TEIL 27
Es war ein schönes Gefühl neben ihm aufzuwachen. Neben dem Jungen, der mir in den letzten Tagen so eine Gefühlsachterbahn beschert hatte.
Ein paar Sonnenstrahlen fanden den Weg in mein Zimmer und tauchten es an wenigen Stellen in goldgelbes Licht, in dem man die Staubpartikel umherfliegen sehen konnte. Es war eine stille und friedliche Atmosphäre, die ich genoss. Ich lag einfach nur in Eddys Armen und betrachtete ihn nachdenklich.
Er schlief noch tief und fest, im Gegensatz zu gestern Abend waren seine Züge vollkommen entspannt. So gefiel er mir viel besser, als mit dem sorgenverzerrten Gesicht. Was machst du nur mit mir? Diese Frage stellte ich mir immer wieder, während ich ihn bewunderte. Meine Wut auf ihn hatte keine zwei Tage gehalten und das, obwohl er mich tief verletzt hatte. Wie konnte ich nur in der kurzen Zeit so starke Gefühle für ihn entwickeln? Wie sollte es jetzt überhaupt weiter gehen? Reichte es mir schon, was er alles auf sich genommen hatte?
Ich horchte in mich hinein, eine eindeutige Antwort bekam ich nicht. Vielleicht war das aber auch die Antwort?! Mein Vertrauen war offensichtlich noch nicht gänzlich zurückgekehrt. Nein, etwas fehlte noch.
Er musste erst nachhaltig beweisen, dass ich ihm vertrauen konnte. Allerdings war der Anfang getan und ich war gewillt ihn bei seinen Problemen zu unterstützen. Wenigstens die Angelegenheit mit seinen Eltern sollten wir klären, denn es blieben nur vier Tage, bis es zurück nach Deutschland ging. Wie schön hätte die zweite Woche werden können, wenn nicht der Stress dazwischengekommen wäre? Ist ja nicht mehr zu ändern, sagte ich mir. Jetzt galt es das Beste aus dieser wenigen verbliebenen Zeit zu machen.
Meine Gedanken kreisten noch einige Zeit darum, wie wir das Problem mit Eddys Eltern lösen könnten, während ich ihm weiter beim Schlafen zusah. Es dauerte eine ganze Weile, bis Eddy wach wurde. Meine Eltern hatten den Wohnwaggon schon wieder verlassen.
„Guten Morgen“, begrüßte ich ihn, als er sich verschlafen blinzelnd umsah.
„Guten Morgen“, nuschelte er seinerseits. „Bist du schon lange wach?“, fragte er.
„Ein bisschen, ist aber nicht schlimm. Wie geht es dir?“
„Mhhh. Schwer zu sagen. Einen Kater habe ich zumindest nicht“, er schaute mich eingehend an. „Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte er, dann gab er mir einen Kuss auf die Wange. Anstatt zu antworten küsste ich ihn auf den Mund.
„Was soll ich jetzt tun?“, fragte er, die Verzweiflung war deutlich zu hören.
„Erst einmal frühstücken!“, wies ich ihn an. „Alles zu seiner Zeit. Es bringt nichts, in Panik zu verfallen. Geben wir deinen Eltern ein wenig Zeit damit umzugehen und währenddessen überlegen wir uns etwas. Uns wird schon ein Weg einfallen, wie wir ihnen klar machen, dass ein schwuler Sohn kein Weltuntergang ist“, sagte ich. Ich merkte, dass Eddy jetzt jemanden brauchte, der ihn ein wenig an die Hand nahm, darum hatte ich mich kurzerhand entschlossen, diesen Part zu übernehmen.
„Ich gehe mal nachsehen, ob meine Eltern uns Frühstück dagelassen haben“, erklärte ich ihm und ging hinaus. Tatsächlich lag eine Tüte mit Brötchen und Croissants sowie ein Zettel auf dem Tisch „Lasst es euch schmecken. Wir sind unterwegs, alles Liebe, Mama und Papa.“
„Möchtest du Tee oder Kaffee?“, rief ich.
„Kaffee, bitte.“
Erstaunlich gut gelaunt machte ich mich daran das Frühstück für uns beide vorzubereiten.
Woher die gute Laune kam, war mir selber nicht klar. Ich war wohl einfach froh, dass Eddy sich solche Mühe gab mein Vertrauen zurück zu gewinnen. Ich bezweifelte inzwischen nur ausgenutzt worden zu sein.
Einige Minuten später betrachtete ich mein Werk. Der Tisch war reich gedeckt. Ich hatte sämtliche Marmeladen rausgekramt, die meine Mutter mitgeschleppt hatte, Wurst und Käse lagen ebenso bereit wie Nutella und Honig. Dazu dampfte der Kaffee in unseren Tassen vor sich hin. Fehlte nur noch einer. Eddy.
„Ey Schlafmütze, wo bleibst du?“, rief ich, als ich die Tür aufstieß.
Doch Eddy saß nur da. Sein Gesicht war tränenüberströmt, der Blick der Welt entrückt. Er starrte auf irgendetwas, das ich nicht sehen konnte.
„Was ist los?“, fragte ich besorgt.
Als keine Reaktion kam, ging ich zu ihm und schaute, was er in den Händen hielt.
Es war das rote Buch, welches Guiseppe hier vorbeigebracht hatte. Das Buch, das Robin hier vergessen hatte. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn. Mir war völlig entfallen, dass ich es hatte. Ich befürchtete, dass Eddy der Fund völlig aus der Bahn warf.
„Hör mal, Guiseppe hat mir das Buch eines Tages gebracht, weil du nicht da warst. Ich hatte vor es dir wiederzugeben, aber irgendwie habe ich es vollkommen vergessen. Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich.
Er schniefte einmal und wischte sich dann die gröbsten Tränen aus den Augen.
„Ist schon Ok. Ich bin nicht sauer auf dich. Ich war nur nicht darauf vorbereitet.“
„Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?“, fragte ich und legte meinen Arm um ihn. Er lehnte seinen Kopf an meine Schulter und kuschelte sich an mich. Er starrte noch immer auf das Buch und streichelte die Vorderseite. Irgendwann nickte er:
„Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du es erfährst.“
„Es ist ok, wenn du nicht willst“, versicherte ich ihm.
„Nein, ich möchte es dir erzählen.“
Eddy brauchte einen Moment, bis er sich genug gesammelt hatte um anzufangen. Ich war aufgeregt endlich zu erfahren, was es mit Robin auf sich hatte. Bisher wusste ich nur, dass er sein Bruder war, aber nicht, warum er nicht über ihn reden wollte. Es bedeute mir sehr viel, dass er mir davon erzählen wollte.
Stockend schilderte er, was passiert war:
„Robin war mein Bruder, er war knapp fünf Jahre jünger als ich. Wir haben uns immer sehr gut verstanden und nur selten gestritten. Die meisten konnten nicht nachvollziehen, wie wir so gut miteinander auskamen, aber wir kannten es gar nicht anders. Du musst wissen, ich habe den Kleinen über alles geliebt …“ Einen Moment rang er mit den Tränen, fand seine Stimmer aber wieder: „Letzten Winter sind unsere Eltern über das Wochenende verreist. Ich hatte die Aufgabe auf Robin aufzupassen. Eigentlich nichts Besonderes, da ich das immer schon von alleine tat. Jedenfalls gab es bei uns hinter dem Haus so einen Berg, an dem man im Schnee gut Rodeln konnte. Das Wochenende, an dem meine Eltern weg waren, hatte es unheimlich viel geschneit. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran…“
Er erzählte mir, von dem Versprechen mit Robin rodeln zu gehen, die Hausaufgaben ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. Da er seinem Bruder aber nicht den kompletten Spaß verderben wollte, erlaubte er ihm schließlich für ein paar Stunden mit seinem besten Freund rauszugehen. Später teilte ihm seine beste Freundin mit, dass sie die Hausaufgaben nicht brauchten, also folgte er seinem Bruder. Ab da begann seine Erzählung zu stocken. Je weiter er kam, desto öfter benötigte er Pausen, in denen er bemüht war, seine Emotionen zu kontrollieren.
„Ist schon ok“, versuchte ich ihn zu trösten. Gerade hatte er berichtet, wie er oben auf dem Viperberg angekommen war.
„Nimm dir Zeit“, sagte ich ihm, als er nicht in der Lage war fortzufahren.
Ich nahm ihn einen Moment in den Arm und küsste ihn, während ich beruhigend auf ihn einredete. Ich befürchtete, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen würde und verstand jetzt, warum ihm das Thema nur so schwer über die Lippen ging. Es tat weh ihn so zu sehen, er war noch trauriger als gestern in der Bar.
Am liebsten hätte ich ihm die Tortur des Weitererzählens erspart, aber ich war überzeugt davon, dass es ihm half darüber zu sprechen. Sonst würde er den Schmerz nur weiter in sich hineinfressen. Schließlich fing er sich wieder.
„Ich nahm also meinen Reifen und rutschte den Berg hinunter. Ich versuchte Robin zu finden, aber zuerst gelang es mir nicht. Erst als ich den Fuß des Hügels erreichte, sah ich seine hellblaue Jacke. Er war gerade drauf und dran den Fluss zu betreten, der nah am Berg entlanglief. Trotz der Eiseskälte war es viel zu gefährlich die Eisfläche zu betreten. Jahr für Jahr gab die Polizei Warnungen aus, dass das Eis nicht dick genug werde“, er schluckte, dann sprach er weiter. „Jedenfalls sah ich ihn dort und wollte rufen, allerdings überschlug ich mich im selben Moment. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich durch den Schnee geschleudert wurde, alle meine Gedanken nur auf Robin gerichtet. Als ich endlich still lag, rappelte ich mich sofort hoch und rief nach ihm. Vergeblich …“
Wieder rang er mit den Tränen. In seinen Augen las ich endlosen Qualen, er schien das Gesagte erneut zu durchleben.
"Er hörte mich nicht, also rannte ich los. Ich hatte Panik, dass er einbrechen würde. Die Strömung des Flusses war stark, wer dort einbrach, hatte kaum eine Chance zu überleben. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich das Ufer endlich erreichte. Einige Eltern, die ebenfalls dort gewesen waren, folgten mir. Auch sie wussten um die Gefahr. Als wir das Ufer erreichten, stand Robin mitten auf dem Fluss. Er wollte zu seinem Reifen, der, aus welchen Gründen auch immer, auf der Hälfte lag. Ich weiß noch, wie ich rief: „Robin! Komm da sofort runter!“
Er drehte sich zu mir um und in dem Moment begann das Eis ohrenbetäubend zu knacken. Ich werde dieses Geräusch nie vergessen. Überall konnte man hören, wie die Eisfläche begann nachzugeben. Ich sehe immer noch Robins entsetzten Ausdruck, als er sich zu mir umwandte. Wir wussten alle, was geschehen würde. Von irgendwo rief jemand: „Hinlegen! Vorsichtig hinlegen, Gewicht verteilen.“
Doch es war zu spät. Das Eis gab nach und plötzlich verschwand Robin in den Fluten.", weiter kam er nicht. Mit einem Schmerzensschrei, als wäre er dort, brach Eddy in meinen Armen zusammen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sogar selbst weinte, dennoch gab ich mir alle Mühe ihn irgendwie trösten. So fest ich konnte, umklammerte ich ihn, so als ob ich ihn in dem Moment aufgefangen hätte. Schweigend saßen wir dort, eng umschlungen, während Eddy vor sich hin schluchzte. Auch ich weinte. Zu erfahren, was mit seinem kleinen Bruder geschehen war, brach mir das Herz. Ich konnte und wollte mir nicht einmal vorstellen, wie es mir in der Situation ergangen wäre. Aber ich wusste, dass ich in diesem Augenblick nicht mehr tun konnte, als für Eddy da zu sein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also schwieg ich.
Es machte keinen Sinn. Nichts was ich hätte sagen können, hätte es besser gemacht. Nichts konnte ihm in diesem Moment mehr helfen, als einfach seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
„Ich wollte hin und ihm helfen“, schluchzte er, „Ich wollte ihm hinterherspringen und ihn rausholen, aber jemand hat mich festgehalten. Ich habe um mich geschlagen und getreten, ich wollte zu ihm, aber sie haben mich nicht gelassen“, brachte er gepresst hervor, dann weinte er wieder.
„Es war meine Schuld! Ich hätte ihn niemals alleine gehen lassen dürfen. Es war meine Schuld, meine Schuld“, wiederholte er.
„Nein, war es nicht“, sprach ich beruhigend auf ihn ein. „Du konntest nichts dafür. Es ist weder deine Schuld, dass er auf das Eis gelaufen ist, noch, dass er eingebrochen ist. Es war ein Unfall. Niemand konnte etwas dafür!“, erklärte ich und versuchte ihn zu trösten. Er lag nur in meinen Armen und weinte.
Ihm war anzusehen, welche Schmerzen er die letzten Wochen und Monate gelitten haben musste. Er war am Boden zerstört und kraftlos. Sein Gesicht wirkte auf einmal eingefallen. Es musste unendliche Qualen für ihn bedeutet haben, damit zu leben. Ich war mir sicher, dass er diesen Schmerz tief in sich hineingefressen hatte und er jetzt das erste Mal wieder hervorkam.
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und versuchte mich zu sammeln.
„Du musst dir selbst verzeihen, was damals passiert ist“, sagte ich ihm. „Niemanden trifft die Schuld daran, auch nicht dich. Du hast immer für deinen Bruder getan was du konntest. Wenn du ihm hinterhergesprungen wärst, wärest du jetzt wohl nicht hier. Denkst du er hätte das gewollt?“, fragte ich ihn.
„Verzeih dir selbst, ich bin mir sicher, Robin hat dir schon längst verziehen. Niemand kann ändern, was damals passiert ist. Lass nicht zu, dass der Schmerz dich auch noch zerstört.“
Eddy beruhigte sich langsam. Mit leiser Stimme sagte er:
„Ich kann nicht. Weder kann, noch will ich mir das verzeihen.“
„Du musst“, hielt ich dagegen. „Robin würde es so wollen. Er würde nicht wollen, dass du dein Leben damit zubringst um ihn zu trauern. Er wünscht sich, dass du lebst, und dass du trotzdem glücklich wirst. Sei nicht so hart zu dir, du bist auch nur ein Mensch.“
Eddy antwortete nicht. Er lag einfach nur still da und starrte ins Leere. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass es ihm besser ging. Ich glaubte, dass er das erste Mal objektiver über die Geschehnisse nachdachte, ohne sich die Schuld zu geben.
„Danke“, flüsterte er.
„Es kommt alles in Ordnung. Zusammen kriegen wir das hin“, versprach ich ihm.
Er zog plötzlich sein Handy hervor. Ich konnte nicht sehen, was er tat, bis er es mir irgendwann unter die Nase hielt. Nicht sicher was er von mir wollte, begann ich zu lesen:
„Die Nacht mit dir am Montag war sehr schön, ich wünschte, du wärst nicht so plötzlich abgehauen, wie dein Kumpel. Ich hätte gerne noch mehr Zeit mit dir verbracht. Melde dich doch mal, Maike“
Es dauerte einen Moment, bis ich die Worte und ihre Bedeutung begriff. Ich Idiot. Ich verfluchter Idiot.
Ich kam mir plötzlich so dumm vor. Ich wollte vor Schande am liebsten im Boden versinken.
Wie konnte man denn nur so doof sein?
„Warum?“, fragte ich ihn einfach nur. Ich war absolut fassungslos. Erst jetzt begriff ich, was für ein blödsinniges Arschloch ich in den letzten Tagen gewesen sein musste. Meine Anschuldigungen, meine Wut, mein Verhalten ihm gegenüber waren vollkommen ungerechtfertigt gewesen. Er hatte die ganze Zeit die Wahrheit gesagt.
„Ich wollte, dass du mir vertraust, unabhängig vom Rest der sms“, erklärte er. „Ich habe gemerkt, dass du nur den Anfang der sms gelesen hast und habe nicht lange gebraucht um deinen Schluss nachzuvollziehen. Ich hätte wohl das Gleiche gedacht.“
Ich schüttelte nur den Kopf, „Es tut mir so leid. Wieso hast du nichts gesagt? Du hättest mir doch einfach nur die sms zeigen müssen. Warum das alles?“, fragte ich ihn. Ich konnte immer noch nicht fassen, wie bescheuert ich mich aufgeführt hatte.
„Wie gesagt, du hast keine Ahnung, was du mir bedeutest. Bei dir habe ich mich das erste Mal seit Robins Tod wieder wohlgefühlt. In deinen Armen gelang es mir, seinen Tod zu vergessen und mir nicht die ganze Zeit Vorwürfe zu machen. Ich wusste, dass ich dich nur dazu bringen könnte mir richtig zu vertrauen, wenn ich dir zeige, wie wichtig du mir bist. Darum habe ich das alles gemacht.“
Ich war absolut sprachlos. Wie soll ich das je wieder gut machen?
„Ich war so ein Idiot“, brachte ich hervor.
„Nein, du warst menschlich. Ich hätte genauso reagiert, wirklich“, beruhigte er mich. Ich umarmte ihn und gemeinsam sanken wir zurück aufs Bett. Wir blieben einige Zeit so liegen, froh, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung war.
Beim Frühstück wirkte Eddy schon um einiges erholter. Ich gab mir Mühe mir keine Vorwürfe wegen meines Verhaltens zu machen, schließlich hatte ich ihm dasselbe geraten. Ich war zuversichtlich, dass Eddy den Tod seines Bruders jetzt verarbeiten konnte. Er hatte mir noch erzählt, dass er vorher mit niemandem so darüber gesprochen hatte. Es würde seine Zeit brauchen, bis er sich selbst verzieh, doch ich war fest entschlossen ihn auf seinem Weg zu begleiten.
Zuvor gab es allerdings ein dringenderes Problem.
„Also, wie sollen wir das angehen?“, fragte ich ihn.
Er biss in sein Croissant und zuckte mit den Schultern.
„Ich habe keine Ahnung. Ich denke, es war schlicht zu früh dafür. Ich weiß, dass sie noch genauso mit seinem Tod zu kämpfen haben wie ich. Vielleicht hat dieses Geständnis ihr Bild von mir verändert. Wahrscheinlich kommen sie damit einfach noch nicht klar“, sagte er.
„Das ist ja schon mal ein Ansatz. Dann müssen wir ihnen nur zeigen, dass du immer noch derselbe bist“, antwortete ich, neue Hoffnung schöpfend.
„Wie sollen wir das anstellen? Ich bezweifle, dass es reicht hinzugehen, zu sagen ‚hey ich bin immer noch ich‘ und alles ist wieder gut.“
„Wohl kaum. Erst einmal sollten wir gar nichts sagen. Wenn sie heute nicht von alleine hier hinkommen und mit dir sprechen wollen, dann lassen wir sie. Geben wir ihnen ein bisschen Zeit die Information zu verarbeiten und uns die Möglichkeit einen Weg zu finden das wieder hinzubiegen.“
„Ok“, stimmte er mir zu.
Nach dem Frühstück beschlossen wir zur Bucht zu fahren und dort den Tag zu verbringen. Meine Eltern waren noch weg und das Auto da, also hinterließ ich ihnen einen Zettel. Glücklicherweise fehlte von Eddys Eltern jede Spur, ihr Van stand hingegen an Ort und Stelle. So konnten wir uns unbehelligt die Surfbretter nehmen.
Für den Rest des Tages ließen wir die Sorgen und Probleme hinter uns. Erleichtert, dass zwischen uns alles in Ordnung war, tobten wir durch das Wasser. Das Surfen klappte auch immer besser und so schafften wir es wirklich nicht an den zurückliegenden Stress zu denken, sondern einfach zu entspannen. Vor allem Eddy tat das gut.
Als wir am Abend zusammen im Sand lagen und uns in der Sonne bräunten, wirkte er deutlich erholter.
Erst als wir im Auto auf dem Weg zurück saßen, sprachen wir wieder über das Problem mit seinen Eltern:
„Ist dir etwas eingefallen?“, fragte er.
„Möglicherweise. Wir sollten gleich mal mit meinen Eltern sprechen. Vielleicht weiß mein Vater einen Rat, ihm scheint diese ‚schwuler Sohn‘ Geschichte bisher am wenigsten von allen auszumachen“, antwortete ich. Ich hoffte darauf, dass er uns helfen konnte. Ich wusste nämlich nicht, wie wir es sonst angehen sollten. Klar könnten wir einfach selber mit seinen Eltern reden, aber ob sie in der jetzigen Situation wirklich zuhören würden?
Wir hatten Glück. Als wir wieder am Wohnwagen ankamen, machte mein Vater sich gerade an unserem Grill zu schaffen. Er schaute uns überrascht an, wusste er doch, wie ich gestern noch über Eddy geredet hatte.
„Hi Dad“, begrüßte ich ihn.
„Hallo. Na, ist zwischen euch wieder alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja, wir haben das geregelt.“
„Freut mich. Esst ihr mit uns?“
„Gerne. Wir haben auch etwas mit euch zu besprechen“, warnte ich ihn vor.
„Also, worüber wollt ihr mit uns reden?“, fragte mein Vater, nachdem er das letzte Stück Bratwurst mit einem ordentlichen Schluck Bier heruntergespült hatte. Meine Mutter war den ganzen Abend recht still gewesen, sie schien noch immer mit sich selbst und meiner Offenbarung beschäftigt zu sein. Eddy schaute mich verlegen an, darum übernahm ich das Sprechen:
„Es gibt ein Problem mit seinen Eltern. Eddy hat ihnen gesagt, dass er schwul ist, da haben sie ihn rausgeworfen“, fasste ich das Wichtigste knapp zusammen.
„Uff“, schnaubte mein Vater, meine Mutter schwieg. „Das ist absolut nicht schön. Aber ich möchte sie ein wenig in Schutz nehmen, das ist eine ziemlich große Neuigkeit.“
„Warum?“, fragte ich ihn. „Ich verstehe nicht, wieso das für euch so schwer ist.“
„Ben, sieh es doch mal so“, es war meine Mutter, die jetzt das erste Mal das Wort ergriff. „Ihr wusstet schon einige Zeit, was mit euch los ist und ihr habt es sicher auch nicht von heute auf morgen so akzeptiert.“
„Nun, bei mir war es aber praktisch so“, hielt ich dagegen. Klar, hatte ich schon länger geahnt, dass an mir irgendetwas anders war, rausgefunden was denn wirklich los war, hatte ich ja auch erst vor wenigen Tagen. „Zumindest so in etwa“, fügte ich an.
„Selbst wenn du es erst vor kurzer Zeit gemerkt hast. Wie lange weißt du es schon Eddy?“, wandte sie sich ihm zu.
„Eine ganze Weile“, gab er zu.
„Seht ihr? Ihr hattet beide Zeit euch an den Gedanken zu gewöhnen und zu begreifen, was das für euch bedeutet. Dann geht ihr zu euren Eltern, die euch kennen, seit ihr auf der Welt seid, und erwartet von ihnen, dass sie diese Info mit einem Jubelschrei aufnehmen?“, sie schüttelte den Kopf. „So einfach ist das für uns auch nicht.“
Ich musste meiner Mutter recht geben. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht.
„Stimmt wohl“, sagte Eddy. „Ich weiß noch, welche Sorgen und Ängste ich hatte, als ich es mir selbst das erste Mal eingestanden hatte. Mir ist nicht in den Sinn gekommen, dass meine Eltern die gleichen Gedanken haben könnten. Trotzdem verstehe ich nicht, wie sie mich rauswerfen konnten.“
„Ich glaube, sie sind einfach überfordert“, meinte mein Vater. „Sie haben uns erzählt, was mit deinem Bruder passiert ist“, erklärte er weiter. Besorgt sah ich zu Eddy, aber er biss sich nur auf die Lippe und sagte nichts. Ich konnte ihm dennoch ansehen, wie er mit sich rang, um die Kontrolle zu behalten.
„Sie haben uns auch erzählt, wie froh sie sind dich zu haben. Aber dann nach so kurzer Zeit zu erfahren, dass ihr erster Sohn nicht der ist, den sie all die Jahre geglaubt gekannt zu haben? Das wäre für die meisten wohl zu viel. Deine Eltern lieben dich Eddy, da bin ich mir sicher. Du hättest mit dieser Info einfach noch eine Zeit warten sollen.“
„Ich weiß“, betreten nickte Eddy. Ich fühlte mich schuldig. Wäre ich nicht da gewesen und hätte ihn mit meiner dummen Eifersucht dazu getrieben es seinen Eltern zu sagen, dann gäbe es dieses Problem nicht.
„Aber ich habe es ihnen nun mal gesagt, was soll ich denn jetzt machen?“, fuhr Eddy fort. „Ich kann schlecht hierbleiben“, er wirkte vollkommen hilflos. Die zurückliegenden Tage hatten ihre Spuren hinterlassen.
„Keine Sorge, ich glaube nicht, dass sie dich hier lassen“, lachte mein Vater.
Mir kam eine Idee.
„Könnt ihr nicht mit ihnen reden?“, fragte ich. Ich sah die Ablehnung in den Augen meiner Mutter, aber sie sagte nichts. Mein Vater dachte nach.
„Ich meine, ihr habt es doch selber gerade erlebt, beziehungsweise erlebt es gerade, da ist es doch perfekt, wenn ihr mit ihnen sprecht“, erklärte ich hoffnungsvoll.
„Ich weiß nicht. Klar können wir am ehesten nachvollziehen, was ihnen durch den Kopf geht, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir uns da einmischen sollten. Wir kennen deine Eltern noch nicht so gut, dass wir ihnen bei so etwas reinreden sollten“, gab mein Vater zu bedenken.
„Bitte, mit euch reden sie vermutlich lieber, als mit uns“, bat ich. Ich war fest davon überzeugt, dass ein Gespräch zwischen unseren Eltern eher von Erfolg gekrönt sein würde, als wenn Eddy und ich versuchten sie zu überzeugen.
Mein Vater geriet ins Wanken, das konnte ich sehen.
„Wir können es versuchen“, sagte meine Mutter schließlich. „Aber nur, wenn sie auch mit uns reden wollen. Es hat keinen Zweck sie noch mehr aufzubringen“, erklärte sie.
„Danke“, sagte Eddy erleichtert. „Es ist wirklich nett, dass ihr mir helfen wollt.“
„Ist schon ok“, antwortete mein Vater. „Heute ist es für so ein Gespräch aber eindeutig zu spät. Zumal ich deine Eltern den ganzen Tag noch nicht gesehen habe. Wir werden es morgen versuchen, unter der Voraussetzung, dass sie wollen.“
Eddy und ich waren froh über ihre Unterstützung.
Da es langsam dunkel wurde und die Mücken sich aus allen Ecken hervorwagten, räumten wir den Tisch ab und verzogen und in den Wohnwagen. Eddy und ich spielten noch eine Weile Karten mit meinen Eltern. Dabei bemerkte ich immer wieder, wie meine Mutter mich eindringlich ansah.
Ihre Erklärungen heute hatten mir gezeigt, dass sie im Moment ähnlich verunsichert war, wie ich. Ich nahm mir vor nicht zu hart mit ihr ins Gericht zu gehen und es ihr so leicht wie möglich zu machen, sich an diese neue Seite ihres Sohnes zu gewöhnen.
Irgendwann genügte es uns und wir zogen uns in mein Zimmer zurück. Wir wollten beide früher schlafen und hatten durchaus noch das ein oder andere miteinander vor in dieser Nacht.