Die Herrschaft des Feuers

Kapitel 2 - Teil 7

Paskoan

Ich kroch zurück nach draußen zu dem Rest der Rasselbande, die sich immer noch im letzten Sonnenschein des Jahres ausruhte und neugierig zu mir herüberschaute, als ich aus dem Höhleneingang trat und auf die Feuerstelle zu ging. Ich sah sie an und setzte das hoffnungsvollste und optimistischste Gesicht auf, das meine Mimik hergab. Beruhigt legten sie wieder die müden Köpfe auf die Pfoten, während ich die letzten Schritte zur Feuerstelle zurücklegte, um den Feen ein Dankesmahl zuzubereiten. Ich wollte etwas wirklich tolles machen, so lief ich einige Zeit in der Umgebung herum, sammelte Sirup aus Bäumen, suchte frische, reife Waldbeeren und kramte die verbogene rußgeschwärzte Metallschüssel aus der Höhle und schaute dabei nach meinem Bruder.

Er war mittlerweile wieder bei Bewusstsein und hob benommen den Kopf als er mich bemerkte. Ich wünschte ich könnte ihm die Schmerzen abnehmen, die ihm so offen in den Augen standen und es tat mir weh es nicht tun zu können. So gab ich ihm ein wenig von dem süßen Sirup ab, den er dankbar annahm, leistete ihm noch ein wenig Gesellschaft, streichelte sanft sein weiches Fell und ging schließlich weiter bis ans hinterste Ende der Höhle, wo ich meine wirklich wertvollen Dinge hervorholte. Ich wollte den Feen einfach nur meine Dankbarkeit ausdrücken. Koste es was es wolle, Hauptsache mein Bruder überlebt.

Unter einem Haufen vertrockneter Blätter lag versteckt eine dicke Wurzel, ein Maiskolben, etwas Getreide und ganz zuunterst ein kleines Stück Zucker. Ich nahm alles mit nach draußen und stellte den Topf auf das Feuer, warf den Zucker und den Sirup hinein und ließ alles schön warm werden. Ich plante eine kleine, süße Suppe zu machen. Danach nahm ich den Maiskolben und warf Korn für Korn in den Topf.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Rasche Bewegung. Es waren die Wölfe. Sie hatten Langeweile und waren von dem süßen Geruch ganz aufgeregt, also sprangen sie herum und schnappten nach den flatternden Feen. Diese jedoch waren so flink, dass sie sich niemals würden fangen lassen. Schnatternd flogen sie durch die Gegend, während die Wölfe hinterher sprangen und vor Vergnügen kläfften. Als es den Feen zu viel wurde, streuten sie den Hunden Goldstaub in die Nasen. Erst passierte nichts. Dann blieben sie stehen und verzogen ganz merkwürdig ihr Gesicht. Schließlich begannen sie zu niesen und konnten scheinbar nicht mehr aufhören. Die Feen kicherten nun ihrerseits vergnügt und auch ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.

Auf einmal hörte ich ein »plopp«, gefolgt von noch einem und noch einem. Ich sah, dass der ganze Topf am hüpfen war. Das Essen! Ich hatte es ganz vergessen. Schnell rührte ich um, aber es war schon zu spät. Der Mais hatte sich aufgelöst. Stattdessen waren nun viele merkwürdig geformte weißliche Körner, die sich langsam mit Honig und Zucker voll sogen. Bekümmert senkte ich den Kopf. Ich würde nicht noch mal anfangen können, dazu fehlten mir die Zutaten. Eine Fee flatterte vorbei, schnappte sich frech ein Korn aus dem Topf und biss hinein. Ihr Gesicht hellte sich schlagartig auf und sie verschlang das restliche Korn mit einem Bissen. Es flogen immer mehr Feen heran und stürzten sich auf den Topf. Scheinbar schien es ihnen doch zu schmecken. Ich nahm den Topf vom Feuer und nahm mir auch einen von diesen weißen Krümeln. Sie schmeckten warm, süß und verdammt gut. Vermutlich sogar besser als die Suppe.

Ich gab den Wölfen auch etwas ab und diese verspeisten es genüsslich. Selbst mein verwundeter Bruder mochte es. So lagen wir alle zufrieden im Gras am Höhleneingang, aßen diese süßen Körnchen und dazu die Waldbeeren und schauten durch das sich immer weiter lichtende Blätterdach in die Sonne.

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Paskoan erfindet erstmal Popcorn – läuft bei ihm :joy: :+1:

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@Zuri Es muss ja auch mal glückliche Fügungen im Leben geben. :smiley:

Kapitel 2 - Teil 8

Paskoan

Nach einiger Zeit stand ich auf und ging einige Schritte in den Wald hinein, riss mir einen biegsamen, und geraden Ast von einem Nussbaum ab und nahm ihn mit zurück zur Lichtung. Dort setzte ich mich in die Mitte meiner Wolfsbrüder und Feen, schnitzte mit dem Messer ein paar Zweige und Blätter weg, kerbte die Enden ein und spannte die Sehne dazwischen. Die Feen gaben noch den ein- oder anderen hilfreichen Vorschlag und nach einiger Zeit hielt ich einen gespannten, geraden Bogen in den Händen. Es brauchte schon einige Kraft, um ihn zu spannen, aber das war für mich eher weniger das Problem.

Als die Sonne schon um einiges tiefer stand machte ich mich auf, um Essen für die folgenden Tage zu sammeln. Zwei der Wölfe begleiteten mich, der Rest blieb bei der Höhle und passte auf. Ich zog durch den halben Wald, zupfte hier ein paar fruchtige Beeren von einem Strauch, ließ dort ein paar Kastanien vom Baum regnen, grub woanders ein paar Wurzeln aus und so weiter. Die Wölfe halfen mir mit ihren guten Nasen, denn sie fanden immer die besten Sachen. Irgendwann kam ich dem Waldrand immer näher. Die Neugier und die Sehnsucht zogen mich immer wieder dort hin. Ich lebe zwar die meiste Zeit meines Lebens im Wald, fühle mich aber trotzdem irgendwie den Menschen zugehörig.

Ich habe schon ein paar Mal versucht mich unter sie zu mischen und mit ihnen zu reden, aber ich wurde immer wieder verscheucht. Man sah es mir wahrscheinlich einfach an, dass ich anders war.

Vor uns öffnete sich der dichte Wald in einen jungen und niedrigen Birkenwald, durch deren orangegelbes Blätterdach die Sonne ihren herbstlichen Schein auf den Boden warf und einen schönen Blick auf den blauen Himmel preisgab. Im leichten Wind flatterten die Blätter und segelten in großen Mengen langsam auf den Boden. In der Luft lag bereits der deutliche Geruch nach Mensch, nach Rauch, nach Blut und nach dem alles vernichtenden Einvernehmen der Wälder und der Natur. Die Menschen zerstörten ihre Umgebung und merkten es nicht mal.

Hinter mir blieben die Wölfe zurück und wollten nicht mehr weiter – Sie hatten schon einige schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht. Ich auch, aber im Gegensatz zu ihnen konnte ich nicht auf sie verzichten.

Die beiden Wölfe verblieben spielend im Wald und jagten den letzten Schmetterlingen hinterher, die noch in der späten Herbstsonne durch die Gegend flatterten. Das gesammelte Essen ließ ich bei ihnen.

Ich lief weiter durch den Birkenwald, kam letztendlich auch an dessen Ende, schlich das letzte Stück geduckt und federte meine Schritte auf dem weichen Laub ab. In der letzten Baumzeile wucherte wie so oft am direkten Waldrand das Unterholz wieder richtig hoch. Ich legte mich auf den Bauch, robbte das letzte Stück und schob ein paar Ranken auseinander. Vor mir tat sich der Blick auf ein mittelgroßes Tal auf, welches von kleinen bewaldeten Bergen, ja fast schon Hügeln umgeben war. Die Wälder wogten in orangebraunen Wellen über die Hügel – bis auf die große Schneise, die die Menschen über Kilometer gerodet hatten und in der Ferne den Blick auf die große Stadt preisgab, die mit ihren hunderten von stinkenden, rauchenden Schornsteinen an einem Hang lag und von der großen Burg, die alles überragte, gekrönt wurde. Innerhalb der Schneise lagen Hunderte von kleinen Feldern, auf denen sich das reife Getreide leise raschelnd im leichten Wind wog. Mitten zwischen den Feldern lag das kleine Dorf, das sich wie ein ängstliches Tier mit rund zwei duzend kleinen und gedrungenen Häusern mitten in das Tal duckte. Alles andere als Ängstlich waren aber die Bewohner. Sie nahmen sich alles. Ohne zu fragen. Ohne zu bitten. Manchmal wollte ich am liebsten verleugnen, dass ich einer von ihnen bin. Sie töteten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Sie kämpften wie ich um ihr eigenes Überleben und gegen das, was sich jenseits der Grenzen befindet. Sie waren einfach nur zäh, stiernackig und dickköpfig. All das kannte ich auch von mir…So war ich ihnen gegenüber zwiegespalten. All das ging mir durch den Kopf, während ich aus meinem Versteck in die weite, sonnendurchflutete Feldlandschaft blickte.

Plötzlich hörte ich Hufgetrappel und zog schnell den Kopf ein. Nur wenige Schritte von mir entfernt preschte eine Pferdepatroullie auf dem breiten Pfad am Waldrand vorbei. Die Reiter machten einen gestressten und besorgten Eindruck. Ich maß dem keine große Bedeutung bei und steckte wieder den Kopf durchs Gebüsch. Nicht weit entfernt von mir arbeiteten ein paar Bauern auf dem Feld, die schon das Getreide einholten und es zu großen Haufen aufschichteten. Auch sie blickten neugierig auf, schauten den Reitern hinterher und wandten sich danach wieder stirnrunzelnd ihrer Arbeit zu. Ich schaute wehmütig in die Richtung des Dorfes. Einmal, irgendwann vor ewiger Zeit, so schien es mir zumindest, lebte ich auch einmal in so einem Dorf. Was würde ich dafür tun es eines Tages wieder tun zu können. Aber das ging nicht, weil…

Mit einem Mal prasselten die lang verdrängten dunklen Erinnerungen wieder auf mich ein, trafen mich wie ein gewaltiger Hammerschlag und drohten mich zu verschlingen. Mir wurde schwindelig und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur eins stand mir jetzt noch im Sinn: Nur weg hier! So war ich leichte Beute. Ich stand auf, doch mein Gleichgewicht war vollkommen im Eimer. Schwarze Ränder pulsierten am Rande meines Sichtfeldes und die Mitte war von bunten Punkten geblendet. Mehr stolpernd als gehend versuchte ich weg zu kommen. Aber wo musste ich noch mal hin? Wo war oben und unten? Ich merkte wie der Boden auf mich zugestürzt kam und ich ächzend aufschlug. Der Schmerz brachte mich zurück ins hier und jetzt, aber es war zu spät. Ich war bereits durch das Gestrüpp am Waldrand gebrochen und konnte nicht mehr aufhalten, dass ich die belaubte Böschung mit für meine Verhältnisse ohrenbetäubenden Lärm herabpurzelte. Nach mehrfachen Überschlägen landete ich endlich mit einem schmerzhaften Ruck auf dem Hosenboden.

Die Bauern auf den Feldern hatten ihren Blick überrascht wieder gehoben und schauten mich aus großen Augen an. Scheinbar war es für sie nichts alltägliches, dass ein jugendlicher Junge am helllichten Tage aus der Waldböschung gepurzelt kam. So kamen sie neugierig auf mich zu. Eine Schrecksekunde lang saß ich noch auf dem breiten Pfad und machte wohl ein ziemlich irritiertes Gesicht. Dann wurde ich mir schlagartig der Situation bewusst und rappelte mich auf. Wenn sie da sind, würden sie Fragen stellen. Sie würden wissen wollen wer ich bin und wo ich herkomme. Das sollen sie auf keinen Fall wissen.

So kletterte ich Schnur stracks wieder die Böschung hinauf und verkrümelte mich so schnell es ging in den Wald. Als ich im Rennen noch einmal zurückschaute sah ich, dass sie auf dem Pfad standen und mir ratlos nachsahen, mir aber nicht folgten. Gut so. Ich sammelte die Wölfe und das Essen wieder ein und kehrte ohne weitere Zwischenfälle – was mir inzwischen mehr als die Ausnahme von der Regel erschien – zur Höhle zurück, wo der Rest meiner Familie auf unsere Rückkehr wartete. Es war schon früher Abend und die Sonne neigte sich langsam, aber sicher in Richtung Horizont. Ein Gutteil der Feen hatte sich bereits zurück zu ihrem Bau verkrochen, aber ein Paar warteten noch geduldig auf das allabendliche Ritual.

@Iroc gantz vergessen, dass ich hier noch gar nicht den neusten Teil kommentiert hatte :astonished:

Handelt es sich bei der Burg um Silberfels?

Haarscharf kombiniert! Die Stadt ist Silberfels. :slight_smile:

Und damit kommt nun endlich ein neuer Teil, viel Spaß damit! :slight_smile:

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Kapitel 2 - Teil 9

Paskoan

Wir machten uns sofort auf den Weg. Ein weiterer Wolfsbruder kam auch noch mit, der andere passte auf meinen verletzten Bruder auf, und ein gutes halbes dutzend Feen flatterte auch noch hinter uns her. Wir zogen gen Westen durch den langsam immer dunkler werdenden Wald. Wir zogen an der Schlucht vorbei, wir zogen an dem Wolfsbau vorbei und wir zogen am Birkenwald vorbei. Schließlich verließen wir mein normales Terrain, aber wir zogen dennoch weiter gen Westen, immer dem Horizont entgegen, über dem der rotglühende Feuerball nun nur noch eine Hand breit stand.

Irgendwann, nach einiger Zeit des stillen Wanderns, wurde der Wald wieder lichter. Die Bäume vereinzelten sich, waren schließlich ganz zurückgewichen und machten einer riesigen, spärlich bewachsenen und golden beleuchteten Steppe Platz, über die die Sonne mit letzter Kraft ihre fein gewobenen Strahlen sendete. Die Steppe war gespickt von vereinzelten Bäumen und hohen, wie scharfe Zähne aus dem Boden herausragenden Felsen, die nun noch schärfere und lange Schatten in die Gegend warfen. Über das sanft geschwungene, leicht hügelige Land zog sich ein Boden aus hohem, trocknem Gras, welches wunderschön im Licht der sich neigenden Sonne erglühte und einen leichten Geruch nach vergangener Blüte und frischer Frucht mit sich trug. Im seichten Wind schwankte es leicht, aber es konnten auch genau so gut die Tiere sein, die sich jetzt gegen Abend auf dem Weg zurück zu ihrem Bau, zurück zu ihrer Familie befanden und sich schlafen legten. Weit in der Ferne leuchtete das enorm hohe und schon fast verschwommen wirkende Gebirge.

Wir setzten uns auf einen von einem längst vertrockneten Fluss rund geschliffenen Stein. Meine Brüder, die Wölfe legten sich um mich herum und drückten sich ganz fest an mich und meine Schwestern, die Feen, kuschelten sich wohlig in meine Hals und Armbeugen und wir blickten alle verträumt in den Sonnenuntergang, der sich nun majestätisch am rotgolden glühenden Himmel abspielte. Und somit neigte sich ein mehr oder minder ereignisreicher Tag dem Ende. Wir saßen noch still und gebannt auf dem Stein, bis auch der letzte wunderschöne Rest des riesigen Feuerballs hinter den Horizont gekrochen war und uns allein auf der großen, weiten Steppe zurückließ. Aber es störte uns kaum. Die Sonne würde morgen wieder aufgehen. Und auch übermorgen. Aber was das Wichtigste war, ist dass wir uns hatten und noch alle lebten. Und so genossen wir das pure beisammen sein einer großen, und umso facettenreicheren Familie.

Weit hinten hinter dem Gebirge in der letzten Abendröte gingen zwei volle Monde auf. Die Feen begannen sachte golden und pulsierend zu leuchten, als sie von dem Schein getroffen wurden. Auf der Steppe bildeten sich erste Nebelschwaden, die im silberrötlichen Schein des Himmels träge durch das Gras zogen. Es roch nach Frost und Winter. Es wurde kalt und langsam Zeit zu gehen. Wir rappelten uns auf und ohne die Körperwärme der anderen um mich herum begannen wir sofort zu zittern. So machten wir uns zügig auf den Heimweg.

Wir sprangen vom Felsen hinunter und zogen zurück nach Osten. Nach Hause. Der Wald war bereits absolut finster, während sich die Baumwipfel der hohen Tannen noch im letzten Licht als tiefschwarze Schatten vor dem dunkler werdenden Himmel abhoben. Die Feen flogen ein Stück voraus und leuchteten uns den Weg. Das wäre zwar nicht nötig gewesen, da wir alle eine hervorragende Nachtsicht besaßen, aber es vermittelte doch die Atmosphäre von Heimeligkeit und Zusammenhalt.

Als wir fast Zuhause waren, hörten wir auf einmal ein Knacken. Aber es war nicht irgendein Knacken. Es war nicht ein Raubtier, das durch das Unterholz strich. Es war auch nicht ein Ast, der von einem Baum gefallen war. Dafür war es zu laut. Es war mehr als nur ein Knacks. Es wurde schneller und lauter. Es war das unregelmäßige Tapsen von jemandem, der blind durch den Wald irrt. Die Wölfe stellten die Ohren auf und schnüffelten neugierig. Selbst ich, der doch keine Hundenase hatte nahm den scharfen Geruch nach Angst wahr. Das war ungewöhnlich.
Neugierig beschlossen wir dem genauer auf den Grund zu gehen.

Kapitel 3 - Teil 1

Lionatras

Am nächsten Morgen wachte ich schweißgebadet auf. Der Regen, der gegen die hohen Fensterscheiben prasselte, hatte mich geweckt. Einen Moment lang war alles in Ordnung, ich hatte nur ein flaues Gefühl im Magen, doch im nächsten prasselten all die Ereignisse der vergangenen Tage auf mich ein. Sofort war die neutrale Stimmung wie weggeblasen und ich fing wieder an diese alles verzehrende Leere zu spüren. Ich schmeckte Blut im Mund, in Gedanken hatte ich mir wohl völlig unbewusst auf die Zunge gebissen.

Bevor jemand mich stören konnte verriegelte ich schnell die Tür und ging hinaus auf meinen Balkon. Die Luft im Raum erschien mir auf einmal zu stickig, um weiterhin hier drinnen bleiben zu können. Ich riss die Türen so weit wie möglich auf und stellte mich nach draußen in den Regen. Ich blickte hoch in die tiefhängenden Wolkenschwaden und die dicken Tropfen, die auf mein Gesicht hinabfielen, vermischten sich mit meinen Tränen und rannen in kleinen Strömen auf den Boden zu. In weiter Ferne, weit hinten über meinem geliebten Wald, war blauer Himmel zu sehen und die Sonne tauchte die geschwungene Landschaft beim Aufgehen in ihren herbstlichen Schein. Was würde ich dafür tun, um von hier weg zu kommen. Weg von all dem, weg von der Hochzeit, weg von meinen schrecklichen Eltern und nur weg von dieser hässlichen Burg mit ihrem fast schwarzen Gemäuer, das einen immerzu zu erdrücken schien. Aber das ging nicht. Ich war nun mal ein Prinz und als Prinz hatte man das zu tun, was der König einem verordnet. Frustriert wirbelte ich herum und setzte mich zurück auf mein Bett.

Im Laufe des Tages klopfte es mehrfach, aber ich reagierte weder auf das andauernde Zureden, noch auf die Versuche mir Essen unterzuschieben und saß einfach nur apathisch auf meinem Bett, während der Tag immer weiter voran strich. Irgendwann schlief ich wieder ein und träumte von Freiheit. Von erfüllter Sehnsucht. Und von Geborgenheit. Von Geborgenheit, die mir nicht Kaldes gab. Der Ganze Traum fühlte sich wunderschön an und ich wollte ihn nicht verlieren, aber schon tauchten die fiesen Finger aus dem Nebel des Traumes auf und zogen mich brutal zurück in die Wirklichkeit. In dem Moment, in dem ich meine Augen aufschlug, hatte ich eine Entscheidung gefällt. Mir war es egal ein Prinz zu sein. Ich würde mich nicht von meinem Vater herumkommandieren lassen. Die formvollendete Wildheit der Natur zog mich unwiderstehlich an. Es tat zwar weh von all dem loszulassen, erst recht von meinem Lieblingsbruder Kaldes, aber es ging nicht anders. Ich würde abhauen.

So froh und selbstbewusst wie schon lange zuvor nicht mehr trat ich bestärkt von meinem Entschluss hinaus auf den Balkon. Es hatte aufgehört zu regnen und die Wolken hatten sich verzogen. Unter mir befand sich erst der Burghof, und noch weiter unten die Hauptstadt Silberfels. Die größte aller Städte aller Königreiche. Sie war von oben ganz hübsch anzusehen, mit den hunderten von steilen Gassen und den eng verwinkelten Fachwerkhäusern, die über und über mit kleinen spitzen Türmchen und einer Vielzahl von Schornsteinen gespickt waren. Die Häuser schmiegten sich an den Hang und schienen eine Mauer zwischen Burg und Natur zu bilden. Reges Treiben herrschte auf den Hauptstraßen, wo die Bauern ihre Esel zu Höchstleistungen antrieben, um die voll beladenen Karren den Weg hoch zur Burg zu bringen und den städtischen Kornspeicher zu füllen. Die Kette der Wagen ging hinunter bis zu den Stadttoren und sogar noch weiter. Dieses Jahr war ein gutes Erntejahr gewesen. Peitschenschläge und das gequälte aufschreien der entkräfteten Tiere erfüllte die Luft, zusammen mit dem freudigen Lachen spielender Kinder, die zwischen den Wagen herflitzten und dem normalen Rummel einer großen Stadt. Hinauf wehte der ekelhafte Gestank von Mist und ungewaschenen Menschen, der in den Straßen sogar noch schlimmer und im Sommer fast unerträglich war. Aber manchmal, wenn ein kräftiger Wind aufzog, brachte er den wundervollen Geruch nach frischem Laub, nach Grüne und lebendiger Natur mit. Vom Wald. Ich selber war zwar noch nie so weit weg gewesen, konnte mir aber nur vorstellen, dass es wundervoll war. Weit hinter den Stadttoren und weit hinter den sich über Kilometer erstreckenden Feldern und Wiesen lag er in seiner vollen Pracht. Die Sonne beleuchtete die die sanft geschwungenen, dicht bewaldeten Hügel mit ihrem goldenen Schein. Der Wald hatte viele Farben. Es gab alles von Orange bis Rot. Von Braun bis Grün. Die Vielzahl der Bäume und Pflanzen schien kein Ende zu nehmen. Das war es, wo ich hinwollte.

Für den Rest des Tages verfiel ich in ein reges Treiben. Ich saß auf dem Bett und baute fleißig Luftschlösser. Dachte mir alles bis ins kleinste Detail aus. Wie schön es wohl werden würde, wie frei ich wäre, wie wunderbar weich sich der Boden unter meinen Füßen anfühlen würde, wie schön es wäre all die wilden Tiere zu sehen…Während ich so da saß gingen mir auch so einige Gedanken durch den Kopf, die sich mit den Dingen beschäftigten, die ich mitnehmen wollte. Da waren in erster Linie meine Bücher. Dann natürlich auch noch Tinte, Feder und Papier. Ich wollte ja meine Eindrücke festhalten. Und natürlich noch etwas zu essen.

Ich lief zur Tür, schob den Riegel beiseite und öffnete sie. Auf der anderen Seite erwarteten mich eine Vielzahl von Speisen und Getränken auf Tabletts, die sich im Laufe des Tages dort angesammelt hatten und die ich nun schnell über die Schwelle zog, bevor ich die Tür wieder verriegelte. Ich überlegte kurz, wie ich das alles transportieren wollte, dann fiel mir oben auf dem hohen Eichenschrank ein Zipfel Stoff ins Auge. Das war der Leinensack, in dem die Magt normalerweise meine Kleidung zum waschen wegtrug. Was für Anziehsachen in Ordnung war, sollte für Bücher und Essen gerade recht sein. Ich zog den schweren Stuhl hinter meinem Schreibtisch hervor, stellte ihn vor den Schrank und stieg drauf. Das ist der Nachteil, wenn man nicht allzu groß ist. Man braucht immer irgendetwas zum draufstellen um an hoch gelegene Sachen dran zu kommen. Im Vergleich zu meinen Brüdern war ich wirklich klein geraten, aber vielleicht kommt das ja noch. Mithilfe des Stuhls schaffte ich es, zog den Sack vom Schrank und sprang wieder hinunter.

Ich ging zu dem Regal, das voll beladen mit meinen Lieblingsbüchern an der Wand lehnte. Ich stand einige Zeit davor. Am liebsten würde ich alle mitnehmen, aber das würde wohl zu schwer werden. So entschied ich mich für ein gutes Dutzend Bücher, die ich in den Sack stopfte. Dann stopfte ich die trockenen Teile des Essens, die genug an Verpflegung für einige Wochen sein sollten, dazu und legte das mittlerweile doch recht schwere Bündel auf den Boden. Ein schneller Blick nach draußen zeigte mir, dass die Sonne schon drauf und dran war unter zu gehen.

Ich sollte früh schlafen gehen, damit ich morgen bei Sonnenaufgang los gehen könnte, aber ich war überhaupt nicht müde. Vermutlich, weil ich am Nachmittag so viel geschlafen hatte. Oder es war die Aufregung und Vorfreude, die in mir brannte. Ich wuselte noch eine Zeit lang in meinem Zimmer herum, fand aber nichts mehr, was ich noch hätte tun können. Ich setzte mich aufs Bett und schaute unruhig in der Gegend herum. Mein Magen knurrte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich seit gestern nichts gegessen und getrunken hatte. Ich schnappte mir eins der Tabletts auf der eine Schale kalte Hühnersuppe und ein Teller mit ein paar Scheiben trockenem Brot standen.

Ich wollte gerade den ersten Bissen nehmen, als es wieder Klopfte. Ich ließ meine linke Hand sinken und rief gereizt »Was ist?« Kaldes’ sanfte Stimme räusperte sich »Lio, bitte lass mich mal kurz rein. Ich muss mit dir reden.« Ich überlegte einen Moment. Es wäre nicht sehr gut, würde ich ihm von meinem Vorhaben erzählen. Und es nicht zu tun, würde schwer werden. Andererseits würde ich Kaldes liebend gerne noch ein letztes Mal sehen. Seufzend stand ich auf und schob den Riegel beiseite. Da musste ich wohl auf meine Schauspielkünste vertrauen. Sofort machte Kaldes die Tür auf und schlüpfte in mein Zimmer. Interessanterweise verriegelte er die Tür hinter sich gleich wieder. Unauffällig kickte ich den Sack unters Bett. Wir setzten uns auf mein Bett und Kaldes sah mir lange in die Augen. Ich hatte Angst, dass er alles, was ich dachte, darin lesen konnte. Vielleicht war es ja auch so. Kaldes war zwei Jahre älter und gefühlt drei Köpfe größer als ich. Dazu breit wie ein Schrank und der zukünftige Kriegsherr von Silberfels. Auf dem Schlachtfeld war er ungezähmt, stark und gefürchtet, so erzählte man es sich zumindest. Doch jetzt sah er mich nur aus gefühlvollen dunkelblauen Augen an und pustete sich eine schwarze Strähne aus dem Auge. Wir standen uns sehr nahe. Er schien nach Worten zu ringen. »Lio, ich…«. Er stockte und setzte erneut an. »Was unsere Eltern mit dir anstellen wollen finde ich unter aller Sau. So was ist nicht in Ordnung. Du sollst wissen, dass du jede Unterstützung von mir bekommst, die du brauchst. Wenn es sein muss, hole ich dich da irgendwann aus dem Loch raus. Und mir ist es egal, ob mein Ruf oder meine Stellung darunter leidet. Schließlich bist du mein Bruder, und Brüder halten zusammen. Das scheinen die anderen nur noch nicht kapiert zu haben.« Ich schluckte schwer und musste mich derbe zusammenreißen, um nicht doch noch alles auszuplaudern. Aber „Irgendwann“ reichte mir nicht. Ich wollte gar nicht erst dort hin! Aber dennoch war ich tief gerührt. »Danke« brachte ich mit versagender Stimme heraus und nahm ihn in den Arm. Er umfing auch mich mit seinen kräftigen Armen und ich fühlte mich geborgen wie nirgendwo sonst. Dass dies vermutlich eins der letzten Male oder sogar das letzte Mal war, dass ich ihn sah, versetzte mir einen tiefen Stich. Ich drückte ihn nur umso heftiger. Nach einer kleinen Ewigkeit setzte er sich auf und ließ mich los. »Wir sehen uns morgen.«, sagte er und wuschelte mir im Gehen noch einmal durch die Haare. Dann war er, genau so schnell wie er gekommen war, wieder verschwunden.

Es war mittlerweile dunkel geworden in meinem Zimmer. Ich starrte die Tür noch lange an, unfähig mich zu bewegen. Irgendwann schaffte ich es dann aber doch, schleppte mich zur Tür und schob den Riegel wieder vor. Dann aß ich doch noch einen Happen, doch alles schmeckte nach nichts. So stellte ich das Tablett bald wieder weg, ohne aufgegessen zu haben. Wo doch sonst mein Appetit eigentlich recht ordentlich war. Ich legte mich innerlich ausgelaugt auf das Bett und war nicht einmal mehr in der Lage mich zuzudecken. Ich starrte an die Decke und dachte nach. Kaldes’ Besuch scheint alles Geplante auf den Kopf zu stellen…Andererseits würde er mich nicht ganz und gar davor bewahren können nach Sturmtal zu gehen.

Die traurige Melodie einer Leier zog von der Stadt durch die noch immer geöffneten Fenster herein und ein leichter Wind brachte die Blätter der Bäume auf dem Burghof zum rascheln. Es roch nach Herbst. Und nach Wald. Der Wald, den ich nie sehen würde, wenn ich nach Sturmtal ziehen würde. Ich war schon so weit gekommen, hatte alles gepackt und wollte dann doch noch kneifen? Mit immer weiter im Kreis drehenden, wirren Gedanken schlief ich letztendlich doch noch ein.

Und Lionatras will gerade die Sauberkeit des Schlosses gegen den Wald eintauschen, wo es keine königlichen Bäder gibt.

I feel you, Lio, I feel you :sweat_smile:

Einen tollen Bruder hat Lionatras – da kann er sich wirklich glücklich schätzen :heart_eyes:

Sieht ja so aus, als könnten sich Lionatras und Paskoan demnächst über den Weg laufen :thinking:

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Ich bin mir ja unsicher, ob er sich der Tragweite seiner Entscheidung im Klaren ist. :smiley: Ein verwöhntes Kind aus dem Königshaus hat vielleicht noch andere (idealisierte) Vorstellungen von Freiheit, als sie der Realität entsprechen. Und Lio ist vielleicht auch ein kleines Bisschen naiv. ^^

Ich auch. :smiley: Ich muss mir dringend mal wieder neue Regale anschaffen, die jetzigen sind schon weit über die Grenzen ihres Fassungsvermögens getrieben worden. :smiley:

Ja, so einen hat nicht jeder. Kaldes wäre auch die einzige Person, die Lio aufhalten könnte. Vielleicht laufen sie sich ja nochmal übe den Weg?

Möglich wäre es. :thinking:

Weiter geht’s mit dem nächsten Teil! :slight_smile:

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Kapitel 3 - Teil 2

Lionatras

Das ferne Morgengrauen riss mich aus meinem wenig erholsamen Schlaf. Mir war bitter kalt. Ich lag eng zusammengerollt auf meinem Bett und ein schneidender Wind pfiff durch die offenen Fenster. Mein Hirn schien mir wie ein einziger verknoteter Klumpen zu sein. Und dazu noch vereist. Ich streckte mich, stand auf und hüpfte eine Weile durch die Gegend, bis mir wieder warm wurde. Schließlich begab ich mich durch die noch immer offenen Fensterflügel wieder einmal auf den Balkon und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Die Sonne ging in der Ferne im rötlich-orangenen Schein auf und strahlte die wenigen, fluffigen Wolken an. Es würde ein schöner Tag werden. Vermutlich auch warm. Ich stellte mir jede erdenkliche Situation vor, die mir widerfahren könnte, doch keine erweckte solch eine Faszination und solch ein wohliges Gefühl wie die, eins mit dem Wald zu sein und von allem unabhängig zu sein.

Und damit war der Entschluss gefasst. Ich würde gehen. Ich würde es durchziehen. Damit würde ich zwar den Zusammenhalt, den Kaldes mir gestern Abend gepredigt hatte, über den Haufen werfen, aber das konnte mir jetzt egal sein. Ich würde es ihm erklären. Mit neu gewecktem Optimismus zog ich den Stuhl wieder zum Schreibtisch heran und schrieb in säuberlichster Schrift einen Abschiedsbrief für Kaldes. Ich schrieb ihm all meine Gefühle und Gründe für meinen Entschluss, die ich anderen gegenüber nicht mal erwähnt hätte. Außerdem bat ich ihn in dem Brief mein Verschwinden nicht sofort zu melden, um mir etwas Vorsprung und Zeit zu verschaffen, die ich wohl bitter nötig hatte. Schließlich würde ich im Gegensatz zu den Wachen nicht mit meinem Pferd unterwegs sein, da sich das im wilden Dickicht des Waldes nicht anbot. Aber bis ich erstmal den Wald erreicht habe, wird es einige Zeit dauern. Und ich bin mir absolut sicher, dass mein Vater sofort nach mir suchen lässt, sobald er erfährt, dass ich nicht mehr da bin. Ich schrieb die letzten Worte und setzte schließlich meine geschwungene Unterschrift unten auf das nun voll gefüllte Blatt Papier. Das Einzige was jetzt noch fehlte war etwas festere Bekleidung.

Ich zog meinen Reisemantel an und dazu meine Reitstiefel. Ich überlegte erst ob ich noch eine Weste mitnehmen wollte, entschied mich dann aber dagegen, schließlich war es draußen noch ziemlich warm und ich würde sie nur schleppen müssen. Als ich fertig war schnappte ich mir den Sack und den Brief und ging Richtung Tür. Bevor ich das Zimmer verließ schaute ich mich allerdings noch einmal zufrieden um und prägte mir alles genau ein. Ich hatte nicht vor jemals hierhin zurück zu kehren. Jetzt ging es auf in eine bessere und endlich vollkommene Welt und ich würde später über dieses Lächerliche Arrangement nur noch lachen können. Während ich das dachte rutschte mir der Sack immer weiter aus der Hand. Mein zufriedener Gesichtsausdruck entgleiste ein wenig.

Mist. Er war einfach zu schwer um ihn die ganze Zeit in der Hand halten zu können. Ich setzte ihn wieder ab, und kramte Nadel und Faden aus dem Bodensatz einer der Truhen hervor, wobei auch ich ein winziges in Leder gebundenes Buch fand, das ich schon seit Jahren suchte. Es war so klein, dass es mühelos in meine Handfläche passte und besaß angelaufene Kupferbeschläge und leicht vergilbte Seiten. Nichtsdestotrotz waren das die schönsten Erinnerungen meiner frühen Kindheit. Ich kann mich noch erinnern wie ich gespannt auf dem Schoß meiner Mutter saß, während sie mir die uralten Märchen aus diesem Buch vorgelesen hat. Ich würde mich unmöglich von diesem kleinen Büchlein trennen können, also ließ ich es in meine Manteltasche gleiten und ging mit dem Nähzeug zu dem Kleiderschrank.

Innen drin befand sich ein Haufen Kleidung, aus dem sich nun zwei Hemden von ihrem Saum trennen mussten, den ich kurzerhand abschnitt. Es tat mir nicht weh diese Kleider zu zerstören. Ich hatte ja schließlich genug. Den abgeschnittenen Saum faltete ich doppelt und nähte ihn umständlich mit groben Stichen an den Sack an den Enden an. Das gleiche machte ich mit dem zweiten. So hatte ich nun zwei Schlaufen an denen ich den Sack bequem auf dem Rücken tragen konnte. Ich begutachtete das Resultat einen Moment. Es sah nicht sehr professionell oder ordentlich aus, aber es würde halten müssen. Ich setzte den Sack auf, schnappte mir den Brief und trat ohne mich ein weiteres mal umzuschauen hinaus auf den fensterlosen Gang.

Auch um diese helle Tageszeit war es hier vollkommen frei von Sonnenlicht und nur die Fackeln, die in regelmäßigen Abständen an der aus grobem Stein gemauerten Wand hingen, gaben ihren flackernden Schein ab und schwängerten die Luft mit stickigem Rauch. Ich lief eilig zu Kaldes’ Zimmer. Die Gänge hier waren das reinste Labyrinth, aber in den vielen Jahren hatte man gelernt sich zurecht zu finden, auch wenn ich immer noch neue Abkürzungen fand.

Kapitel 3 - Teil 3

Lionatras

Als ich schließlich vor seiner Tür angekommen war und einigen vorbeieilenden Dienern ausgewichen bin, die sehr überrascht waren mich zu sehen, klopfte ich das geheime Klopfsignal, das wir für uns beide vereinbart hatten. Ich wollte ihm den Brief geben und ihn bitten ihn erst einige Stunden später zu öffnen. Aber niemand machte auf. Auch nach dem zweiten und dritten Klopfen öffnete niemand. Ich hielt einen der zahlreichen Diener an.

»Wo ist Kaldes?« fragte ich ihn. Er senkte – wie es sich gehörte – den Kopf, aber starrte mich aus rebellierenden Augen an. Die Dienerschaft schien, wie alle anderen, nicht besonders viel von mir zu halten. Sie gaben mir zwar oberflächlich betrachtet alles, was ich brauchte, aber das auch nur, weil ich der Sohn des Königs war und es schon so manches mal Ärger mit ungehörigen Dienern gab, der meistens in deren Tod endete. Genauer betrachtet gaben sie mir nicht mal das, was mir zustand. Das Essen war meistens noch halb roh, die Hemden und Hosen zu eng genäht und in den Blicken lag wie auch jetzt unverhohlene Abneigung.

»Kaldes ist zurzeit nicht da« antwortete der Diener. »Das sehe ich.«, antwortete ich kühl. Ich war es leid diese Blicke zu ertragen. Zum Glück würde ich das bald nicht mehr müssen. »Aber WO ist er?« fragte ich betont. »Er ist mit seinem Pferd außer Haus beim Hofschmied in der Stadt. Er wird vermutlich in den nächsten Stunden nicht wiederkommen.« Mist! Ich würde ihn also nicht mehr wieder sehen. Vielleicht war es ja besser so. Nachher würde ich mich noch verraten. »Danke. Viel Spaß noch bei deiner Arbeit heute.« Und dem Rest deines Lebens, fügte ich in Gedanken hinzu. Der Diener warf mir noch einen letzten vernichtenden Blick zu, drehte auf dem Absatz um und machte sich davon. Was die bloß immer hatten… Als die Schritte im Gang verklungen waren bückte ich mich und schob den Brief unter der Tür hindurch.

Schnell stand ich wieder auf, denn ich hörte bereits die herannahenden trippelnden Schritte der weiblichen Dienerschaft. Warum musste die ganze Burg denn immer so voll mit Bediensteten sein? Zu viele Leute, die mein Verschwinden beobachten. Ich drängte mich an den Mägden vorbei, die große Körbe mit Wäsche trugen, fleißig schnatterten und mich nicht zu beachten schienen, und ging zügig in Richtung des Thronsaals. Der Entschluss abzuhauen zog mich freudig vorwärts durch die langen, tristen Flure. Alles zog nur an mir vorbei, denn ich wusste, dass ich bald draußen sein würde. Nie mehr diese Flure entlanglaufen. Nie mehr. Diese Vorstellung erfüllte mich mit einem großen Glücksgefühl und fast wäre ich sogar ein bisschen gehüpft. Nur fast.

Kapitel 3 - Teil 4

Lionatras

Schließlich erreichte ich die stählernen Flügeltüren auf denen von zwei Fackeln beleuchtet das große Familienwappen prangte. Die Türen selbst waren so groß, dass 3 Männer übereinander hätten hindurchgehen können. Zwei schwer gepanzerte Wachen flankierten das Portal und verkreuzten ihre Hellebarden vor mir, als ich eintreten wollte. Wie immer. Sie wussten doch wer ich war. Alle hatten was gegen mich. Normalerweise hätte ich jetzt einen Wutanfall bekommen, doch das allgemeine Hochgefühl verhinderte es. Ich warf ihnen nur ein eisiges Lächeln zu und ging ohne zu zögern weiter auf das Tor zu. Das Einzige, was man hören konnte, waren meine hallenden Schritte im Gang.

Als ich nur noch wenige handbreit von den Waffen entfernt war zogen sie sie freiwillig mit einem lauten metallischen Klirren zurück, das die Stille zerriss. Ihnen war wohl doch noch klar geworden, wer ich bin und was für Konsequenzen es haben könnte, den Sohn des Königs aufzuspießen. Vermutlich eher weniger des Sohnes willen, als mehr wegen der geplatzten Hochzeit. Naja, die würde eh nicht mehr stattfinden. Mein Lächeln wurde wärmer und etwas schelmisch. Durch die heruntergeklappten Visiere konnte ich die Augen der Wächter nicht erkennen, doch ich war mir sicher, dass sie mir vernichtende Blicke zuwarfen, als sie sich gegen das schwere Tor drückten und es mühevoll aufschoben. Ich trat hindurch und lief geradeaus auf die Thröne meiner Eltern zu.

Ein blausilberner Teppich durchzog den ganzen Raum von dem Tor bis hin zum Thronpodest. Der Raum selber war riesig. Er war bestimmt dreißig Schritt hoch, zwanzig breit und sechzig lang. Auf beiden Seiten ließen unzählige hohe Fenster den Raum hell erstrahlen. Die Sonne warf auf der Ostseite kürzer werdende goldene Strahlen durch die Fenster, die den umherwirbelnden Staub in rote Funken verwandelte. Es wurde bereits Mittag. Sie zeichneten die Muster der Scheiben auf den Boden, die von einstigen heroischen Taten unserer Familie handelten. Die hohe Decke schmückte ein reich verziertes Kreuzgewölbe, das von unzähligen massiven Säulen getragen wurde. Auf dem Boden zu beiden Seiten des Teppichs standen eine große Anzahl hölzerner Bänke und Tische zwischen erkalteten Feuerstellen. Spät abends und nachts feierten hier die Krieger, die von ihren Patrouillen an den Grenzen zu den Anderslanden wiederkehrten. Wenn sie wiederkehrten.

Nicht selten verschwand ein ganzer Trupp oder nur einzelne Personen kehrten zurück, meist schwer verwundet, nur um mal wieder zu berichten, dass die Bestien erneut ins Königreich eingefallen sind. Wir auf der anderen Seite schlachteten hunderte von Bestien ab. Sie galten als primitiv und nur wenige wussten es besser. Wie ich. Kaldes war schon mehrfach an den Grenzen gewesen, hatte viele Narben davongetragen und hat mir erzählt, wie es dort wirklich abläuft. Es herrschte Krieg. Nur das wollte hier am Hof niemand wahrhaben.

Kapitel 3 - Teil 5

Lionatras

Ich trat näher an das Podest heran und blieb stehen. Meine Mutter blickte auf, als sie mich hörte und ihr Federkiel hielt über dem Dokument inne, auf dem sie einen Bericht niederschrieb. Vermutlich den der letzten Patrouille. Sie lächelte mich an, sie schien heute nicht mehr mit mir gerechnet zu haben. „Schau mal wer da ist, Freldon.“ Sagte sie. Als er nicht antwortete blickte sie ihn streng an und knuffte ihn in die Seite. Er schrak auf und schlug die Augen auf. „Was, wo…oh Ismara, was ist los?“ fragte er verschlafen. „Schau mal wer da ist.“ Wiederholte meine Mutter geduldig und dann erfasste sein Blick mich auch endlich. „Lio! Schön dich zu sehen! Deine Mutter und ich haben uns Sorgen um dich gemacht…Du bist gestern den ganzen Tag nicht aus deinem Zimmer gekommen.“ Er klang jetzt schon wieder etwas wacher. Ich wechselte vorsichtshalber schnell das Thema, bevor wir auf die Hochzeit zu sprechen kamen. Das würde meine Hochstimmung sofort wieder vernichten. Ich grinste ihn scheu an. „Und? Warst du wieder tief in deinen Gedanken versunken?“ Er begann zu strahlen. „Aber ja! Ich hatte soeben über den Verlauf der Schlacht um Varael sinniert, in der ich noch ein kleiner Junge war…“ Auch meine Mutter musste schmunzeln. Wir hatten beide das leise Schnarchen gehört.

Immer noch das leichte Grinsen auf den Lippen fragte ich „Habt ihr etwas dagegen, wenn ich den schönen Tag heute nutze? Es ist Herbst und wer weiß wie viele warme Tage es dieses Jahr noch geben wird. Und es würde mir vielleicht auch ganz gut tun mal raus zu kommen.“

Sie schienen überrascht von der plötzlichen Gemütsänderung und rangen einen Moment nach Worten. „Ja, klar! Wir finden das sogar gut. Wir wissen alle, dass du gerade eine schwere Zeit durchmachst…Nimm dir die Auszeit die du brauchst. Wo soll es denn hingehen?“

Auf diese Frage war ich vorbereitet gewesen. „Auf die Wiesen unterhalb der Stadttore…ich wollte mich ein bisschen in die Sonne legen und lesen. Keine Sorge, Wiesel kommt mit.“

Wiesel war unser Hund. Er war noch relativ jung, aber er hat sich sehr an mich gewöhnt und wir waren sozusagen beste Freunde.

„In Ordnung. Aber sei zum Sonnenuntergang wieder da.“ Verständnisvoll nickten sie mir zu.

„Danke.“ Sagte ich und wandte mich mit einem fröhlichen Grinsen ab. Aber das Grinsen schenkte ich nicht ihnen, sondern mir. Ich lächelte frohlockend in mich hinein, während ich die Halle in Richtung Tor durchquerte. Es war so einfach gewesen. Sie hatten alles ohne zu Zweifeln geschluckt. Auch von meiner Seite aus hätte ich nicht gedacht, dass ich sie ohne Gewissensbisse auf ewig verlassen könnte, sie waren schließlich meine Eltern, doch jetzt war ich einfach nur noch froh von hier fort zu kommen. Als ich das Tor durchquerte, setzte ich die Kapuze des Reiseumhangs auf und ging hinunter zum Burghof.

Heute wird mein Lieblingscharakter vorgestellt. :heart_eyes:

Kapitel 3 - Teil 6

Lionatras

Als ich aus dem Tor auf den sonnenbeschienenen Hof hinaustrat mussten sich meine Augen erst einmal an das gleißende Licht gewöhnen. Trotz all der Fackeln war es im Burginneren immer noch sehr dunkel. Doch bevor ich wieder klar sehen konnte, hörte ich auch schon lautes Kettengeraschel, schnell näherkommende Schritte und ein freudiges Hecheln. Wiesel kam mit solch einer Geschwindigkeit angeflitzt, dass er mich umwarf und zurück in das Burginnere beförderte. Zum Glück wurde ich von einem Haufen Wäscherinnen aufgefangen, die sich laut fluchend beschwerten und die Kleidung wieder einsammelten, die nun im ganzen Eingangsbereich verstreut lag. Doch ich kümmerte mich nicht drum. Wiesel war da. Er legte mir die Pfoten auf die Schultern und schleckte begeistert mein Gesicht ab. Ich meinerseits schob meine Hände in sein weiches hellbraunes Fell. Ich war glücklich. Sei es auch nur für einen Moment, aber ich war auf dem besten Weg glücklicher zu werden. Und Wiesel sollte auf jeden Fall mitkommen. Ein Leben ohne ihn konnte ich mir nicht vorstellen.

Ich stand umständlich wieder auf und lief über den Hof zu den Stallungen. Wiesel trottete neben mir her. Meine Augen hatten sich auch mittlerweile an das helle Licht gewöhnt und nun erkannte ich das rege Treiben auf dem Platz. Es waren bereits etliche Leute unterwegs, wie einige Jungs in meinem Alter, die am Rand im Schatten der hohen Mauer standen und sich wieder einmal rauften oder den Hofdamen hinterher pfiffen.

Meine Eltern fragten mich immer warum ich nicht immer mit ihnen die Zeit vertrieb, aber die Antwort blieb immer dieselbe. Sie waren nicht mein Typ Mensch. Ich war zwar auch ein bisschen schüchtern, aber mich interessierten überwiegend einfach andere Themen, als die von denen. Im Gegensatz zu ihnen konnte mich nicht einen Tag lang über Essen und die neuesten, vermutlich allesamt erstunkenen „Ruhmestaten“ auslassen. Wahrscheinlich hatten sie noch nie ein Buch gelesen. Weitere Themen waren natürlich auch die Frauenwelt und das gegenseitige Aussehen. Sie verglichen sich ständig miteinander und der hässlichste bekam meist eine Tracht Prügel. Immer diese Eitelkeit. Auch wenn ich da natürlich auch meine Vorbilder hatte.

Ich blickte einem jungen Stallburschen hinterher, der in just diesem Moment an mir vorbeilief. Er war zwar nicht sehr edel gekleidet, war fast immer dreckig, aber er hatte dennoch schönes Gesicht und schien sich ebenfalls etwas von der Raufbande abzusondern. Vor allem hatte er sich in den letzten Monaten sehr gemacht. Noch vor kurzem war er schlaksig und unbeholfen gewesen, doch jetzt schienen seine massigen Schultern und Oberarme sein Gewand zu sprengen und er bewegte sich geschmeidiger. Ihn anzusprechen kam leider nicht infrage, da das Königshaus nicht mit Bediensteten reden durfte, außer um Befehle zu erteilen. Silmor hatte mal eine Freundin in der Dienerschaft. Es kam raus und sie landete am Galgen. Wer auch immer dieses bescheuerte Gesetz verabschiedet hatte…

Er war nur ein Knecht und ich wollte ihn nicht in Gefahr bringen. Trotzdem wünschte ich mir, ich könnte mit ihm reden und mich mit ihm anfreunden. Das Leben in der Festung war so oft so einsam. Ich saß manchmal stundenlang auf dem Balkon und beobachtete ihn und die Welt um mich herum. Immer, wenn ich in den Hof sah, sprang er mir immer zu aller erst ins Auge. Er schien mich auch zu bemerken, denn manchmal kreuzten sich unsere Blicke für einen Moment, doch er wusste wahrscheinlich genauso gut wie ich, dass mein Vater eine Freundschaft nie zulassen würde. Ihn für immer zu verlassen versetzte mir dann doch einen Stich.

Tief in Gedanken stolperte ich über einen aus dem Boden herausragenden Stein und fiel zu Boden. Wiesel konnte gerade so noch ausweichen und sprang zur Seite. Der Bursche, von dem ich noch nicht einmal den Namen wusste, drehte sich verwundert zu mir um und kam zu mir. »Hast du dir wehgetan?«, fragte er mit einer angenehm rauen Stimme. Verwirrt errötete ich und stammelte »Nein…es geht schon.«
»Na gut.« Sagte er, warf mir ein schiefes Lächeln zu und streckte mir eine Hand hin. Dankbar ergriff ich sie und er zog mich mit einer einzigen flüssigen Bewegung hoch. Mühelos, wie es schien. »Danke.« Erwiderte ich schüchtern, wurde rot und schalt mich innerlich für meine Ungeschicktheit. Schnell drehte ich mich um und lief gefolgt von Wiesel weiter zum Stall und trat ein.

Kapitel 3 - Teil 7

Lionatras

In dem langen Holzbau mit den kleinen verstaubten Dachfenstern, die nur wenig trübes Licht hindurch ließen, und mit dem warmen Geruch nach Pferden hatte ich mich schon immer wohl gefühlt. Jetzt war ich sauer auf mich. Ich hätte ihn doch ansprechen sollen. Das war die Gelegenheit gewesen. Ich ging den menschenleeren Gang im Stall entlang und erreichte schließlich die vierzehnte Box von links.

Darin stand Flocke, mein Pferd. Sie war weiß und hatte nur eine kleine schwarze Flocke auf der Stirn. Auch sie würde ich gerne mitnehmen, doch ich wusste, dass die Wege im Wald, die ich zweifellos würde nehmen müssen, nichts für Pferde waren. Also musste ich sie wohl oder übel hierlassen.

Traurig klopfte ich ihr den Hals, was sie mit einem warmen Schnauben auf mein Gesicht beantwortete. Sie war ein sehr gutmütiges Pferd und hatte mich schon durch dick und dünn getragen. Ich stand noch einige Zeit gedankenverloren an ihrer Box und streichelte sie, während hinter mir Wiesel darum buhlte endlich aufzubrechen. Irgendwann hörte er auf zu winseln und durch die Gegend zu springen.

Ich drehte mich um und sah, dass der Junge an der Box hinter mir lehnte und mich beobachtete. Das schwache Licht, das durch das staubige Dachfenster fiel, beleuchtete seine dunkelblonden Haare mit einem leichten goldenen Schimmer und spiegelte sich in seinen hellbraunen Augen. Ich hatte keine Ahnung wie lange er da schon so stand. Einen Moment lang schauten wir uns nur an.

»Ich bin Finn.« sagte er irgendwann, wobei wieder dieses irgendwie faszinierende, schiefe Lächeln in seinem Mund- und Augenwinkel aufblitzte. »Lio.« Sagte ich etwas verblüfft. »Du bist doch der Sohn vom König, oder?« Als ob er das nicht längst wusste. »Ja.« schnell blickte ich zu Boden. Ich war keineswegs stolz darauf. »Also Lio, wo soll denn die Reise heute hin gehen?« In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich wollte ihn nicht anlügen, doch einweihen konnte ich ihn auch nicht. Ich musste eine Lösung finden. Und zwar schnell, bevor es unglaubwürdig erschien. Schließlich entschied ich mich ihm das Gleiche wie meinen Eltern zu erzählen.

»Ich will zu den Wiesen unterhalb der Stadt. Du weißt schon, einen der letzten Herbsttage genießen.« Ein schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Was ist los?« fragte ich. »Nun, ich hatte dasselbe vor. Macht es eurer Hoheit etwas aus« er machte eine übertrieben schwungvolle Verbeugung über die ich innerlich zu prusten begann, »wenn ich euch begleite?« Erwartungsvoll schaute er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Oh nein. Warum musste das Schicksal bloß so grausam sein und mir ausgerechnet an dem Tag, an dem ich mein Leben für immer verlassen wollte das einzige schicken, dass mich hier halten konnte? Aber auch er würde mein Leben nicht einfacher machen. Im Gegenteil. Wenn herauskam, dass ich mich mit einem Stallburschen angefreundet hatte würde es ein riesiges Donnerwetter von oben geben. Zusammen mit lebenslänglichem Hausarrest. Ganz zu schweigen von dem Risiko, in das er sich begab.

Ich entschied mich das Schicksal zu missachten und keine Risiken einzugehen. Alles würde besser werden, wenn ich erst mal von Zuhause fort war. Während ich noch verzweifelt nachdachte, wie ich ihm am besten beibringen konnte, nicht mit zu kommen, versteinerten sich seine Gesichtszüge. Er drehte auf dem Absatz um und schritt eilig, aber unauffällig und ohne ein weiteres Wort davon. Verwirrt sah ich ihm nach. Erst dann schaltete mein Hirn und ich drehte mich um, um zu schauen was ihn vertrieben hatte.

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Kapitel 3 - Teil 8

Lionatras

Hinter mir stand Silmor. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Er trug einen schweren Ledersattel über der Schulter und sah mich verächtlich an. »Na? Probleme mit diesem dreckigen Stallburschen?« Er spuckte auf den Boden. »Wenn es dir nichts ausmacht könnte ich ihn ohne Probleme aus dem Weg schaffen…« Das war eine unausgesprochene Drohung. Ein beinahe hysterisches »Nein!« kam über meine Lippen. »Nein? Ist da vielleicht doch was zwischen euch? Du weißt doch, was für eine Schande das wäre…« Ich konnte es bei seiner Vergangenheit zwar irgendwo verstehen, aber dieser Bruder regte mich Tag für Tag aufs Neue auf. Das bestärkte mich nur noch mehr in meinem Entschluss all das hier hinter mir zu lassen.

»Nein ist es nicht! Ich hatte ihn nur gerade instruiert, wie der Stall richtig sauber zu machen ist. Siehst du diese Flecken da auf dem Boden? Das geht ja gar nicht!« erwiderte ich gereizt. Ich zeigte auf das astreine, saubere Stroh auf dem Boden. Das musste man Finn lassen. Er machte es echt gründlich. »Den knöpfe ich mir vor!« »Es war nicht Finn.« Beeilte ich mich klarzustellen. »Es war ein anderer. Er hat aber nicht gesagt wer.« »Soso, Finn…« murmelte er vor sich hin, als er sich umdrehte, in die benachbarte Box ging und sein Pferd Gladio sattelte. Er murmelte noch ein ganzes Weilchen vor sich hin.

Da ich dem nichts mehr hinzuzufügen hatte gab ich Flocke zum Abschied einen letzten Klaps auf den Hals, pfiff Wiesel herbei und ging schnell aus dem Stall, wobei ich Silmors Blick noch lange in meinem Rücken spürte.

Ich trat aus dem trüben, staubigen Dämmerlicht hinaus in die gleißende Sonne des Burghofes und sah mich nach Finn um. Doch ich konnte ihn nirgendwo sehen, was ich letztendlich doch schade fand. Aber es war besser so. Ein letztes Mal sah ich mir alles ganz genau an. Ich würde nie wieder hierher zurückkehren. Ich atmete tief durch. Es würde eine lange Reise werden, deren Ende ich nicht vorhersehen konnte. Das Schicksal, die Alten Götter oder wer auf immer werden mir schon den Weg weisen. Voller Zuversicht machte ich mich auf den Weg und ging ein letztes Mal durch das hohe Tor, das die Burg von der Stadt trennte.

Unter mir erstreckte sich nun Silberfels in hellem Sonnenschein, das viele hunderte, wenn nicht gar tausende von eng an den Berg gedrängten Häusern umfasste, deren Dächer die Nachmittagssonne gleißend reflektierten. Ein leiser Wind flüsterte durch die schwindenden Baumkronen und fegte einige Blätter in verschiedensten orange- bis rot-tönen in die Luft, trug sie hinab ins Tal und brachte den leichten Geruch von Herbst mit. Die Häuser sahen alle mehr oder minder gleich aus. Sie waren alle alt und stammten zu einem großen Teil noch aus den Gründungszeiten von Silberfels. Keine der neueren Hausbaumethoden konnte es mit der von damals aufnehmen. Natürlich gab es kleinere und größere, schönere und baufälligere Häuser, dennoch waren sie alle aus weißem, teils recht grob gebrochenen Stein gebaut und ihre Dächer bestanden aus kleinen Schindeln, die silbern schimmerten. Aus demselben Stein wie die Schindeln war auch der Berg, auf dem die Burg Silberfels stand. So kam alles zu seinem Namen.

Im Silberfels selber wurde in den letzten Zeitaltern tief geschürft, etliche verlassene, eingestürzte und verzweigte Stollen zeugen davon, doch dies wurde aufgegeben, weil nichts darauf hindeutete, dass das silberne Gestein irgendeinen Verwendungszweck außer dem Häuserbau haben könnte. Die alten Mienen sind nun seit Jahrhunderten unbenutzt, bis auf Gesindel wie Schmuggler und Schwarzhändler. Sie sind die Einzigen, die sich in den verschachtelten und düsteren Gängen zurechtfinden.

Ich blieb einen Moment hier oberhalb aller Dächer stehen und ließ den Eindruck auf mich wirken. Man musste den Vorfahren schon lassen, dass sie ein außerordentliches Gespür für Schönheit hatten. Alles schien im Einklang mit dem blauen Himmel, den weitläufigen Feldern und dem dahinter liegenden Wald. Die Stadt verschwamm zwar nicht mit der Natur, aber dennoch machte sie den Eindruck, als würde sie hier hingehören und schon seit Anbeginn der Zeit hier stehen.

Nach einem letzten Seufzer setzte ich meinen Weg fort und schritt zügig die breite, gewundene mit sandfarbenen Steinen gepflasterte Allee hinab, die die Hauptstraße der ganzen Stadt war. Sie schlängelte sich von dem Haupttor weit unten über die vielen Terrassen und Ebenen, aus denen diese Stadt bestand durch einige Viertel hindurch hinauf zur Burg. Demnach war diese Straße auch viel befahren: Unzählige Bauern trieben ungeduldig ihre Esel zu Höchstleistungen an, um das frisch geerntete Getreide den doch recht steilen Weg hinauf in die Burg zu den Kornspeichern zu bringen, betuchtere Damen stiegen mit gerafften Kleidern und gerümpften Nasen über die Hinterlassenschaften der Esel, schnatterten dabei über die neueste Mode, Eilkuriere galoppierten mit ihren Pferden in jeden Teil der Stadt und zur Burg zurück und arme, in Lumpen gekleidete und abgemagerte Jungen schnappten sich hier und dort unauffällig einen Apfel aus einem der Wagen.

Zunächst, auf den höheren Ebenen, führte die Straße durch die Stadtteile, die es zu recht anschaulichem Wohlstand gebracht hatten. Hier waren die Häuser sehr hoch, reich geschmückt an Verzierungen und stilvoll angemalt. Gepflegte Bäume und Beete säumten die Allee.

Zwischen allen Häusern konnte man die in regelmäßigen Abständen verteilten mystischen Türme sehen. Sie waren gut vier mal so hoch, wie die umliegenden Häuser, aus einem schillernden blauen Material gebaut und niemand wusste, wozu sie da waren. Bei Sonnenschein wagte sich niemand auch nur in die Nähe dieser Türme, da alle Dächer der Häuser zu mindestens einem der Türme gerichtet waren und sie das Licht der Sonne auf das blaue Material warfen, das das Licht allerdings vollkommen verschluckte. Bei Sonnenschein war es um die Türme herum so warm, dass jeder, der ihnen zu nahekam, schlimme Verbrennungen davontrug. Man hatte schon mehrfach versucht, sie abzureißen, um einerseits Platz für neue Häuser zu schaffen, denn die Stadt quoll über und um andererseits die Gefahrenquelle aus dem Weg zu räumen. Nur wie es das Schicksal so wollte hatten die Vorfahren die Türme so massiv gebaut, dass nichts, was wir heute kannten, sie zerstören konnte.

Ich setzte den Weg weiter über die Hauptstraße fort, wobei diese mit abnehmender Höhe immer voller wurde. Immer mehr stinkende, ärmlich gekleidete Menschen waren auf der Straße unterwegs und immer mehr Unrat lag auf der Straße. Wiesel lief mit eingezogenem Schwanz eng neben mir, ihm war dieser Menschenauflauf gar nicht geheuer. Rechts und links der Straße türmten sich die Häuser direkt an und teilweise auch über dem Bordstein, winzige Gassen, so schmal, dass kaum ein Mann aufrecht und mit ausgestreckten Armen hindurch gehen konnte, durchzogen das Gewirr der Häuser, zwischen denen vielerorts Wäscheleinen und Bretter zum Überlaufen in andere Häuser hingen.

Etwa auf halber Höhe des Berges befand sich der große Marktplatz, durch den die Straße hindurch lief. Mittlerweile war es keine Allee mehr. Wenn es mal eine war, dann wurden wohl über die vielen Winter hinweg die Bäume gefällt um wenigstens etwas Brennholz zu haben oder sie wurden von den Menschenmassen einfach überrannt.

Ich schlenderte kurz zu einem der zahlreichen Marktstände, schnappte mir eine gutaussehende Frucht und warf dem Händler eine Silbermünze zu. Er freute sich wahnsinnig über sein Glück. Wahrscheinlich war eine Silbermünze zu viel, aber ich hatte auch keine Lust lange in der Tasche herum zu kramen. An einem anderen Stand kaufte ich Wiesel ein paar Würste.

Weiter unten, kurz vor dem Haupttor der Stadt stand es noch schlimmer um die Menschen. Die Häuser waren verdreckt, teilweise einsturzgefährdet und generell mehr grau als weiß. Die Gassen waren noch enger und noch verschmutzter. Entlang der Hauptstraße waren Wachen aufgestellt, um das Gesindel in den Gassen von der Straße fern zu halten, denn dieser Teil der Stadt war das Territorium der Diebe, Mörder und anderer Verursacher böser Machenschaften.

Kurz darauf erreichte ich die riesige, weiße Stadtmauer. Sie war fast 30 Mann hoch, gut gepflegt um eventuellen Angriffen lange standhalten zu können und war mit Soldaten und Wachen gespickt. Die Mauer zog sich rund um die Stadt, in gleichmäßigen Abständen waren massive Türme eingelassen, die noch einmal fast doppelt so hoch wie die Mauer waren und auf deren Spitze sich wieder die blauen Türme wieder fanden. Ich schritt durch das riesige Haupttor, dass kolosshaft über mir gen Himmel ragte. Die Vorfahren hatten zwar einen Sinn für Schönheit, aber trotzdem schienen sie gerne zu übertreiben, dachte ich mir.

Das Tor war eines von vier Toren, die in jede Himmelsrichtung aus der Stadt hinausführten. Dieses war das größte von allen, zehn voll gerüstete Wachen standen auf jeder Seite und betrachteten die vorbeifließenden Massen missmutig. Hinter dem Tor führte die nun nicht mehr gepflasterte Straße hinaus in die Wildnis. Hinaus in die Freiheit. Ich grinste glücklich und schritt etwas weiter aus, um schneller anzukommen, wo auch immer mich mein Weg hinführen würde.

Die Welt hinter dem Tor sah gleich ganz anders aus. Die Straße war nur noch eine von Schlaglöchern gespickte Holperpiste, die durch den starken Regen der letzten Tage völlig matschig und aufgewühlt war. Unzählige Wagenräder hatten tiefe Spurrillen gezogen und man konnte die Pferdeäpfel häufig nicht von Matschhaufen unterscheiden.

Ein breiter Ring von kleinen Holzhütten umzog die Stadt. Hier lebten all diejenigen, die aus der Stadt verbannt waren, oder keinen Platz mehr fanden. Das Königreich quoll über, es gab zu wenig Essen, zu wenig Platz und zu viele Menschen. Leid und Hunger quoll überall aus den unverglasten Fenstern der Hütten. Es stank widerlich nach Aas und Exkrementen. Überall erlosch Leben und gleichzeitig wurde neues, hoffnungsloses Leben geboren. Wie gut, dass ich nicht zu diesem Gesindel gehöre, dachte ich mir nur. Mein Vater würde schon dafür sorgen, dass immer genug zu essen auf den Tisch kam.

Nach weiteren zehn Minuten hatte ich auch diesen unschönen Teil der Stadt verlassen und befand mich nun inmitten der weitläufigen Felder. Die Menschenmasse hatte sich mittlerweile verteilt und immer weniger Menschen kreuzten meinen Weg. Überall waren Bauern auf den Feldern und ernteten Getreide, Hopfen und Früchte. Wiesel war nun ausgelassener, beschnupperte jede Ecke, markierte sein Revier und tollte ausgelassen durch das hohe Gras am Wegesrand. Die Sonne stand hoch am Himmel und beleuchtete die Welt in ihrem herbstlichen Schein. Ich schloss die Augen, hob den Kopf und ließ mir genüsslich das Gesicht vom warmen Sonnenschein umfließen. Orangene Blätter wirbelten im wilden Spiel des Windes durch die Luft und Wiesel fand sichtlichen Spaß daran ihnen hinterher zu rennen und sie aus der Luft zu schnappen.

Nach einiger Zeit erreichten wir eine Weggabelung, die in alle möglichen verschiedenen Teile des Königreichs und auch andere Königreiche führte. Ich stand einige Momente unentschlossen an der Weggabelung und entschied mich schließlich für einen schmalen Weg, der nach Furgudas, einem kleinen Dorf westlich von Silberfels führte. Ich wollte nicht nach Furgudas, aber ich wusste, dass in der Richtung die schönsten Wiesen der Umgebung lagen, und da ich eh gesagt hatte, dass ich einen schönen Nachmittag auf den Wiesen verbringen wollte, dachte ich mir, dass ich das auch ruhig machen könnte.

So schlenderten wir einige Zeit den Trampelpfad unter laubenden Bäumen entlang, der nur sehr wenig begangen war. Auf der gesamten Strecke kam uns niemand entgegen. Das Bündel auf meinem Rücken schnürte sich so langsam unangenehm in meine Schultern. Irgendwann spuckte uns der Weg auf den Wiesen aus. Ich suchte nach einem schönen, halbwegs trockenen und warmen Plätzchen und fand schließlich einen flachen Findling, den die Sonne ordentlich aufgeheizt hatte und auf dem ich mich nun niederließ, nachdem ich den Rucksack neben mir abgelegt hatte. Wiesel tollte auf der Wiese herum und schnappte nach den letzten Schmetterlingen, die sich noch blicken ließen.

Verträumt schaute ich mich um. In meinem Rücken befand sich der Wald, dessen Laubbäume orangerot in der Sonne leuchteten. Linkerhand entsprang ein Bach und schlängelte seinen Weg durch das hohe Gras mit, das mit dutzenden bunten Blumen gespickt war. Die Blumen fingen eifrig die letzten Sonnenstrahlen auf und schienen mit den anderen Blumen um die meiste Sonne zu konkurrieren, denn sie waren alle noch ein mal prächtig aufgeblüht und schillerten in allen Farben und Formen. Etliche Mücken und Insekten segelten durch die Luft, hell umrahmt im Sonnenlicht und wurden von den letzten Vögeln geschnappt, damit sie den Winter überstanden. Vor mir standen keine Bäume und die Wiese lief abschüssig ins Tal hinab. Von hier aus hatte man einen fantastischen Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge, auf deren Kuppen sich schon der erste Schnee abzeichnete. Auch dort war der Wald rotbraun gefärbt und schien in dem hellen Sonnenlicht zu brennen.

So saß ich dort einige Zeit, während die Sonne ihren Lauf nahm. Wiesel hatte sich inzwischen ausgetobt und war unter meinen Arm gekrabbelt, wo ich ihn sanft streichelte. Er genoss es mit einem leisen Brummen. Dort saßen wir nun, betrachteten zufrieden die Landschaft und fühlten uns einfach wohl. Irgendwann nahm ich meinen Rucksack zur Hand, gab Wiesel die Würstchen aß selber die Frucht und nahm ein Buch zur Hand, um es endlich weiter lesen zu können.

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Kapitel 3 - Teil 9

Lionatras

Ich war erst wenige Seiten weit gekommen, als plötzlich aus der Ferne Hufgetrappel schnell näherkam. Ich dachte erst daran mich zu verstecken, doch es wäre sinnlos. Die nächsten Bäume standen einige hundert Schritt weit entfernt und der Stein bot kaum Schutz. Außerdem durfte ich hier ruhig angetroffen werden. Ich war noch genau dort, wo alle mich erwarteten. Also versenkte ich meinen Blick wieder im Buch und tat beschäftigt. Vermutlich irgendein Kurier auf dem Weg nach Furgudas. Plötzlich begann Wiesel aufgeregt mit dem Schwanz zu wedeln. Das Hufgetrappel wurde leiser und verklang schließlich ganz, als ein Schatten über mich fiel. Ich blickte auf und ein breites Lächeln flog mir aufs Gesicht.

Auf dem Pferd saß nicht irgendein Kurier, sondern aufrecht und erhaben Finn. Er hielt lediglich die Zügel in seiner Hand und war ohne Sattel geritten. Die Sonne stand in seinem Rücken und hob seine breite Statur noch einmal hervor. Seine mittellangen Haare lagen ihm zerzaust in der Stirn und wippten sachte im leichten Wind. Er sah mich aus blitzenden Augen an und freute sich offensichtlich auch sehr mich wieder zu sehen. Zumindest ließe sich das aus dem seligen Grinsen schließen, das bis zu seinen Ohren zu reichen schien. »Hallo, Lio.« Er schien eine Antwort zu erwarten, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Nicht zum ersten Mal fielen mir seine tiefen Grübchen ins Auge. Ich hätte ihn ewig anstarren können, doch irgendwann zuckte er mit den Schultern und sprang er in einer fließenden Bewegung vom Pferd und klopfte ihm den Hals. Was faszinierte mich bloß so an diesem Jungen?

Ich erwachte aus meiner Starre und krächzte »Hal…« Warum hat man in solchen Momenten bloß immer einen Frosch im Hals? Ich räusperte mich dezent und setzte erneut an. »Hallo, Finn.« Ich war ehrlich gesagt nicht ganz überrascht ihn hier zu sehen. Aber es gab unzählige Wiesen rund um die Stadt, da war es schon eine gute Leistung, dass er mich hier so bald getroffen hatte. »Wie hast du mich gefunden?« Er drehte sich zu mir um und streichelte dem Pferd weiter den Hals.

»Das ist Miro, mein Freund und Träger. Es hat auch wenige Vorteile im Stall zu arbeiten, weißt du.« Erst jetzt warf ich einen genaueren Blick auf das Pferd. Es war braun, ähnlich wie seine Augen…Dazu war es ebenfalls recht groß und kräftig. Starke Muskelstränge zogen sich über die Beine. Es hatte eine weiße, längliche Blesse auf der Stirn und längere, dunkle Haare um die Fesseln. Seine Mähne und Schweif waren ebenfalls Schwarz. Alles in allem ein wirklich prachtvolles Pferd, fast schon eines Königs würdig, aber in jedem Fall ungewöhnlich für einen Stallburschen.

»Er ist der schnellste Läufer des Stalls. Ich habe ihn einmal bei einer Wette mit dem Stallmeister gewonnen. Und wie ich dich gefunden habe? Ich weiß es nicht. Ich bin einfach meinem Bauchgefühl gefolgt. Und das hat mich direkt zu dir geführt.« Finn ließ seine Hand an Miro’s Hals entlang gleiten, ließ sie schließlich fallen und lächelte mich unsicher an. Er gab Miro einen kleinen Klaps, der ein Stück lief und schließlich begann sich an den Herbstblumen den Bauch voll zu schlagen. Wir schauten ihm beide eine Weile zu, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Erst jetzt kam mir der Gedanke, dass seine Anwesenheit meine gesamte Planung Abzuhauen durcheinanderwerfen würde. Wie sollte ich es ihm beibringen?

Ich blendete den Gedanken schnell aus und konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart, als Wiesel sich plötzlich wieder regte, der noch immer unter meinem Arm lag und der nun aufsprang und schwanzwedelnd auf Finn zulief. Dieser bückte sich und zerzauste ihm das Fell. Sie tollten eine Weile miteinander und ich sah fast ein wenig eifersüchtig zu, denn Wiesel schien Finn fast genau so zu vertrauen wie mir. Irgendwann schien der Hund aber doch genug zu haben und sprang stattdessen lieber weiter den Schmetterlingen hinterher. Ich sah ihm lächelnd hinterher, aber spürte nach einiger Zeit Finns Blick auf mir liegen. Ich sah zu ihm hoch. Er sah mich noch immer an und stand etwas unentschlossen wenige Schritt vor mir auf der Wiese.

Kapitel 3 - Teil 10

Lionatras

Ich hielt den vergilbten Ledereinband hoch »Das hier? Das ist eine ziemlich alte Geschichte, die von einem meiner Vorfahren über seine Liebe zur Natur und zu seinen Freunden geschrieben wurde.«

»Klingt spannend.« Meinte Finn, allerdings wenig überzeugt. »Du magst also die Natur?«

»Ja, sehr sogar. Sonst wäre ich nicht hier draußen, wo ich doch auch Zuhause im dunklen Gemäuer lesen könnte.« Bei dem Wort „Zuhause“ musste ich einmal Schlucken. Jetzt war es nicht mehr mein Zuhause.

»Dann haben wir ja doch mehr Gemeinsamkeiten, als ich dachte.« Er warf mir ein lächeln zu und in seinen Augen blitzte es leicht. »Aber warum liest du, wenn du hier draußen bist, anstatt die Natur zu erleben?« Diese Frage verblüffte mich jetzt. Da wusste ich jetzt so auch keine Antwort drauf. Von wegen einfacher Stallbursche. In ihm steckt mehr, als man denkt.

»Öhh…« stotterte ich. »Gute Frage. Vielleicht, weil die Geschichten sehr fesselnd sind? Oder, weil ich auch so etwas von der Natur mitbekomme?« Antwortete ich schwach. Er zog eine Augenbraue hoch, schien nicht gänzlich überzeugt, ging aber auch nicht weiter darauf ein. Er druckste etwas herum.

»Kannst du mir etwas daraus aus vorlesen? Es ist schon so viele Jahre her, dass mir etwas vorgelesen wurde. Das letzte mal kurz bevor meine Mutter starb, als ich vier war.«

Erschrocken blickte ich ihn an. »Deine Mutter ist tot?« Er nickte traurig.

»Und mein Vater auch. Mama konnte lesen. Sie war eine Dame vom Hof, hatte sich aber in Papa verliebt und ihr Leben dort aufgegeben. Ich bin ihr ältestes und einziges Kind. Kurz bevor ihr zweites Kind geboren werden sollte ist sie krank geworden und haben es nicht geschafft.« Betreten schaute er zu Boden. Langsam redete er weiter, während er mit dem Fuß ein paar Kiesel auf dem Boden umher schob. »Mein Vater hat mich dann großgezogen, aber er war nur ein einfacher Holzfäller. Die Goldreserven und der restliche Schmuck von Mama waren bald aufgebraucht und es reichte kaum zum überleben. Er arbeitete Tag und Nacht, um uns durch den Winter zu bringen. Schließlich hat er sich selbst während eines Unwetters hinausgewagt, um noch mehr Holz zu schlagen. Er meinte noch, dass ihm nichts passieren würde, während ich alleine in unserer Hütte am Stadtrand blieb. Er kam nie wieder. Das war vor zwei Jahren.«

»Das ist ja schrecklich!« Ich konnte es gar nicht richtig in Worte packen. »Tut mir leid.«

»Naja das Leben geht weiter. Danach habe ich mich eine Zeit lang vom Stehlen ernährt und wurde schließlich erwischt. Der Ladenbesitzer hat sich Gott sei Dank meine Geschichte angehört und bekam Mitleid mit mir. Er vermittelte mich an den Hof, wo dringend Stallburschen gesucht wurden. Er verabschiedete sich mit dem Satz: „Wenn irgendwann noch etwas aus dir wird, kannst du mir ja den Apfel mal zurückzahlen“. Da war ich vierzehn. Seitdem arbeitete ich im Stall.« Er endete. Ich war sprachlos. Mir wurde erst jetzt klar, dass ich eigentlich eine ganz gute Kindheit gehabt habe.

»Mama hatte leider nicht mehr die Gelegenheit mir das Lesen beizubringen. Und die groben Geschichten von all den anderen Bediensteten taugen nichts, wenn man einmal richtige Bücher gehört hat.«

»Natürlich kann ich dir was vorlesen!« Ich fühlte mich irgendwie schuldig, dies für ihn zu tun. Er hob den Kopf wieder und ein glückliches Lächeln wischte seine Traurigkeit weg. Ich blätterte wieder zum Anfang der Geschichte, während er zu mir kam und es sich neben dem Stein im Gras gemütlich machte. Wiesel kam wieder an und legte sich zwischen uns. Finns Augen schauten verträumt in die vorbeiziehenden Wolken, als ich begann vorzulesen und ihm immer wieder unauffällige Seitenblicke zuwarf.

Wieder ein sehr schöner Teil, vielen Dank. Ich könnte mir vorstellen, dass Finn mit Lio zusammen flieht; viel zu verlieren hat er ja nicht. Eher im Gegenteil, wenn er Lio schon ausfindig macht, hat er ja anscheinend auch Gefühle für ihn und wenn das rauskommt, wird er mit Sicherheit gehängt. Auf jeden Fall freue ich mich, wenn es weitergeht.

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Und schon geht es weiter und Lio und Finn haben etwas mehr Zeit sich kennenzulernen. Ob die beiden zusammen abhauen? Man wird es gleich lesen. Aber da ist definitiv etwas zwischen den beiden. Offen können sie leider wirklich keine Beziehung haben, das wird dort nicht toleriert. Da hast du recht @Einfachnurich. Freut mich sehr, dich auch hier im Club der Kommentatoren begrüßen zu dürfen! :slight_smile:

Kapitel 3 - Teil 11

Lionatras

Das letzte Kapitel war zu Ende und ich wischte mir verstohlen eine Glücksträne von der Wange, die ich wegen des glücklichen Endes vergossen hatte. Ich klappte das Buch zu und stellte erschrocken fest, dass die Sonne nun schon sehr nah am Horizont stand und die neuerlich heranziehenden wattigen Wolken lodernd in ihrem orangelila schein beleuchtete. Die Vögel hatten mittlerweile ihr Abendkonzert angestimmt. Ich sah zur Seite und sah Finns leuchtende Augen auf mir liegen. Er hatte sich auf seinen Ellbogen gestützt zu mir gedreht. Wiesel lag eng an ihn gekuschelt neben Finn und schnarchte wohlig.

»Das war eine sehr schöne Geschichte. Und du hast eine tolle Stimme.« fügte er mit einem scheuen Lächeln hinzu.

»Danke.« Ich spürte mich leicht rot werden. Das Kompliment bedeutete mir echt einiges.

Eine Brise rauschte durch das hohe Gras und wirbelte einige Blätter auf, die raschelnd davonflogen.

Er sah in den Himmel und sprang abrupt auf. Wiesel wurde wach, jaulte ein mal erschrocken auf und versteckte sich schnell mit eingezogenem Schwanz hinter meinem Rücken.

»Oh nein! Ich hab ganz die Zeit vergessen! Wenn bis zum Sonnenuntergang nicht die Ställe sauber sind bekomme ich ernsthafte Probleme. Dann bekomm ich die nächsten Tage mal wieder nichts mehr zu Essen…« Er Pfiff gehetzt, woraufhin Miro angetrabt kam. Dann sah mich traurig an. »Tut mir echt leid, dass ich jetzt schon wegmuss. Aber ich fand es wunderschön. Wenn du magst können wir das häufiger machen.« Er sprang in einer ebenso fließenden Bewegung wieder auf sein Pferd auf, wie er abgestiegen war. Gerade, als er Miro die Sporen geben wollte hielt er noch einmal inne und wandte sich zu mir um.

»Kann ich dich noch irgendwo hin mitnehmen?« Das Vogelgezwitscher um mich herum schien zu verstummen und die Welt stehen zu bleiben. Ich sah ihm tief in die Augen. Diese wunderschönen braunen Augen, in denen man zu versinken drohte, wenn man nicht rechtzeitig wegsah. Diese Augen waren mein Schicksal. Sie stellten mich vor die größte Frage meines bisherigen Lebens. Sollte ich bei ihnen bleiben, sie genauer kennen lernen und endlich mal einen echten Freund finden? Sollte ich bei Kaldes bleiben und ganz einfach das tun, was alle von mir erwarteten? Mich verheiraten lassen? Oder sollte ich doch endlich dem unwiderstehlichen Sog der Natur nachgeben? Mein Hirn überschlug sich vor Fragen und fand keinen logischen Schluss. Mir wurde schwindelig. Irgendwann zuckte Finn mit den Schultern, wandte sich um und gab Miro die Sporen. »WARTE!« Rief ich beinahe schon hysterisch. Eine Träne kullerte meine Wange hinab, doch ich kümmerte mich nicht darum. Er kam wieder zum stehen und sah mich an. So wie er da nur ein paar Schritt von mir entfernt ins abendliche Sonnenlicht getränkt auf seinem Pferd saß sah er wahrhaft Majestätisch aus. Er sollte der Prinz sein, und nicht ich, schoss es mir durch den Kopf. Konnte ich ihn einweihen? Würde er mitkommen? Er kannte mich doch kaum. Ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher als ihn an meiner Seite zu wissen und durch den Wald laufen zu können. Doch das war ein egoistischer Wunsch. Was wollte er denn? Er hatte eine sehr vielversprechende Karriere als Stallmeister vor sich und schien damit auch ganz zufrieden. Sollte ich ihn von all dem wegziehen? Was wenn er Nein sagen würde, oder was, wenn es ihm nicht gefallen würde?

»Hey, Lio. Du brauchst nicht weinen. Wir sehen uns doch bald wieder. Zumindest, wenn du es auch willst.« Fügte er hinzu. »Ich weine nicht.« Sagte ich und wischte schnell die Träne weg. Er hatte keinen blassen Schimmer, was gerade für eine Schlacht in meinem Inneren tobte. Ich wollte mir noch etwas Bedenkzeit verschaffen. Eigentlich wollte ich nur weg hier. Weg von all den schwierigen Situationen und Entscheidungen, wie ich es immer wollte. Bücher waren da meist die willkommene Ablenkung. »Danke. Aber ich bleibe noch ein bisschen.« Ich schniefte leise. Ein Hauch von Enttäuschung flog über sein Gesicht, aber er fasste sich recht schnell wieder. »Na gut. Wir sehen uns wieder, Lio von Silberfels.« Er sagte das mit so einem Optimismus in der Stimme und Freude in den Augen, dass ich schon fast daran glaubte. Wir sehen uns wieder. Wir sehen uns wieder.

Dann drehte er sich zum letzten Mal um, gab Miro die Sporen und galoppierte im warmen Sonnenlicht davon. Die Vögel begannen wieder zu zwitschern, aber ihr Lied war nun ein trauriges. Er sah echt wundervoll aus, wie er da so ritt. Ich stellte mir vor, wie es wäre jetzt an ihn geschmiegt auf dem Pferd zu sitzen und zurück nach Silberfels zu reiten. Eine Welle der Sehnsucht umfasste mich schon jetzt. Wir sehen uns wieder. Kurz bevor er den Waldrand erreichte wandte er sich noch einmal um und winkte. Er warf lange Schatten auf das Gras. Ich winkte zurück und dann war er verschwunden. Wir sehen uns wieder. Apathisch starrte ich auf die dunkle Stelle am Waldrand, wo ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das letzte mal? Wir sehen uns wieder. Ich sagte es mir immer wieder, doch irgendwann verklang es zu einem traurigen Echo in meinem Schädel. Ich ließ mich entkräftet auf den Stein plumpsen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Noch konnte ich alles ungeschehen machen. Er wusste ja nichts von meinen Gedanken. Ich konnte einfach nach Silberfels spazieren und alles wäre beim Alten. Doch ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste nicht was ich fühlen sollte. Warum war es ausgerechnet ein Junge, der mich so faszinierte, und nicht irgendein Mädchen? War es falsch? Oder richtig? Oder nur Freundschaft? Ich wusste es nicht. Konnte ich ihm je wieder in die Augen sehen? Ich wusste nur eins. Ich wollte weg. Wieder einmal flüchten. Und nicht auf eine Lösung zu, sondern so weit es geht von ihr weg und mich vergraben. Ich wollte laufen. Wohin, war erst einmal egal.

Wir sehen uns wieder…

Wiesel stupste mich vorsichtig an. Er wusste immer, wenn etwas nicht in Ordnung mit mir war. Ich lächelte ihn traurig an, aber das genügte nicht, um einen sorgenvollen Hund zu besänftigen. Seufzend kuschelte ich mich an ihn, stand auf und packte fahrig meine Sachen zusammen. Schweren Herzens riss ich mich noch einmal von der wundervollen Aussicht los, setzte meinen Rucksack auf und ging los.