicht erwähnt.
Schließlich brach Simon das Schweigen.
„Ich frage mich, was Max gerade macht, Cosmin. Hat er nicht versucht, dich umzustimmen, als du abgehauen bist?“
Cosmin ahnte, dass Simon und Moritz längst ihre Vermutungen über seine Beweggründe hatten, die möglicherweise ziemlich abwegig waren.
„Max war nicht zu Hause. Ich war mit seiner… Freundin allein.“
„Seiner Freundin?“, echoten Simon und Moritz wie aus einem Munde.
„Ex- Freundin, oder auch Ex - Ex - Freundin“, korrigierte sich Cosmin und erzählte von seiner Begegnung mit Caroline. „Max steht auf Mädchen wie Caroline. Wenn wir in Berlin zusammen wohnen, werde ich irgendwann im Weg sein.“
Simon legte eine Hand auf Cosmins Unterarm. „Mit wem wäre Max heute Abend lieber zusammen gewesen, mit dir oder dieser Caroline? Cosmin, du hast letzten Freitag Max weggestoßen…“
„… und ihm gesagt, dass du mit deiner rumänischen Freundin zusammen bleiben willst“, ergänzte Moritz und ruckelte an seiner Hornbrille. „Da hätte ich an seiner Stelle auch nach jedem Strohhalm gegriffen.“
Und ich hätte Camelia vielleicht sogar geheiratet, nur um zu verhindern, dass Max sie bekommt, überlegte Cosmin. „Ich bin manchmal echt ein Idiot.“
Simon erhob sich. „Cosmin, manchmal sind wir alle Idioten. Quatscht euch aus! Wir verduften jetzt. Wenn du was brauchst, ruf einfach an.“

Kurz darauf wählte Cosmin zum ersten Mal an diesem Abend den Videochat mit Max. Zum einen quälte ihn der Gedanke, Max und Caroline könnten gerade damit beschäftigt sein, ihr wildes Treiben vom letzten Freitag fortzusetzen. Andererseits war er ohne ein Wort zu sagen abgehauen und hatte Max vor den Kopf gestoßen.
Max reagierte nicht.
Cosmin versuchte es nach einer Weile erneut. Wieder vergeblich.
Zum gefühlt einhundertsten Mal öffnete er das Foto mit Max’ Wunschliste auf seinem Handy, obwohl er jeden Satz inzwischen auswendig aufsagen konnte. Inzwischen fragte sich Cosmin, warum er nicht aus dem Zug ausgestiegen und nach Berlin zurückgekehrt war. Trotz? Eifersucht? Verletzte Eitelkeit, weil Max bei Caroline eine derartige Manneskraft gezeigt hatte?
Nach einem weiteren Versuch, Max zu erreichen nahm sich Cosmin den Abwasch vor, um auf andere Gedanken zu kommen und legte anschließend im Kamin noch ein paar Holzscheite nach.
Gegen 22 Uhr verkroch er sich in den Schlafsack. Er unternahm einen letzten Versuch, Max zu erreichen und dieses Mal erschien Max’ Gesicht auf dem Display seines Handys. Max’ verschleierter Blick klärte sich für einen Moment und war plötzlich derart finster, dass Cosmin die Worte im Halse stecken blieben.
„Was willst du, Cosmin? Mir sagen, dass du mal wieder Schluss machst?“

Sorry!

Max

Vielleicht wäre Max an diesem Abend in der Wohnung die Decke auf den Kopf gefallen. Doch kurz nachdem Caroline die Wohnungstür hinter sich zugeknallt hatte, tauchten seine Kumpel Oskar und Nicholas mit einer halbvollen Flasche Whisky auf, um mit Max auf den Beginn der Berliner Winterferien anzustoßen. Eigentlich hatten sie geplant, nach einem Glas weiter zu ziehen. Doch nach dem einen Glas legte Max einen Fünfziger für eine volle Flasche Whisky und Bier zum Nachspülen auf den Tisch. Er hoffte, darin seine Frustration über Cosmins Verschwinden ertränken zu können.
Oskar und Nicholas, beide bereits volljährig, holten daraufhin in einem nahen Lebensmittelmarkt Nachschub.
Das zweite Glas Whisky linderte zwar Max’ Verbitterung. Aber der ungewohnt hochprozentige Alkohol betäubte auch seine Sinne, während er bei Oskar und Nicholas die Zungen lockerte. Max bekam noch mit, dass Nicholas eine neue Freundin gefunden hatte und döste in seinem Sessel ein, bevor er das dritte Glas leeren konnte.

Der Klingelton seines Handys riss ihn aus dem Halbschlaf.
Oskar und Nicholas hatten die zweite Whiskyflasche geleert und sich aus dem Staub gemacht. Max stemmte sich aus dem Sessel und nahm das Handy vom Wohnzimmertisch. Das Klingeln verstummte.
Er sah, dass Cosmin bereits einige Male versucht hatte, ihn zu erreichen.
„Leck mich!“, zischte er und wankte zum Kühlschrank. Es war bereits kurz vor 22 Uhr und wegen des Überraschungsbesuches seiner Kumpel hatte er das Abendbrot ausfallen lassen.
Max schlang eine Portion Kartoffelsalat hinunter, löschte den Brand in seiner Kehle mit Mineralwasser und ließ sich anschließend wieder in den Sessel fallen.
Cosmin macht mich krank!
Nach fünf wundervollen Tagen hatte sein Gemüt eine harte Bruchlandung hingelegt. Vielleicht wäre es besser gewesen, Cosmin hätte sich gar nicht erst hier blicken lassen. In düsteren und vom Alkohol eingenebelten Gedanken versunken, fielen Max die Augen zu.
Erneut riss ihn der Klingelton seines Handys aus dem Schlummer.
Leise fluchend nahm er das Gespräch an und als sich Cosmins Gesicht auf dem Display materialisierte, lichtete sich für einen Moment der Nebel in seinem Kopf.
„Was willst du Cosmin? Mir sagen, dass du mal wieder Schluss machst?“
Cosmin schien nach Worten zu suchen.
„Ich… ich konnte mir das von deiner Ex - Freundin nicht mehr anhören, es tut mir Leid. Lass uns drüber reden, wenn du wieder hier bist.“
„Worüber?“, brauste Max auf. „Wie es ist, wenn der Mensch, den man liebt, sich davon schleicht? Wie beschissen ich mich allein in dieser Bude hier fühle?“
„Maxi, ich habe mich nicht…“
Der Nebel in Max’ Kopf verdichtete sich wieder. „Ach leck mich doch!“, rief er und drückte Cosmin weg. Er griff sich eine noch halbvolle Bierflasche und ließ den Rest des Bieres in seine ausgedörrte Kehle fließen.

Cosmin

Max’ kurzer und heftiger Wutausbruch hatte Cosmin wie ein vergifteter Pfeil mitten ins Herz getroffen. Ihm war nicht entgangen, dass ihn Max zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten wieder mit „Cosmin“ und nicht mit dem zärtlichen „Cos-Mi“ angeredet hatte. Ebenso wenig war ihm Max’ verschleierter Blick entgangen. Offenbar hatte Max versucht, seine Verbitterung in Alkohol zu ertränken.
Zugleich kränkte es Cosmin, dass Max ihn wie einen lästigen Werbeanrufer weggedrückt hatte.
Einen Moment lang überlegte Cosmin, Max eine Nachricht zu schreiben. Doch dann legte er das Handy neben sich aufs Sofa. „Leck du mich auch!“, sagte er leise und verkroch sich noch etwas tiefer in den Schlafsack.

Max

Als Max am Morgen mit einem Brummschädel erwachte, vermochte er nicht zu sagen, wie und wann er den Sessel im Wohnzimmer verlassen hatte und ins Bett gekrochen war. Allerdings erinnerte er sich an jeden Satz, den er beim Videochat mit Cosmin gewechselt hatte.
Scheiße!
Ich hätte ihn ausreden lassen sollen!
Die Morgengymnastik und eine Dusche vertrieben die Nebelreste aus seinem Kopf.
Er hockte sich an seine Küchentheke und während er einen extra starken Kaffee schlürfte, begann er eine Nachricht an Cosmin zu schreiben und sie vor dem Absenden ein halbes Dutzend Mal zu löschen, umzuformulieren und zu ergänzen.

„Cosmi, sorry wegen gestern Abend. Ich war ziemlich erledigt. Ohne dich halte ich es auch nicht länger aus hier und fahre heute Nachmittag zurück. Treffen wir uns morgen? Ich kann dir alles erklären. Ich will nicht bis Montag warten. Ich vermisse dich.“

Anschließend rief er seine Großmutter an, um ihr zu sagen, dass er bereits heute zurückkommen würde und sie ihn nicht vom Bahnhof abholen solle. Ohnehin würde der Abend auch in Dessau ewig dauern und langweilig werden.
Eine Stunde lang schaute er aller fünf Minuten auf seinem Handy nach, ob Cosmin geantwortet hatte. Doch Cosmin schwieg.
Nach einem letzten Training im Fitnesskeller des Hauses informierte Max seinen Vater, dass er bereits heute nach Dessau zurückkehren wolle.

Gegen 15 Uhr stieg Max in den Zug nach Dessau. Offenbar war Cosmin immer noch sauer, dass er ihn am Vorabend weggedrückt hatte. Max’ Nachricht war unbeantwortet geblieben.
Max fand eine leere, aus zwei Bänken bestehende Sitzgruppe. Er stellte den Handywecker so, dass er etwa zehn Minuten vor der Ankunft des Zuges geweckt werden würde.
Allerdings drängelten sich mal finstere Gedanken und mal süße Erinnerungen in seinen Kopf und bildeten einen Wirbel, der ihn vorerst wach hielt.
Inzwischen fragte sich Max, ob es nicht voreilig gewesen war, seinem Onkel Leon die Liebe zu Cosmin zu gestehen. Diese Berg- und Talbahnfahrt der Gefühle zerrte an seinen Nerven. Und das Leben wäre gewiss unkomplizierter, wenn ihm ein Absprung gelang, auch wenn die Landung hart und schmerzhaft sein würde. Die Nacht mit Caroline hatte ihm gezeigt, dass er Sex auch mit einer Frau genießen konnte. Und es war für ihn sicher kein Problem, ein hübsches Mädel zu finden.
Wie sich wenig später zeigte.

Es war nicht der Handywecker, der Max aus seinem Schlaf holte, sondern die Unterhaltung zweier Mädchen.
„… frag ihn doch einfach, wenn er aufwacht.“
„Ich habe ihn noch nie in der Kufa gesehen, er wäre mir aufgefallen. Bist du sicher, dass er aus Dessau ist?“
„Josy, er ist in meiner Schule, in der Zwölften. Da ist er immer mit so einem dunkelhäutigen Typen zusammen, der übrigens auch total süß aussieht.“
Max betrachtete, verborgen von einigen seiner blonden Haarsträhnen und den langen Wimpern, die Mädchen auf der Bank gegenüber. Josy war gertenschlank und ihr hübsches Gesicht wurde von brünettem Haar eingerahmt, das sie auf einer Seite über dem Ohr blond eingefärbt hatte. Das andere Mädchen war etwas pummelig und schien nicht älter als dreizehn oder vierzehn zu sein.
„Der dunkelhäutige Typ ist mein Stiefbruder“, sagte Max und sah, dass Josy zusammenzuckte und bis zu den Haarwurzeln errötete.
„Ich bin Max. Äh Josy, was zum Geier ist eine Kufa?“, fragte er und brachte seinen aufjaulenden Handywecker zum Schweigen.
Josys Verlegenheit wich einem Lächeln. „Hi Max. Die Kufa ist eine Disko an der Brauereibrücke und heißt eigentlich Kulturfabrik. Heute Abend spielt eine Liveband dort. Tolle Stimmung, ich glaube, es würde dir gefallen.“
„Hm… klingt interessant“, erwiderte Max und meinte es auch so. Ein Ausflug in diese Kufa würde ihm mit Sicherheit den langen Abend verkürzen. Josys Lächeln wurde noch etwas breiter. „Ich kenne die Türsteher und viele Leute dort.“ Sie kramte Zettel und Stift aus ihrer Handtasche und notierte eine Handynummer. "Ich bin ab 19 Uhr in der Kufa, Max. Ruf mich einfach an, wenn du dort bist. Manchmal gibt’s Probleme mit den Türstehern, aber ich kann dafür sorgen, dass du rein kommst."Max schob den Zettel mit Josys Handynummer in die Hosentasche. „Das klingt toll. Ich hatte eh noch nichts vor heute Abend.“

Als der Zug in den Dessauer Bahnhof einfuhr, wusste Max bereits, dass Josy die elfte Klasse des anderen Gymnasiums besuchte und sie seit zwei Wochen solo war, ebenso wo sie wohnte und welche Musik sie am liebsten hörte.
Zusammen mit den beiden Mädchen stieg er aus dem Zug und blieb wie vom Donner gerührt stehen, weil ihm plötzlich das Herz auch im Hals zu schlagen schien.

Du bleibst bei uns heute Nacht!

Max

An der Treppe zur Unterführung wartete Cosmin.
Er trug unter der Jacke ein helles Kapuzenshirt. Unter der Kapuze quollen pechschwarze Haarsträhnen hervor. Der Blick aus den glühenden Augen war starr auf Max gerichtet.
Woher weiß er, mit welchem Zug ich komme? Ich habe das niemandem erzählt!

„Was ist los?“, fragte Josy, die zusammen mit ihrer Freundin ebenfalls stehen geblieben war.
„Sorry Mädels, mein Stiefbruder ist hier, um mich abzuholen. Wir sehen uns dann in dieser Kufa.“
Er ließ beide Mädchen stehen und ging Cosmin entgegen. Cosmins Gesicht blieb ausdruckslos, es zeigte weder Freude noch Verdruss. Es war, als würde Cosmin abwarten, wie sich Max verhielt.
Einen Schritt vor Cosmin blieb Max stehen. „Cos-Mi, wieso…?“
„Das ist der zweite Zug aus Berlin, auf den ich gewartet habe. Und wärst du nicht in diesem Zug gewesen, wäre ich in zwei Stunden zum nächsten Zug gekommen“, sagte Cosmin leise und fügte noch leiser hinzu: „Ich hab dich auch vermisst, Maxi.“
In Max’ Brust schien das Herz einen Purzelbaum zu schlagen. Er riss Cosmin an sich und spürte Cosmins Hände auf seiner Schulter. „Cos-Mi, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin einfach nur happy, dich zu sehen“, flüsterte er Cosmin ins Ohr und zog den vertrauten Duft der schwarzen Zotteln in seine Nase.
Für einen Moment fühlte er Cosmins weiche Lippen an seiner Wange und Finger, die seine fast verheilte Schwellung an der Stirn streichelten. Dann lösten sie sich voneinander.
„Wer waren die beiden Mädchen?“, fragte Cosmin, während sie die Treppe zur Unterführung hinunter stiegen.
Max zuckte mit der Schulter. „Die ältere nennt sich Josy. Sie wollte, dass ich heute in eine Kufa komme, wo 'ne Band ihre Lieblingshits spielt.“ Er warf Cosmin einen Blick zu, den Cosmin lächelnd erwiderte.
„Und? Gehst du hin?“
„Cos-Mi, ich hab was Besseres vor.“

Cosmin

Cosmin hatte sich am Vormittag wie ein Dieb in den eigenen Keller geschlichen und sein Fahrrad geholt. Es parkte in den Fahrradständern des Bahnhofsvorplatzes.
„Du kommst doch mit zu mir, oder?“, fragte Max beinahe ängstlich, als Cosmin das Rad aus dem Fahrradständer hob.
„Klar, ich bin auch deshalb hier, weil ich mit dir reden wollte. Es tut mir Leid, dass ich gestern… dass ich es nicht ausgehalten habe mit ihr.“
Max blickte sich um und tätschelte kurz Cosmins rechte Hand, die den Lenker des Fahrrads hielt. „Und mir tut es Leid, dass ich dir gestern Abend nicht zuhören wollte, aber ich war…“
„Besoffen?“
„Nee, ich schaff’s nicht, mich zu besaufen, weil ich immer vorher einpenne. Ich war ziemlich runter gezogen. Und sauer. Als ich nach Hause kam, war es wie in dem Albtraum. Du bist weg, verschwunden! Aber heute, ich hab ständig geguckt, ob du mir geschrieben hast.“
„Ich wollte dich überraschen, Maxi. Und ja… mich auch ein bisschen rächen, wegen gestern Abend. Darum habe ich nicht geantwortet.“
Sie durchquerten schweigend eine Parkanlage, in der sich an den Spielgeräten und in den Sandkästen lärmende Kinder tummelten.
Cosmin bemerkte, dass Max eine Frage auf der Zunge lag.
„Was ist eigentlich mit deiner Ex - Braut? Wann hau’n die ab?“, fragte Max, nach dem sie die Spielplätze hinter sich gelassen hatten.
Cosmin hatte vermutet, dass Max solche Fragen stellen würde. „Du hattest mich danach gefragt, als ich im Zug saß und ich erfuhr von meinem Vater, dass Onkel Radu bei uns zu Hause ist.“
Nun berichtete Cosmin, wie ihm Simon und Moritz geholfen hatten, eine Bleibe bis zum morgigen Tag zu finden.
„Du pennst in einer Gartenlaube, bloß um die nicht zu sehen?“ Max tätschelte erneut Cosmins rechte Hand, die den Lenker hielt. "Cos-Mi, ich wünschte, du wärst zu mir zurückgekommen. Die beiden, Simon und Moritz, die sind echt nette Typen. Aber heute Nacht… " Er rümpfte die Nase. „Du müsstest auch mal wieder duschen. Du bleibst bei uns. Meine Oma…“
Cosmin schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Maxi, dann wird sie mitkriegen, dass wir… zusammen sind.“
Max verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Lass mich das regeln, okay?“

Max

Offenbar hatte Max’ Großmutter die Jungen von ihrem Arbeitsplatz in der von einem Erker gebildeten Nische des Wohnzimmers kommen sehen. Sie erwartete die Jungen bereits an der Haustür.
Max ließ die Umarmung seiner Oma nicht nur über sich ergehen, er erwiderte sie. Es fühlte sich für ihn so an, als würde ihn auch seine Mutter umarmen. Oma Lisa drückte auch Cosmin kurz an sich.
Wie immer, wenn Max mehrere Tage nicht bei seiner Oma gewesen war, betrat er als erstes den ans Wohnzimmer angrenzenden Raum mit den Gemälden und Sachen seiner Mutter.
Cosmin folgte ihm in den Raum, während Oma Lisa an der Türschwelle stehen blieb.
Max verharrte vor einem Gemälde, auf dem er seinen Kopf an die Schulter seiner Mutter lehnte und sie ihm von der Wand aus zulächelte. „Hi Mam, ich bin wieder zurück. Ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich finde es ätzend, dass die Ferien schon wieder vorbei sind. Ich liebe dich, Mam.“
Er wandte sich zum Gehen. Cosmin sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
„Ihr Jungs habt doch bestimmt Hunger, oder?“, fragte seine Oma und tupfte mit dem Taschentuch einen Tropfen von der Wange.
„Da gibt es ein Problem, Omi. Cosmin übernachtet zur Zeit in einer Gartenlaube. Wir wollen erst mal dort hin, um im Ofen Holz nachzulegen, weil es sonst schweinekalt ist in der Nacht.“
„Er übernachtet in einer Gartenlaube?“, fragte seine Oma entgeistert. Ehe Cosmin etwas sagen konnte, erzählte Max, dass Cosmin erst gestern im Zug erfahren hatte, dass dessen Ex - Braut und Ex - Möchtegern - Schwiegervater bis morgen in Dessau bleiben würden und er ihnen nicht über den Weg laufen wolle.
„Du bleibst heute Nacht hier, Cosmin! Ich habe ein freies Gästezimmer gleich gegenüber von Max’ Zimmer“, entschied Oma Lisa.
Cosmin schien etwas einwenden zu wollen und Max tat so, als würde er darüber nachdenken.
„Nö, dann kann Cosmi auch in meinem Zimmer schlafen. Oben auf dem Boden steht eine Campingliege rum, die baue ich bei mir auf.“
Er wandte sich an Cosmin. „Du kannst doch auf so einer Liege pennen, oder?“
„Das schon, aber meine Sachen sind bei Simon im Garten. Und ich müsste auch aufräumen dort.“
„Dann los! Holen wir dein Zeug und räumen die Bude auf!“

Erwischt!

Max

Das Holzfeuer in dem kleinen Kaminofen der Laube war zu einem Häufchen Glut verkümmert. Aber noch spendete der Ofen etwas Wärme, sodass Max und Cosmin ihre Jacken ablegen konnten. Cosmin legte mehrere Holzscheite in die Glut.
Max schaute sich stirnrunzelnd um. „Ich kapier’ nicht, was wir hier aufräumen wollen.“
Cosmin setzte sich aufs Sofa. Sein glühender Blick richtete sich unverwandt auf Max. „Das habe ich gesagt, damit wir uns etwas Zeit zum reden nehmen können.“
Max ließ sich neben Cosmin aufs Sofa fallen und legte seinen linken Arm um dessen Schulter. „Nur zum reden?“
Cosmin antwortete nicht. Sein rechter Arm umfasste Max’ Hüfte und so, als hätte es den Zoff am Vorabend nicht gegeben, fanden ihre Lippen und dann auch ihre Zungen zueinander.
Minuten später löste sich Cosmin aus Max’ Armen.
„Maxi?“
„Hm?“
„Wie war es, als du äh… deine Ex äh… bestiegen hast? Viermal in einer Nacht…“
Max’ rechte Hand streichelte die Beule, die sich aus Cosmins Jeans wölbte und Cosmins linke Hand begann Max’ Erektion zu erforschen.
„Du denkst, mit ihr war’s geiler als mit dir?“
Cosmin schwieg und sein Blick schien in Max’ Augen die Antwort darauf zu suchen.
„Es war ganz okay mit Caro. Aber… Cos-Mi, die Nacht wollte ich eigentlich mit dir 'rum machen und hatte meinen Pimmel ein paar Tage in Ruhe gelassen. Außerdem, mit dir ist es manchmal so, als würde mein Pimmel explodieren und das gleich ein paar Mal hintereinander. Wie ist es bei dir?“
Ein Grinsen huschte über Cosmins Lippen. Er griff in den Kragen von Max Shirt. „Du hast da Bissspuren am Hals, Maxi. Mit dir ist es manchmal so, als würde sich mein Verstand abschalten.“
Max zog Cosmin noch etwas dichter an sich heran. „Mir gefällts, Dracula! Denkst du, dass Simon oder seine Eltern heute noch hier her kommen?“
Cosmin kicherte leise. „Und uns beim Aufräumen erwischen?“ Seine Hand glitt unter Max’ Shirt. „Ich will lieber nicht wissen, wie oft es Simon und Moritz hier schon gemacht haben. Nee, Simon und Moritz sind bei Hannes in Zerbst und Simons Eltern bei einer Party. Wir können also ungestört hier aufräumen.“

Erst zwei Stunden später kehrten Max und Cosmin zum Haus von Max’ Großmutter zurück. Oma Lisa erwartete die Jungen mit selbstgebackenen Baguettes, die sie mit Salaten und Lachs oder Thunfisch gefüllt hatte.
Sie setzte sich zu beiden Jungen an den gedeckten Wohnzimmertisch, trank allerdings nur eine Tasse Kräutertee und schien sich darüber zu freuen, dass sich Max und Cosmin die Baguettes schmecken ließen. Max mochte vor allem die mit Lachs belegten Baguettes, doch offenbar ging es Cosmin genauso.
Also verzichtete Max auf seinen Anteil am Lachs und begnügte sich mit den Thunfisch - Baguettes. Er bemerkte, dass seine Oma amüsiert verfolgte, wie er unauffällig die Thunfisch - Baguettes auf Cosmins Seite der Platte mit den eigenen Lachs - Baguettes vertauschte.
Sie nippte am Tee und seufzte. „Maxi, ich bin vorhin nicht dazu gekommen dir zu sagen, dass ich am Dienstag zu Onkel Tobi und Tante Clara nach Hannover fahren werde und bis Donnerstag bleibe.“
Max gab sich alle Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, was ihm durch den Kopf ging. Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Cosmin das Weiterkauen vergaß.
„Ich werde mit Hazel und Cal zurück kommen. Beide können es kaum erwarten, dich zu sehen.“
„Echt?“, jubelte Max und seine Brust fühlte sich an, als würde das Herz darin einen Freudentanz hinlegen. „Warum hat mir Hazel nichts davon erzählt?“
„Sie wollte dich überraschen. Aber ich glaube, es ist besser, wenn du Bescheid weißt. Cal wird wohl drei Tage lang wie eine Klette an dir hängen.“
Max streichelte die Hand seiner Großmutter. „Mach dir keine Sorgen, Omi. Ich kümmere mich um den kleinen Ami. Und du…“ Er wandte sich zu Cosmin um, „… du passt so lange wieder auf meine Lieblingscousine auf.“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Okay, aber vorläufig mache ich lieber keine Heiratsanträge mehr.“

Cosmin

„Cos-Mi, als wir im Herbst mit Hazel und Cal im Belantis gewesen sind… Hazel ist bei dir abgeblitzt, weil du das Problem mit Camelia am Hals hattest. Wenn das nicht gewesen wäre… hätte Hazel eine Chance gehabt bei dir?“
Cosmin streckte sich auf der Campingliege aus, die Max neben der Couch aufgebaut hatte. Oma Lisa hatte sich bereits vor einer Stunde von den Jungen verabschiedet und in ihr Zimmer zurückgezogen, aber noch wagte er es nicht, zu Max ins Bett zu schlüpfen.
Ohnehin hatte sie in der Laube ihren größten Hunger aufeinander soweit stillen können, dass sie die Nacht zusammen verbringen konnten, ohne ständig an Sex zu denken.
Cosmin wusste nicht so recht, worauf Max hinaus wollte mit seiner Frage.
Bist du besorgt, ich könnte mich in Hazel vergucken und wir stolpern in die nächste Krise?
Max starrte von seiner Bettcouch zu ihm herunter, als könne er die Antwort kaum erwarten.
„Maxi, ich hätte früher nie geglaubt, dass ein Mädchen wie Hazel mich überhaupt bemerkt. Aber als wir im Belantis waren…“ Cosmin erwiderte Max’ Blick. „Ich wäre an dem Tag lieber mit dir zusammen gewesen.“
In Max’ Gesicht schien die Sonne aufzugehen.
„Cos-Mi?“
„Hm?“
Max schlug seine Bettdecke zurück, unter der zwei Personen bequem Platz fanden. „Vergiss die blöde Liege!“
Cosmin zögerte. „Und deine Oma?“
„Keine Sorge, sie schläft längst. Und morgen früh schmeiße ich dich rechtzeitig aus dem Bett!“
Cosmin schnappte sein Kopfkissen, doch bevor er zu Max ins Bett schlüpfte, schlich er zur Tür und spähte in den Korridor. Aus der Dunkelheit drang nur das gleichförmige Klacken einer altertümlichen Standuhr an seine Ohren, die eine Etage tiefer im Wohnzimmer vor sich in tickte.
Max schaltete das Licht der Leselampe aus, nachdem sich Cosmin neben ihm ausgestreckt hatte.
Er zog Cosmin in seine Arme und Cosmin bettete seinen Kopf auf Max’ Schulter. Ein schwacher Lichtschein fiel durch das Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und erlaubte es Cosmin, mit den Fingern Max’ Gesichtszüge nachzuzeichnen.
„Du bist wunderschön, Maxi.“
Max erkundete nun ebenfalls mit den Fingern Cosmins Gesicht. „Hm, guck’ mal in den Spiegel. Du bist wunderschöner. Äh… Cos-Mi?“
Cosmin lächelte über Max’ Kompliment.
„Hm?“
„Wenn meine Oma in Hannover ist… ich möchte, dass du hier bei mir pennst.“
Cosmin runzelte die Stirn. „Und was sage ich meinem Vater?“
Max hauchte Cosmin einen Kuss auf die Stirn. „Bis Dienstag fällt uns was ein.“

Oma Lisa

Wie beinahe in jeder Nacht seit dem Unfalltod ihrer Tochter Luise und erst recht, nachdem nur ein Jahr später auch ihr Mann Micha an Krebs gestorben war, erwachte Oma Lisa zu ungefähr derselben Uhrzeit wie sonst auch aus einem Traum. Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten 2:34 Uhr an und es würde mindestens eine Stunde vergehen, ehe sie wieder einschlafen konnte.
Sie versuchte, sich an das Gespräch mit Luise zu erinnern, das sie im Traum geführt hatte. Es war natürlich irgendwie um Max gegangen.
Am Freitag vor einer Woche war der Junge völlig geknickt, mit einer geschwollenen Lippe und mit hängenden Schultern nach Berlin aufgebrochen. Und mit strahlendem Gesicht aus Berlin zurückgekehrt.
Sie ahnte den Grund für Max’ wechselndes Gemüt, und das bereits seit seiner überstürzten Flucht nach Berlin kurz vor Weihnachten. Zumal es schien, als hätte der Junge plötzlich das schon in ungewöhnlich jungen Jahren erwachte Interesse an den Mädchen verloren.
Max hatte sich in seinen Stiefbruder Cosmin verliebt! Auch wenn die Beziehung der beiden Jungen Höhen und Tiefen zu durchlaufen schien, erwiderte Cosmin offensichtlich Max’ Zuneigung. Sie fragte sich jedoch, ob Cosmin - sofern sie mit ihrer Vermutung richtig lag - eine Vorstellung davon hatte, was Max für ihn empfand.
Vielleicht waren Cosmins Gefühle für Max anders als es Max sich erhoffte, rein freundschaftlich?
Wie immer, wenn sie mitten in der Nacht erwachte, meldete sich auch ihre Blase.
Seufzend stand sie aus dem Bett auf und begab sich zur Toilette.
Auf dem Rückweg verharrte sie an der Tür zu Max’ Zimmer. Obwohl sie sich etwas unwohl dabei fühlte, tat sie etwas, was sie nie zuvor getan hatte - sie lauschte an der Tür. Doch das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang, war das Ticken der Standuhr unten im Wohnzimmer. Sie schaltete das Flurlicht aus und noch ehe es ihr bewusst wurde, was sie tat, drückte sie wie ein nächtlicher Einbrecher die Klinke und spähte durch den Türspalt.
Der Anblick der beiden Jungen verschlug ihr den Atem.
Im schwachen Schein des durchs Fenster dringenden Lichtes sah sie, dass Cosmin seinen Kopf auf Max’ Schulter gebettet und einen Arm um ihn geschlungen hatte. Max’ rechte Hand lag, verdeckt von schwarzen Locken, in Cosmins Nacken, der andere Arm, verborgen von der Bettdecke, umfasste Cosmins Rücken.
Es schien, als würden sich die Jungen gegenseitig festhalten, aus Sorge, der eine könne den anderen verlieren.
Meine Güte, wie können die beiden in dieser Umarmung schlafen?
Die Liebe, die beide Jungen füreinander empfanden, übertraf alles, was sie sich vorgestellt hatte.
Lautlos schloss Oma Lisa die Tür.

Als sie wieder im Bett lag, blieb das Bild der beiden Jungen, als hätte es sich in ihren Kopf eingebrannt.
Sie war nicht gerade glücklich darüber, welche Richtung die Beziehung der beiden Jungen eingeschlagen hatte. Doch Sorgen bereitete ihr vor allem, was passieren würde, sollte diese Beziehung ans Tageslicht kommen. Sie vermutete, dass Cosmins Vater ebenso wie Max’ Onkel Leon für die Liebe der Jungen zueinander kein Verständnis haben würden.
Oma Lisa mochte Cosmin und daran hatte sich nichts geändert. Sie hoffte aus ganzem Herzen, bei den beiden würde es niemals dazu kommen, dass einer dem anderen Schmerzen zufügte.

Auch wenn ich alt und klapprig bin?

Cosmin

„Und Cosmin, hast du halbwegs schlafen können auf der Liege?“, fragte Oma Lisa, während sie den Jungen zum Frühstück frische, mit Heidelbeerkonfitüre bestrichene Pfannkuchen auf den Esstisch des Wohnzimmers stellte.
Fast schien es Cosmin, als ahnte sie, dass er die Nacht in Max’ Armen verbracht hatte. Er war allerdings im Morgengrauen auf die Campingliege zurückgekehrt. Cosmin vermied es, sie anzulügen.
„Eine Liege ist ganz okay, Tante Lisa. Aber mein Bett ist bequemer.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Wann reist euer Besuch ab?“
„Heute. Sie nehmen den Flieger, der 16 Uhr in Leipzig startet.“ Cosmin stieß einen Seufzer aus. „Ich werde bis zum Abend mit Aufräumen und sauber machen beschäftigt sein.“
Sie legte eine Hand auf Max’ Schulter. „Vielleicht hilft dir dein Bruder Max dabei?“
Max jaulte leise auf. „Omi, schon vergessen? Ich hab’ mit meiner Bude genug zu tun.“
Sie blickte von einem zum anderen und erneut hatte Cosmin das Gefühl, als ahne sie, dass ihn mit Max mehr verband als eine enge Freundschaft oder die Stiefbrüderschaft.
Wir sitzen mal wieder viel zu dicht zusammen und wir gucken uns viel zu häufig an!
„Lasst es euch schmecken, Kinder. Ich bringe euch noch Kaffee“, sagte sie und ging zurück in die Küche.
„Maxi, mein Vater fährt auch zum Flughafen“, raunte er Max zu. „Er kommt mit dem Zug zurück. Bis 17 Uhr ist mein Vater mindestens unterwegs und …“
Max verzog seine mit Heidelbeerkonfitüre beschmierten Lippen zu einem schiefen Grinsen. „… und du brauchst jemanden, der dir hilft!“
Cosmin erwiderte Max’ Grinsen. „Ich hätte nichts dagegen, wenn du das bist, Bruder Max.“

Viel länger hätte Cosmins Abwesenheit in der Wohnung der Munteanus nicht dauern dürfen, denn in den Küchenschränken befand sich kaum noch sauberes Geschirr. Der Geschirrspüler war bis zum letzten Fach gefüllt und in der Spüle türmte sich ein Berg benutzten Geschirrs auf. Cosmin sah, dass sein Vater heute immerhin den Geschirrspüler benutzt hatte, ohne aber anschließend das gereinigte Geschirr in die Schränke einzusortieren. Zudem quollen Mineralwasserflaschen aus dem Mülleimer, die zuvor mit rumänischem Hauswein befüllt gewesen waren. Wie es schien, hatte sich Onkel Radus Verärgerung über Cosmins Flucht etwas gelegt. Dessen ungebetene Geschenke an den abhanden gekommenen Schwiegersohn lagen nun in ihren Originalverpackungen auf der zerwühlten Bettcouch im Wohnzimmer. Während Cosmin die Waschmaschine mit der überall im Wohnzimmer herum liegenden Kleidung seines Vaters befüllte, sortierte Max das bereits gereinigte Geschirr in die Küchenschränke ein.
Als kurz darauf der Geschirrspüler an seiner neuen Ladung zu arbeiten begann, machten es sich beide Jungen auf der Couch in Cosmins Zimmer gemütlich. Cosmin hatte damit gerechnet, dass Max ohne lange Vorrede zur Sache kommen würde, zumal die Beule in seiner Jogginghose sich kaum noch verbergen ließ. Doch Max begnügte sich vorerst damit, Cosmin im Arm zu halten und mit den Fingern dessen schulterlange Zotteln zu zwirbeln.
„Cos-Mi?“
Cosmin erwiderte Max’ Blick und ließ den eigenen Blick in Max’ azurblaue Augen eintauchen.
„Hm?“
„Was habe ich dir in der letzten Nacht alles erzählt?“
Cosmin löste sich aus dem Bann von Max’ Augen und ließ seinen Kopf gegen Max’ Schulter sinken.
In einem deiner Träume hast du mir so etwas wie einen Heiratsantrag gemacht!
Ahnte Max etwa, worüber er im Schlaf redete?
„Los, erzähl’s mir!“, drängelte Max.
„Okay. Maxi, du hast von deiner Ex geträumt.“
„Unsinn!“
„Nee wirklich! Du hast ihr gesagt, dass du sie nicht willst, weil äh …, weil du in deinen Stiefbruder verliebt bist.“
Max hob Cosmins Kopf, bis sich ihre Blicke trafen. „Weißt du, was mich ein bisschen nervt, Cos-Mi?“
Cosmin runzelte die Stirn. „Dass du in deinen Stiefbruder verliebt bist?“
„Quatsch!“ Max wandte seinen Blick ab und ließ sich tiefer gegen die Lehne der Couch sinken. „Mich nervt, dass du nie im Schlaf redest!“
Cosmin ahnte, worauf Max hinaus wollte. Er zog Max an sich. „Ich höre dir lieber zu“, hauchte er Max ins Ohr und küsste Max’ Lippen. Max verstand offenbar, was Cosmin mit dem Kuss auch ohne Worte zu sagen versuchte und erwiderte nach kurzem Zögern den Kuss. Hitze schäumte wie überkochende Milch durch Cosmins Bauch und schoss bis zu den Ohrenspitzen, als Max’ Finger über die Beule in seiner Jogginghose strichen. Cosmin ertastete mit der rechten Hand die Versteifung in Max’ engen Jeans. Irgendwo in einem hinteren Winkel seines Kopfes tauchte die Frage auf, ob diese Begierde, dieser scheinbar unstillbare Hunger jemals schwinden würde. Doch die Hitze in seinen Lenden ließ die Frage ebenso schnell wieder untertauchen wie sie aufgetaucht war.
„Maxi, meine Couch lässt sich ausziehen“, japste Cosmin, als sie ihren Zungen eine Pause gönnten.
„Klingt wie eine gute Idee“, grinste Max und kaum hatten die Jungen die Couch ausgezogen, begannen sie sich gegenseitig die Sachen von den überhitzten und ineinander verschlungenen Leibern zu zerren.
Anders als das enge Sofa in der Gartenlaube von Simons Eltern erlaubte es die ausgezogene Couch in Cosmins Zimmer den beiden, sich gegenseitig so zu stimulieren, dass sie die Eruption der Wollust zugleich als Erlösung von einem Druck empfanden, der die Sinne zu rauben drohte.
Nach dem sie den Gipfel der Lust hinter sich gelassen hatten, breitete sich bleierne Müdigkeit in Cosmins Gliedern aus.
„Cos-Mi?“
Cosmin hob den Kopf etwas von Max’ Schulter und sah, dass Max ebenfalls die Augen zufielen.
„Hm?“
„Als wir unsere Wünsche aufgeschrieben haben… ich habe was vergessen aufzuschreiben“, murmelte Max vor sich hin, ohne die Augen zu öffnen.
„Was?“
„Es ist eigentlich ein Wunsch und ein Versprechen. Was willst du zuerst hören?“
„Das Versprechen“, entgegnete Cosmin und stützte den Kopf auf dem angewinkelten linken Arm, um Max’ Gesicht zu betrachten, während seine rechte Hand Max’ Haar kämmte.
Max schien die Streicheleinheiten zu genießen. „Ich werde nie wieder so abhauen wie damals, als wir erfuhren, dass du mein Stiefbruder bist. Ich will dir nie wieder so weh tun.“
Bei der Erinnerung an den Schock über Max’ Verschwinden schien es Cosmin, als würde für ein paar Sekunden sein Herzschlag aussetzen. Einen Moment lang verharrten seine Finger regungslos in Max’ Haaren.
„Als mir Frau Meyer sagte, dass du wieder in Berlin bist, dachte ich, ich würde dich nie wieder sehen“, sagte er leise.
Max streichelte Cosmins nackten Rücken und öffnete kurz die Augen. „Ich war echt ein Vollidiot, Cos-Mi.“
„Und dein Wunsch?“
„Geh nicht wieder so weg, wenn du mal sauer auf mich bist. Es war für mich wie in diesen beschissenen Träumen, die ich manchmal habe. Du bist verschwunden und ich kann dich nicht finden.“
Cosmin hauchte einen Kuss auf Max’ verschwitzte Stirn. „Es tut mir Leid, Maxi. Ich bin auch ein Idiot. Vielleicht hattest du Recht, dass ich manchmal nicht schlauer bin als meine Plüschkatze. Okay, dann verspreche ich dir auch etwas… ich werde nie wieder weggehen, wenn du möchtest, dass ich bleibe.“
Ein Lächeln verzauberte Max’ Gesicht. „Ich schätze, dann wirst du dein ganzes Leben bei mir bleiben müssen.“
„Selbst dann, wenn ich alt und klapprig bin?“
Cosmin hatte angenommen, dass er Max mit dieser Frage in Verlegenheit bringen würde, doch Max erwiderte ohne zu zögern: „Dann erst recht. Irgendwer muss ja deinen Rollstuhl schieben!“
„Maxi, vielleicht klapperst du zuerst und ich muss deinen Rollstuhl schieben.“
Max seufzte leise.
„Cos-Mi?“
„Hm…?“
Max öffnete die Augen und fing mit ihnen Cosmins Blick ein. „Ich will auch, dass du am Dienstag und Mittwoch bei mir bleibst, wenn meine Oma in Hannover ist.“
Cosmin schüttelte den Kopf. "Das ist was anderes. Ich… Maxi, ich möchte es mir nicht mit deiner Oma verderben. Vielleicht ist sie sauer, wenn sie das erfährt oder ahnt dann, dass wir… "
„Bleib locker! Sie hat mir gesagt, wenn du bei mir bleibst, während sie weg ist, hat sie nichts dagegen, weil… dann weiß sie wenigstens, dass ich nicht nur Fastfood mampfe.“
„Das sagst du nur so!“, schnaubte Cosmin.
Max richtete seinen Oberkörper etwas auf. „Cos-Mi, noch was! Ich werde dich nie anlügen, dir nie was vormachen oder dich nie verarschen. Auch jetzt nicht.“
„Nicht mal 'ne Notlüge?“
„Auch keine Notlüge“, erwiderte Max und in den blauen Augen las Cosmin, dass Max sein Wort nicht brechen würde. „Lieber halt’ ich das Maul, okay?“
„Okay, dann verspreche ich dir dasselbe, Maxi. Aber wenn du mir komische Fragen stellst, halte ich auch mein… äh, meinen Mund.“
„Also pennst du am Dienstag und Mittwoch bei mir?“
„Ich muss das irgendwie meinem Vater erklären. Er wird das komisch finden. Oder verdächtig.“
Cosmin wandte seinen Blick von Max ab und starrte die Plüschkatze oben auf dem Kleiderschrank an, als ob er von ihr einen Rat erwarten würde, wie er dieses Problem lösen könne. „Ruf mich am Dienstag genau um 17 Uhr 17 an.“
„Hä?“
„17 Uhr 17, klar? Ich werde es so machen, dass mein Vater mithören kann, was ich sage. Ihm habe ich nicht versprochen, dass ich ihn niemals anlügen werde!“

Versprechen oder Versprechung?

Cosmin

Schon am nächsten Tag erfuhr Cosmin, dass Max bei Oma Lisas Einverständnis nicht geflunkert hatte. Wie inzwischen beinahe an jedem Montagnachmittag ließ er sich beim Kampftraining auf Oma Lisas Dachboden als Max’ Sparringpartner unzählige Male aufs Kreuz legen. Er landete auch einige Treffer, als Max versuchte, die Attacken mit verbundenen Augen abzuwehren. Allerdings wartete zu Hause ein riesiger Berg Wäsche auf Cosmin, die nach dem Waschen und Trocknen zusammengelegt oder gar gebügelt und in die Kleiderschränke einsortiert werden musste. Und da sich Max nach dem Kampftraining noch mindestens eine Stunde an seinen Geräten und Kletterwänden austoben wollte, begleitete er Cosmin nur bis zur Treppe, die vom Dachboden hinunter zum Wohnzimmer im Erdgeschoss führte und verabschiedete sich dort von ihm.

Im Wohnzimmer saß Max’ Großmutter an ihrem Arbeitsplatz und tippte etwas von einem Zettel in den Computer ein.
Sie erhob sich, als Cosmin an ihren Arbeitstisch herantrat, um sich von ihr zu verabschieden.
„Cosmin, ich will dir kurz etwas zeigen“, sagte sie und bat ihn, ihr in die Küche zu folgen. Obwohl Cosmin bereits seit fünf Monaten in ihrem Haus ein- und ausging, hatte er die Küche bislang nur drei- oder viermal betreten. Anders als das geräumige Wohnzimmer war sie relativ klein und mit einer L - förmigen Küchenzeile im Landhausstil eingerichtet, wobei die Schränke aus echtem Holz bestanden. Der Tisch unterhalb des Fensters bot allenfalls zwei Personen Platz.
Auf der Arbeitsplatte standen mehrere mit Speisen gefüllte Frischhaltedosen.
„Max möchte, dass du hier bleibst, während ich in Hannover bin. Ich hätte natürlich nichts dagegen, im Gegenteil.“ Sie deutete auf die Arbeitsplatte. „Dann weiß ich wenigstens, dass er was Vernünftiges isst und sich nicht mit Burgern und Pizza vollstopft.“
„Tante Lisa, ich müsste erst meinen Vater fragen. Außerdem koche ich meistens für ihn und hatte noch keine Zeit, was für ihn vorzubereiten“, wand sich Cosmin. Vermutlich sah sie ihm an der Nasenspitze an, wie gerne er die zwei Nächte mit Max verbringen würde.
Max’ Großmutter strich mit den Fingern sanft über Cosmins Wange.
„Ich weiß“, sagte sie lächelnd und reichte ihm einen Plastikbeutel, in dem sie zwei der Frischhaltedosen verstaute. „Das ist für deinen Vater. Ich habe dir etwas Arbeit abgenommen.“
Cosmin wollte etwas sagen, doch Oma Lisa kam ihm zuvor. „Cosmin, du machst jeden Tag Nachhilfe mit meinem Jungen und ersetzt ihm ein paar Mal in der Woche den Sportclub.“ Ihr Blick wanderte zum Fenster und schien dort etwas zu sehen, das einige Jahre zurück lag. „Max hatte als Kind immer so ein süßes Lachen im Gesicht, zumindest, wenn er nicht auf seine Boxsäcke einprügelte. Dann, nach dem Tod seiner Mutter, war das Lachen verschwunden. Er raufte sich mit anderen Jungen und flog sogar von seiner Schule.“ Ihr Blick kehrte zu Cosmin zurück. „Und jetzt… Ich glaube, ihr beide habt zusammen euer Lachen wiedergefunden und darüber… darüber bin ich sehr glücklich.“
Tatsächlich konnte sich Cosmin nicht erinnern, dass nach dem Verschwinden seiner Mutter wenigstens für ein paar Augenblicke das Lachen oder auch nur ein Lächeln in sein Gesicht zurückgekehrt war. Erst die Freundschaft mit Max hatte die stets präsente Traurigkeit aus seinem Gesicht gewischt. Zugleich fragte er sich, was Max’ Oma unausgesprochen ließ.
Bitte tu ihm nicht weh?
Nach Camelias vermeintlichem Erstickungsanfall im Stadtpark war Max sicher total niedergeschlagen nach Hause zurückgekehrt. Ahnte sie, dass er der Grund dafür gewesen war? Und dass Max ihm die dicke Lippe zu verdanken gehabt hatte?
Sie erklärte ihm noch, welche Mahlzeiten sie zubereitet hatte, in welchen Schränken sie das Geschirr aufbewahrte und wie er Herd und Backofen bedienen müsse.
Cosmin versprach ihr, dafür zu sorgen, dass Max sich während ihrer Abwesenheit nicht nur von Junkfood ernährte. Und das auch dann, wenn es ihm sein Vater nicht erlauben würde, hier zu übernachten. Freilich hatte Cosmin nicht die Absicht, seinen Vater um Erlaubnis zu bitten.

Am Dienstag saßen Max und Cosmin länger als ursprünglich geplant in Cosmins Zimmer am Schreibtisch, um die Hausaufgaben des Tages abzuarbeiten. Der Deutschlehrer Herr Schneider, zugleich Englischlehrer der Klasse, hatte jedem Schüler die Kopie eines Zeitungsartikels über die Vor- und Nachteile eines Klappfahrrades zukommen lassen. Er verlangte als Vorbereitung auf eine Abschlussklausur bis zum Donnerstag eine Übersetzung des Textes ins Englische. Natürlich mit einem echten Wörterbuch. Schon beim Lesen des Textes gähnten beide Jungen um die Wette und noch vor dem Ende des Artikels brachen sie die Übersetzung ab, um sich den anderen Hausaufgaben zuzuwenden.

Max hatte sich mit Simon zum gemeinsamen Kampftraining verabredet und verließ kurz vor 16 Uhr die Wohnung der Munteanus. Beim Abschied erinnerte Cosmin ihn an den Anruf um 17:17 Uhr.
Kurz darauf kehrte sein Vater von der Arbeit heim.
Cosmin stellte ihm warmes Essen auf den Küchentisch und beendete anschließend die Übersetzung des Zeitungsartikels über Klappfahrräder.
Gegen 17 Uhr ging er ins Wohnzimmer zurück, um die Hemden seines Vaters zu bügeln. Sein Vater hatte es sich im Fernsehsessel mit einer Flasche Bier bequem gemacht, doch statt Laienschauspielern bei ihrem Treiben auf dem Bildschirm zuzuschauen, verfolgte er Cosmins wieselflinke Bewegungen mit dem Bügeleisen.
„Wenn du ab dem Herbst nicht mehr hier bist… Cosmine, mein Junge, ich weiß nicht, wie ich hier allein klar kommen soll.“
Cosmin schaute kurz vom Bügelbrett auf. Das stoppelbärtige, hagere Gesicht seines Vaters würde bei etwas mehr Pflege sicher immer noch die Blicke vieler Frauen auf sich ziehen. Doch die Frau, nach der sich der Vater am meisten sehnte, würde nicht zu ihm zurückkehren.
„Tata, ich werde dich bestimmt zwei- oder dreimal im Monat besuchen und gucken, ob alles in Ordnung ist.“
Die Augen seines Vaters leuchteten auf. „Versprichst du es mir?“
„Natürlich. Aber auch du musst mir etwas versprechen!“
„Ich hoffe, es ist etwas, das ich auch versprechen kann“, erwiderte er vorsichtig.
„Du kannst. Ich will nur, dass du nicht wieder planst, wen ich mal heirate und dass du meine eigene Wahl akzeptierst, auch wenn sie nicht nach deinem Geschmack ist.“
Ein Schatten dimmte das Leuchten in den Augen des Vaters.
„Schade, dass du Camelia nicht wolltest. Radu hat mir vorhin geschrieben, dass sie im März Alin heiraten wird. Sie sagt allen im Dorf, weil du gelogen hattest und gar kein Architekt werden wirst.“
Cosmin zuckte mit der Schulter. Er wünschte beiden Glück. „Tata, dein Versprechen…“
Würde er seinem abergläubischen Vater ein Versprechen entlocken können, das der später nicht zu brechen wagte?
„Also gut. Ich verspreche es.“
„Auch wenn dir meine Wahl nicht passt?“
„Ich verstehe zwar nicht, warum mir deine Wahl nicht passen soll, aber auch dann.“
Cosmin griff sich das nächste Hemd, während sich sein Vater nun doch der im Fernsehen laufenden Reality - Show zuwandte.
Kurz darauf bimmelte das Handy in Cosmins Hosentasche. Cosmin nahm Max’ Anruf entgegen und so wie er es ihm zuvor eingeschärft hatte, sagte Max kein Wort.
„Tante Lisa? Ist etwas passiert?“ Cosmin wandte sich kurz zu seinem Vater um, der ihm einen neugierigen Blick zuwarf. „Max’ Oma. Sie ist heute Morgen zu ihren Verwandten gefahren. Irgendwo an die holländische Grenze glaub’ ich.“
Er tat so, als würde ihn der Ton des Fernsehers stören und trottete in den Küchenbereich, das Handy am Ohr.
„Was quasselst du da?“, hörte er Max zischeln.
„Waas? Der Notarzt? Ist Max jetzt im Krankenhaus?“
Aus den Augenwinkeln sah Cosmin, dass er nun die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vaters hatte.
Er lauschte ins Handy. Inzwischen schien Max begriffen zu haben, was für ein Schauspiel Cosmin abzog.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Tante Lisa. Ich fahre gleich los und kümmere mich um ihn.“
„—“
„Nein, die zwei Nächte sind sicher kein Problem. In spätestens einer halben Stunde bin ich dort.“
„Cosmine, was ist passiert?“, fragte sein Vater erschrocken, kaum dass Cosmin das Scheingespräch beendet hatte.
Cosmin seufzte. Er fühlte sich nicht besonders wohl dabei, seinen Vater derart hinters Licht zu führen.
„Max hat hohes Fieber und seine Oma macht sich Sorgen. Es ging ihm schon vorhin nicht gut, als wir hier Hausaufgaben zusammen gemacht haben. Ich hätte ihn nicht allein nach Hause fahren lassen dürfen, aber er hat gesagt, dass das in einer Stunde wieder vorbei ist. Der Notarzt war schon bei ihm. Aber Max wollte nicht ins Krankenhaus.“
„Als du verletzt warst, hat er nächtelang auf dich aufgepasst und bei dir im Zimmer auf dem Boden geschlafen“, erwiderte sein Vater nachdenklich. „Wann kommt seine Oma zurück?“
„Am Donnerstag.“
„Cosmine, das sind nur zwei Nächte. Er ist ja nun auch ein bisschen wie ein Bruder für dich. Ich komme die zwei Tage allein zurecht hier. Fahr zu Max und pass auf ihn auf!“
Cosmin seufzte erneut. „Du hast Recht, Tata. Ich fahre gleich los.“

Als Cosmin Oma Lisas Haus erreichte, erwartete ihn Max bereits an der Haustür. „Cos-Mi, ich wusste gar nicht, wie gut du andere Leute verarschen kannst“, grinste er und zog Cosmin in den Korridor.
„Mein Vater will, dass ich die nächsten zwei Nächte auf dich aufpasse“, grinste Cosmin zurück.
„Das muss gefeiert werden!“ Max zückte sein Handy. „Ich bestelle uns 'ne extragroße Riesenpizza.“
Cosmin hing seine Jacke an die Flurgarderobe und schüttelte den Kopf. „Steck das Handy wieder ein, Maxi. Ich habe deiner Oma was versprochen und das halte ich auch. Zum Abendbrot gibt’s Brot, Wurstaufschnitt und Käse, dazu 'ne Tasse Kräutertee.“
Max jaulte leise auf. „Cos-Mi! Ich dachte, das mit aufpassen und so war nur ein Scherz.“
Cosmin zog Max an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Ich schätze, da hast du falsch gedacht!“

Schon wieder nachsitzen!

Cosmin

Nach dem Essen saßen sie zusammen im Wohnzimmer auf der Couch, nippten an einer Limonade und schauten zu, wie im gemauerten Kamin an der Wand gegenüber Flammen an den dicken Holzscheiten leckten. Max’ rechter Arm lag um Cosmins Schulter; Cosmin hingegen glitt mit der linken Hand unter Max’ Shirt und streichelte die nackte Haut darunter.
„Ich habe die Übersetzung beendet. Wenn du möchtest, kannst du schnell den Rest von mir abschreiben“, sagte Cosmin, auch um sich selber von der Hitzewellen abzulenken, die durch seinem Schoß fluteten.
Max wandte ihm das Gesicht zu, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. „Cos-Mi, du guckst, als ob du mich vernaschen willst. Möchtest du echt, dass ich jetzt diese bescheuerte Übersetzung mache?“
Cosmin erwiderte Max’ Blick und fühlte, dass die Hitzewellen nun auch sein Gesicht erglühen ließen. „Äh… ich glaube, morgen ist auch noch Zeit dafür.“
In Max’ Augen spiegelte sich das Flackern des Kaminfeuers, doch für Cosmin schien es, als würde das Feuer hinter diesen blauen Augen lodern. „Maxi, du guckst aber auch so komisch.“
Max schnupperte an seinem Shirt. „Und ich rieche komisch. Ich muss erst mal in die Wanne hüpfen.“
Cosmins Gedanken wanderten eine Etage höher in das Badezimmer. Die geräumige Eckbadewanne war mit mehreren Massagedüsen ausgestattet und bot locker Platz für zwei Personen. Er ahnte, dass Max nicht allein in die Wanne hüpfen wollte.
Max erhob sich. „Du musst mitkommen!“
Cosmin schluckte seine Begierde hinunter. „Und warum sollte ich das tun?“
Max zog Cosmin auf die Füße. „Du bist als mein Aufpasser hier, schon vergessen? Aber ich möchte, dass du mir was versprichst.“
„Und das wäre…?“
„Wenn du mich beißen musst, dann bitte so, dass man es morgen in Sport nicht sieht.“
Cosmin versprach es.

Cosmin hielt dieses Versprechen.
Und so überstand Max sowohl die gemeinsame Planscherei in der Badewanne als auch die beiden Nächte ohne sichtbare Bissspuren. Allerdings schien es, als würde sich der Verstand nach wie vor vernebeln, wenn Cosmin den Gipfel der Wollust erklomm. Ganz ohne Bissspuren kam Max nicht davon. Das lange, strohlblonde Haar verbarg glücklicherweise die roten Flecken am Hals und in seinem Nacken.

Gedanken über die Übersetzung eines Zeitungsartikels zu den Vor- und Nachteilen von Klappfahrrädern tauchten in den Köpfen der beiden Jungen erst wieder auf, als der Englischlehrer Herr Schneider in der letzten Unterrichtsstunde am Donnerstag die Hausaufgabe kontrollierte und dabei feststellte, dass die letzten beiden Absätze des Artikels bei Max unübersetzt geblieben waren.
„Ich werde nach dieser Stunde die Aufgaben einer Klausur vorbereiten, Herr Weller, und ich darf Sie bitten, mir hier Gesellschaft zu leisten, bis Sie die Übersetzung beendet haben“, verdonnerte Herr Schneider Max daraufhin zum Nachsitzen.
Cosmin fühlte sich, als hätte Herr Schneider ihn zum Nachsitzen im Raum behalten müssen. Statt an die Übersetzung hatte er gestern vor allem daran gedacht, Max’ Blut zum Kochen zu bringen.

Nach dem Unterricht warf er Max einen entschuldigenden Blick zu. Max hatte sich bereits das Wörterbuch geschnappt und erwiderte Cosmins Blick mit einem „Alles okay!“ - Handzeichen. Als einer der Letzten verließ Cosmin den Raum. Auf dem Weg durch die inzwischen beinahe verwaisten Schulflure ließ er sich Zeit; er würde in der Eingangshalle oder an den Fahrradständern auf Max warten.
Anders als an den Vortagen, als Schauer sogar auf Straßen und Gehwegen eine dünne Schneeschicht hinterlassen hatten, lugte die Sonne hinter einigen weißen Wolken hervor und leckte die letzten Schneereste von den Wiesen. Cosmin trat auf den Vorplatz hinaus. Er sah Moritz und Simon, die neben den Fahrradständern zusammen mit Florian und dessen Freundin Maja vor einem aufgebockten Mädchenfahrrad hockten und am Hinterrad schraubten. Kleinere Gruppen von Schülern der oberen Klassen lungerten auf dem Vorplatz des Schulhauses und auf der gegenüberliegenden Straßenseite herum. Nur wenige Schritte vom Eingang entfernt umringten Chris, Cem, Richard und Anton sowie zwei Typen der Parallelklasse ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen. Es hielt den Lenker seines Fahrrads und war offensichtlich nicht an einer Unterhaltung mit diesen Jungen interessiert.
Allerdings schien sich Chris daran nicht zu stören. „Hey, hab dich nicht so. Ich bin an der Schule für Stadtführungen zuständig und könnte dir alles zeigen, was du sehen willst.“
„Danke, aber ich habe hier jemanden, der das garantiert besser kann als du“, erwiderte das Mädchen. Im selben Moment blieb Cosmin wie angewurzelt stehen. Er hatte vorgehabt, sich zu den Jungen der Parallelklasse zu gesellen, doch jetzt fuhr er zu dem Mädchen und den Jungen aus seiner Klasse herum.
„Hazel???“
Das Mädchen warf seine zu Dreadlocks geflochtenen Haare zurück, ein Lächeln huschte über Hazels Gesicht, das trotz der blauen Augen Hazels mexikanische Wurzeln verriet.
„Cosmin!!!“
Hazel lehnte ihr Rad an die Hauswand, schob Anton, der ihr im Weg stand, beiseite und statt nach Cosmins ausgestreckter rechter Hand zu greifen, umarmte sie ihn und hauchte einen Kuss auf seine Wange.
Cosmin drückte Hazel kurz an sich und sah, dass Chris und dessen Kumpane ihn anstarrten, als wäre er soeben vom Mars herunter gepurzelt. „Du kannst nach Hause gehen, Stenzel!“, rief er Chris zu. „Ich übernehme das mit der Stadtführung.“
Chris’ Gesicht lief puterrot an Er rührte sich nicht von der Stelle.
Hazel warf einen Blick über ihre Schulter. „Verstehen die kein deutsch?“ Ihr Blick kehrte zu Cosmin zurück. „Wo ist mein Lieblingscousin? Unsere Omi wartet mit dem Mittagessen auf uns drei.“
Cosmin gönnte sich noch einen Blick auf Chris und dessen Kumpane, die sich mit verkniffenen Gesichtern zum Gehen wandten. „Maxi muss nachsitzen, weil…“
„Alles klar, Cosmin?“ Simon war unbemerkt an Cosmin und Hazel herangetreten und deutete auf Chris und dessen Kumpane. „Dachte, dass du Schwierigkeiten kriegen könntest.“
Cosmin winkte ab. Ihm entging nicht, dass Simon Hazel mit gerunzelter Stirn musterte. „Das mit den Schwierigkeiten ist vorbei, glaub’ ich. Stenzel kackt in die Hose und der andere ohrfeigt sich selber. Trotzdem danke, Simmi. Das ist übrigens Max’ Cousine Hazel.“
Die Runzeln verschwanden aus Simons Stirn. Er reichte Hazel die Hand. „Simon, oder Simmi, so nennen mich meine Freunde. Ich trainiere ein - oder zweimal in der Woche mit Max. Du bist also die Turnerin, von der Max ständig erzählt.“
„Ich hoffe, Max plaudert nicht all unsere kleinen Geheimnisse aus“, sagte sie lächelnd und erwiderte Simons Begrüßung.
Simon verzog seine Lippen zu einem Grinsen. „Du bist niedersächsische Jugend - Vizemeisterin im Geräteturnen und wärst wahrscheinlich alleine mit den sechs Idioten fertig geworden.“
„Ich hab’s geahnt. Nichts kann der Kerl für sich behalten“, schimpfte Hazel, ohne dass ihr Lächeln aus dem Gesicht schwand.
Sie holten Hazels Fahrrad und während sie zu den Fahrradständern schlenderten, erzählte Cosmin, weshalb Max nachsitzen musste.
Simon griff sich an den Kopf. „Uns hat Schneider einen Artikel über Vor- und Nachteile großer Kaffeetassen übersetzen lassen“, schnaubte er. Sie erreichten die Fahrradständer. „Leute, das ist Max’ Cousine Hazel“, klärte Simon seine Freunde auf. „Von ihr guckt sich Max wahrscheinlich seine Turnübungen ab, sie ist Geräteturnerin.“
Moritz, Florian und Maja begrüßten Hazel mit „Hallo“ - Rufen und neugierigen Blicken. Sie hockten immer noch neben dem aufgebockten Mädchenfahrrad und Florian prüfte den aufgepumpten Schlauch auf undichte Stellen.
„Hi!“, erwiderte Hazel die Begrüßung. „Vielleicht ist es ja umgekehrt. Außer Max kenne ich niemanden, der auf einer Reckstange einen Spagat hinlegt und nicht runter fällt dabei.“
Maja blickte von ihrem Fahrrad auf. „Ich habe auch ein paar Jahre Geräteturnen gemacht, aber ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie das gehen soll.“
„Wow, ich auch nicht. Hat er dir so was schon mal gezeigt?“, wandte sich Moritz an Cosmin.
Cosmin fiel es ebenfalls schwer, sich jemanden mit zum Spagat gespreizten Beinen auf einer Reckstange sitzend vorzustellen. Freilich wusste er, dass Max nicht mit irgendwelchen Kunststücken prahlte. „Nee, aber ich würde mir das gerne mal anschauen“, gab er zu. „In seinem Zimmer zieht sich Max am Türrahmen einhändig mit zwei Fingern hoch. So etwas hätte ich früher auch nicht für möglich gehalten.“