Hallo Iroc, ich habe ja die Geschichte schon mal gelesen. Aber ich erinnere mich nicht mehr an Details.
Wo hat eigentlich Paskoan seine magischen Kräfte her? Die Feen haben es ihm zwar gezeigt, aber irgend woher muss er ja die Veranlagung haben. Sonst könnte ich ja im Winter auch meinen Blumenkasten auf dem Balkon zum Blühen bringen. Klar, mir fehlen die Feen, aber die müssen sich doch auftreiben lassen?
Wer hat nun Lionatras Tasche weggetragen? Werden wir das noch erfahren?
Wie wird der arme Lionatras über die zerrupften Lieblingsbücher reagieren? Ob er sauer auf Paskoan ist? Typischer wird ja immer der Bote gehängt!
In großer Erwartung auf die nächste Folge grüße ich herzlich.
Fragen über Fragen. Würde ich sie jetzt alle beantworten, bliebe ja kein Inhalt mehr für die nächsten Teile, die bald folgen werden.
Kapitel 5 - Teil 3
Paskoan
Wieder in Gedanken an diesen sonderbaren Tag versunken bemerkte ich erst im vorbei laufen eine weitere Spur, die meine kreuzte. Diese Spur zu übersehen wäre aber auch wirklich eine Leistung gewesen. Sie war mindestens fünf Schritt breit und hunderter schwerer Stiefel, krallen besetzter Füße, Hufe und Pfoten hatten keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die Schneise verlief fast gerade durch den Wald und in ihr fand sich nur noch der aufgewühlte Boden. Das Laub war zertreten, die Äste abgebrochen, Steine aus dem Weg geschleudert und das Unterholz komplett untergepflügt worden. Eine Note eines ekligen Geruchs zog der Schneise hinterher. So etwas passierte bei weitem nicht an jedem Tag. Um genau zu sein: Bisher noch nie. Ich blieb einen Moment mit offener Kinnlade an der Schneise stehen, bis ich mich entschied ihr zu folgen. Ich wollte wissen, wer die Ruhe in meinem Wald störte. Allem Anschein nach schien die Fährte noch sehr Frisch zu sein.
Ich schlug mich ins Unterholz und folgte der Fährte parallel im sicheren Schutz der Äste. Bereits nach einigen Minuten erreichte ich die Stelle, an der die Fährte den Weg des Königreichs kreuzte. Scheinbar waren die Wege nicht die einzigen Dinge, die sich hier gekreuzt hatten, sondern auch Klingen. Der Boden war noch zerwühlter und so weit das Auge reichte gab es Kampfesspuren: Die Sonne schien hell auf zertrümmerte hölzerne Schilde, reflektierte sich schimmernd in abgebrochenen Schwertern, malte schwarze Schatten unter die verstreuten Rüstungsteile und spiegelte sich in den noch flüssigen Blutlachen. Ein bestialischer Gestank erfüllte die Luft. Hier waren mindestens zehn Dutzend Krieger am Werk gewesen. Einige der Blutlachen hatten eine sonderbare Farbe. Viele waren normal und Rot. Sie stammten von Menschen, so weit ich wusste. Die anderen hingegen hatten eine ganz andere Farbe. Sie waren teils Pechschwarz, Giftgrün oder changierten in Perlmutt Tönen als ich mich bewegte und in die sich nun leise von den Bäumen herabfallende goldgelbe Blätter setzten und sanft im Wind schaukelten. Ich kickte verwundert über das, was hier passiert war, gegen eins der Rüstungsteile, das davonflog und laut scheppernd im gegenüberliegenden Gebüsch landete.
Ein unterdrücktes Quieken erklang und ein kleines Wesen rannte so schnell es konnte davon. Dies kam mir nun doch sehr verdächtig vor. Ich zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. Hatte ich mich getäuscht oder war dieses kleine Etwas dunkelgrün geschuppt gewesen und rannte auf seinen vier hintereinander liegenden Beinen wie eine Raupe davon. Ich schaute mich schnell um und näherte mich vorsichtig dem Gebüsch. Die Fußabdrücke erklärten mir so einiges. Sie sahen alle gleich aus, denn Füße hatte das Wesen ja weder links, noch rechts, sondern nur vorne und hinten. So etwas hatte also die Vorräte gestohlen und dabei so merkwürdige Abdrücke hinterlassen. Und es waren mindestens zwei gewesen.
Ich kehrte zum Kampfesplatz zurück. Hier und dort lagen Pfeile und abgebrochene Speerspitzen, die ich zu den anderen Sachen in den Rucksack stopfte. Sie könnten noch hilfreich werden. Gedankenverloren stapfte ich in der noch halbwegs warmen Herbstsonne herum und hob ein zersplittertes Stück Holz auf, das wohl mal ein Schild gewesen war. Schwach konnte man noch die abgewetzte blau-weiße Bemalung mit verschlungenen Mustern erkennen. Ich wunderte mich über das ordentliche Gewicht des guten Stücks und drehte es herum. Erst da erkannte ich, warum es so schwer war. Eine Hand klammerte sich immer noch verbissen an den verbliebenen Holzgriff des Schildes. Überrascht roch ich an der Hand. Sie roch noch mehr nach dem Gestank, der all dies hier eh schon umgab. Sie war blass, aber eindeutig nicht menschlich. Kleine grünliche Schuppen bedeckten die Hand und standen dort ab, wo die Haut ein wenig gebogen war. An den Gelenken schützten dicke Knochenplatten die darunter liegenden dicken und spitz gezackten Knochen. Die Fingernägel waren eher Krallen: Lang, gebogen, spitz zulaufend und von einem dreckigen Orange. Sie gruben sich selbst ins Fleisch, so eifrig umklammerte die Hand den Rest des Schilds. Die Hand selber war unterhalb des Knöchels sauber vom Arm abgetrennt worden. Nicht einmal der Knochen war gesplittert. Ich staunte nicht schlecht und rätselte einen Moment darüber, was für eine mächtige Waffe es wohl vermag, solche Hiebe auszuteilen, als ich plötzlich lautes Rascheln hinter mir hörte und sich der wabernde Gestank um eine sanfte Note verschob. Mehr als eine Person kamen laut trampelnd durch die Fährte entlang gestapft, die die weiterziehenden Wesen nach der Schlacht gezogen hatten. Scheinbar war das kleine Wesen zu seinen Herren gelaufen und hatte Alarm geschlagen. Und es schien mir sehr unwahrscheinlich, dass es Menschen waren, die den Kampf gewonnen hatten. Der Anzahl der Menschlichen Rüstungstrümmer nach zu schließen. Erst jetzt fiel mir auf, dass es keine Leichen gab. Die Wesen mussten sie mitgenommen haben. Vermutlich um schlimme Dinge mit ihnen anzustellen. Ich wollte mir gar nicht weiter Gedanken darüber machen und machte ich mich aus dem schnellsten Wege aus dem Staub. Die Hand konnte ich so schnell nicht mehr auf den Boden befördern, ohne gesehen zu werden oder mich durch das Geräusch des Aufpralls zu verraten. Also lief ich schnell los, zurück zur Höhle und ließ auf dem Weg zurück in die Deckung des Waldes die Hand samt Schild schnell in die Tasche gleiten, die ich um die Hüfte trug. Sie sahen mich nicht und ich sah sie nicht. Aber so war es mir im ersten Moment auch lieber.
Als ich geduckt durch den schmalen Eingang ging und in den Hauptteil der Höhle zurückkehrte sah ich, dass Lio immer noch schlief. Zwei meiner Wolfsbrüder hatten sich an ihn gekuschelt und nun bibberte er nicht mehr ganz so heftig. Sein rundes Gesicht war fast glücklich. Aber nur fast. Er schien Schmerzen zu haben. Zumindest zuckten seine Augen unter seinen Augenliedern hin und her und er ballte im Schlaf seine zierlichen Fäuste. Eine kleine Fee kletterte verschlafen hinter seinem Ohr hervor und gähnte ausgiebig.
Ich warf ihm etwas unsanft den Beutel vor die Füße, woraufhin etliche Seiten herausfielen und er wach wurde.
Kapitel 6 - Teil 1
Lionatras
Die Schmerzen waren allgegenwärtig. Ich kämpfte mich so gut ich konnte aus der tiefen Schlucht der Alpträume hervor, die hinter mir als dumpfes, brodelndes Gefühl zurückblieb. Ich kroch nach oben. Immer weiter. Irgendwann erreichte ich die bunten Lichtpunkte die über mir schwirrten. Ich wusste, ich war entkommen. Quälend langsam kam ich zu mir, doch die Schmerzen waren hier nicht besser. Meine Muskeln brannten, jede Faser meines Körpers wie Feuer, ohne dass ich mich überhaupt bewegt hatte und meine Haut tat es den Muskeln gleich. Es musste ein ziemlich schlimmer Alptraum gewesen sein, dass ich mich so zerschunden fühlte. Das musste ich gleich Kaldes erzählen.
Irgendetwas krabbelte langsam an meinem Ohr herum und jagte mir einen Schauer den Rücken herunter. Schlagartig war ich wach. Ich HASSE Spinnen. Ich riss die Augen auf und schlug gleichzeitig dieses Etwas von meinem Ohr weg. Ich war noch kaum in dieser Welt angekommen, da gab es erst einen schrillen Aufschrei und dann begann ein hohes, aber unendlich verletztes Weinen. Als sich meine Augen scharf stellten, erkannte ich, dass ich eine kleine, geknickt wirkende Fee geschlagen hatte, die nun untröstlich schluchzend hinter der Schulter eines Jungen verschwand, der vor mir von blassen Strahlen der frühen Morgensonne stand. Ich musste einen ziemlich verdatterten Gesichtsausdruck gehabt haben. Auf einmal kam alles zurück, der letzte Tag, die Strapazen, die neue Welt…und Koan. Mindestens so sehr wie ich Spinnen hasste, hasste ich es von der Realität eingeholt zu werden. Mir tat es sofort unglaublich leid, was ich der Fee angetan hatte. Sie hatte wohl hinter meinem Ohr geschlafen. Aber es war zu spät. Koans Gesichtszüge verhärteten sich wütend und er warf mir ein wenig unsanft etwas vor die Füße. Neben mir regte sich etwas. Ich hatte es noch nicht einmal bemerkt, dass sich zwei von den gigantischen Wölfen an mich gekuschelt hatten, um mich zu wärmen. Diese standen aber nun auf und trotteten davon. Im gehen sahen sie mich noch einmal kurz aus ihren unergründlichen schwarzen Augen an, aber ich meinte ein drohendes Blitzen darin zu erkennen. Schnell schaute ich weg und sie trotteten weiter. Sofort wurde mir wieder bitterkalt. Kleine Dunstwolken kamen bei jedem Atemzug aus meinem Mund hervor. Ich sah mich um und erkannte, was Koan mir da zugeworfen hatte. Es war meine Tasche! Ich setzte mich auf, um sie genauer zu betrachten und sofort meldeten sich meine Kopfschmerzen mit brutaler Gewalt zurück und zwangen mich unsanft zurück auf den Boden.
Einen Moment blieb ich liegen und kämpfte gegen die hellroten Wellen an, die mein Sichtfeld zu überschwemmen drohten. Ich presste die Hände auf die Augen und wartete, bis es vorüber war. Kurz darauf war es vorbei und ich blinzelte ein paar mal, bis ich wieder klar sehen konnte. Ich sah mich noch einmal um.
Der Staub tanzte in kleinen Flocken in der Luft und wurde sachte von der frühen Sonne angestrahlt, die durch den Eingang und durch kleine Ritzen in der Decke schien. Es roch nach Frost…und irgendwo entfernt nach Kresse. Erst jetzt erkannte ich, dass ich gar nicht so weit unter der Erde war, sondern dass mich, wie es schien, nur wenige Zentimeter Erde und fast nur Wurzeln von der Welt über mir trennten. Das Feuer war nun nur noch ein kleiner Aschehaufen, der munter vor sich hin qualmte. Koan ragte vor mir auf sah mich aus seinen ernsten, irgendwie faszinierenden Augen an. Er trug weder Schuhe, noch ein Oberteil und war lediglich mit seiner alten, zerfetzten Hose bedeckt. Er war sehr mager und verdreckt, nicht weiter verwunderlich, nach einer scheinbar recht langen Zeit im Wald.
Doch bald richtete sich mein Blick wieder auf die Tasche. Sie sah arg mitgenommen aus - dem ersten Anschein nach war sie mehrfach gerissen, verdreckt und die herausragenden Seiten ließen nichts Gutes über die Bücher im Inneren schließen. Diesmal langsam und vorsichtig setzte ich mich auf. Die roten Schlieren um mein Sichtfeld kamen zwar wieder, aber sie ließen nach einigen Sekunden wieder nach und waren nicht so stark wie zuvor. Langsam und zitternd bewegte ich meine zerkratzte Hand in Richtung der Tasche, während ich mich mit der Anderen abstützte und musste fast schmunzeln. Ich wusste selbst nicht so genau, warum. Vielleicht war es, weil meine Hand der kaputten Tasche so ähnlich sah, oder weil ich vor Anstrengung so zitterte, wo das doch eigentlich eine ganz normale Bewegung war. Ob wohl noch alles da war? Mein Magen knurrte und ich erinnerte mich, dass noch eine ganze Menge Essbares in der Tasche sein müsste. Oder ob dieser Tölpel wohl etwas verloren hatte? Ich griff hinein und erstarrte.
WAS war DAS? Es gehörte definitiv nicht in die Tasche und war auch vorher nicht da gewesen. Es war schleimig, klebrig und irgendwie hart. Ein Schauer des Ekels lief mir über den Rücken und ich schüttelte mich. Schnell ließ ich das Etwas wieder los und zog meine Hand heraus. An ihr klebte ein dickflüssiges, fast durchsichtiges, aber schillerndes Gelee. Ihgitt! Ich beeilte mich meine Hand am Laub unter mir abzuwischen.
Voll vertieft in die gar nicht so einfache Arbeit wurde ich von einem merkwürdigen Laut aus der Konzentration gerissen. Ich hielt erschrocken inne und mein Kopf ruckte nach oben in die Richtung, aus der der Laut kam. Ich würde hier im Wald noch Paranoia entwickeln, wenn es so weiter geht, dachte ich mir genervt. Aber jetzt wusste ich immerhin woher dieses komische Geräusch kam. Koan standen die Tränen in den Augen und er kringelte sich vor Lachen am Boden. Verdutzt sah ich ihn an. Irgendwann hatte er sich wieder halbwegs gefangen, sah mich an und fand sich direkt danach wieder am Boden liegend vor Lachen wieder. Ich hatte wohl irgendwas im Gesicht.
»Von Höflichkeit hast du wohl nie was gehört.« stellte ich fest. Ja gut. Wie auch. Wenn er sein ganzes Leben hier im Wald verbracht hatte. Es war ein merkwürdiges Lachen, das er von sich gab. Es klang animalisch, rau, aber auch irgendwo kindlich. Ich hatte so etwas unbeschwertes lange nicht mehr gehört. Unweigerlich schlich sich auch ein Grinsen auf meine Lippen.
»Ich verstehe gar nicht, was daran lustig ist.« erwiderte ich schmunzelnd. Er sollte mal aufpassen, dass er mir nicht unsympathisch wurde. Mich auslachen. Jaja…Er setzte sich wieder auf.
»Ich…auch nicht…du…dein Kopf…ach keine Ahnung…« Eine Freudenträne nach der Anderen rollte sein Gesicht hinab und er machte sich keine Mühe sie weg zu wischen, während weitere kleine Lachkrämpfe ihn schüttelten. Er erstarrte und schielte nach links. Das letzte, was er vermutlich sah war eine große Wolfszunge, die sich seine salzigen Tränen schmecken ließ. Jetzt konnte ich nicht anders als zu lachen. Als das Tier fertig war, trottete es gleichgültig weg und ließ einen vor Sabber triefenden, ziemlich verdrossen wirkenden Jungen zurück.
Kapitel 6 - Teil 2
Lionatras
Nach einiger Zeit hatte ich mich dann auch wieder gefangen und wandte mein Augenmerk wieder der Tasche zu. Sie lag immer noch zerstört am Boden. Da ich ja auch lernfähig bin nahm ich sie dieses Mal an einem Zipfel hoch und schüttelte den Inhalt auf den Boden.
Erst fielen ein paar lose Seiten heraus. Na gut, ein paar gerissene Seiten konnte ich ja noch wieder einsortieren. Danach kam gar nichts mehr. Ich schüttelte einmal kräftig und plötzlich fiel mit einem klatsch ein kompletter, nasser Klumpen von losen Seiten, gerissenen Bucheinbänden und Dreck heraus, die alle von diesem ekligen Schleim zusammengehalten an etwas klebten, das sich im Inneren dieses Klumpens befand. Es roch außerdem sehr streng.
Mein Kiefer klappte nach unten. Ich schloss und öffnete ihn noch ein paar mal, während ich versuchte einen Schreikrampf zu unterdrücken. Ich hielt weiterhin perplex die tropfende Tasche über dem Haufen fest. All die Bücher! All meine schönen Bücher! Versaut. Von diesem Schleim würde ich sie nie wieder befreien können. Ich pfefferte die Tasche in die Ecke und ließ den Kopf hängen. Koan saß auf der anderen Seite und zeigte keinen Anflug von Reue.
»Was hast du getan!?« fuhr ich ihn an. Er zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ich habe dir die Tasche zurück gebracht. Das siehst du doch.« Antwortete Koan. »Und jetzt hast du sie wieder weg geworfen.«
Ich schüttelte den Kopf. Dieser Junge hatte wirklich gar keinen Realitätsbezug. Wie dem auch sei. Mein Magen knurrte absurderweise. Wie konnte mein Magen in so einer ekligen Situation knurren? Ich erinnerte mich, dass ich schon länger nichts gegessen haben konnte. Das letzte mal war… Ja wann eigentlich? Skeptisch blickte ich den Schleimhaufen an. Eigentlich hätte sich noch etwas Essbares darin finden müssen. Ich hatte schließlich eine ganze Menge eingepackt. Doch ich konnte nichts entdecken. Ich vermute mal, dass ich, selbst wenn ich etwas gefunden hätte, nichts davon gegessen hätte. Der Schleim war ÜBERALL. Nicht sehr appetitlich.
Ich würde wohl noch ein bisschen länger warten müssen, bis sich etwas Vernünftiges zum Essen fand.
Aber wo war all das, was ich eingepackt hatte? Es konnte ja nicht so einfach verschwinden.
»Koan?« er schaute auf. Es war das erste Mal, dass ich ihn mit seinem Namen ansprach. Irgendwie fühlte es sich komisch an. Vielleicht, weil er doch einen ganz normalen Namen hatte, obwohl er hier so fern von allem aufgewachsen ist. Ja gut, »Koan« ist mehr oder weniger normal. Aber er war aussprechbar, nicht so wie dieses hohe Feengezwitscher.
»Wo ist das Essen geblieben?« fragte ich ihn. Er schien sich einen Moment lang die richtigen Worte zusammen zu legen. »Es…war nicht mehr da, als ich die Tasche…gefunden habe… Sie lag nicht da, wo ich sie…hingestellt habe. Weiter weg. Im…Flussbett. Es gab…Spuren. Kleine Tiere. Nicht von hier. Sie haben wohl die Tasche…kaputt gemacht. Und das Essen…geklaut. Das…Papier nicht.« Stellte er fest und zeigte auf den Haufen. »Die Spuren…sie haben mich zu…einem…Kam…Kampf…ort…Kampfort…?« er stockte und hob eine Augenbraue. Ich nickte bekräftigend. Ich war immer wieder erstaunt, wie sehr seine Mimik seine Gedanken wieder gab. »Sie haben mich zu einem Kampfort geführt«
Überrascht setzte ich mich gerade auf und hörte ihm konzentrierter zu. »Zwischen Menschen?« fragte ich.
»Ja, auch. Aber auch…Wesen…nicht von hier. Von hinter der Linie« Ich riss erschrocken die Augen auf. Wie haben sie es so weit bis hierher geschafft? Es gab doch die befestigte Grenze, zu der immer und immer wieder Soldaten geschickt wurden! Hatten sie etwa versagt? Das würde das Ende unserer jetzigen Zivilisation bedeuten. All das schoss mir in dem Moment durch den Kopf.
»Bist du dir sicher?« fragte ich ihn. »Ja, sehr. Hier, guck mal.« und dann griff er doch tatsächlich mit der Hand in den Schleimhaufen und zog aus dessen Mitte etwas hervor, wovon ich anfangs nicht wusste, was es war. Erst nach einigen Augenblicken begriff ich, dass dies wohl der Ursprung des ganzen Schleims sein musste. Es schien mal lebendig gewesen zu sein. Koan drehte und wendete es ein paar mal. Ich erkannte, dass es eine Art Hand war, die sich an einem zersplitterten Überrest eines hölzernen Schildes festklammerte. Ich beugte mich vor und begutachtete sie mit offenem Mund, immer darauf achtend, genug Abstand zu halten. Es stank jetzt beinahe schon zum Brechen. Vielleicht war es doch gut, dass ich nichts gegessen hatte.
Moment. Wenn das eine Hand war, dann musste der Schleim ja…Blut sein. Unweigerlich wischte ich meine Hand noch einmal am Boden ab, ohne die Hand aus den Augen zu lassen. Ich wollte niemandes Blut an meinen Händen haben.
»Du siehst aus, als ob du noch nie eine Hand gesehen hast.« sagte Koan. »Hier guck mal, ich habe auch eine.« fügte er hinzu und hob grinsend seine freie Hand.
»Hab ich auch nicht…« antwortete ich gedankenverloren. »Äh, doch. Klar hab ich schon mal eine Hand gesehen. Ich habe ja selber zwei.« beeilte ich mich meinen Fehler zu korrigieren. »Nur nicht so eine. Sie sieht ganz anders aus, als alles, was ich jemals gesehen habe.« Ich hatte zwar schon in vielen, vielen Geschichten von den Bestien, den Monstern, den Außenseitern gehört, aber ich hatte nie einen zu Gesicht bekommen. Glücklicherweise möchte man sagen. Und dass sie hier waren, brachte einen alten Schrecken zurück, den ich zuletzt als Kind gefühlt hatte. Doch dann hatte Kaldes mir so lange gut zugeredet, bis ich schließlich daran glaubte, dass sie es niemals bis hierhin schaffen würden, weil unsere Grenzanlagen schon seit Generationen hielten. Doch sie hatten es geschafft, ohne aufgehalten zu werden…
Koan hatte gemerkt, wie sehr ich mich vor dieser schleimigen Hand ekelte. Während ich geistesabwesend grübelte, hatte er einen Finger der Hand vom Schild gelöst, geradegebogen und versuchte mir nun damit in der Nase zu bohren. Ich bemerkte es im letzten Moment und machte einen entsetzten Satz nach hinten. Ein schelmisches Grinsen wurde auf seinem Gesicht immer breiter, bis es schließlich fast bis zu den Ohren ging. Als ich gerade meinte, dass es wohl über sein Gesicht hinauswachsen müsste, bekam er einen Lachanfall und kugelte sich wieder einmal am Boden. Dieser kleine Spinner, dachte ich mir, und stimmte leise in das Lachen ein.
Kapitel 6 - Teil 3
Lionatras
Abrupt verging mir das Lachen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. Einen Moment mal. Sie hatten es geschafft, ohne aufgehalten zu werden. Wurden sie denn von den Menschen wenigstens jetzt aufgehalten? War Kaldes, oder schlimmer noch, war Finn in den Kampf verwickelt gewesen?
»Wer hat eigentlich gewonnen? Die Menschen oder die Monster? Waren es viele? Wie lange war der Kampf her? Warum hatte man sie nicht eher bemerkt? Gab es viele Verluste unter den Menschen?« Ich sah ihn erschrocken an, viele weitere Fragen lagen noch auf meiner Zunge. Da war sie wieder. Meine altbekannte Panik. Immer wenn ich Panik hatte, begann ich zu Reden und Fragen zu stellen. Viele Fragen. So viele, dass die meisten nicht mehr ganz mit kamen. So auch jetzt Koan. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder eingekriegt hatte. »Was?« Brachte er nur heiser hervor. Ich wiederholte die Fragen, diesmal langsamer. Ich hörte angespannt zu, während er berichtete.
Die Menschen hatten verloren, der Kampf war erst seit wenigen Stunden vergangen und die Bestien waren immer noch in der Gegend. Das machte mir Sorgen. Noch mehr Sorgen machte ich mir um Kaldes und Finn, die vielleicht mitgekämpft hatten. Waren noch welche entkommen? Was wollten die Bestien? Fragen über Fragen. Aber die konnte mir Koan vermutlich auch nicht beantworten. Es war ja schon gut, dass er überhaupt davongekommen ist.
Die kleine Fee auf Koans Schulter flatterte plötzlich auf und begann in roten und orangenen Tönen zu blinken. Die Nackenhaare aller Wölfe stellten sich gleichzeitig auf. Sie schnupperten und begannen zu zittern. Auch Koan schien in der Luft zu schnuppern. Ich versuchte es auch mal, aber ich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Koan hingegen sprang gehetzt auf, trat die letzten Reste des Feuers aus, riss sich ein kleines Messer, scheinbar aus Feuerstein, aus dem Hosenbund und stürzte zum Höhlenausgang. Die Wölfe folgten ihm in Angriffsposition und stellen sich witternd und lauschend hinter ihm auf. Er hockte sich in den Ausgang, hielt sich an der von Wurzeln durchzogenen, erdigen Wand fest und spähte vorsichtig um die Ecke. Auch er schien zu lauschen.
Auf einmal hörte ich es auch. Es war eine Stimme. Weit entfernt, sie verlor sich fast zwischen dem Rascheln der Blätter und dem knarren der Bäume im sachten Wind, sie war sehr dünn, aber kam rasch näher. Es war immer die gleiche Tonfolge. Irgendwann konnte ich auch verstehen, was gesagt wurde. Meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Es war mein Name. „Lio!“ Und diese Stimme, die diesen Namen wieder und wieder durch den Wald brüllte, würde ich unter tausenden erkennen. Finn. Er klang verzweifelt, als ob er keine Ahnung hätte, wo er mich noch suchen könnte. Aber letztendlich hatte er mich doch gefunden. Ich freute mich riesig, dass er mich noch immer nicht aufgegeben hatte und immer noch nach mir suchte. Hieß das, dass er mich auf meiner Flucht begleiten wollte? Ich schob dieses Luftschloss schnell beiseite, als sich ein anderer Gedanke in meinem Kopf breit machte. Wusste er überhaupt wie gefährlich es momentan hier draußen war? Mit seinem Geschreie würde er alle Aufmerksamkeit auf sich lenken. Ich sprang auf, so schnell es mein zerschundener Körper und meine Kopfwunde zuließen und humpelte eilig durch die schwach beleuchtete Höhle an der noch immer panisch blinkenden im Kreis fliegenden Fee vorbei zum Eingang auf Koan zu. Als ich mich zwischen den Wölfen durchgeschlängelt hatte und neben Koan ankam, hatte ich schon meinen Mund geöffnet, um ihm zu berichten, wer das war, der da durch den Wald kam. Doch im gleichen Moment legte er mir die flache Hand auf den Mund, wandte sich zu mir um und zischte mir zu, ruhig zu sein. Ich klappte meinen Mund wieder zu und er beugte sich wieder vorsichtig vor, um um die Ecke zu spähen. Er schnupperte. Wirklich komisch, dieser Junge, aber sollte er es machen wie er wollte. Ich hockte mich hinter ihn und lauschte. Mittlerweile schien Finn recht nahe zu sein. Ich hörte, wie er sich mit irgendetwas scharfem, vermutlich einem Schwert oder einer Machete durch das Unterholz kämpfte. Wo hatte er die denn aufgetrieben? War Miro wohl dabei? Eine Mischung aus Angst und purer Freude umspülte mich, ihn in der Nähe zu wissen. Ich lauschte weiter. Er kam Stück für Stück näher. Auf einmal konnte ich ein hohes Sirren hören. Erst leise und dann immer lauter. Koan erstarrte und zuckte blitzschnell zurück, wobei er mich von den Füßen riss und auf mir zum Liegen kam. »Hey, was soll das…?« fragte ich darauf ein wenig benommen, währen wir uns wieder aufrappelten. Erst jetzt sah ich, dass an der Stelle, wo sich eben noch Koans Kopf befunden hatte ein vier Fuß langer, schwarz gefederter Pfeil steckte. »Woah…das…« begann ich, doch Koan hatte sich schon wieder gefasst, steckte das Messer weg und drängte uns alle zurück in die Höhle. Die Wölfe liefen angespannt und sprungbereit durch die Höhle und die Fee ließ sich erschöpft auf Koans Schulter nieder. Sie blinkte immer noch schwach. »Nicht wir hier bleiben können. Würden uns finden. Zu gefährlich.« sagte er, während er eiligst ein paar Habseligkeiten zusammen suchte. »Sie uns schon so gut wie gefunden. Du nach Menschen…riechst. Lockt sie an. Wir hier drin so gut wie tot. Weg hier.« Er schnappte sich eine Art Hemd und stopfte dort einen kleinen verbeulten Topf, eine flache Holzschüssel, einen alten Blumenkranz und ein paar Pfeile hinein und band das ganze dann mit einem kleinen Stoffstück zu. Die beiden Hemdsärmel verknotete er vor der Brust, so dass er das ganze wie eine Umhängetasche tragen konnte. Aus einer routinierten Bewegung heraus griff er sich an den Hals, an dem ein kleiner Ring baumelte. Er schien es nicht einmal zu bemerken.
Ich schaute zu meinen Habseligkeiten. Davon war nicht mehr viel über. Ein Klumpen schleimige ehemalige Bücher und eine blutverschmierte, zerrissene Tasche. Die Überreste meiner Kleidung trug ich komplett am Leib. Ich entschloss mich schweren Herzens alles hier zu lassen. Ich wusste ja, wie schwer die Tasche vorher war. Das wäre bei einer Flucht nicht hilfreich. Aber sie war eh zu nichts mehr zu gebrauchen.
»Du wollen das?« Er zog eilig aus einer Ecke noch ein paar rote Beeren hervor. Ich kannte sie von Zuhause. Sie waren dort als ganz besondere Köstlichkeit bekannt. Und selbst für die Königsfamilie gab es immer nur ein paar. Und er hielt mir jetzt eine ganze Rebe vor die Nase. »Du sie brauchen wirst.« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Hunger hatte ich ja schon. Ich riss Koan die Beeren förmlich aus der Hand, was die Wölfe mit einem leisen Knurren begegneten, und begann sie zu verschlingen. Das, was mich erwartete war eine förmliche Explosion von Geschmack. Sie waren noch einmal um ein Vielfaches besser als Zuhause. Ich spürte, wie ich wieder Kraft tankte. Koan klaute sich auch schnell eine Beere von mir und stopfte sie sich in den Mund. »Wir schnell und leise sein müssen. Hoffentlich Tölpel da draußen lenkt Außenseiter lange genug ab bis wir weit genug weg. Wenn wir gesehen, wir tot.« instruierte er mich gehetzt und schien mit allen Sinnen gleichzeitig schon auszuloten, wie die Lage draußen ist.
»Finn ist kein Tölpel!« korrigierte ich ihn schnell. »Du den da draußen kennst?« fragte er verdutzt.
»Ja, er ruft schließlich auch die ganze Zeit nach mir.« »Oh, ich nicht wusste. Er trotzdem schon so gut wie tot ist. Monster ihn schon entdeckt haben müssen. Wir ihm nicht helfen können, wenn du und ich leben wollen.« sagte er und wandte sich zum gehen. Mir lief es eiskalt über den Rücken. Wie konnte er so gefühllos über ein Menschenleben reden? Erst recht über das von Finn? Ich wollte einfach nicht glauben, dass er jetzt sterben musste. Die Monster schienen in unmittelbarer Nähe zu sein. Er war doch erst am Anfang seines Lebens…Aber er ist stark. Und bewaffnet. Und vielleicht mit Miro unterwegs. Hoffentlich. Vielleicht konnte er noch fliehen, während Koan und ich auf die Heimlichkeit angewiesen waren. Und ich auf Koan. Ohne ihn würde ich es hier nicht lebend herausschaffen. Das wurde mir in diesem Moment klar. Ich klammerte mich an den Gedanken fest, dass er es schaffen würde, auch wenn ich das nie würde feststellen können, wenn ich jetzt mit Koan liefe. Es zerriss mich innerlich. »Koan?« fragte ich ihn. Er hielt inne und sah mich fragend an, während seine angespannte Haltung mir deutlich machte, dass wir keine Zeit hatten. »Hast du so was schon mal gemacht? Geflohen vor den Außenseitern?« »Ja, aber nie vor so vielen. Es waren immer nur zwei oder drei. Jetzt…mehr.« Nicht sehr beruhigt wollte ich zu einer Antwort ansetzen, aber er gebar mir ab jetzt den Rand zu halten. »Still sein oder gegessen werden. Deine Wahl. Noch wir haben Chance zu leben.« Er wandte sich der Fee auf seiner Schulter zu und sprach ihr hastig in der komischen Feensprache zu. Sie quiekte auf und schoss schneller als ich es für möglich gehalten hätte aus der Höhle hinaus. »Feen hierbleiben. Eigentlich auch Außenseiter sind. Nichts getan ihnen. Sonst müssten neues Winterversteck finden, nicht schnell genug schaffen würden.« erklärte er mir eilig in seiner gebrochenen Sprache. Aber ich konnte ihn von Mal zu Mal besser verstehen. Er sah sich ein letztes Mal wehmütig in der Höhle um, schwang sich einen kleinen Bogen um die Schulter und bedeutete dann mir und den Wölfen ihm zu folgen. Mir wurde klar, dass auch er sein Zuhause verließ, in dem er lange Jahre gewohnt hatte und in dem er nun einen Teil seiner Familie zurückließ. Es schien ihn sehr traurig zu stimmen, aber das war bald verflogen, als er aus der Höhle heraustrat und sich auf seine Umgebung konzentrierte. Im Vorbeigehen zog er noch den langen Pfeil aus der Wurzel neben dem Eingang und steckte ihn in seinen Beutel.
Als ich aus dem Schatten der niedrigen Höhle heraustrat und mich endlich wieder gerade aufrichten konnte, bemerkte ich erst, wie kalt es war. Es war ungefähr mittags und die schräg stehende Sonne schien ohne viel Kraft von einem eisblauen Himmel. Die Blätter der Bäume waren gelblich und rieselten durch den sachten Wind in einer Tour zu Boden. Ich blieb einen Moment stehen und blickte unschlüssig in der Gegend herum. Die Wölfe zogen schleichend an mir vorbei, hinter Koan her.
Alles in mir zog mich in diesem Moment zu Finn. Ich hörte ihn sogar noch rufen. Er war so nah und schien doch so fern. Ohne mich zu verraten würde ich aber nie zu ihm gelangen. Ich wollte einfach nur zu ihm laufen, ihm alles erklären und mit ihm davonreiten. Meinetwegen auch wieder zur Burg. Nur weg von hier und von all den grässlichen Monstern.
Koan schien mir meine Zweifel anzusehen, denn er kehrte noch einmal um, packte mich an der Hand und zog mich geduckt hinaus in den Wald, hinaus ins Ungewisse.
Kapitel 6 - Teil 4
Lionatras
Finns Stimme kam immer näher. Mittlerweile konnten uns eigentlich nur noch ein paar hundert Fuß trennen. Ich versuchte möglichst leise mit Koan Schritt zu halten, was allerdings nicht so ganz funktionierte – in meiner aktuellen Verfassung schon gar nicht. Er war einfach zu schnell und zu leise. Nur die Wölfe schafften es und trabten gelassen hinter ihm her durch den goldgelben, kalten Wald, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Koan lief vor Finn davon, in die entgegengesetzte Richtung, aus der die noch immer andauernden Rufe stammten. Wir waren noch nicht entdeckt worden. Zumindest glaubte ich das.
Finn hingegen schon. Seine Tonlage veränderte sich. Ängstlich rief er in den Wald hinein »Ist da wer? Lio? Bist du das? Ich bin es. Finn! Komm, hör auf mir einen Schrecken einzujagen und komm raus.« Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie er sein wunderschönes Gesicht hastig in alle Richtungen wendete und zwischen den Bäumen nach mir Ausschau hielt. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um zu antworten, doch Koan war mir mal wieder einen Schritt voraus. Er wandte sich blitzschnell um, legte mir wieder eine überraschend weiche Hand auf den Mund und fing an mit seinen Fingern der anderen Hand zu gestikulieren. Er zeigte einen Punkt, dann in Finns Richtung. Dann malte er um den Punkt einen Kreis in der Luft und zeigte ebenfalls in Finns Richtung. Dann zeigte er zwei weitere Punkte außerhalb des Kreises und dann auf uns beide. Anschließend malte er wieder den Kreis, dann die zwei Punkte die in den Kreis hineinliefen und dann ballte er seine Hand zur Faust. Das alles zeigte er innerhalb von ein paar Sekunden und ich wusste erst überhaupt nicht, was er mir sagen wollte. Koan nahm die Hand schnell wieder von meinem Mund und setzte seinen Weg leise und gebückt schleichend fort. Eine Überlegenssekunde später hatte ich begriffen, dass das, was er mir soeben gezeigt hatte eine primitive Version einer Karte war. Finn, umzingelt von Monstern, die ihm Angst einjagen und ihn als Lockmittel benutzen, um uns zu ihm zu locken. Eine Falle. Super. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Koan, der schon einige Schritt voraus war, mir zwischen den Bäumen und Büschen hindurch eilig zuwinkte. Ich setzte meinen Weg humpelnd fort und schloss so leise, wie ich konnte, durch das dichte, unberührte und ziemlich hohe Unterholz zu ihm auf. Wir waren wirklich nicht langsam unterwegs, aber dennoch wurde Finns Stimme hinter uns nicht leiser. Er schien sich mal wieder auf sein Bauchgefühl zu verlassen. Sehr erfolgreich, das musste man ihm lassen. Irgendwo schmeichelte es mir schon. Auch wenn es die Situation gerade nicht zuließ, dass er mir schmeicheln konnte. Seine Rufe waren noch immer ängstlich, ja fast panisch und er schien einen Zahn zugelegt zu haben und sich durch das dichte Dickicht hindurch zu schlagen. Doch seine Verfolger waren ihm noch immer auf den Fersen. Jetzt konnte ich sie auch hören. Es raschelte und knackte leise, weit hinten im Wald, versteckt im Unterholz. Ich konnte dutzende Augenpaare in meinem Rücken fühlen und meinte das langsame, genussvolle Einsaugen meines Geruchs in die Nüstern der Monster zu hören, doch wahrscheinlich ging nur mal wieder meine Fantasie mit mir durch. Dennoch schaute ich mich immer wieder um, während ich mich durch das Unterholz hinter diesem Waldmenschen hindurchkämpfte. Man musste mir aber schon lassen, dass es mir diesmal leichter von der Hand ging, als das letzte Mal, im Dunkeln, vor einigen Tagen. Mein Kopf pochte mit jedem Schritt, meine unzähligen Kratzer und Prellungen schmerzten jedes Mal, wenn ich mich bewegte und ich war schon längst aus der Puste, aber dennoch zwang mich die Angst vor all dem, das hinter mir lag, jeden weiteren Schritt zu tun. Außerdem war es jetzt hell und ich konnte immerhin sehen wo ich hinlief und der von Koan eingeschlagenen Fährte folgen. Er schien sich bestens auszukennen und wählte immer den Weg, der am wenigsten von Dornen gespickt war und durch viele Mulden verlief, die uns vor unliebsamen Blicken schützten.
Auf einmal lichtete sich das Gestrüpp und eine Lichtung tat sich vor uns auf. Sie war nicht sehr groß, aber auch nicht klein. Geschätzte einhundert Schritt trennten uns von dem gegenüberliegenden Ende, das Koan nun anpeilte und darauf zu spurtete. Auch ich stolperte aus dem letzten Rand des Waldes und machte mich daran, ihm nach zu setzen, so sehr es meine Schmerzen zuließen. Doch er war so viel schneller als ich und schien mit jedem meiner Schritte einen Schritt Vorsprung zu gewinnen. Die Wölfe konnten jedoch problemlos mit ihm mithalten und schwebten wie schwarze Schatten lautlos neben ihm her.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ein Wolf leicht hinterherhinkte und humpelnd auf nur drei Beinen lief. Aber selbst er war viel schneller als ich.
Die Lichtung selbst lag voller Laub, hier und dort standen kleinere Büsche, die nicht einmal hüfthoch waren. Im Sommer schien es hier viele Blumen zu geben, doch es war von ihnen nur noch der verblassende, vertrocknete Abklatsch ihrer ehemaligen Pracht erkennbar. Ich wäre gerne einmal im Sommer hier gewesen. Die kalte Sonne schien durch die immer kahler werdenden Äste und durch kleine Staub- und Aschepartikelchen, die rund um eine verkohlte Stelle in der Mitte in der Lichtung schwebten. Merkwürdig.
Ich spurtete weiter hinter Koan her, der nun beinahe schon das Lichtungsende erreicht hatte. Auf einmal drehte er sich, scheinbar wieder irgendeiner Intuition folgend, um und starrte gebannt auf einen Punkt irgendwo hinter mir – schaffte es aber dabei auch noch rückwärts weiter zu laufen. Die Wölfe verschwanden hinter ihm im Dickicht. Auch ich drehte mich um, folgte seinem Blick und entdeckte Finn, der in just diesem Moment mit hoch erhobener Klinge auf Miro reitend durch den dicht verwobenen Waldrand brach. Ich bekam große Augen. Er erkannte mich sofort und ein Lächeln schoss auf meine Lippen. Er lebte noch und hatte mich gefunden. Nur das rückwärts laufen gelang mir nicht sonderlich gut. Meine Füße verhedderten sich irgendwie mit einer Pflanze, woraufhin ich mich erst einmal auf den Hosenboden setzte. Dass ich immer so tollpatschig sein musste. Er brachte Miro zum stehen. Wir sahen uns einen Moment lang tief in die Augen, dann wanderte sein Blick misstrauisch zu Koan, der am Waldrand eine Angriffsposition eingenommen hatte, dann wieder zu mir. Ich zog meine Füße gerade aus der mit kleinen Widerhaken versehenen Pflanze, um mich wieder aufzurappeln, als er sich in wieder in Bewegung setzte und auf mich zukam. Doch er kam nicht weit.
Kapitel 6 - Teil 5
Lionatras
Ein hasserfülltes und hungriges Gebrüll kam aus dem Gebüsch hervor und eine Horde von Monstern brach mit gezückten Waffen von meiner Linken und von beiden Flanken Finns in die Lichtung ein. Es waren sehr viele. Im vollen Gang ließ jeder Schritt von ihnen die Erde ein wenig erbeben. Miro scheute, trat aus und blieb mit ängstlich geweiteten Nüstern stehen. Finn schien sich gerade noch auf seinem Rücken halten zu können – dank des Sattels, den er nun auf Miros Rücken geschnallt hatte. Er schaute die Bestien völlig perplex an, als ob er diese jetzt hier am aller wenigsten erwartet hätte. Auch er hatte scheinbar noch nie welche gesehen. Das beantwortete zumindest die Frage, ob er bei dem Kampf, den Koan entdeckt hatte beteiligt gewesen war.
Die Horde von Monstern teilte sich in zwei Gruppen, die eine, kleinere Gruppe lief auf Finn zu und der größte Teil kam uns entgegen gestürzt. Ich versuchte mit ängstlich aufgerissenen Augen hastig rückwärts zu krabbeln und mich wieder aufzurappeln, doch ich verhedderte mich wieder mit meinen Beinen in der Pflanze und landete erneut auf dem Boden. Denken konnte ich in diesem Moment nicht und konnte nur tatenlos mit ansehen, wie die Horde die immer kleiner werdende Distanz mit riesigen Schritten und verzogenen Fratzen überwand. Mir fiel auf, dass es das erste Mal war, dass ich ein Monster lebend sah. Vermutlich auch das letzte Mal.
Plötzlich packten mich zwei Hände eisern an den Schultern und zogen mich mit einem schmerzhaften Ruck von der Pflanze weg und wieder zurück auf meine eigenen Füße. Es war natürlich Koan, der mich aus ernsten und gehetzten Augen ansah. Irgendetwas brachte dann auch meine Füße dazu, sich in Bewegung zu setzen. Aber nicht vor den Bestien weg, sondern auf sie und auf Finn zu! Sie leckten sich freudig die Lippen und hoben ihre Speere in Angriffsposition.
Ich war erst wenige Schritte gelaufen, als Koan mich wieder packte, herumriss und mich zurück zerrte, weg vor den Monstern. Ich kämpfte gegen ihn an, was würde denn jetzt aus Finn werden, er war fast vollständig umzingelt und stand immer noch wie angewurzelt an seiner Seite des Waldrandes. Doch es war sinnlos gegen Koan anzukämpfen. Er war unglaublich stark und hielt mich fest umklammert, sodass ich keinen Deut vorankam. Ich merkte wie sich seine Brust weitete, als er tief einatmete und Finn ein »LAUF!« entgegenschmetterte, das selbst das lüsterne Grunzen der Bestien übertönt haben musste, denn Finn erwachte plötzlich aus seiner Schockstarre, gab Miro die Sporen und galoppierte den Weg zurück, den er gekommen war.
Koan setzte sich auch wieder in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung, riss mich mit und trug mich quasi im Laufschritt über die Lichtung zum Waldrand, während ich mich immer noch schwach wehrte und immer wieder über die wogenden Köpfe der Monster hinweg Finn hinterher starrte. »So nah und doch so fern.« Ging es mir immer wieder durch den Kopf.
Ein Monster stellte sich in Finns Weg, welches er im vollen Galopp in einer fließenden Bewegung seines Kopfes entledigte, ohne dass es eine große Hürde für ihn dargestellt hätte. Wir hatten mittlerweile fast den Waldrand erreicht und Finn war beinahe aus meinem Sichtfeld verschwunden. Einen Augenblick später bemerkte ich die Bogenschützen, die noch immer am linken Rand der Lichtung standen, in aller Seelenruhe zielten und schließlich ihre schwarz gefederten Pfeile auf ihren tödlichen Kurs sandten.
Vieles passierte auf einmal. Wir erreichten in dem Moment den Waldrand, als ich durch die letzten lichten Flecken des gegenüberliegenden Waldes einen letzten Blick auf Finn erhaschen konnte. Mehrere Pfeile flogen direkt auf ihn zu und ich sah noch, wie er mehrfach getroffen im Sattel zusammensackte, bevor er kaum einen Augenblick später aus meinem Blickfeld verschwand, als Koan mich zu Boden riss und neben mir im Laub landete. Ich schlug hart mit dem Hinterkopf auf irgendetwas hartem auf, doch ich versuchte mich sogleich wieder aufzurappeln. Ein Schrei löste sich von meinen Lippen, doch ich hörte nichts, als ein dumpfes Pochen. Koan schlug mich mit einem Arm zurück auf den Boden und eine Salve Pfeile segelte haarscharf über unsere Köpfe hinweg und schlug wenige Schritt hinter uns in den Boden und umliegende Bäume ein. Koan sprang auf, zog mich mit hoch und spurtete weiter – mich halb ziehend, halb tragend – in den Wald hinein. Mein Sichtfeld schien zu verschwimmen, während ich weiter ohne sichtbaren Erfolg in die entgegengesetzte Richtung strebte. Ich hämmerte voller Verzweiflung auf seine Schulter ein, bis er mich absetzte, mich schmerzhaft fest an den Schultern packte und mich anschrie. Seine Stimme drang durch den dichten Nebel, der sich um meine Ohren und Augen gelegt hatte, hindurch und beförderte mich zurück in die Wirklichkeit, in der keine Zeit für Trauer blieb. »Willst du sterben? Er tot ist! Verstehst du? Er tot ist! Du nichts ändern kannst! Aber du noch leben kannst! LAUF WEITER!«
Er packte mich bei der Hand und zog mich mehr stolpernd als rennend hinter sich her. Die Bäume und Büsche hatten sich wieder schützend um uns gelegt und die Wölfe stießen auch bald wieder zu uns und hechteten parallel zu uns durch das Unterholz. Als ich noch einmal einen schnellen Blick zurückwarf, sah ich Finn und die Lichtung nicht mehr, aber sehr wohl eine Horde Monster, die sich durch den Wald pflügte. Ich beeilte mich noch schneller zu laufen.
Kapitel 6 - Teil 6
Lionatras
Eine dunkle, riesige Gestalt tauchte plötzlich vor uns auf. Auch sie pflügte sich durch den Wald, mähte dabei noch einige Bäume um und kam mit riesigen Sprüngen direkt auf uns zu. Schwarzes Fell glänzte fettig durch die kleinen Sonnenflecken, die durch die Baumkronen drangen und zwei gelbe Augen wütend aufleuchten ließen. Das, was uns dort entgegen kam machte mir mindestens genau so viel Angst wie die Monster hinter uns. Koan bemerkte es auch und machte einen großen, respektvollen Satz zur Seite, zog mich hinter sich her und schon preschte das Wesen um Haaresbreite an uns vorbei. Es beachtete uns nicht weiter, sondern setzte brüllend zum Sprung in Richtung der Monster an. Diese hoben ihre funkelnden Speere, in die es mit seinem ganzen Gewicht hineinflog. Eine einzelne Träne zeichnete sich auf Koans Wange ab, als er sich schnell wieder umdrehte, mich weiter zog und nicht zurück blickte. Dem Poltern und Brüllen nach zu urteilen würde uns das, was auch immer das gerade gewesen sein mochte, einen gewissen Vorsprung verschaffen, doch bald hörte ich wieder das Klappern der schweren Metallrüstungen in unserem Rücken.
Wir kamen an einen Bach. Vielleicht war es der, in dem ich eines Nachts gelegen hatte. Es schien so fern. Aber es war letztendlich auch egal. Auf Koans Gesicht zeichnete sich etwas ab, das ich nicht ganz deuten konnte. Ich war völlig außer Atem und wusste nicht, wie ich es schaffte überhaupt noch einen Schritt vor den anderen zu tun, aber ich schaffte es. Und so sollte es auch bleiben. Ich konnte noch leben! Also musste ich auch die Zähne zusammenbeißen und die Pochenden Schmerzen, die sich scheinbar überall in meinem Körper häuslich niedergelassen hatten, ignorieren.
Koan, der meine Hand noch immer nicht losgelassen hatte, zog mich weiter und rief den Wölfen zu, dass sie fliehen und sich verstecken sollten. Sie verstanden, bogen in die Tiefen des Waldes hinein ab und waren innerhalb von Augenblicken ohne ein Geräusch verschwunden, als ob sie nie da gewesen wären. Sie würden es schaffen den Monstern zu entkommen. Wir…vielleicht auch. Verglichen mit den Wölfen musste ich ja fast in den Ohren der Monster schmerzen, so fern sie Ohren haben, so laut war ich. Koan neben mir setzte sicher einen Schritt vor den nächsten, trat dabei auf keinen losen Stein oder trockenen Ast, während ich durch den Wald polterte und scheinbar alles mitnahm, das Lärm verursachen konnte. Nicht ohne Neid schaute ich auf seine Füße, unter denen der Waldboden nur so dahinfloss. Aber ich sollte besser auf meine eigenen Füße achten, denn ich kam prompt ins Stolpern. Koan fing mich mit einer Hand auf und zog mich weiter. Er schien gar nicht außer Atem zu sein. Ein schelmisches Grinsen umspielte seine Lippen, als er sich plötzlich zu mir wandte und mich fragte »Du mir vertraust?« Die Frage kam ziemlich überraschend, aber ich nickte schwach. Ja, ich vertraute ihm. Ohne ihn wäre ich jetzt schon längst tot. Genau wie Finn… »Okay. Halt dich fest an mir, wenn ich „jetzt“ sage! Vertrau mir.«
Die Bäume lichteten sich und ich meinte über mein Getrampel das Rauschen von Wasser zu hören. Plötzlich tat sich eine Schlucht vor uns auf, in die das Wasser des Baches, der sich noch immer neben uns schlängelte, geradewegs hinabstürzte. Aus einem Reflex heraus wollte ich langsamer werden, doch Koan zog mich weiter. »Vertrau ihm« ermahnte ich mich selbst.
Er zog sich seinen Bogen und seine Habseligkeiten von der Schulter, warf sie in einer fließenden Bewegung über die unausweichlich näherkommende Kante, rief »JETZT!« und sprang. Ich sprang ebenfalls und klammerte mich fest an ihn, während der freie Fall mir unbeschreiblich im Bauch kitzelte und mir ein tiefes Brüllen entlockte. Wo man springt, so muss man auch landen. Wo würden wir aufkommen? Mein Leben hing an der Hand dieses Jungen.
Kapitel 6 - Teil 7
Lionatras
Kaum einen Moment später kam der harte Aufprall, der mir alle Luft aus den Lungen presste. Koan wurde von mir fortgerissen und alles wurde für einen Moment schwarz um mich herum. Ich schlug die Augen auf, sah nur sprudelndes Wasser und versuchte panisch oben zu finden. Ich schwamm dort hin, wo ich oben am ehesten vermutete und mein Kopf durchbrach einen Moment lang die Oberfläche und ich atmete japsend ein, doch alles, was ich im meine Lungen bekam, war eiskaltes Wasser. Ich wurde von all dem Wasser, das mir auf den Kopf prasselte wieder zurückgedrückt. Verzweifelt strampelte ich dagegen an, doch es zog mich weiter in die Tiefe. Sollte das nach all dem, was ich heute durchgemacht hatte doch noch mein Ende sein? Warum hatte ich ihm bloß vertraut? Doch auf einmal tauchte ein starker Arm aus der Dunkelheit auf, packte mich am Kragen und zog mich mit kräftigen Zügen ans Ufer, wo ich noch eine Sekunde lang Hustend und nach Luft schnappend mit den Beinen im Wasser liegen blieb. Das Wasser war eiskalt, doch die Luft war auch nicht viel wärmer. Dieser Tag war eindeutig zu viel für mich. Wenn ich morgen nicht todkrank sterbe, werden die Götter wohl eine schützende Hand über mir gehabt haben. Aber wer weiß, was heute alles noch passieren wird. Ich sah Koan an, der sich in diesem Moment das Wasser aus seinen jetzt fast weißen Haaren schüttelte. Diese Angewohnheit konnte er nur von den Wölfen haben, schmunzelte ich in mich hinein. Dann fielen mir die Monster wieder ein und ich warf einen hastigen Blick zum oberen Rand der Schlucht. Sie standen dort ratlos nebeneinander und schauten zu uns und ihren Artgenossen hinunter, die uns hinterher gesprungen waren. Aber scheinbar konnten sie nicht schwimmen, denn außer röchelndem Platschen unter dem Wasserfall konnte ich nichts erkennen. Sie ertrinkend sterben zu sehen versetzte mir allerdings keinen Stich, sondern nur pure Genugtuung. Koan hatte mich tatsächlich zwischen einem halben dutzend Bestien aus dem Wasser hervorgezogen. Er hatte einmal wieder mein Leben gerettet. Es wurden noch ein paar Salven Pfeile herabgeschossen, doch kein einziger kam seinem Ziel auch nur nahe. Wir waren zu weit weg.
Koan schnappte sich seinen Beutel und Bogen, die wie durch ein Wunder zwar nass, aber unversehrt geblieben waren, warf sie sich wieder über die Schulter, gab mir die Hand, zog mich hoch und schob mich langsam weiter, entlang dem Fuße der Schlucht.
Wir ließen rund vier dutzend Monster zurück, die uns machtlos hinterher sahen. Ich prägte mir den Anblick gut ein. Wer weiß, wann ich so etwas noch einmal sehen würde. Ich hatte Kaldes viel zu erzählen.
Wir gingen zügig weiter, aber rannten nicht mehr, während eine überraschend warme Brise unsere Kleider trocknete. Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Koans Gesicht, während mir die Tränen über Finns Tod in einem Strom über die Wangen liefen.
Ich wusste nicht mehr, wie lange wir beide schon schweigend nebeneinander liefen und dem gewundenen Verlauf der Schlucht folgten. Ich konzentrierte mich nur noch darauf, die umherschwirrenden Gedanken an Finn aus meinem Kopf zu verbannen und versuchte einfach einen Schritt vor den nächsten auf dem felsigen Boden zu setzen. Dem Licht nach zu urteilen waren wir aber schon eine ganze Zeit lang unterwegs. Die herbstliche Sonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen und schien geradewegs in den Canyon hinein. Tiefschwarze, scharfe Schatten zeichneten die Umrisse der Felsen auf den Boden. Rotoranges Licht blendete mich und ließ die steinige Umgebung in krassen, unwirklichen Kontrasten scheinen. Fluffige Wolken bedeckten den Abendhimmel, in dem ein paar wenige Schwalben nach Insekten jagten. Ich blinzelte in die Sonne hinein. Die Ränder der Schlucht schienen abzuflachen und sich dem Boden anzunähern. Koan warf mit einem sehnsüchtigen Glitzern in den Augen einen Blick zurück.
»Wir…« Er räusperte sich, schüttelte den Kopf und ließ die Schultern hängen. Ohne Vorwarnung ließ er sich auf den Hintern fallen. Mit einem heftigen Ruck kam er auf. Das musste weh getan haben, doch er verzog keine Miene und starrte nur in die untergehende Sonne. Ich blieb verwundert stehen und sah ihn an. Seine Wangenknochen stachen in dem diffusen Licht stark hervor, warfen Schatten auf sein Gesicht und ließen ihn noch abgemagerter erscheinen, als er es eh schon war.
»Wo soll ich jetzt hin? Ich habe kein… Zuhause mehr.« Fragte er verzweifelt jemand unbestimmten. Eine einzelne, wie flüssiger Kristall glitzernde Träne bahnte sich ihren Weg dem Erdboden entgegen. Er sah verloren und verlassen aus, wie er da so saß. Einsam und hilflos. Erschöpft und hoffnungslos. Ganz anders, als er sonst aufgetreten war. Eine Welle des Mitleids überkam mich.
Ich hatte zwar auch kein Zuhause mehr, aber das hatte ich freiwillig verlassen. Doch ihm wurde es genommen und er hatte Freunde zurückgelassen, die ihn liebten und schätzten. Denn nichts anderes als Freunde konnten die wunderlichen Tiere für ihn sein. Das wurde mir in diesem Moment klar und wie sehr er sie vermissen musste.
Ich hockte mich neben ihn und legte ihm etwas nervös vor seiner Reaktion einen Arm um die Schulter. Er zuckte zusammen, doch wehrte sich nicht. Stattdessen starrte er weiter in die Sonne, die die Spuren seiner Tränen trocknete.
»Weißt du, ein Zuhause kann man verlieren, aber man kann auch ein neues finden, mit anderen, die dich vielleicht genauso mögen, wie deine kleinen Freunde.« Meine gut gemeinte Zusprache schien ihre Wirkung zu verfehlen, denn es passierte genau…nichts.
»Außerdem ist es ja nicht für immer. In ein paar Tagen sind die Monster bestimmt wieder abgezogen oder von den Menschen getötet worden und du kannst dort hin zurückkehren.«
Diesmal schien ich ihn besser zu erreichen. Er starrte zwar immer noch in die Sonne, aber er ließ seinen Kopf abwesend gegen meine Schulter fallen und kuschelte sich tief erschöpft ein wenig an mich. Ein magisches Kribbeln durchzuckte mich, von der Stelle an der sein Kopf mich berührte. Es war irgendwie angenehm, wenn auch fremd.
Moment. Ich erinnerte mich an meine Worte. Wussten die Königreiche überhaupt von den Eindringlingen? Wie sollten sie benachrichtigt worden sein? Von dem Kampf, von dem Koan erzählt hatte, war keiner entkommen und Finn war…Ich verkrampfte mich.
»Wir müssen sie warnen…« murmelte ich in mich hinein, während ich die Wolken anstarrte. Koan hob den Kopf und wandte ihn mir zu. »Hm?« brummte er.
Ich ließ ihn los, sprang auf und klopfte ein paar Steinchen von meinen Handflächen.
»Wir müssen sie warnen.« sagte ich diesmal bestimmter und sah ihn dabei an. »Na die Königreiche.« präzisierte ich mich, nachdem er fragend eine Augenbraue gehoben hatte. »Sie wissen noch nichts von den Monstern. Wenn sie nichts von ihnen wissen, können sie auch nicht bekämpft werden, ziehen weiter mordend durch die Lande und werden auch deine Höhle nicht verlassen. Wir müssen nach Silberfels, meinen Vater warnen, oder wenigstens in eins der Dörfer und einen Boten losschicken.«
Er schien gar nicht begeistert von dem Plan zu sein. Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, zu viele Leute. Und langer Weg.«
Letzteres hatte er noch schwach hinzugefügt, scheinbar fast, um sich selbst zu überzeugen.
»Wovor hast du Angst? Sollten sie dich vertreiben, weil du anders bist?« warf ich ihm an den Kopf. Das schien ihn zu treffen und ich merkte, dass ich der Wahrheit unangenehm nahe gekommen war. Ich bereute meine Worte sofort wieder. »Das bildest du dir doch nur ein. In meiner Gegenwart wird schon nichts passieren.« fügte ich schnell hinzu. Ich glaube er war ziemlich leicht zu verletzen. Doch er sah mich nur mit unüblich kleinen Pupillen und leicht geöffnetem Mund an.
»Na gut, wie du willst. Dann geh ich eben alleine. Es war schön dich kennen gelernt zu haben. Danke, für deine Hilfe und dass du mir das Leben gerettet hast.«
Ich wandte mich um und machte mich daran die letzten Höhen der Schluchtränder zu erklimmen, in der Richtung, in der ich Silberfels vermutete.
Ich hatte echte Gewissensbisse ihn einfach so zurück zu lassen. Er hatte mir schließlich ein paar mal das Leben gerettet und ich hatte ihm nichts dafür zurückgeben können.
»Er kommt schon alleine klar. Musste er immer schon.« meldete sich eine böse Stimme in meinem Kopf. Doch die Gewissensbisse lösten sich in Luft auf, als ich seine zaghafte Stimme in meinem Rücken hörte.
»Ähh…Lio, wo du willst hin?« Ich schaute mich um. Er war geschmeidig aufgestanden und zeigte in die entgegengesetzte Richtung. »Nächste Menschen die Richtung.« In der Ferne waren Rauchfahnen am Horizont erkennbar. Ergeben machte ich mich wieder an den Abstieg, doch er kam mir zuvor, pflückte mich von der Wand, auf der ich scheinbar gerade mal einen guten Meter erklommen hatte und setzte mich behutsam auf den Boden. Er sah mich nicht an, drehte sich in die Richtung der Rauchfahnen und übernahm wieder die Führung. Während ich so hinter ihm her trottete und auf seine drahtigen Schultern hoch schielte wunderte ich mich ein mal mehr, wie stark er war. Ein Leben im Wald scheint da sehr hilfreich zu sein.
Ich fand es schön, dass er seine Meinung noch geändert und doch noch mitgekommen war. Ohne ihn hätte ich mich wieder einmal verlaufen. Und ich war gerne in seiner Gegenwart.
Kapitel 6 - Teil 8
Lionatras
Die Dämmerung hatte den Wald erobert, als wir uns dem Waldrand näherten. Die Vögel hatten ihr Lied bereits niedergelegt, als die Sonne hinter den Zweigen verschwunden war. Zwischen den Bäumen konnte man bereits das warme Leuchten der Herdfeuer eines Dorfes erahnen. Darauf hatten Koan und ich uns letztendlich geeinigt. Er würde nicht in die größte Stadt des Königreiches gehen und ich würde meinem ehemaligen Zuhause auch nicht zu nahe kommen. Würden sie mich sehen, würden sie mich festhalten, dessen war ich mir sicher. Es war die beste Lösung für uns beide, dass wir uns im nächst besten Dorf Hilfe suchten. Ich sog fast ein wenig genüsslich den vertrauten Geruch von glühendem Holz und warmer Suppe ein. Irgendwo fühlte es sich auch gut an, wieder unter Menschen zu kommen. Viel war in den letzten Tagen passiert.
Koans Silhouette bewegte sich raubkatzengleich und lautlos vor mir durch den dunkler werdenden Wald. Das Glühen vor uns verstärkte seine Umrisse und so konnte ich sehen, wie er sich anspannte und die Hand zur Faust ballte. Laut sog er die Luft durch die Nase ein. Irgend etwas war nicht in Ordnung.
Auch ich schnupperte erneut und dieses Mal bemerkte selbst ich es. Der Geruch nach Rauch war zu intensiv. So hatte es nie in der Stadt gerochen, bis auf ein Mal vor vielen Jahren…
Glut erfüllte den Nachthimmel und Schreie zerrissen die Stille.
Die Flammen züngelten gierig an den Wänden der Häuser empor.
Ich sah von meinem Balkon aus wie die Funken hoch stoben und ein Gebäude nach dem anderen in Brand setzten.
Menschen rannten wie aufgescheuchte Tiere durch die Gassen.
Die einen flohen mit ihren wenigen Habseligkeiten vor der zerstörerischen, ungnädigen Wut der Flammen und die anderen schritten tapfer auf sie zu, um ihnen Einhalt zu gebieten.
Ein Funke schwebte sachte glühend vor meinen Augen und wippte im Wind.
Ich sah ihn verwundert an und die Welt dahinter schien zu verschwimmen und leise zu werden.
»Wie kann etwas so Schönes nur so grausam sein?« fragte ich mich, als der Funke sich schaukelnd auf meine Hand setzte und mich biss.
Ich erinnerte mich und eine tiefe, formlose Angst umfasste mich, während wir uns weiter vorsichtig dem Waldrand näherten. Das Nächste, was hörbar wurde, war der Lärm. Es war der gleiche, wie damals. Doch etwas war anders. Man hörte Schmerzensschreie, das Gebrüll von Menschen, die gegen das Übel in den Kampf zogen und das Aufeinandertreffen von Stahl auf Stahl. Die Monster waren hier. Wir kamen zu spät. Nichts hatte sie gewarnt.
Wir erreichten den Waldrand, hinter dem sich in einigen hundert Schritt Entfernung das lichterloh brennende Dorf befand. Der Kampf schien beinahe schon beendet zu sein. Wir sahen gerade noch, wie der letzte, tapfere Mensch mit einem Schwert in seiner Brust auf die Knie sank. Das Schwert wurde von einer Bestie gehalten, in deren Rüstung sich der Schein des Feuers matt wieder spiegelte und deren Mantel im von Funken durchzogenen Wind wehte.
Geschockt beobachtete ich das tödliche Schauspiel aus der Entfernung. Nichts und niemanden verschonten die Monster. Sie plünderten nicht. Sie zerstörten nur. Zeigten kein Mitleid, keine Reue. Ein nicht zu bändigender Hass erfüllte mich in diesem Moment der Machtlosigkeit. Nichts hätte ich gegen diese Horde ausrichten können, die noch um ein Vielfaches größer war, als die, die uns verfolgt hatte. Nichts, außer mein Leben zu verlieren. Die Monster rotteten sich zufrieden grunzend zusammen, zogen ab und hinterließen ein lebloses, hell brennendes Dorf.
Ich konnte den Blick nicht davon lösen. Ich sah es, ohne es wirklich zu sehen und wahrzunehmen. Am rot glühenden Himmel entdeckte ich einen Stern.
Ich wurde aus meiner Lähmung gerissen, als Koan neben mir schwankte und gegen einen Baum stürzte. Dort blieb er halb lehnend, halb liegend verharren und vergrub sein Gesicht in der Armbeuge.
»Was ist los?« fragte ich erschrocken und legte ihm eine Hand auf den Rücken. Doch er zuckte nur mit der Schulter, grummelte »nichts…« und rappelte sich umständlich wieder auf. In seinen Augen spiegelte sich das Feuer. Er sah nicht so aus, als ob nichts los war. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper, versuchte es aber zu unterdrücken, was ihm nicht sonderlich gut gelang. Er sah mir nicht in die Augen, sondern machte Anstalten sich auf wackeligen Beinen zurück in den Wald zu bewegen. Dieser Junge würde mir immer ein Rätsel bleiben. Ich packte ihn an der Schulter, als er sich an mir vorbei drängen wollte.
»Wir müssen ihnen helfen!« sagte ich eindringlich. Er wandte sein Gesicht für einen Moment in meine Richtung, doch er sah mich nicht. Er schien durch mich hindurch zu sehen. Er drehte den Kopf zurück und setzte seinen Weg fort.
»Du nicht helfen kannst. Dort niemand lebt…mehr. Und sie mir auch nicht geholfen haben als ich sie brauchte.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, während er langsam und wackelig seinen Weg fortsetzte und bald vom dunklen Wald verschluckt wurde. Es war mittlerweile nur noch der letzte Lichtschimmer am Himmel erkennbar. Nur die Flammen erhellten die Umgebung fast taghell in ihrem gespenstischen Licht. Ich stand einige Zeit auf der Stelle und sah zwischen dem dunklen Wald und dem brennenden Dorf hin und her. Schließlich entschied ich mich doch, meinem Herzen zu folgen und nachzusehen, ob es Überlebende gab.
Kapitel 6 - Teil 8
Lionatras
Schnell rannte ich auf das Dorf zu. Den ersten, größten Teil der Strecke legte ich recht zügig zurück, doch dann wurde ich immer langsamer und musste mir einen Ärmel vor den Mund halten. Dichter Rauch schwängerte die Luft und erfüllte sie mit einem beißenden Geruch. Fast wie Fleisch, das zu lange über dem Feuer hing… Ich dachte besser gar nicht länger darüber nach. Die Luft waberte und flimmerte, die Flammen erleuchteten den Rauch diffus. Nichts war zu hören, außer dem Knacken des verbrennenden Holzes und dem Rauschen der Flammen. Es war hell, doch ich konnte nichts erkennen. Fast meinte ich, dunkle Schemen vor den Flammen zu erkennen, die sich bewegten. Ich bahnte mir geduckt meinen Weg weiter und erreichte schließlich die ersten Brände. Ich war mir ziemlich sicher, dass dies die Stelle gewesen war, wo ich die Bewegung gesehen hatte, doch hier war nichts. Ich hustete. Die Hitze war allgegenwärtig und das Atmen fiel trotz des Ärmels schwer. Funken und brennende Pergamentstücke segelten durch die Luft. Es knackte laut über mir und ich machte einen reflexartigen Sprung zurück. An der Stelle, an der ich eben noch gestanden hatte, ging ein brennender Balken zu Boden und wirbelte viele Funken vom Boden auf. Ich drehte mich vor der Hitzewelle weg, doch sie sengte mir dennoch die Haare an. Mein Mantel hatte an einer Ecke Feuer gefangen. Ich klopfte den kleinen Brand schnell aus und beeilte mich, weiterzugehen, weiter in das brennende Dorf hinein. Man konnte nicht mehr unterscheiden, was Haus oder was Hof gewesen war. Es glich alles einem gigantischen Trümmerfeld, aus dem brennende Balken hervorragten, wie verschmorte Finger, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Ich sprang über Glutnester und umschiffte die größten Brände.
Auf einmal hörte ich etwas klappern. Es kam links von mir aus etwas, was einmal ein Stall gewesen sein könnte, aber nun lichterloh in Flammen stand und dessen Dach teilweise eingestürzt war. Die Tür war von außen abgesperrt und jemand versuchte panisch von innen sie aufzubrechen. Schnell schob ich den glühenden Riegel zur Seite und verbrannte mir dabei die Finger, doch das war egal. Kaum, dass die Tür entriegelt war, flog sie auch schon auf und ein weißes Pferd kam mit verdrehten Augen und brennender Mähne heraus galoppiert. Binnen von Sekunden hatte der Rauch es verschluckt. Einen Moment später brach der Stall vollständig ein und begrub alles, was sich eventuell noch darin befand unter einer dicken Schicht von brennenden Trümmern. Ich sah mich weiter um. Mit jedem Schritt, den ich tat, sank die Hoffnung noch jemanden zu entdecken, den die Flammen nicht gefressen hatten. Meine Augen brannten und tränten. Der Rauch wurde immer dichter und mein Ärmel half mittlerweile auch nicht mehr viel. Ich musste in einer Tour husten. Asche flog durch die Luft und vernebelte die Sicht. Der Boden wurde ebener und immer weniger Trümmer und Brände lagen herum. Hatte ich schon das komplette Dorf durchquert? Nein, das konnte nicht sein, rundherum brannte es noch immer meterhoch. Der Rauch wurde lichter. Ich schien den zentralen Dorfplatz erreicht zu haben.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sich schwach eine rußgeschwärzte, zitternde Hand hob. Es war ein älterer Mann, der blutüberströmt erschreckend nahe der gierigen Flammen lag. Ich lief zu ihm. Seine Brust hob und senkte sich schnell und Blut strömte aus einer tiefen Wunde in seiner Brust. Eine dünne Spur zog sich auch aus seinem Mund. Er sah nicht gut aus, aber seine Augen waren noch klar. Er sah mich mit durchdringendem Blick an, während sein Mund auf und zu klappte. Er wollte etwas sagen, aber erst einmal musste er weg von den Flammen.
»Wir bekommen dich schon wieder hin, aber jetzt wirst du einmal mehr tapfer sein müssen. Ich ziehe dich zum Brunnen dort drüben. Weg von den Flammen.« erklärte ich dem Mann mit rauer Stimme. Ich musste immer wieder unterbrechen, um zu husten. Der Mann schien verstanden zu haben. Ich packte ihn vorsichtig unter den Schultern und zog ihn langsam in Richtung des runden Steingemäuers. Er biss die Zähne zusammen und tat sein Bestes, mir zu helfen, aber ihm entfuhr immer wieder ein schmerzgeplagter Schrei.
Schließlich hatten wir den Brunnen dann aber doch noch erreicht und ich lehnte ihn an den kühlen Stein. Als ich ihn losließ, waren meine Hände komplett rot. Er schien sehr viel Blut zu verlieren.
»Du…rst…« krächzte er. Ich wischte mir schnell die Hände an der Hose ab, warf den Eimer in den Brunnen und holte ihn, so schnell ich konnte, wieder hoch. Ich hievte ihn über die Kante und wollte ihm den Eimer reichen, doch dann bemerkte ich die dicke Ascheschicht, die auf dem trüben Wasser schwamm. Ich schöpfte sie schnell ab und setzte ihm den Eimer dann an die Lippen. Und ich muss schon sagen, dieser Mann hatte Durst. Erst nachdem die gute Hälfte des Inhalts seinen Rachen hinabgestiegen war, schüttelte er den Kopf und bedeutete mir, dass er genug gehabt hatte. Ich warf den Eimer zurück in den Brunnenschacht, wo er nach einem Moment platschend im Wasser aufkam.
»Du wirst schon wieder.« versuchte ich ihm Mut zuzusprechen und klopfte dem Mann leicht auf die Schulter. Doch dieser schüttelte nur mit dem Kopf und winkte mich näher zu sich heran. Er sprach mit sehr leiser, schwacher Stimme.
»Nein, das weiß ich besser. Das da« er deutete mit dem Kinn auf seine Brust »bekommt so schnell keiner mehr hin. Aber Junge, das waren Monster.« er packte mich am Arm und sah mich eindringlich an. »Du solltest von hier verschwinden, dies ist kein sicherer Ort. Vielleicht sind sie noch hier, du hast dein Leben noch vor dir…« Er begann sich in Rage zu reden, also hielt ich es für besser ihn zu unterbrechen und ein wenig aufzuklären.
»Ich weiß, dass es Monster waren. Sie sind uns bereits im Wald begegnet. Wir wollten eigentlich dieses Dorf aufsuchen, um es zu warnen und einen Boten nach Silberfels zu schicken, aber wir waren zu spät. Ich suche hier nach Überlebenden, aber die Monster waren gründlich. Ich werde in das nächste Dorf ziehen müssen, um es zu warnen.«
»Das ändert einiges. Dann weißt du schon alles, was du wissen musst. Das nächste Dorf wird allerdings schon mitbekommen haben, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist und sich entsprechend vorsichtig verhalten. Es ist lange her, dass die Monster so tief in unser Gebiet eingedrungen sind. Es bedeutet großes Unheil.« Er machte eine kurze Pause.
»Wen meintest du mit „wir“?« fragte er schließlich.
»Ich bin mit einem… Freund unterwegs. Er…kennt den Wald gut, um es mal so auszudrücken.« erklärte ich ausweichend.
»Soso…« brummelte der Mann, scheinbar wohl wissend, dass ich ihm nicht die ganze Wahrheit erzählte. »Dann hoffe ich mal, dass du weißt, was du tust. Es sind merkwürdige Leute draußen im Wald unterwegs.« Oh ja, wie sehr konnte ich das nur bestätigen.
»Mit jedem Herzschlag verlässt mich mein Lebenssaft mehr. Ich habe nicht mehr viel Zeit.«
»Du wirst nicht sterb…«
»Jetzt halt den Mund!« Fuhr mich der Mann forsch an, was sein Körper ihm mit einem heftigen Schmerz zu quittieren schien, denn er sank zähneknirschend zurück an die Brunnenmauer und starrte in die Ferne.
»Ich habe dir etwas zu sagen. Du scheinst mir ein besonderer Bursche zu sein. Selten habe ich solch ein Licht in einem Menschen leuchten sehen, wie in dir. Doch heute sind es bereits zwei. Dort droben, im Wald, sitzt ein zweites auf einem umgestürzten Baum. Es scheint auf etwas zu warten. Ich vermute mal auf dich. Dieses Licht überstrahlt deines noch einmal um eine gewaltige Note. Ich weiß nicht was es zu bedeuten hat, ich weiß nur, dass es etwas zu bedeuten hat. Und ich werde es vermutlich auch nie herausfinden. Aber ihr zwei, ihr werdet einander brauchen. Und ihr werdet etwas bewegen, zum Besseren, wie ich doch hoffe. Ich will euch die Unterstützung geben, die ein armer Mann euch geben kann. Hier, nimm dies, als ein Zeichen meiner Hoffnung. Einer Hoffnung, die auch diese Monster, seien sie noch so vielzählig, niemals zerstören können. Ich setze mein Vertrauen in dich, mein Junge.« Beinahe feierlich drückte er mir den Knauf seines blutbesudelten Schwertes an die Brust und zückte seinen Dolch. »Schieb deinen Ärmel hoch. Keine Sorge, es wird nicht sehr weh tun.« Ein wenig verdutzt tat ich wie geheißen. Der Mann machte sich mit letzter Kraft daran, mit behutsamen Schnitten ein verschlungenes Muster in meinen Unterarm zu schnitzen. Es tat tatsächlich nicht sehr weh, es kribbelte eher. Schließlich endete er und setzte das Messer wieder ab. Ein paar einzelne Blutstropfen quollen aus den Schnitten. Täuschte ich mich, oder glühte das Muster auf? Doch als ich genauer hinsah, glühte dort nichts. Merkwürdig.
Von letzter Kraft verlassen legte mir der Mann auch den Dolch in die Hand, sackte zurück an die Brunnenmauer und sah mich an.
»Das ist alles, das ich für euch tun kann. Das Zeichen wird dir auf deiner Reise behilflich sein. Wann und wie, vermag ich nicht zu sagen. Du kannst jetzt gehen. Ich halte hier die Stellung. Und selbst wenn nicht, so werden die Nachbarn doch das hier finden.« Er öffnete eine Hand und brachte etwas zutage, das erst wie ein Stückchen Stoff aussah. Doch es war kein Stoff, sondern ein Stück schuppige Haut. »Das werden sie erkennen und der Gefahr entsprechend reagieren.« Er entspannte sich, ließ den Kopf in den Nacken sinken und schaute durch den wabernden Rauch in den Himmel. »Die Sterne sind schön heute. Mach es gut mein Junge. Du wirst alles richtig machen, wenn du nur auf dein Herz hörst. Mache der Herrschaft des Feuers ein Ende.« Er seufzte und flüsterte »Ich komme, Victoria…« mit diesen letzten Worten schloss er die Augen und setzte ein seliges Lächeln auf. Sein Brustkorb senkte sich ein letztes Mal und hob sich dann nicht mehr.
Eine Träne kullerte meine Wange hinunter, doch sie stammte nicht von dem Qualm.
So viele Fragen brannten mir auf der Zunge, doch sie würden nicht beantwortet werden.
So viel hatte mir dieser alte Mann gegeben, doch nichts hatte ich ihm zurückgeben können.
Ich stand bedächtig auf und schaute den Mann traurig an. Friedlich und scheinbar glücklich lag er dort. Es sah aus, als würde er schlafen, wäre da nicht das Loch in seiner Brust. Eine ganze Zeit lang stand ich dort so. Ich hatte ihn nur wenige Minuten meines Lebens gekannt, und dennoch hatte er mir ein Vermächtnis aufgebürdet. Die Herrschaft des Feuers…Darauf konnte ich mir keinen Reim machen. Eines Tages… Dieser Mann war mir in wenigen Minuten so nahegetreten, wie selten jemand zuvor. Jetzt war er bei seiner Geliebten.
Bald machte mich auf den Weg zurück in den Wald. Zurück zu Koan. Ich spürte, dass hier niemand mehr lebte. Das Zeichen auf meinem Arm brannte, als ich durch die Flammen schritt und das noch immer lodernde Dorf hinter mir ließ. Auch in meinem Herzen loderte es, doch das Feuer würde mich niemals verletzen, denn es war das Feuer der Hoffnung.