Wuschelkopf

Teil 23

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Zehn Minuten später kamen zwei Rettungssanitäter in den Raum geeilt und machten ein paar Tests an Mika, um sicherzugehen, dass er transportbereit war. Mir schauderte. Draußen vor dem Fenster konnte ich die Reflexion des Blaulichts des Krankenwagens in den Scheiben des gegenüberliegenden Gebäudes sehen. Sie fragten, ob Mika laufen könne. Er versuchte aufzustehen und knickte dabei ein. Die Sanitäter fingen ihn auf und stützten ihn, während sie ihn herausführten. Ich trottete hinterher, während mein Sichtfeld verschwamm. Ich bemerkte noch, wie Frau Thiesfrau mir ein ermutigendes Lächeln zuwarf, dann war ich auf einmal im Krankenwagen – Mika auf der Liege, ich auf einem Sitz – und wir fuhren eine Weile. Im Krankenhaus angekommen fand ich mich bald auf einem Stuhl einer endlosen Stuhlreihe in einem weitläufigen Flur vor, Mika hatten sie mitgenommen. Ich starrte abwesend auf den Verband und mein blutbesudeltes weißes Hemd. Inständig hoffte ich darauf, dass Mika bald wieder gesund werden würde.

Ärzte huschten in die eine Richtung vorbei, ein schick gekleidetes Pärchen in die andere. Irgendwann sah sich ein Arzt meine Hand an, reinigte die Wunde und verband sie erneut. Alles halb so wild, meinte er, ich könne gehen. Ich fragte ihn, wo mein Freund denn sei.
„Wie heißt dein Freund denn?“ antwortete der Arzt.
„Mika.“
„Mika und weiter?“ Ich stutzte. Seinen Nachnamen hatte ich noch nie bewusst wahrgenommen. Nach einer kurzen Beschreibung seiner unzähmbaren Locken schien der Arzt aber recht genau zu wissen, wen ich meinte und schickte mich zu einem Raum in einem anderen Flügel.

Während ich durch die grauen Gänge irrte, auf der Suche nach dem genannten Raum, schoss mir die Erkenntnis in den Kopf, dass ich mich für mich völlig untypisch verhalten habe. Streit schlichten – ja, aber jemand anderen schlagen? Das war neu. Ich dachte an das Gefühl zurück, als ich ihn in den Armen hielt. Auch das war neu. Gleich klammerte sich eine Angst an meinem Herzen fest, wie Mika an meinem Hemd, als mir klar wurde, dass ich ihm sehr nahegekommen war, ohne, dass ich ihn gefragt hatte. Ich wollte nicht, dass er sich deshalb komisch fühlt. Es fühlte sich einfach nur richtig für mich an und ich habe in dem Moment nicht nachgedacht. Ich hatte Angst, dass das zwischen uns stehen würde und er deswegen nicht wieder mit mir sprechen wollte…

Ich schüttelte energisch den Kopf – als würde es auch den Gedanken aus meinem Kopf herausschütteln – und fokussierte mich auf den Gang vor mir, der genauso aussah wie die vierzehn Gänge davor.

Nach einer halben Ewigkeit, die ich desorientiert durch das Krankenhaus getapst war, erreichte ich letztendlich die Tür mit der Nummer, die mir der Arzt gesagt hatte. Es war ein Privatzimmer in einem abgelegenen Teil des Krankenhauses. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und ich hörte leise Stimmen.

Ich schob leise die Tür auf. Mika saß zusammengesunken und mit abwesendem Blick auf einem Krankenbett, zu seiner Linken ein schick gekleideter Mann, der mit ernstem Blick und verschränkten Armen an der Fensterbank lehnte, zu seiner Rechten eine schlanke Frau, die auf einem Schemel saß und über das Bett gebeugt seine Hand hielt und Mika zärtlich seine vielzähligen Locken aus dem Gesicht strich. Sie redete sanft auf ihn ein. Als sie mich bemerkten, richteten sich alle Blicke auf mich und sie blieb mitten im Satz stehen. Verlegen klopfte ich an den Türrahmen. „Hallo“, stammelte ich, während die skeptischen Blicke der Erwachsenen mich löcherten.

Das Leben schien in Mika zurückzukehren und er setzte sich auf. Er begann mühsam zu lächeln, wobei seine Lippe wieder aufplatzte. „Ma, Pa, das ist Louis.“ Ich musste mit meinem blutbeschmierten Hemd einen ziemlich abgerissenen Anblick abgeliefert haben. „Mein…Retter“, fügte Mika hinzu. „Er hat sich für mich eingesetzt, als es kein anderer tat und hat Moritz… vertrieben.“

Die Blicke seiner Eltern weichten etwas auf und sein Vater stieß sich von der Fensterbank ab und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich wollte ihm die Hand geben und bemerkte in dem Moment den dicken Verband an meiner Hand. Er folgte meinem Blick, ließ seine Hand sinken und nickte stattdessen. „Hallo Louis. Schön dich kennenzulernen. Danke, dass du dich für meinen Sohn eingesetzt hast. Wir sind dir –„ Er stockte, als sein Handy klingelte. Er schaute auf seine Uhr und entschuldigte sich, während er sein Handy zückte und den Raum verließ.

Mikas Mutter lächelte sanft und beendete den Gedankengang ihres Mannes: „Das war sehr mutig von dir, dich für unseren Muks einzusetzen. Stammt deine Verletzung daher?“ Ich nickte. „Dass es dazu kommen musste, tut mir leid. Wir sind dir auf jeden Fall sehr dankbar. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie es hätte ausgehen können, wärst du nicht eingeschritten.“

Ich trat näher an das Krankenbett heran. Mika war zugedeckt und wirkte erschöpft und blasser, als er es eh schon war. Blutergüsse überzogen seinen Kiefer. „Wie geht’s dir?“ fragte ich ihn, während ich vorsichtig seine Schulter berührte. Er verzog nur das Gesicht und zuckte mit den Schultern, was ich als „nicht gut“ interpretierte. Ich schnappte mir einen Stuhl und setzte mich an die Seite des Bettes, wo Mikas Vater zuvor stand. Mikas dunkelblaue Augen waren auf meine geheftet. Ich fühlte mich fehl am Platz, so als sollte ich nicht hier sein, und wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Aber ich wollte einfach hier bei ihm sein. Mika schien zu verstehen und entspannte sich, ließ sich wieder zurück auf sein Kissen fallen und schloss die Augen.

„Louis, du solltest mal zu uns zum Essen vorbeikommen.“ schlug seine Mutter vor. Ich freute mich über die Einladung und sagte gleich zu. Wir unterhielten uns leise über die Schule und wie Mika und ich uns kennengelernt haben, während Mika leise schnarchte. Nach einer Weile steckte Mikas Vater den Kopf durch die Tür. „Wir müssen los, kommst du? War schön dich kennen gelernt zu haben, Louis!“ Er winkte kurz und war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Mikas Mutter streichelte ihrem Sohn über die Wange und stand auf. Ich stand ebenfalls auf, unschlüssig, wie ich mich verabschieden sollte. Sie kam kurzerhand auf mich zu und drückte mich, ehe sie mir auf Wiedersehen sagte und ihrem Mann durch die Tür folgte.

Ich sah zwischen der Tür und ihm hin und her und beschloss, mich noch einen Moment von den Strapazen des Tages auszuruhen, bevor ich heimfuhr, es zog mich sowieso nichts dahin. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und war kurz darauf eingenickt.

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Teil 24

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Als ich aufwachte, schien von draußen bereits das Licht einer Straßenlaterne durch das Fenster ins Zimmer und erleuchtete Mikas schlafendes Gesicht in einem gespenstischen Schein. Es war dunkel und mir wummerte der Kopf. Als ich mich aufsetzte und die verkrampften Muskeln dehnte, raschelte Mika kurz im Bett, drehte sich aus dem Lichtschein und schlief weiter, nun mit einem friedlicheren Gesichtsausdruck. Ich betrachtete ihn für einen Moment. Seine schwarzen Locken lagen zerzaust auf dem Kissen, sein schmaler Körper hatte sich unter der Decke zusammengerollt. Ich legte ihm eine Hand auf die warme Schulter und schwor mir, dass diesem unschuldigen Jungen nie wieder etwas zustoßen durfte. Die Berührung kribbelte unter meinen Fingern wie verbotene, elektrische Energie. Ich streichelte sanft seine Schulter und lächelte.

Es gab hier nichts weiter für mich zu tun, also ließ ich zögernd die Hand von seiner Schulter sinken, zog den Vorhang vor dem Fenster zu und verließ leise das Zimmer. Ich erwog kurz, ob ich Marten mit seinem gebrochenen Bein hier im Krankenhaus besuchen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell. Es war mir nicht nach seiner rohen Art zumute. Außerdem wollte ich mich in meinen blutbefleckten Klamotten nicht blicken lassen. Das würde Fragen aufwerfen, die ich aktuell noch nicht beantworten wollte. Warum hatte ich das getan? Warum für jemanden, den ich gerade erst kannte? Warum hatte ich mich für kein Mädchen so eingesetzt? Warum war ich so lange in seinem Zimmer und wollte ihn nicht aus den Augen lassen? All die Fragen kreisten in meinem Kopf, während ich das Krankenhaus verließ und unschlüssig auf der Straße stand. Es war schon empfindlich kalt. Nieselregen peitschte mir ins Gesicht. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen Oberkörper, während ich nach links, in Richtung zuhause und dann in die entgegengesetzte Richtung, zurück zur Schule schaute. Meine Jacke hing natürlich noch in der Schule, ebenso wie mein Fahrrad. Sollte ich meinen Vater anrufen? Ich stellte mir seine vorwurfsvolle Predigt vor, wo ich denn geblieben wäre, dass ich all meine Aufgaben nicht erledigt habe und wie ich mir es denn vorstellen würde, wer meine Aufgaben wegen meiner verletzten Hand erledigen würde. Ich presste die Lippen aufeinander, schluckte einen bitteren Geschmack herunter und machte mich auf den Weg in Richtung Schule. Ich würde morgen noch eher aufstehen müssen, wenn ich nicht mit dem Rad fahren könnte.

Ich kann mir vorstellen das es noch Ärger gibt mit Moritz (dem Barbaren :smiley: ). Solche Menschen lassen nicht locker. Zu sehr von Hass zerfressen. Bin mal gespannt.