Ich hoffe, ihr verzeiht es mir, wenn ich mehr auf mein inneres als auf mein äußeres Coming-out eingehe. Dazu gibt es in meinem Fall einfach mehr zu sagen. Ich nehme mir deswegen mal ein Beispiel an @Zuri und fange bei den Dinosauriern an
; das äußere Coming-out beginnt dann bei 19 Jahren.
Grundschulzeit: Ich fand manchmal andere Jungs interessant, wollte ihnen gefallen und habe mich darin verloren, ihre Mimik zu analysieren. Meistens bin ich dann irgendwann traurig geworden, weil ich… ja, was eigentlich? so sein wollte wie sie? ein Teil ihres Lebens sein wollte? So genau weiß ich das immer noch nicht. Komischerweise war mir klar, dass diese Gefühle etwas sehr Privates und eventuell Unpassendes waren, weshalb ich nie mit jemandem darüber geredet habe.
Bis 13: Ich hatte eine allgemein ziemlich sexualfeindliche Einstellung und bin davon ausgegangen, dass ich mit dem ganzen Thema nichts zu tun hätte. Eigentlich hätte mir schon damals auffallen können, dass das nicht stimmt. Dass ich meine Empfindungen erst so spät verstanden habe, liegt vermutlich auch daran, dass sie nicht dem allgemein bekannten Schema entsprachen, weil ich mich eben nicht für Mädchen, sondern für Jungs interessiert habe.
14: Damals hatte ich Geofiction als Hobby und habe mir manchmal auch vorgestellt, wie ich selbst in den von mir erfundenen Ländern leben würde. Und in dieser idealen Vorstellung hatte ich oft einen sehr engen männlichen Freund. Mir ist dann schließlich aufgefallen, dass ich mir im Prinzip ein schwules Pärchen vorstelle, und so kam mir die Idee, dass ich selbst schwul sein könnte. Eigentlich witzig, dass ich diesen Umweg über die „Außenwahrnehmung“ brauchte.
15–17: Einerseits habe ich mich im Internet intensiv über Homosexualität informiert und auch die meiste Zeit angenommen, dass ich schwul sei. Andererseits habe ich mich an die Möglichkeit geklammert, dass es eventuell doch anders sein könnte, was sowohl mit der schon erwähnten sexualfeindlichen Einstellung als auch mit internalisierter Homophobie zusammenhing. Meine Theorie war, dass ich mit mir selbst unzufrieden wäre, mich als Außenseiter fühlen würde, und deswegen eine übersteigerte Bewunderung für diejenigen Jungs entwickeln würde, die ich beneiden würde. Das „Problem“ müsste sich also von selbst erledigen, wenn ich nur mein Selbstwertproblem in den Griff bekommen würde. (Ich weiß, das klingt nach Konversionstherapie-Blödsinn. Diese Gedanken hat allerdings niemand von außen an mich herangetragen, sondern ich habe einfach nach einer schlüssigen Erklärung für meine Gefühle gesucht. Und in meinem speziellen Fall erschien mir diese Theorie damals plausibel.)
Mit 16 habe ich das erste Mal bei einer anderen Person geoutet. Es war vollkommen ungeplant und eine direkte Reaktion darauf, dass die Person sich bei mir als lesbisch geoutet hat. Mein Gegenouting hat das Gespräch dann doch um einiges aufgelockert. 
17–18: Ich habe einen Versuch unternommen, meine Sexualität zu bekämpfen und „zölibatär“ zu leben, also ohne Romantik und ohne sexuelle Aktivitäten oder Gedanken jeglicher Art. Nach ca. einem halben Jahr habe ich dann aber erkannt, dass mir diese Einstellung nicht guttut: Ich habe nicht wie erhofft durch das Ausblenden von „Ablenkung“ mehr Energie und Klarheit gewonnen, sondern es hat mich Kraft gekostet, einen Teil von mir zu unterdrücken.
18: Nachdem dieser Versuch gescheitert war, habe ich akzeptiert, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle. Ich habe aber sehr viel Wert darauf gelegt, homoromantisch asexuell und nicht homosexuell zu sein. Bis heute vermute ich, dass ich damit nicht ganz Unrecht hatte, aber ich benutze das Label „asexuell“ nicht mehr.
19–20: Mir wurde klar, dass ich mich jahrelang auf Ausflüchte zurückgezogen hatte. Ich beschloss daher, mich als schwul (und nichts anderes) zu bezeichnen, und diese Seite an mir zu akzeptieren. Dadurch entstand auch der Wunsch, mich anderen Menschen anzuvertrauen.
Die zweite Person, die erfuhr, dass ich schwul bin, war mein bester Freund. Leider stellte ich mich bei dem Gespräch nicht besonders geschickt an: Nachdem ich die Unterhaltung in die richtige Richtung navigiert hatte und es eigentlich kein Zurück mehr gab, verlor ich die Kontrolle und machte einen Rückzieher. Es war, als hätte eine Art Autopilot die Situation als gefährlich erkannt, deswegen das Denken und Reden für mich übernommen und versucht, mich in Sicherheit zu bringen. Diese Erfahrung sollte sich noch ein paarmal wiederholen, wenn ich versuchte, mich zu outen.
Doch bei meinem besten Freund ging das Rückzugsmanöver schief. Während ich nach Hause fuhr und mich ärgerte, dass ich es doch nicht geschafft hatte, war er zwar etwas verwirrt über meine seltsame Gesprächsführung, aber hatte genau verstanden, dass ich ihm sagen wollte, dass ich schwul wäre. Über ein Jahr später sprach ich das Thema noch einmal an, in dem Glauben, ich hätte das Coming-out ihm gegenüber noch vor mir. Dieses Gespräch wird mir in Erinnerung bleiben: Als er verstanden hatte, worauf ich hinauswollte, stellte er mir mehrere Kontrollfragen, die sich alle darum drehten, was verschiedene Religionsvertreter und rechtskonservative Politiker:innen von dem Thema halten würden. Irgendwann war er sich dann sicher, dass wir von demselben Thema sprachen, und fragte mich sehr ernst: „[Agri], hast du abgetrieben?“ So hat er im Prinzip den schwierigen Teil für mich übernommen.
20: Ich ließ mich von einer damaligen Mitbewohnerin zu Veranstaltungen des Queerreferates meiner Uni mitschleppen, außerdem ging ich ein einziges Mal zu einem Treffen einer spontan gegründeten queeren Gruppe. Obwohl mir beides (aus unterschiedlichen Gründen) nicht besonders gefallen hat, war es ein wichtiger Schritt für mich.
Ich outete mich außerdem bei meiner Mutter, die damit von Anfang kein Problem hatte und es sofort akzeptiert hat. Sie war höchstens ein bisschen enttäuscht, dass ich ihr nicht im gleichen Atemzug ein paar spannende Männergeschichten erzählt habe.^^ Dass dieses Coming-out unproblematisch sein würde, hatte ich zum Glück schon vorher gewusst, denn sie hatte immer schon versucht, nicht einfach davon auszugehen, dass ich heterosexuell wäre. Tatsächlich hatte ich mich gefragt, ob sie schon etwas geahnt oder sogar gewusst hatte, aber offenbar war mein Coming-out für sie schließlich doch eine neue Information.
Ich hatte außerdem in diesem Jahr das Bedürfnis, mich gegenüber meinem Uni-Freundeskreis zu outen. Dazu ist es nie gekommen, auch wenn zumindest eine Freundin sich, glaube ich, mittlerweile ihren Teil gedacht hat. Nachdem ich mich monatelang nicht überwunden hatte, änderte sich meine Einstellung und ich war eigentlich doch zufrieden mit dem, was ich erreicht hatte.
21–24: Ich habe mich noch vor ein paar weiteren Menschen geoutet, und wer mich fragt, bekommt auch eine ehrliche Antwort. Schlechte Reaktionen oder Homophobie habe ich dabei zum Glück nie erlebt. Was mich etwas ärgert, ist, dass ich bei meinem Vater nach wie vor ungeoutet bin. Er ist auf keinen Fall „politisch“ gegen Homosexualität und ich bin mir auch sicher, dass er es früher oder später akzeptieren würde; allerdings geht er fest davon aus, dass ich natürlich hetero bin, und hat auch schon explizit gesagt, dass er es sehr befremdlich fände, wenn es nicht so wäre. Ich vermeide es allgemein, mit ihm über Beziehungen, Liebe oder ähnliche Themen zu sprechen, weil dabei von seiner Seite oft Aussagen kommen, die ich als anstrengend empfinde. Alle diese Schwierigkeiten sollten prinzipiell überwindbar sein, allerdings war es mir bisher noch nicht sehr wichtig, mich vor ihm zu outen.
Hui, das ist jetzt ein ziemlicher Roman geworden. Ich hätte es nicht so schwer haben müssen, aber oft steht man sich selbst im Weg und ist sein eigener größter Feind. Jetzt bin ich trotzdem sehr froh, dass es so gekommen ist und mich dieses Thema inzwischen nicht mehr so beschäftigt und bedrückt wie vor acht oder auch noch vor vier Jahren.
LG agri