- Krankenbesuch
Max
Gleich nach dem Rettungswagen traf auch die Polizei ein. Der Notarzt untersuchte kurz Cosmins Wunde, überprüfte seinen Puls, schaute unter den geschlossenen Lidern nach, während ein Assistent ein Fieberthermometer unter Cosmins Zunge hielt und ein zweiter damit begann, Cosmin in Decken zu hüllen und ihn dabei auf der Liege festschnallte.
Max wartete ebenso ungeduldig wie seine Stiefmutter auf die Einschätzung des Arztes. Nach etwa fünf Minuten wandte sich der Arzt an Max’ Stiefmutter.
„Sie sind die Mutter des Patienten?“
Sie nickte und Max bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen flossen.
„Das Messer hat keine Organe und auch keine größeren Blutgefäße verletzt. Allerdings hat Ihr Sohn hohes Fieber, steht eventuell unter Schock und muss umgehend intensivmedizinisch betreut werden. Wir bringen ihn in die Klinik Westend. Ich denke, morgen Nachmittag können Sie ihn sehen. Die Station erfahren Sie in der Anmeldung.“
Inzwischen hatten die Sanitäter die Liege mit Cosmin in den Rettungswagen bugsiert und kaum hatte der Arzt die Hecktüren hinter sich geschlossen, raste der Wagen mit eingeschalteter Sirene davon.
Max schaute dem Rettungswagen hinterher, bis er in eine andere Straße einbog.
Cos-Mi, warum bin ich Idiot nicht gleich raus gekommen, als du mit mir reden wolltest?
Zwei Polizisten befragten Leons Nachbarn nach den beiden Tätern. Der Mann beschrieb Aussehen und Kleidung der Kerle. Doch statt endlich nach ihnen zu suchen, kritzelte der eine was in ein Notizheft und der andere schoss Fotos von der Stelle, wo Cosmin auf dem Gehweg gelegen hatte.
Max knirschte mit den Zähnen und fühlte eine unbändige Wut durch seine Adern branden. Er wählte auf seinem Handy die Nummer, mit der ihn Cosmin angerufen hatte. Doch er hörte nur ein Rauschen. Also hatten die Kerle die SIM- Karte aus dem Handy entfernt.
Max fuhr zu Leon herum.
„Gib mir was zum Anziehen, ich werde diese Schweine suchen!“
„Die sind doch längst über alle Berge“, widersprach Leon, schien allerdings zu bemerken, dass Max zum Racheengel mutierte. „Und wenn ich die ganze Nacht nach ihnen suche, ich werde sie finden und all ihre beschissenen Knochen brechen.“
Als sich Max kurz darauf auf sein Rad schwang, um den im frischen Schnee noch sichtbaren Fußspuren auf dem Gehweg zu folgen, packte Leon seinen Arm.
„Maxi! Mach keinen Scheiß, wenn du sie erwischt. Ich will dich morgen nicht im Knast besuchen, klar?“
Max warf einen Blick über die Schulter. Die Polizisten befragten gerade seine Stiefmutter.
„So wie die Bullen hier arbeiten, werden die nie raus finden, wer die beiden Schweine erledigt hat“, knurrte Max und sauste los. Doch als er die Stelle erreichte, wo die Nebenstraße in ein belebtere Hauptstraße mündete, verliefen sich die Fußspuren in einem Gewirr aus anderen Spuren. Max fluchte leise und bog nach rechts ab. Er sah nur wenige Fußgänger, obwohl kaum noch Schneeflocken zu Boden rieselten. Auf keinen der Leute traf auch nur annähernd die Beschreibung zu, die Leons Nachbar der Polizei gegeben hatte.
Bald schon blieb ihm nichts weiter übrig, als auf den Zufall zu hoffen. Kurz vorm S-Bahnhof Pichelsberg klingelte sein Handy und er sah auf dem Display, dass seine Großmutter anrief.
„Omi?“
„Max, hast du mit Cosmin geredet? Er sucht dich.“
"Ich… er ist jetzt im Krankenhaus“, sagte er und schilderte kurz den Überfall auf Cosmin. „Ich suche jetzt auch. Diese Schweine, die ihm das angetan haben“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Oh Gott, ich hatte so eine Ahnung, weil ich ihn nicht mehr erreichen kann.“
„Omi, ich ruf morgen an. Ich hab’s Cosmin versprochen. Ich komme wieder zurück nach Dessau. Und jetzt suche ich weiter.“
Max beendete das Gespräch und folgte einer mit Lichterketten dekorierten und mit unzähligen Fußgängern bevölkerten Allee.
Erst nach weiteren zwei Stunden vergeblicher Suche sah Max ein, dass es leichter war, eine Stecknadel im Heuhaufen zu suchen als diese zwei Kerle im Westen Berlins. Er schrieb Leon eine Nachricht, dass er die Suche aufgab und die Nacht in der eigenen Wohnung verbringen würde.
Obwohl der Rettungsarzt seiner Stiefmutter gesagt hatte, dass sie Cosmin erst am Nachmittag sehen könne, schwang sich Max bereits kurz nach 10 Uhr auf sein Rad, um zur Klinik Westend aufzubrechen. Von den Linden, die die Zufahrt zu seinem Haus säumten, platschte nasser Schnee auf den mit Matsch bedeckten Asphalt. Es schien, als könne sich das Wetter nicht zwischen Herbst, Winter oder Vorfrühling entscheiden. An diesem Vormittag jedenfalls strahlte die Dezembersonne von einem azurblauen Himmel und ein laues Lüftchen umwehte Max’ Gesicht, während er zur Klinik radelte.
Das Klinikgelände bestand aus mehreren rostfarbenen Backsteingebäuden. Auf einigen von ihnen thronten Türmchen, die ihre spitzen Dächer in den Himmel reckten. Max kannte sich auf dem Gelände halbwegs aus, hier war er zur Welt gekommen, hatte eine Blinddarmoperation überstanden und hier war er vor fünf Jahren nach einem Wettkampf mit einer Gehirnerschütterung gelandet.
Am Informationsschalter des Hauptgebäudes erfuhr Max, dass man Cosmin in die Unfallchirurgie verlegt hatte.
Der Zugang zur Station war durch eine verglaste Flügeltür versperrt und im dahinterliegenden Flur sah Max auf Liegen oder in Rollstühlen Leute mit vergipsten Armen, Beinen oder so in Binden gewickelt, dass sie an altägyptische Mumien erinnerten.
Er drückte die Klingel für Besucher und eine etwa zwanzigjährige Stationsschwester führte ihn kurz darauf zu einer Zimmertür mit verglastem Oberteil.
Sie spähte durch das Glasfenster ins Zimmer und Max streckte sich, um über ihre Schulter einen Blick zu erhaschen.
Cosmin lag in einem der beiden Betten auf der unverletzten Seite, er steckte bis zum Hals unter der Bettdecke, schwarze Strähnen hingen ihm wie ein Vorhang über dem Gesicht. Das zweite Bett war unbenutzt.
Die Schwester wandte sich zu ihm um. „Bist du mit ihm befreundet?“
Max löste seinen Blick von Cosmins Gesicht. „Nicht nur. Er ist auch mein… Stiefbruder.“
„Interessant“, erwiderte sie und schien an weiteren Details interessiert zu sein.
„Darf ich?“ Max deutete auf die Türklinke.
Die Schwester schaute auf ihre Uhr. „Er schläft seit vierzehn Stunden und sollte eigentlich langsam aufwachen. Aber wenn er nicht von allein wach wird, versuche bitte trotzdem nicht, ihn zu wecken, okay?“
„Okay, danke.“
Wieselflink huschte Max ins Zimmer, schnappte sich einen der beiden Stühle von einem Tisch und setzte sich rittlings an das Kopfende von Cosmins Bett. Sanft strich er ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Cosmins Stirn fühlte sich noch warm an, aber sie glühte nicht mehr wie am Vorabend.
„Cos-Mi, ich wollte dich beschützen und … es tut mir so Leid“, flüsterte er. "Ich habe immer gedacht, mein Stiefbruder hat eine Hackfresse und Schweißfüße, schiefe Zähne, stinkt aus dem Maul… "
Max sah, dass sich etwas unter Cosmins Bettdecke regte, eine Hand kroch darunter hervor, gefolgt von einem dunkelbraunen Unterarm.
Leise wie das Rascheln eines Blattes im Wind wehte eine Frage an Max Ohr.
„Und…?“
Max ergriff vorsichtig die Hand, während sich Cosmins Augen im Zeitlupentempo öffneten.
„Wie man sieht, hatte ich Recht.“
Cosmin bewegte leicht den Kopf, seine milchigen Augen blickten suchend in Max’ Richtung.
„Durst“
„Sekunde!“ Max sprang auf und huschte zum Tisch unterhalb des Zimmerfensters. Auf einem Plastiktablett stand eine Flasche Wasser und ein Glas. Er kehrte mit einem halbvollen Glas zum Bett zurück und hob Cosmins Kopf an.
„Mund auf!“, sagte er und ließ mehrmals ein dünnes Rinnsal in Cosmins Mund fließen.
Endlich fanden Cosmins Augen Max’ Gesicht und allmählich schien sich auch sein Blick zu klären.
„Maxi, ich habe dich gefunden.“
Max warf hastig einen Blick über die Schulter, dann beugte er sich zu Cosmin hinunter und hauchte einen Kuss auf Cosmins Mundwinkel.
„Stiefbruderherz, du riechst wirklich aus dem Mund“, grinste er und griff erneut nach Cosmins Hand. „Hast du noch Durst?“
„Ich muss auf’s Klo!“
„Kannst du denn aufstehen?“, fragte Max und half mit einer Hand Cosmins Oberkörper aufzurichten. Die Decke fiel zurück und Max sah, dass Cosmin in einer Art Nachthemd mit einem Klettverschluss auf der Rückseite steckte. Cosmin starrte an sich herunter. „Wie zieht man sich denn so was an oder aus?“
„Man fragt seinen Stiefbruder“, kicherte Max. Er öffnete den oberen Teil des Verschlusses und sah, dass Cosmins Oberkörper von der Taille bis zum Brustkorb bandagiert war. „Tut es noch weh?“
„Es piekt etwas“, erwiderte Cosmin. „Maxi, ich muss wirklich auf’s Klo.“
„Ich helfe dir.“ Max schloss den Klettverschluss, zog Cosmins Beine vom Bett und legte sich Cosmins Arm um die Schulter.
„Was ist, wenn ich kacken muss?“
„Was soll sein?“, schnaubte Max und wankte zusammen mit Cosmin zur Badtür. „Notfalls wische ich dir den Hintern ab.“
„Das ist eklig“, kicherte Cosmin. „Aber ich muss pinkeln und ich schüttle mir selber den letzten Tropfen von meinem Zigeunerschwänzchen.“
Während sich Cosmin erleichterte, wachte Max an der Badtür und half ihm anschließend wieder zurück ins Bett.
Cosmin verkroch sich unter der Bettdecke, Max ergriff die Hand, die wie zufällig unter der Decke hervor lugte.
„Maxi?“
„Hm?“
„Wärst du auch raus gekommen, wenn das mit dem Messer nicht passiert wäre?“, fragte Cosmin leise.
Max seufzte und kraulte Cosmins Mähne. „Cos-Mi, als ich dich da draußen stehen sah… ich habe zum ersten Mal überhaupt meine Stiefmutter angerufen. Ich wollte, dass sie uns beide in meine Wohnung bringt. Aber als sie kam, hatten diese Schweine dich schon…“
Ein Lächeln huschte über Cosmins Gesicht. „Gibt’s hier auch was zu essen?“
„Ich frag mal die Schwester“, sagte Max und erhob sich.
Auf dem Stationsflur passte er die junge Krankenschwester ab. Sie lächelte, als sie Max sah. „Hab schon gesehen, dass dein Bruder wach ist.“
„Kann ich für ihn was zu essen kriegen?“, sagte Max und erwiderte ihr Lächeln.
„Kann er denn schon sitzen?“
„Das ist kein Problem“, grinste Max. „Es wäre nicht das erste Mal, dass ich ihn füttern muss.“
„Okay, ich frage mal, was er essen darf und bringe was aufs Zimmer.“
Zehn Minuten später brachte sie auf einem Tablett eine Schüssel mit Kartoffelsuppe, in der ein paar kleine Wurststückchen schwammen sowie zwei Brötchen mit kleinen Käse- und Marmeladenpackungen.
Sie befühlte kurz Cosmins Stirn. „Wie fühlst du dich?“
„Viel besser als gestern. Bin nur etwas wacklig auf den Beinen“, sagte Cosmin und versuchte sich aufzurichten. Sofort schnellte Max’ rechter Arm vor, um ihn zu stützen.
„Ihr beide seid irgendwie süß“, sagte sie lächelnd und Max überlegte, wo er das schon mal gehört hatte.
Die Schwester legte zwei Tabletten auf den Teller mit den Brötchen. „Die sind gegen das Fieber und gegen eine Entzündung deiner Wunde. Nimm die nach dem Essen. Willst du noch was zu trinken?“
Cosmin deutete auf den Tisch. „Das Wasser da ist okay.“
Sie wandte sich Max zu. „Na dann viel Spaß beim Füttern“, kicherte sie und rauschte aus dem Zimmer.
Max holte auch den zweiten Stuhl an Cosmins Bett und stellte das Tablett mit dem Essen darauf ab.
„Womit fangen wir an?“, fragte Max und nickte zum Tablett.
„Diese Suppe da riecht gut“, erwiderte Cosmin und wollte nach dem Löffel greifen, doch Max wischte seine Hand beiseite.
„Hast du nicht gehört? Ich soll dich füttern. Also mach den Mund auf!“
Während Max mit einer Hand Cosmins Schulter hielt, bugsierte er mit der anderen Hand Löffel für Löffel Kartoffelsuppe in Cosmins Mund. Gerade als er weitere Ladung Suppe zu Cosmins Mund befördern wollte, schwang die Tür auf.
Seine Stiefmutter, gefolgt von seinem Vater, betrat das Zimmer. Beide blieben wie vom Donner gerührt an der Tür stehen, während der Löffel reglos vor Cosmins offenem Mund verharrte.
Sein Vater fand als erster seine Sprache wieder. „Wie ich sehe, ist dir dein Stiefbruder nicht mehr allzu sehr verhasst, Maximilian.“
Er wandte sich Cosmin zu. „Ich bin Maximilians Vater und freue mich, dich endlich kennen zu lernen, Cosmin. Auch wenn ich die Umstände nicht sehr erfreulich finde.“
Max bemerkte, dass sich Cosmin am liebsten wieder unter der Bettdecke verkrochen hätte.
Max beförderte den Löffel zurück in die Schüssel mit Kartoffelsuppe und Cosmin klappte den Mund zu und brachte ein schwaches „Hallo Herr Weller“ hervor.
„Lass das mit Herr Weller, ich bin dein Stiefvater. Für dich bin ich Onkel Alex.“
Cosmins Mutter setzte sich zu Cosmin aufs Bett und versuchte ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, doch Cosmin wich etwas zurück. „Mutter, ich mag es nicht, wenn man mich abknutscht.“
Sie seufzte tief. „Du bist so groß geworden und so ein hübscher junger Mann.“
„Hör auf, so was zu sagen“, maulte Cosmin.
„Cosmin, ich bin immer noch deine Mutter und mache mir auch Sorgen um dich.“
Max vermutete, dass sie Cosmin am liebsten an sich gezogen hätte. Stattdessen knetete sie ihre Hände.
„Nun gut!“, ergriff Max’ Vater das Wort und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Cosmin, du könntest morgen entlassen und zu Hause weiter versorgt werden. Wie wir hörten, ist dein Vater im Moment in Rumänien. Wir möchten dich deshalb erst einmal bei uns aufnehmen, bis du zurück nach Dessau fahren kannst.“
Cosmin versteifte sich und blickte Max aus vor Schreck geweiteten Augen an.
„Nö!“, protestierte Max. „Ich kümmere mich um ihn. Er kommt mit zu mir!“
Max’ Vater und Cosmins Mutter schauten Max an, als wäre ihm ein drittes Auge gewachsen.
„Im Sommer bist du wegen ihm aus Berlin geflohen“, brauste sein Vater auf. „Wolltest ihn am liebsten verprügeln. Wie…“
„Hab mich eben geirrt, Vater. So was soll’s geben“, schnitt ihm Max das Wort ab.
„Und außerdem… Cosmin ist auch der Junge auf dem letzten Gemälde meiner Mam“, fuhr er fort und erzählte, dass er sich auch ein zweites Gemälde vom Zigeunerjungen gewünscht hatte.
Sein Vater schwieg, doch Cosmins Mutter fuhr zu Max herum. „Sie hat Cosmin tatsächlich porträtiert und hätte auch ein zweites Gemälde von ihm gemalt?“, fragte sie fassungslos.
Max kramte sein Handy aus der Jackentasche, wischte ein paar Mal über das Display und hielt ihr das Handy hin.
"Ich war auf einer ihrer Ausstellungen… ", sagte sie mehr zu sich, während sie das Foto des Gemäldes betrachtete, „… ich zeigte ihr ein Foto von Cosmin, das mir ein paar Tage zuvor sein Vater geschickt hatte. Deine Mutter meinte sofort, Cosmin wäre ein sehr schönes Motiv für ein Gemälde und fragte mich, ob sie das Foto haben könne. Ich verriet ihr nicht, dass es mein eigener Sohn ist, weil ich… Ich sagte, er sei der Sohn einer Bekannten und bat um einen der Entwürfe. Ich hätte nicht gedacht, dass sie sofort mit der Arbeit am Porträt meines Jungen beginnt.“
„Tja, hat sie aber. Und am ersten Schultag sehe ich genau diesen Jungen in meiner neuen Klasse sitzen.“
Eine Träne kullerte über ihre Wange. „Das Gemälde wunderschön. Deine Mutter hat ihn wirklich …“
Ja, und zum Dank hast du dich an den Mann meiner Mam ran gemacht.
„Cosmin, möchtest du denn so lange bei Max bleiben?“, fragte sie und gab Max das Handy zurück.
Cosmin schnaubte. „Was für eine Frage. Ich bin nach Berlin gekommen, um Max zurück zu holen. Natürlich will ich so lange bei ihm bleiben.“
Max’ Vater fand nun seine Sprache wieder. Er blickte Max nachdenklich an. „Ich nehme an, du wirst dann also auch nach Dessau zurückkehren, oder?“
Max zuckte mit der Schulter und nickte in Cosmins Richtung. „Irgendjemand muss ja auf ihn aufpassen, wie wir hier sehen.“
„Alex, ich kann den Jungen doch das Essen bringen und mit hinschauen“, wandte sich Cosmins Mutter an seinen Vater. Max hätte es nicht für möglich gehalten, dass er irgendwann einmal so etwas wie Dankbarkeit für seine Stiefmutter empfinden würde.
„Nun, ihr seid keine Kinder mehr, Maximilian. An Heiligabend will ich euch beide bei uns sehen, wenn Cosmin bis dahin wieder laufen kann. Einverstanden?“
Max und Cosmin grinsten sich an. „Okay!“, erwiderten sie wie aus einem Mund.
Nach dem Max’ Vater und Cosmins Mutter das Zimmer verlassen hatten, fütterte Max Cosmin mit dem Rest der Kartoffelsuppe und bestrich anschließend für ihn die Brötchenhälften mit Marmelade und Schmelzkäse.
Die junge Schwester betrat das Zimmer.
„Tut mir Leid, dass ich euch stören muss“. Sie deutete auf das leere Bett. „Gleich kommt ein Verkehrsunfall von der OP.“
„Ich soll verduften, oder?“, fragte Max.
„Du könntest am Nachmittag wieder kommen. Ich besorge euch einen Rollstuhl und du kannst deinen Bruder durch den Park spazieren fahren“, schlug sie vor und wandte sich an Cosmin.
"Hast du warme Sachen hier für… " Ihr schien plötzlich einzufallen, weshalb Cosmin in diesem Bett lag.
„Hey, kein Problem, mein Bruderherz muss eh neu eingekleidet werden. Ich bringe warme Sachen mit.“
Cosmin schien widersprechen zu wollen. „Du willst doch, dass ich komme, oder?“
Cosmin seufzte leise. „Du schiebst mich im Rollstuhl durch die Gegend. Das hatten wir noch nicht.“
„Also gut, sei so gegen 15 Uhr hier und frag nach Schwester Laura.“ Und an Cosmin gewandt ergänzte sie: „Wenn du was brauchst oder auf Toilette musst, drücke die Klingel über dem Nachttisch.“ Sie lächelte beiden Jungen zu und verließ das Zimmer.
„Scheint so, als würde Schwester Laura auf dich stehen, Bruderherz Maxi“, grinste Cosmin. Er schaute kurz auf das Nachbarbett und sein Grinsen verblasste. „Ich hasse Verkehrsunfälle.“
Cosmin versuchte, sich im Bett aufzurichten und Max stützte seine Schulter.
„Maxi, ich glaub ich muss noch mal und ich will nicht jetzt schon diese blöde Klingel drücken.“
Als Max etwas später vor dem Klinikgebäude auf sein Handy schaute, sah er, dass Leon ihm eine Nachricht geschickt hatte.
„Max, wie ich hörte, wohnt ab morgen dein Stiefbruder bei dir. Lass dein Training nicht schleifen, sonst killt dich der Chinese nächstes Jahr. Du kannst jederzeit zu mir kommen“
Max?
Wann hatte Leon ihn das letzte Mal so angeredet?
Kein Champ oder Maxi mehr?
Max fühlte sich ein bisschen, als hätte ihn Leon geohrfeigt.
Er beschloss, in den drei Stunden bis 15 Uhr bei seinem Onkel vorbei zu schauen. Auf dem Weg in das Villenviertel hielt er an einem Klamottenladen und kaufte mit seiner Kreditkarte Sachen für Cosmin, angefangen von Socken bis hin zu einer wasserdichten Daunenjacke für über dreihundert Euro.
Nach einer viertelstündigen Fahrt erreichte Max Leons Haus, fand es aber verwaist vor. Im Garten lockte Leons Kletterfelsen im warmen Licht der Dezembersonne, also schlüpfte Max in seine Trainingssachen und vertrieb sich dort die Wartezeit, doch Leon tauchte bis halb drei nicht auf.
Nach einem kurzen Imbiss aus Leons Kühlschrank kehrte Max in die Klinik zurück.
Wie schon am Vormittag öffnete ihm Schwester Laura die Flügeltür zum Krankenhausflur.
„Das sind alles Klamotten für deinen Bruder?“, fragte sie und nickte zu den beiden prall gefüllten Einkaufstüten in Max’ Händen.
„Da sind auch Luftballons drin, damit die Tüten voller aussehen.“
„Verstehe“, lachte sie. Vor der Tür zu Cosmins Zimmer stand bereits ein Rollstuhl.
„Ich habe um vier Feierabend, stell den Rollstuhl hier wieder ab. Bis spätestens um sechs müsst ihr zurück sein. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder, Max.“
Ehe Max etwas erwidern konnte, verschwand sie im Nachbarzimmer.
Cosmins Augen leuchteten auf, als Max das Zimmer betrat. Allerdings schien er immer noch Probleme zu haben, den Oberkörper ohne Hilfe aufzurichten und ließ den Kopf wieder zurück auf sein Kissen sinken. Max warf einen Blick zum Nachbarbett. Der „Verkehrsunfall“ war ein Mann von vielleicht sechzig Jahren. Er trug eine Halskrause und starrte aus halb geöffneten Augen zur Zimmerdecke.
„Was hast du da drin?“, fragte Cosmin leise.
Max setzte sich zu Cosmin aufs Bett und reichte ihm die Tüte mit der Daunenjacke. „Hier drin sind die Socken für die Schweißfüße meines Stiefbruders“, raunte er ihm ins Ohr.
Cosmin zerrte die Daunenjacke aus der Tüte und wendete sie in den Händen. „Maxi! Die war schweineteuer. Ich will nicht…“
Max tätschelte die Zotteln in Cosmins Nacken. „Cos-Mi, wäre ich gestern Abend gleich raus gekommen, wären deine Sachen jetzt nicht zerfetzt und… voller Blut. Los, wir zieh’n dich an und dann fahre ich dich spazieren.“
Sie benötigten mehr als eine Viertelstunde, bis Cosmin endlich neu eingekleidet im Rollstuhl saß.
„Cos-Mi, weißt du was ich mir gerade überlege?“, fragte Max, als er den Rollstuhl etwas später durch die Parkanlagen des Klinikums schob.
Cosmin verrenkte den Kopf, bis sich ihre Blicke trafen. Max bemerkte, dass das Glühen in diese schwarzen Augen zurückgekehrt war.
„Was?“
„Wer von uns beiden in sechzig oder siebzig Jahren den anderen durch die Gegend schiebt.“
Cosmin kicherte. „Mir gefällt es, wenn du mich schiebst.“
Max wollte etwas erwidern, als er vom Klingeln seines Handys daran gehindert wurde.
Er zog es aus der Tasche und runzelte die Stirn. „Das ist Hazel.“
Er stellte den Lautsprecher an, sodass Cosmin mithören konnte.
„Hi Lieblingscousine!“
„Und Lieblingscousin“, ertönte Cals Stimme aus dem Hintergrund.
„Hi Maxi“, sagte Hazel. „Ich habe gerade mit unserer Omi telefoniert. Wie geht es Cosmin?“
„Mir geht’s gut, Hazel. Max kutschiert mich im Rollstuhl durch einen Park“, rief Cosmin.
„Macht mal ein Foto für mich!“, rief Hazel lachend zurück und fuhr etwas ernster fort: „Haben sie die beiden Kerle erwischt, die Cosmin das angetan haben?“
„Vergiss es! Die Bullen haben nur Fotos gemacht und mit den Leute geplaudert“, schnaubte Max.
„Omi sagte, du hättest sie gesucht.“
Max bemerkte, dass Cosmin ihn plötzlich aus großen Augen anstarrte und deutete ein entschuldigendes Schulterzucken an. „Ich bin durch die halbe Stadt gekutscht, um diesen Schweinen die Fressen einzutreten, aber die waren schon weg.“
„Maxi, ich bin ehrlich gesagt froh, dass du die nicht gefunden hast“, erwiderte Hazel.
„Ich nicht!“, tönte Cals Stimme aus dem Handy. „Ich hätte gerne zugeguckt, wie Mäxy diese Bastards fertig macht.“
„… und dann im Gefängnis landet?“, wandte sie sich an ihren Bruder, der irgendwas auf englisch brabbelte.
„Wir fahren morgen nach Dessau und bleiben bis zum 28. Dezember. Sehen wir uns?“, fragte Hazel.
„Ich hoffe doch“, erwiderte Max. Allerdings war er ein bisschen erleichtert, dass er es nicht auch über eine Woche mit Tante Clara und Onkel Tobi aushalten musste, die vielleicht versucht hätten, ihm gute Manieren beizubringen.
„Ich komme zusammen mit Cos-Mi zurück.“
„Ich freue mich auf euch beide.“
Cosmin griff nach Max’ Hand, nach dem sie sich von Hazel und Cal verabschiedet hatten. „Du wolltest mich rächen?“
„Naja, war wohl nichts“, sagte Max und packte die Griffe des Rollstuhls.
„Maxi, ich bin auch froh, dass du sie nicht mehr erwischt hast.“
„Einer von denen wäre jetzt vielleicht dein Zimmergenosse. Los jetzt! Selfi…“
Er reichte Cosmin sein Handy und beide grinsten in die Kamera. Anschließend angelte Cosmin sein Handy aus der Tasche der neuen Daunenjacke und sie wiederholten das Spiel.
„Wie lange willst du mich durch die Gegend kutschen?“, fragte Cosmin und gähnte.
„Ich könnte einen Bissen vertragen, Cos-Mi“, sagte Max und schob den Rollstuhl weiter durch den Park. „Wenn es dunkel wird, schiebe ich dich in die Kantine und wir futtern was.“
Cosmin schwieg und nach einer Weile bemerkte Max, dass er im Rollstuhl leise vor sich hin schnarchte. Max nahm ihm das Handy aus der Hand, schob es in eine Tasche der Daunenjacke und steuerte eine nahe Parkbank an.
Was würden seine Kumpel Nicholas und Oskar sagen, könnten sie ihn so sehen?, überlegte Max, während er sich neben Cosmins Rollstuhl auf die Bank sinken ließ. Oder gar Leon?
Kriegen es andere mit, was zwischen mir und Cos-Mi läuft? Zumindest können wir uns jetzt damit raus reden, dass wir so was wir Brüder sind.
Das Klingeln von Cosmins Handy riss ihn aus den Gedanken.
„… issn das?“, murmelte Cosmin, ohne die Augen zu öffnen.
Max angelte Cosmins Handy aus der Daunenjacke und las mit gerunzelter Stirn den Namen des Anrufers:
„Moritz“
Wer zum Geier ist Moritz?
„Sag… rufe zurück“, nuschelte Cosmin und schnarchte leise weiter.
Max rutschte ans andere Ende der Parkbank. „Wer bist’n du?“, fragte er mit gedämpfter Stimme.
„Bist du Max?“, antwortete der Anrufer mit einer Gegenfrage. Die Runzeln gruben sich noch etwas tiefer in Max’ Stirn.
„Glaub schon. Aber ich wollte ja wissen, wer du bist.“
„Ein Freund von Cosmin. Wir wollten wissen, ob… äh… alles okay ist?“
Wir?
Soweit Max wusste, beschränkte sich Cosmins Freundeskreis auf eine einzige Person und die saß hier im Klinikum Westend auf einer Parkbank.
„Du kennst uns von den Hofpausen“, erklärte Moritz hastig. „Wir wollten, dass Cosmin weiter bei uns sitzt, als du… naja, äh… als du jetzt nicht mehr da warst. Er war… ziemlich am Boden sozusagen.“
Max versuchte sich vorzustellen, wie Cosmin am Dienstag in der Pause auf den Pausenhof geschlurft war und fühlte, dass sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Er warf einen Blick zum Rollstuhl. Cosmins Kopf war etwas zur Seite gesunken, ein Teil des Gesichtes versteckte sich unter der Kapuze. Max begriff inzwischen selber nicht mehr, wieso er vor diesem Menschen die Flucht ergriffen hatte.
„Du bist einer von den beiden, die in den Hofpausen… immer zusammen da auf der Mauer sitzen?“, fragte Max. Um ein Haar hätte er „die manchmal heimlich Händchen halten“ gefragt.
„Ich bin der Kleinere“, antwortete Moritz und erzählte, wie er und Simon sich mit Cosmin angefreundet und wie sie einen Abend im Bierzelt des Weihnachtsmarktes verbracht hatten.
Max lauschte mit offenem Mund.
Hätte mir Cosmin nicht von den beiden erzählt, ich hätte sie nicht mal bemerkt!
„Cosmin kommt morgen zu Simons Geburtstagsfeier und wir würden uns freuen, wenn du auch dabei bist“, endete Moritz’ Wortschwall.
„Moritz, da gibt es ein Problem“, seufzte Max. „Cosmin schläft gerade in einem Rollstuhl und ich schiebe ihn hier durch den Park des Krankenhauses.“
„Aber wie…?“
Nun berichtete Max mit knappen Sätzen, wie Cosmin zur Stichverletzung gekommen war und ergänzte: „Morgen wird er entlassen und bleibt bei mir, bis wir zusammen zurückfahren können. Sag deinem Freund Simon, wir holen das nach.“
„Okay. Und du sag Cosmin gute Besserung von uns. Mach’s gut, Max.“
„Mach’s gut, Moritz.“
Max rutschte zurück zur anderen Seite der Parkbank und schob Cosmins Handy zurück in die Daunenjacke.
Einige Minuten ruhte sein Blick auf Cosmins Gesicht. Dann schoss er ein Foto von der friedlich schlafenden Gestalt im Rollstuhl und schickte es zusammen mit ein paar Selfies an seine Cousine.
Promt traf ihre Antwort ein: „OMG, Dein Stiefbruder ist so was von süß. Und Du wolltest ihn schlagen und treten.“
„Und jetzt fahre ich ihn im Rollstuhl spazieren“, schrieb er zurück.
Sie chatteten eine Zeitlang weiter und allmählich breitete sich Dunkelheit im Park aus, während die Türmchen oben auf den Dächern der Gebäude im Abendrot funkelten. Lampen malten diffuse Lichtkleckse entlang des Weges durch den Park.
Cosmin grunzte leise und blickte um sich. „Wie lange habe ich gepennt, Maxi?“
Max erhob sich. „Eine Stunde.“
„Sorry, du hast dich bestimmt gelangweilt“, seufzte Cosmin.
„Nö“, grinste Max. „Erst habe ich mit deinem Freund Moritz gequatscht. Und dann hab ich meinem Stiefbrüderchen beim Schlafen zugeguckt. Und jetzt werden wir was futtern.“
Als Max am Abend heimkehrte, erlebte er eine Überraschung. Am Spiegel der Flurgarderobe klebte ein Zettel mit Leons Handschrift:
„Geh runter in den Keller unter deiner Wohnung.“ Der Zettel enthielt eine Skizze, die Max den Weg wies.
Das Kellergeschoss war mit einer Höhe von etwa zweieinhalb Metern höher, als es Max vermutet hätte. Max folgte dem von mehreren Deckenlampen ausgeleuchteten Kellergang bis zu einer Tür, die in einen unter seiner Wohnung liegenden Raum führte. Ein Schild verkündete, was sich hinter der Tür befand:
„Trainingsraum“
„Onkelchen“, sagte Max leise, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein.
Über der Tür hing ein Griffbrett. Die Wand links war mit Holzplatten verkleidet, ebenso ein Teil der Decke oberhalb der Wand. Die Platten waren mit bunten Klettergriffen übersät. Unterhalb der Wand lagen Matten, die im Sturzfall für eine weiche und lautlose Landung sorgten. In der Mitte des Raumes hingen vier unterschiedlich schwere Boxsäcke von der Decke und bildeten die Ecken eines Quadrates von etwa zwei Metern Seitenlänge. Die rechten Seite des Zimmers teilten sich eine Kraftstation, die mehrere Tausender gekostet haben musste, ein Laufband und ein Schrank. An der Wand hinter dem Laufband hing ein riesiger Bildschirm.
Tränen der Rührung füllten Max’ Augen. Während er den Tag im Krankenhaus und an Leons Kletterfelsen verbracht hatte, war sein Onkel vermutlich mit mehreren Leuten hier gewesen und hatte ihm ein kleines Fitnessstudio eingerichtet.
Max bemerkte einen Zettel auf der Hantelbank der Kraftstation.
„Das hier solltest du eigentlich erst zu Weihnachten bekommen, Champ. Aber so kannst du auch trainieren, während du deinen Stiefbruder gesund pflegst. Pass auf dich auf.“
„Danke großer Bruder“, sagte Max leise. Ihm war klar, worauf Leon mit dem „auf sich aufpassen“ anspielte.
Ich bin süchtig nach ihm, Leon. Dagegen hilft auch kein Aufpassen.
Max überlegte, sich nochmal aufs Rad zu schwingen, um zu Leon zu fahren. Doch dann fiel ihm ein, dass sein Onkel wieder einmal Damenbesuch erwartete. Also schrieb er ihm eine Nachricht.
„Danke Onkelchen. Echt Wahnsinn, was du mir hier hier aufgebaut hast. Hab dich lieb. Dein Champ.“