Eine Biene mitten im Februar?
Max
Auch am nächsten Schultag tauschten Max und Cosmin unter der Schulbank Zärtlichkeiten aus, wenn sie sie sich unbeobachtet fühlten. Das war allerdings seltener als am Tag zuvor der Fall. Schon als beide Jungen am Morgen den Klassenraum betraten, bemerkte Max das Getuschel und die verstohlenen Blicke, die Cosmin von Mädchen und Jungen gleichermaßen zugeworfen wurden. Offenbar hatte es sich herumgesprochen, dass Cosmin mit einer exotischen Schönheit befreundet war.
Auch die Jungen der Parallelklasse kannten in der Hofpause nur ein Thema und versuchten Cosmin Löcher in den Bauch zu fragen. Cosmin beantwortete ihre Fragen einsilbig und unterhielt sich später leise mit Moritz.
Simon knuffte Max Rippen. „Trainieren wir heute zusammen? Ich will dir die Würfe für den zweiten Dan zeigen.“
Max erwiderte den Rempler. „Super. Und ich zeige dir, wie man den Boxsäcken das Fliegen beibringt.“
Simon lachte auf. „Und dann fliegen sie mir um die Ohren. Ich begreife echt nicht, wie du das anstellst, Max.“
Max zuckte mit der Schulter. „Ich mache das schon ziemlich lange.“
Wahrscheinlich hatte ich noch Windeln um, als ich damit anfing.
Simons Lächeln verblasste. „Ist bei euch alles im Lot? Ich meine bei dir und Cosmin.“
„Simon, mir geht die ziemlich auf’n Sack!“, antwortete Max leise, um zu vermeiden, dass das morgen die gesamte Schule wusste.
„Kann ich verstehen“, entgegnete Simon ebenso leise. „Würde sich eine so an Ritzi ran schmeißen, ich weiß nicht, für mich wäre das ein Albtraum.“
Für mich ist es ein Albtraum!
Aber inzwischen war er zuversichtlich, dass der Albtraum morgen enden würde.
Nach der Deutschstunde, der letzten Stunde des Tages, fischte Cosmin sein Handy aus der Hosentasche und las eine Nachricht, die er offenbar während des Unterrichts erhalten hatte. Das hätte Max nicht weiter interessiert, doch plötzlich zog Cosmin ein Gesicht, als wären ihm all seine Mathebücher weggenommen worden.
„Cos-Mi, hey, was ist los?“
Cosmin starrte Max aus fassungslos aufgerissenen Augen an.
„Cos-Mi! Rede mit mir!“
Cosmin schüttelte den Kopf, als würde er aus einem Trance erwachen.
„Nichts passiert, Maxi!“, sagte er und schnappte sich seinen Rucksack von der Schulbank.
Sie verließen das Schulhaus und zu Max’ Erleichterung wartete auf dem Vorplatz keine exotische Schönheit. Am Rathaus verabschiedeten sich die Jungen voneinander. Onkel Radu plante für den späten Nachmittag eine Spritztour nach Berlin. Deshalb würden sich beide Jungen anders als an anderen Tagen nicht noch einmal zum gemeinsamen Training oder zur Nachhilfe sehen. Max wollte sich auf sein Rad schwingen, doch plötzlich hielt ihn Cosmin am Arm fest.
„Maxi?“
„Hier!“
„Ganz ehrlich. Würdest du dich gerne mal mit Camelia treffen?“
Max traute seinen Ohren nicht.
„Was ist denn das für eine bescheuerte Frage? Herrgott Cos-Mi, ich träume Tag und Nacht von der.“
Und zwar Albträume!, fügte er in Gedanken hinzu, verpasste Cosmin einen Klaps auf die Schulter und radelte in Richtung des Stadtparks davon.
Am Rande des Stadtparks gruppierten sich ein Dutzend Bänke um einen Springbrunnen, der aber Winterschlaf hielt. Die Sonne schien von einem blankgeputzten Himmel und einige der Leute auf den Parkbänken genossen ihre wärmenden Strahlen bereits in kurzärmligen Shirts. Max radelte an jener Stelle vorbei, wo er es im September mit elf Schlägern aufgenommen und die Freundschaft mit Cosmin ihren Anfang genommen hatte.
Auf einer Parkbank etwa hundert Meter vor ihm sah er ein schwarzhaariges Mädchen. Sie hatte den Kopf auf ihre Hände gestützt, ihr Körper bebte unter Weinkrämpfen. Jäh ging ihm auf, wer da auf der Bank saß.
Zunächst wollte er Camelia ignorieren und weiter fahren, doch an der Bank legte er eine Vollbremsung hin, ließ sein Rad in Gras fallen und setzte sich neben Camelia.
Er angelte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Übersetzungs - App.
Max räusperte sich. „Camelia?“
Camelia blickte überrascht auf, in ihren schwarzen Augen schimmerten Tränen. Anders als bisher schien sie erfreut zu sein ihn zu sehen.
Verdammt, sie sieht echt süß aus!
Er hielt ihr sein Handy hin.
„Was ist los? Hat dich jemand belästigt?“
Sie schluchzte und schnäuzte sich die Nase, dann tippte sie eine Antwort in ihr Handy. „Es ist wegen Cosmin. Ich glaube, er will mich nicht mehr.“
Max versuchte so gut es ging die Freudensprünge seines Herzens zu verbergen.
„Das tut mir Leid“, schwindelte er.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll“, schrieb sie.
Das kann ich dir sagen! Schnapp deinen Alten und verschwindet aus meinem Leben.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er stattdessen und hoffte, dass sie verneinen würde. Er verplemperte hier nur seine Zeit.
Plötzlich zerrte sie auf ihrem Kopf an den Haaren.
„Da ist Biene!“, kreischte sie und riss weiter an ihren Haaren. Max fragte sich, was mitten im Winter eine Biene in Camelias Haaren verloren hatte.
„Du gucken! Schnell!“
Max verdrehte unauffällig die Augen und warf einen Blick auf ihren Kopf. Sie betrachtete im Handy ihren Scheitel und zerrte an einem Haarbüschel. „Dort was ist?“
Max schob ein paar Haarsträhnen auseinander und schüttelte den Kopf. „Dort sind nur Haare.“
Und Läuse vielleicht?
Camelia tippte etwas in ihr Handy. „Ich will Haare waschen und muss nach Hause.“
Max sprang von der Bank auf. „Ich auch.“
Cosmin
„Cosmi, dein Freund Max ruft mich ständig an und möchte sich nachher mit mir treffen. Mal sehen, was er von mir will. Ich liebe dich.“
Cosmin hatte sich in seinem Zimmer auf der Couch ausgestreckt und las erneut Camelias Nachricht, obwohl er sie inzwischen in - und auswendig kannte.
Sie ergab einfach keinen Sinn!
Max reagierte geradezu allergisch auf Camelia und verspürte sicher keine Lust, sich mit ihr zu treffen. Und woher sollte Max Camelias Handynummer kennen? Für ihn stand inzwischen fest, dass Camelia versuchte, einen Keil zwischen ihn und Max zu treiben und Misstrauen säte.
Die Grübelei über Camelias Nachricht ermüdete ihn und er glitt in einen Traum, in dem Camelia nach der Schule auf dem Vorplatz wartete, sich dort aber Max in die Arme warf.
Das Schrillen der Klingel riss ihn aus dem Schlaf.
Er schlurfte zur Wohnungstür und öffnete sie. Camelia sprintete die Treppe des Hausflures hinauf und fiel ihm um den Hals.
Wenig später saßen sie in Cosmins Zimmer auf der Couch. Zwar hatte er einen Arm um ihre schmale Schulter gelegt, doch anders als bei Max verspürte er nicht das überwältigende Verlangen, mit den Händen jeden Zentimeter ihres Körpers zu erforschen.
„Und? Hast du dich mit Max getroffen?“, fragte er eher wie nebenbei, weil er inzwischen fest davon überzeugt war, dass sie ihm etwas vormachte.
Statt einer Antwort wischte sie über das Display ihres Handys und hielt es ihm unter die Nase.
Cosmin starrte fassungslos auf das Foto. Er zeigte Max, der Camelias Haare befummelte.
„Er hat gesagt, dass er in mich verliebt ist, aber ich will ihn nicht.“
Der Schock, Max’ zärtliche Hände in Camelias Haaren zu sehen, trieb ihm Tränen in die Augen und griff mit eisigen Fingern nach seinem Herzen. Gestern Abend hatte Max ihn hier auf diesem Sofa eine Stunde oder länger in den Armen gehalten und gestreichelt. Und nur einen Tag später versuchte er, ihm die Freundin auszuspannen?
Ein Wirbel aus Wut, Verzweiflung und Enttäuschung fegte durch seinen Kopf. Er schnappte sein Handy, um Max zur Rede zu stellen und bemerkte zu seiner Überraschung, dass Max ihm geschrieben hatte.
„Cosmi, du hast ihr echt gesagt, dass sie verduften soll? Hab sie im Stadtpark getroffen. Sie saß dort auf einer Bank und hat deswegen geflennt. In 24 Stunden sitzen wir im Zug.“
Cosmin warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Dort hatte er sich einige Bücher zurecht gelegt, die er mit nach Berlin nehmen wollte. Und daneben lag ein Schlüsselbund. Max hatte die Schlüssel für die Berliner Wohnung nachfertigen lassen und sie ihm schon am Montag in die Hand gedrückt.
Cosmins Gedanken überschlugen sich. Er hatte gestern mit Camelia einen Spaziergang unternommen und ihr im Stadtpark auch jene Stelle gezeigt, an der Max mit elf Idioten fertig geworden war. Sie wusste also, auf welchem Weg Max von der Schule nach Hause radelte. Konnte es sein, dass sie Max dort abgepasst hatte, um ihn in eine Falle zu locken?
„Zeig mir nochmal das Foto!“
Dieses Mal betrachtete Cosmin das Foto genauer. Es war verwackelt. Kein Wunder, Camelia hatte es vermutlich heimlich geschossen. Es schien fast, als würde Max in Camelias Haaren nach Läusen suchen.
Blieb die Frage, wieso Max Camelias Haare befummelte.
Die eisigen Finger des Schocks zogen sich langsam aus Cosmins Herz zurück. Sollte Max wirklich vorhaben, ihm Camelia auszuspannen, würde er in Dessau bleiben wollen und irgend einen Grund erfinden, weshalb sie die Flucht nach Berlin verschieben müssten. Doch danach sah es nicht aus. Camelia schien zu bemerken, dass sich Cosmin etwas entspannte.
„Er hat gesagt, dass er sich morgen wieder mit mir treffen will“, legte sie nach. „Cosmi, Ich dachte, er ist dein Freund…“
Cosmin schwieg und starrte hinauf zum Kleiderschrank. Die Plüschkatze erwiderte seinen Blick mit kalten Augen.
Camelias Lippen strichen über seine Wange. „Glaubst du mir nicht?“
Er schüttelte leicht den Kopf, sodass sich ihre Lippen von seinen Wangen lösten. „Max will morgen gleich nach der Schule zu seiner Freundin nach Berlin fahren“, mogelte er und sein Blick fand ihre Augen. „Ich verstehe nicht, wie er sich zugleich mit dir treffen kann.“
Sie ließ ihren Kopf an seine Brust sinken und anders als er es sich erhofft hatte konnte er so nicht sehen, ob sie sich ertappt fühlte.
„Vielleicht lügt er dich an?“, fragte sie nach einer Weile. „Er wollte, dass ich morgen dort im Park nach der Schule wieder auf ihn warte.“
Cosmin seufzte leise. „Ach ja, und was hast du gesagt?“, fragte er und kam sich etwas albern vor, dass er dieses Spiel mitspielte.
„Dass ich das nicht will.“ Sie hob ihren Kopf und er blickte in große, unschuldige Augen. „Aber ich könnte ihm sagen, dass ich doch komme. Und du kommst auch und wirst sehen, wie er versucht, mich zu küssen.“
Cosmin überlegte, wie Camelia Max dazu bringen wollte, sie zu küssen. War an der Geschichte vielleicht doch etwas dran? So ganz wollten die eisigen Finger nicht aus seinem Herzen verschwinden.
Draußen im Flur klappte die Wohnungstür und gleich darauf schaute Onkel Radu ins Zimmer. Ein breites Grinsen trat in sein Gesicht, als sein Blick auf Cosmin und Camelia fiel und es schien, als würden die Enden seines gewaltigen Schnurrbartes zu den Ohren wandern. „Florine, schau dir unsere beiden Kleinen an!“ Cosmins Vater blickte nun ebenfalls ins Zimmer und Onkel Radu hieb ihm seine Pranke auf die Schulter. „Nicht mehr lange, und du bist auch Großvater“, polterte Onkel Radu und lachte schallend.
Cosmin entging nicht, dass sich ein Schimmer der Hoffnung im Gesicht seines Vaters ausbreitete.