Kapitel 3 - Teil 8
Lionatras
Hinter mir stand Silmor. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Er trug einen schweren Ledersattel über der Schulter und sah mich verächtlich an. »Na? Probleme mit diesem dreckigen Stallburschen?« Er spuckte auf den Boden. »Wenn es dir nichts ausmacht könnte ich ihn ohne Probleme aus dem Weg schaffen…« Das war eine unausgesprochene Drohung. Ein beinahe hysterisches »Nein!« kam über meine Lippen. »Nein? Ist da vielleicht doch was zwischen euch? Du weißt doch, was für eine Schande das wäre…« Ich konnte es bei seiner Vergangenheit zwar irgendwo verstehen, aber dieser Bruder regte mich Tag für Tag aufs Neue auf. Das bestärkte mich nur noch mehr in meinem Entschluss all das hier hinter mir zu lassen.
»Nein ist es nicht! Ich hatte ihn nur gerade instruiert, wie der Stall richtig sauber zu machen ist. Siehst du diese Flecken da auf dem Boden? Das geht ja gar nicht!« erwiderte ich gereizt. Ich zeigte auf das astreine, saubere Stroh auf dem Boden. Das musste man Finn lassen. Er machte es echt gründlich. »Den knöpfe ich mir vor!« »Es war nicht Finn.« Beeilte ich mich klarzustellen. »Es war ein anderer. Er hat aber nicht gesagt wer.« »Soso, Finn…« murmelte er vor sich hin, als er sich umdrehte, in die benachbarte Box ging und sein Pferd Gladio sattelte. Er murmelte noch ein ganzes Weilchen vor sich hin.
Da ich dem nichts mehr hinzuzufügen hatte gab ich Flocke zum Abschied einen letzten Klaps auf den Hals, pfiff Wiesel herbei und ging schnell aus dem Stall, wobei ich Silmors Blick noch lange in meinem Rücken spürte.
Ich trat aus dem trüben, staubigen Dämmerlicht hinaus in die gleißende Sonne des Burghofes und sah mich nach Finn um. Doch ich konnte ihn nirgendwo sehen, was ich letztendlich doch schade fand. Aber es war besser so. Ein letztes Mal sah ich mir alles ganz genau an. Ich würde nie wieder hierher zurückkehren. Ich atmete tief durch. Es würde eine lange Reise werden, deren Ende ich nicht vorhersehen konnte. Das Schicksal, die Alten Götter oder wer auf immer werden mir schon den Weg weisen. Voller Zuversicht machte ich mich auf den Weg und ging ein letztes Mal durch das hohe Tor, das die Burg von der Stadt trennte.
Unter mir erstreckte sich nun Silberfels in hellem Sonnenschein, das viele hunderte, wenn nicht gar tausende von eng an den Berg gedrängten Häusern umfasste, deren Dächer die Nachmittagssonne gleißend reflektierten. Ein leiser Wind flüsterte durch die schwindenden Baumkronen und fegte einige Blätter in verschiedensten orange- bis rot-tönen in die Luft, trug sie hinab ins Tal und brachte den leichten Geruch von Herbst mit. Die Häuser sahen alle mehr oder minder gleich aus. Sie waren alle alt und stammten zu einem großen Teil noch aus den Gründungszeiten von Silberfels. Keine der neueren Hausbaumethoden konnte es mit der von damals aufnehmen. Natürlich gab es kleinere und größere, schönere und baufälligere Häuser, dennoch waren sie alle aus weißem, teils recht grob gebrochenen Stein gebaut und ihre Dächer bestanden aus kleinen Schindeln, die silbern schimmerten. Aus demselben Stein wie die Schindeln war auch der Berg, auf dem die Burg Silberfels stand. So kam alles zu seinem Namen.
Im Silberfels selber wurde in den letzten Zeitaltern tief geschürft, etliche verlassene, eingestürzte und verzweigte Stollen zeugen davon, doch dies wurde aufgegeben, weil nichts darauf hindeutete, dass das silberne Gestein irgendeinen Verwendungszweck außer dem Häuserbau haben könnte. Die alten Mienen sind nun seit Jahrhunderten unbenutzt, bis auf Gesindel wie Schmuggler und Schwarzhändler. Sie sind die Einzigen, die sich in den verschachtelten und düsteren Gängen zurechtfinden.
Ich blieb einen Moment hier oberhalb aller Dächer stehen und ließ den Eindruck auf mich wirken. Man musste den Vorfahren schon lassen, dass sie ein außerordentliches Gespür für Schönheit hatten. Alles schien im Einklang mit dem blauen Himmel, den weitläufigen Feldern und dem dahinter liegenden Wald. Die Stadt verschwamm zwar nicht mit der Natur, aber dennoch machte sie den Eindruck, als würde sie hier hingehören und schon seit Anbeginn der Zeit hier stehen.
Nach einem letzten Seufzer setzte ich meinen Weg fort und schritt zügig die breite, gewundene mit sandfarbenen Steinen gepflasterte Allee hinab, die die Hauptstraße der ganzen Stadt war. Sie schlängelte sich von dem Haupttor weit unten über die vielen Terrassen und Ebenen, aus denen diese Stadt bestand durch einige Viertel hindurch hinauf zur Burg. Demnach war diese Straße auch viel befahren: Unzählige Bauern trieben ungeduldig ihre Esel zu Höchstleistungen an, um das frisch geerntete Getreide den doch recht steilen Weg hinauf in die Burg zu den Kornspeichern zu bringen, betuchtere Damen stiegen mit gerafften Kleidern und gerümpften Nasen über die Hinterlassenschaften der Esel, schnatterten dabei über die neueste Mode, Eilkuriere galoppierten mit ihren Pferden in jeden Teil der Stadt und zur Burg zurück und arme, in Lumpen gekleidete und abgemagerte Jungen schnappten sich hier und dort unauffällig einen Apfel aus einem der Wagen.
Zunächst, auf den höheren Ebenen, führte die Straße durch die Stadtteile, die es zu recht anschaulichem Wohlstand gebracht hatten. Hier waren die Häuser sehr hoch, reich geschmückt an Verzierungen und stilvoll angemalt. Gepflegte Bäume und Beete säumten die Allee.
Zwischen allen Häusern konnte man die in regelmäßigen Abständen verteilten mystischen Türme sehen. Sie waren gut vier mal so hoch, wie die umliegenden Häuser, aus einem schillernden blauen Material gebaut und niemand wusste, wozu sie da waren. Bei Sonnenschein wagte sich niemand auch nur in die Nähe dieser Türme, da alle Dächer der Häuser zu mindestens einem der Türme gerichtet waren und sie das Licht der Sonne auf das blaue Material warfen, das das Licht allerdings vollkommen verschluckte. Bei Sonnenschein war es um die Türme herum so warm, dass jeder, der ihnen zu nahekam, schlimme Verbrennungen davontrug. Man hatte schon mehrfach versucht, sie abzureißen, um einerseits Platz für neue Häuser zu schaffen, denn die Stadt quoll über und um andererseits die Gefahrenquelle aus dem Weg zu räumen. Nur wie es das Schicksal so wollte hatten die Vorfahren die Türme so massiv gebaut, dass nichts, was wir heute kannten, sie zerstören konnte.
Ich setzte den Weg weiter über die Hauptstraße fort, wobei diese mit abnehmender Höhe immer voller wurde. Immer mehr stinkende, ärmlich gekleidete Menschen waren auf der Straße unterwegs und immer mehr Unrat lag auf der Straße. Wiesel lief mit eingezogenem Schwanz eng neben mir, ihm war dieser Menschenauflauf gar nicht geheuer. Rechts und links der Straße türmten sich die Häuser direkt an und teilweise auch über dem Bordstein, winzige Gassen, so schmal, dass kaum ein Mann aufrecht und mit ausgestreckten Armen hindurch gehen konnte, durchzogen das Gewirr der Häuser, zwischen denen vielerorts Wäscheleinen und Bretter zum Überlaufen in andere Häuser hingen.
Etwa auf halber Höhe des Berges befand sich der große Marktplatz, durch den die Straße hindurch lief. Mittlerweile war es keine Allee mehr. Wenn es mal eine war, dann wurden wohl über die vielen Winter hinweg die Bäume gefällt um wenigstens etwas Brennholz zu haben oder sie wurden von den Menschenmassen einfach überrannt.
Ich schlenderte kurz zu einem der zahlreichen Marktstände, schnappte mir eine gutaussehende Frucht und warf dem Händler eine Silbermünze zu. Er freute sich wahnsinnig über sein Glück. Wahrscheinlich war eine Silbermünze zu viel, aber ich hatte auch keine Lust lange in der Tasche herum zu kramen. An einem anderen Stand kaufte ich Wiesel ein paar Würste.
Weiter unten, kurz vor dem Haupttor der Stadt stand es noch schlimmer um die Menschen. Die Häuser waren verdreckt, teilweise einsturzgefährdet und generell mehr grau als weiß. Die Gassen waren noch enger und noch verschmutzter. Entlang der Hauptstraße waren Wachen aufgestellt, um das Gesindel in den Gassen von der Straße fern zu halten, denn dieser Teil der Stadt war das Territorium der Diebe, Mörder und anderer Verursacher böser Machenschaften.
Kurz darauf erreichte ich die riesige, weiße Stadtmauer. Sie war fast 30 Mann hoch, gut gepflegt um eventuellen Angriffen lange standhalten zu können und war mit Soldaten und Wachen gespickt. Die Mauer zog sich rund um die Stadt, in gleichmäßigen Abständen waren massive Türme eingelassen, die noch einmal fast doppelt so hoch wie die Mauer waren und auf deren Spitze sich wieder die blauen Türme wieder fanden. Ich schritt durch das riesige Haupttor, dass kolosshaft über mir gen Himmel ragte. Die Vorfahren hatten zwar einen Sinn für Schönheit, aber trotzdem schienen sie gerne zu übertreiben, dachte ich mir.
Das Tor war eines von vier Toren, die in jede Himmelsrichtung aus der Stadt hinausführten. Dieses war das größte von allen, zehn voll gerüstete Wachen standen auf jeder Seite und betrachteten die vorbeifließenden Massen missmutig. Hinter dem Tor führte die nun nicht mehr gepflasterte Straße hinaus in die Wildnis. Hinaus in die Freiheit. Ich grinste glücklich und schritt etwas weiter aus, um schneller anzukommen, wo auch immer mich mein Weg hinführen würde.
Die Welt hinter dem Tor sah gleich ganz anders aus. Die Straße war nur noch eine von Schlaglöchern gespickte Holperpiste, die durch den starken Regen der letzten Tage völlig matschig und aufgewühlt war. Unzählige Wagenräder hatten tiefe Spurrillen gezogen und man konnte die Pferdeäpfel häufig nicht von Matschhaufen unterscheiden.
Ein breiter Ring von kleinen Holzhütten umzog die Stadt. Hier lebten all diejenigen, die aus der Stadt verbannt waren, oder keinen Platz mehr fanden. Das Königreich quoll über, es gab zu wenig Essen, zu wenig Platz und zu viele Menschen. Leid und Hunger quoll überall aus den unverglasten Fenstern der Hütten. Es stank widerlich nach Aas und Exkrementen. Überall erlosch Leben und gleichzeitig wurde neues, hoffnungsloses Leben geboren. Wie gut, dass ich nicht zu diesem Gesindel gehöre, dachte ich mir nur. Mein Vater würde schon dafür sorgen, dass immer genug zu essen auf den Tisch kam.
Nach weiteren zehn Minuten hatte ich auch diesen unschönen Teil der Stadt verlassen und befand mich nun inmitten der weitläufigen Felder. Die Menschenmasse hatte sich mittlerweile verteilt und immer weniger Menschen kreuzten meinen Weg. Überall waren Bauern auf den Feldern und ernteten Getreide, Hopfen und Früchte. Wiesel war nun ausgelassener, beschnupperte jede Ecke, markierte sein Revier und tollte ausgelassen durch das hohe Gras am Wegesrand. Die Sonne stand hoch am Himmel und beleuchtete die Welt in ihrem herbstlichen Schein. Ich schloss die Augen, hob den Kopf und ließ mir genüsslich das Gesicht vom warmen Sonnenschein umfließen. Orangene Blätter wirbelten im wilden Spiel des Windes durch die Luft und Wiesel fand sichtlichen Spaß daran ihnen hinterher zu rennen und sie aus der Luft zu schnappen.
Nach einiger Zeit erreichten wir eine Weggabelung, die in alle möglichen verschiedenen Teile des Königreichs und auch andere Königreiche führte. Ich stand einige Momente unentschlossen an der Weggabelung und entschied mich schließlich für einen schmalen Weg, der nach Furgudas, einem kleinen Dorf westlich von Silberfels führte. Ich wollte nicht nach Furgudas, aber ich wusste, dass in der Richtung die schönsten Wiesen der Umgebung lagen, und da ich eh gesagt hatte, dass ich einen schönen Nachmittag auf den Wiesen verbringen wollte, dachte ich mir, dass ich das auch ruhig machen könnte.
So schlenderten wir einige Zeit den Trampelpfad unter laubenden Bäumen entlang, der nur sehr wenig begangen war. Auf der gesamten Strecke kam uns niemand entgegen. Das Bündel auf meinem Rücken schnürte sich so langsam unangenehm in meine Schultern. Irgendwann spuckte uns der Weg auf den Wiesen aus. Ich suchte nach einem schönen, halbwegs trockenen und warmen Plätzchen und fand schließlich einen flachen Findling, den die Sonne ordentlich aufgeheizt hatte und auf dem ich mich nun niederließ, nachdem ich den Rucksack neben mir abgelegt hatte. Wiesel tollte auf der Wiese herum und schnappte nach den letzten Schmetterlingen, die sich noch blicken ließen.
Verträumt schaute ich mich um. In meinem Rücken befand sich der Wald, dessen Laubbäume orangerot in der Sonne leuchteten. Linkerhand entsprang ein Bach und schlängelte seinen Weg durch das hohe Gras mit, das mit dutzenden bunten Blumen gespickt war. Die Blumen fingen eifrig die letzten Sonnenstrahlen auf und schienen mit den anderen Blumen um die meiste Sonne zu konkurrieren, denn sie waren alle noch ein mal prächtig aufgeblüht und schillerten in allen Farben und Formen. Etliche Mücken und Insekten segelten durch die Luft, hell umrahmt im Sonnenlicht und wurden von den letzten Vögeln geschnappt, damit sie den Winter überstanden. Vor mir standen keine Bäume und die Wiese lief abschüssig ins Tal hinab. Von hier aus hatte man einen fantastischen Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge, auf deren Kuppen sich schon der erste Schnee abzeichnete. Auch dort war der Wald rotbraun gefärbt und schien in dem hellen Sonnenlicht zu brennen.
So saß ich dort einige Zeit, während die Sonne ihren Lauf nahm. Wiesel hatte sich inzwischen ausgetobt und war unter meinen Arm gekrabbelt, wo ich ihn sanft streichelte. Er genoss es mit einem leisen Brummen. Dort saßen wir nun, betrachteten zufrieden die Landschaft und fühlten uns einfach wohl. Irgendwann nahm ich meinen Rucksack zur Hand, gab Wiesel die Würstchen aß selber die Frucht und nahm ein Buch zur Hand, um es endlich weiter lesen zu können.