Bleib bei mir

Bleib bei mir

Vorbemerkung

Die Handlung

Der siebzehnjährige Max aus Berlin bezwingt dank des langjährigen Trainings mit seinem Onkel Leon nicht nur extrem schwierige Kletterrouten sondern auch die meisten Kampfsportler, mit denen er im Ring aufeinander trifft. Fast scheint es, als gäbe es nichts, wovor Max davon laufen würde.
Doch dann erfährt er, dass sein Vater wieder heiraten wird. Die künftige Stiefmutter ist dieselbe Frau, der Max eine Mitschuld am Unfalltod seiner Mutter gibt. Zudem möchte der Vater, dass Max auch den Sohn dieser Frau kennenlernt. Um dem verhassten Stiefbruder nicht zu begegnen, ergreift Max kurz vor dem Ende der Sommerferien die Flucht und findet bei seiner Großmutter Lisa in Dessau ein neues Zuhause. Dass er nun das zwölfte Schuljahr und die Abiturprüfungen an einer anderen Schule und in einer fremden Stadt schaffen muss, ist für ihn das kleinere Übel.

In seiner neuen Klasse begegnet er Cosmin, einem Jungen, der aus für Max völlig unbegreiflichen Gründen auch auf dem letzten Porträt seiner Mutter abgebildet ist. Sehr schnell bemerkt Max, dass Cosmin zwar in allen Fächern mit Bestnoten glänzt, aber von einigen Mitschülern wegen seines Aussehens als Zigeuner gehänselt wird und er für sie auch die Hausaufgaben erledigen muss.
Zwischen Max und Cosmin entwickelt sich eine Freundschaft, bei der bald schon Gefühle mitmischen, die Freunde normalerweise füreinander nicht empfinden.
Eines Tages erfährt Max, dass der geliebte Freund zugleich der verhasste Stiefbruder ist.
Wird daran die Liebe zerbrechen?

Hochladen der Kapitel

Ich stelle zunächst sechs Kapitel online. In ihnen erfahrt ihr sozusagen die Vorgeschichte.
Anschließend versuche ich, in jeder Woche mindestens drei weitere Kapitel hochzuladen. Vor dem Hochladen möchte ich sie selber noch einmal lesen und gegebenenfalls Fehler korrigieren, obwohl ich die Geschichte bereits zweimal vom Prolog bis zum Ende gelesen habe.
Bitte beachtet, dass diese Geschichte nur von mir an anderer Stelle gepostet werden darf.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen.

  1. Prolog
    „Wie soll ich dich nennen, wenn ich mit dir fertig bin? Kleiner Zigeuner? Zigeunerjunge? Romajunge oder einfach nur Junge mit Tränen in den Augen?“
    Die knapp vierzigjährige Frau betrachtete kritisch die Bleistiftskizze auf ihrem Arbeitstisch und zog dann das Notebook zu sich heran. Vom Bildschirm des Notebooks erwiderte das Gesicht eines dreizehn - oder vierzehnjährigen, braunhäutigen Jungen ihren Blick. Sie studierte die winzigen Tränen, die sich in den Augenwinkeln versteckten und versuchte die Gefühle des Jungen im Moment der Aufnahme zu analysieren. Traurigkeit und Trauer, aber sie bemerkte auch Trotz und… Zorn? Hinter der Frau klappte leise die Tür.
    „Mam, ich bin zurück!“
    Die Frau fuhr herum und sprang vom Stuhl auf. „Mein Gott Maxi, was ist denn mit dir passiert?!“ Die Wange unter dem rechten Auge ihres Sohnes war geschwollen und grünblau gefärbt.
    „Nichts weiter, ich habe nicht aufgepasst und mein Bruder Leon hat seine Chance genutzt.“
    „Maxi! Leon ist nicht dein Bruder, er ist dein Onkel! Ich will nicht, dass er mit dir so…“ „Mam! Wir trainieren nur. Außerdem habe ich ihm mit meinem Fuß einen Kinnhaken verpasst!“
    „Einen Kinnhaken? Mit dem Fuß?“
    „Klar, so hier!“
    Blitzschnell schoss Max’ rechter Fuß nach oben, bis er über seinem Kopf landete. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich dabei mit dem Knie nicht selber einen Nasenstüber verpasste oder auf dem Hosenboden landete.
    „Trotzdem will ich nicht…“
    „Mam!“ Max stampfte mit dem Fuß auf, der sich eben noch über seinem Kopf befunden hatte. „Ich werde in zwei Wochen keinen Cup gewinnen, wenn wir uns beim Training nur streicheln“
    Max’ Mutter betastete vorsichtig die Schwellung, doch plötzlich tauchte Max unter ihrer Hand ab und huschte zum Arbeitstisch.
    „Wer ist das?“, fragte er. Er wischte mit der Hand den Vorhang aus strohblonden Haaren aus dem Gesicht und deutete auf das Notebook.
    „Ich weiß es nicht. Eine Bekannte hat mir das Foto gezeigt und ich wusste sofort, dass ich diesen Jungen porträtieren möchte. Sie will nur einen meiner Entwürfe.“
    Max beugte sich über das Notebook und studierte das Gesicht des fremden Jungen. „Er ist ungefähr so alt wie ich. Warum guckt er so traurig?“
    Max’ Mutter seufzte. „Seine Mutter hat ihn und ihren Mann verlassen. Mehr wollte mir die Bekannte nicht verraten.“
    Max wandte sich zu seiner Mutter um und seine strahlend blauen Augen schienen sich für einen Moment einzutrüben.
    „Ich würde auch so gucken wie der Junge da, wenn du mich verlässt.“
    „Was redest du da, Schatz!“ Sie strich Max’ langes Haare zur Schulter und umfasste zärtlich sein hübsches Gesicht. „Ich könnte dich nie verlassen. Du würdest mir schon nach einer Sekunde fehlen.“
    Max wand sich aus ihrem Griff und nickte zu einer Wand, die mit dutzenden Gemälden seiner Mutter dekoriert waren. Einige davon zeigten ihn als Baby, Vorschulkind oder als Grundschüler, auf anderen Gemälden hatte seine Mutter fremde Menschen jeden Alters porträtiert.
    „Wirst du von ihm ein Gemälde malen?“
    „Ich schätze schon, so ein Motiv bekomme ich nicht alle Tage.“
    „Dann möchte ich, dass du von ihm auch ein Gemälde malst, auf dem er… sich über irgendwas freut.“
    "Maxi, das ist schwierig. Ich würde Wochen nur für Entwürfe benötigen und… "
    „Mam, bitte.“
    „Na gut. Aber nur, wenn du mir eine wirklich schöne Geschichte davon erzählst, worüber er sich freut.“
    Es dauerte fast zwei Wochen und tausende Pinselstriche, ehe sie mit dem Gesicht des Jungen auf dem in der Staffelei eingespannten, noch unfertigen Gemälde endlich zufrieden war. Mehrere ihrer vorherigen Versuche waren im Abfalleimer gelandet. Mal hatte sie den unterschwelligen Zorn des Jungen nicht aufs Papier bringen können, ein anderes Mal fehlte das Glühen in den schwarzen Augen oder der Trotz auf den geschwungenen Lippen. Max hatte sich dabei als penibler Kritiker erwiesen, aber im Gegenzug hatte sie auch keine seiner Geschichten akzeptiert. Gerade als sie an der zotteligen, schwarzen Mähne des Jungen arbeiten wollte, klappte die Tür und Max trat ins Zimmer.
    „Max…!“, rief sie fassungslos und legte den Pinsel beiseite. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?!“
    Das schulterlange, weiche Haar war verschwunden; nun bedeckten Stoppeln, kaum länger als ein Daumennagel, seinen Scheitel und die Seiten waren kahl rasiert. Zudem zierte eine Beule von der Größe einer Pflaume seine Stirn, die er sich bei einem Kampfsport- Pokalturnier am Wochenende zugezogen hatte und die sich nun nicht mehr unter den Haaren verstecken ließ.
    „Mam, ich habe im Finale verloren, weil mir der Schwachkopf in die Haare greifen konnte“, erklärte Max und schritt zur Staffelei mit dem unfertigen Gemälde.
    Seine Mutter versuchte unterdessen, irgendwie mit seiner neuen Frisur klarzukommen. „Hey, das sieht ja toll aus!“, jubelte Max. „Weißt du was? Ich habe mir heute eine neue Geschichte ausgedacht.“
    „Und? Was willst du ihm denn dieses Mal schenken, damit er sich darüber freut? Eine Playstation hatten wir, glaube ich, noch nicht.“
    „Der Junge hat jetzt einen Freund.“
    „Ach… und wer ist dieser Freund?“
    „Ich! Ich mag ihn. Ich wünschte, er wäre in meiner Klasse. Wir würden zusammen an einer Schulbank sitzen, zusammen Hausaufgaben machen, zusammen trainieren und so was.“
    „Oh Maxi!“ Sie drückte ihren Sohn an sich und strich über die Stoppeln auf seinem Kopf. „Die Geschichte ist zwar sehr kurz, aber wunderschön. Ich werde es versuchen, aber du musst mir eins versprechen…“
    „Was?“
    „Lass wieder deine Haare wachsen.“
    „Nö!“

  2. Max – drei Jahre später

„Welli, hast du schon eine Idee, was ihr in den Ferien treiben werdet?“, lallte Max’ Kumpel Oskar, ein vierschrötiger Kerl mit ausrasiertem Stiernacken. In der Schule teilte sich Max mit ihm die Schulbank; zudem trainierte Oskar seit zwei Jahren im selben Budokeller wie Max, einem Martial Arts Kampfsportclub am westlichen Stadtrand Berlins. Allerdings musste Oskar dort meistens die Rolle des Sparringpartners spielen.
Max grinste und zog Caroline noch etwas enger an sich.

Das werde ich dir ganz bestimmt auf die Nase binden, Oski!

In diesem Jahr fiel der 1. Mai auf einen Donnerstag und Oskars Eltern nutzten das lange Wochenende für einen Kurzurlaub irgendwo an der polnischen Ostseeküste; Oskar hingegen nutzte die sturmfreie Bude, um mit den Kumpels aus der Klasse bei einem Umtrunk in den Mai und in die bevorstehenden Frühjahrsferien hinein zu feiern.
Zusammen mit Caroline hatte es sich Max neben Oskar auf der Couch des Wohnzimmers bequem gemacht. Auf den Sesseln rings um den mit Bier- und Weinflaschen beladenen Wohnzimmertisch lümmelten sich Nicholas, Charles und Murat. Zudem hatte Charles ein vollbusiges Mädchen auf seinem Schoß sitzen, das sich wie ein zu groß geratenes Kätzchen an ihn schmiegte.
„Nächste Woche ist mein Onkel in Berlin. Ich schätze, wir werden uns im Ring gegenseitig die Ärsche versohlen und gucken, ob’s ein paar neue Kletterwege im Magic Mountain gibt“, sagte Max und bemerkte, dass sich Caroline in seiner Umarmung versteifte. „Und ich werde viel mit Caro 'rum hängen natürlich“, ergänzte er rasch und glitt mit den Fingern unter einen Träger ihres ärmellosen T-Shirts. Ein nervöses Lächeln huschte über Carolins hübsches Gesicht.

Vielleicht ist sie bloß etwas verspannt, weil wir heute Nacht zum ersten Mal…

„Ich werde die Woche mit Paula im Bett verbringen, nicht wahr Paulinchen?“, platzte Charles lauthals in Max’ Gedanken an die bevorstehende Nacht.
Das Paulinchen verzog ihre kirschrot geschminkten Lippen zu einem frivolen Lächeln und hauchte Charles einen Kuss auf das mit einem Stoppelbart überzogene Kinn. Oskar und Murat fanden das offenbar witzig, während sich Nicholas’ Lachen ziemlich gezwungen anhörte, vielleicht weil ihm die eigene Freundin vor ein paar Tagen davon gelaufen war. Und das, obwohl er sich tagtäglich herausputzte wie ein Pfau und sein gestyltes Haar von all der Pomade glänzte.
Charles’ Protzerei nervte Max, er verdrehte nur die Augen. Und er fand, dass der Kerl mal wieder einen Tritt in den Hintern brauchte!
Bevor Max vor nunmehr fast drei Jahren in seine neue Klasse gekommen war, hatte sich Charles dort als Klassenboss aufgespielt. Charles war nicht nur zwei Jahre älter als viele seiner Klassenkollegen, er hatte auch die Statur eines Profiboxers, sah aus als wäre er einer Reklame für Fitnessdrinks entstiegen und redete meistens mit französischem Akzent; sein Vater war ein aus Frankreich stammender Algerier. Und so wie Max es hasste, wenn ihn ein gleichaltriger Junge „Maxi“ nannte, hasste Charles es, wenn jemand „Charly“ zu ihm sagte.
„Charly“, seufzte Max und zauberte so etwas wie Mitleid in sein Gesicht. „Die ganze Zeit im Bett bleiben? Kein Wunder, dass deine Muckis nicht halten, was sie mit ihren Beulen versprechen.“
Charles’ überhebliches Grinsen vereiste zu einer Grimasse. Das Kichern der anderen verstummte. Das Mädchen auf Charles’ Schoß schien auf eine schlagkräftige Reaktion ihres Helden zu warten.
Auch Max wartete. Sein Blick richtete sich wie eine Speerspitze auf Charles und seine Gedanken kehrten zurück zur ersten Schulwoche in der neuen Klasse. Schon am zweiten oder dritten Schultag hatte Charles mit Murats Hilfe versucht, ihm eine Lektion zu erteilen und klarzustellen, wer in der Klasse das Sagen hat. Max hatte keine fünf Sekunden benötigt, Charles am Boden fest zu nageln und ihn so vor den Augen der Klasse zu entthronen.
Vielleicht erinnerte sich auch Charles an seine schmachvolle Entthronung vor knapp drei Jahren. Er zuckte mit der Schulter und verbog seine Lippen zu einem Grinsen, was ihm jedoch nicht so richtig zu gelingen schien. „Paulinchen im Bett zu haben ist Krafttraining vom Feinsten, Max.“
Max lag eine weitere Spitze auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Es genügte ihm, dass Charles es nicht gewagt hatte, ihn „Maxi“ zu nennen. Jeder in der Klasse wusste, dass er ausrastete, wenn ihn einer der Jungen so nannte und dass jeder eine Backpfeife riskierte, der es trotzdem wagte. Zudem steckte ihm das nachmittägliche Krafttraining in den Knochen. Es war langsam Zeit, mit Caroline aufzubrechen. Er hatte noch einiges vor heute Abend und er konnte es kaum erwarten, damit zu beginnen. Offenbar ging es Caroline genauso. Sie deutete auf die Zeitanzeige ihres Handys. „Maxi, es ist schon ziemlich spät.“
Max nickte und schenkte Charles ein Lächeln. „Dann viel Spaß beim Krafttraining, Charly. Bin echt gespannt auf die erste Sportstunde nach den Ferien. Oski…“, er wandte sich zu Oskar um. „Caro und ich verduften.“
Er zog Caroline auf die Beine. Nicholas erhob sich ebenfalls und schwankte leicht. „Teilen wir uns das Taxi rein, Welli?“
Nicholas wohnte in der selben Straße wie Max. Aber Max vermutete, dass Nicholas auch besorgt war, Charles könne seinen Ärger an ihm auslassen. Immerhin war Nicholas einer von Max’ besten Kumpels. „Klar, die Kohle für’s Taxi geht dann durch drei.“

Das Haus der Familie Weller befand sich im Berliner Bezirk Schöneberg an einer Chaussee, die von einer Aneinanderreihung drei- und viergeschossiger Wohn- und Geschäftshäuser gesäumt wurde. Der Familie gehörten zwei nebeneinander liegende Häuser. Eines beherbergte im Erdgeschoss das Büro der Firma für Projektentwicklung und Immobilienmanagement von Max’ Vater und dessen Bruder Leon sowie die Wohnung der Wellers in den drei oberen Etagen. Zudem war dieses Haus eines der wenigen in diesem Straßenzug, das über eine Toreinfahrt zum Hinterhof mit einem kleinen Garten und privaten Parkplätzen verfügte. Das Erdgeschoss des anderen Hauses wurde von einer Fastfoodkette genutzt und die darüber liegenden Wohnungen waren allesamt vermietet.
Max’ Großeltern, die Eltern seines Vaters und seines Onkels Leon, hatten diese und weitere Häuser ebenso wie die Firma ihren Söhnen hinterlassen, bevor sie nach Costa Rica ausgewandert waren.
Als Max zusammen mit Caroline die Wohnung betrat, erlebte er die erste böse Überraschung. Im Flur roch es nach teurem Parfüm. An einem der Haken hing eine Damenjacke, der dieser Duft entströmte. Max verzog angewidert das Gesicht, während Caroline das Blouson betastete, als wäre es zerbrechlich.
„Wem gehört das? Der Freundin von deinem Vater?“, fragte sie und nutzte den benachbarten Kleiderhaken, um daran die eigene Jacke aufzuhängen.
„Die Tussi dürfte gar nicht hier sein. Sie kommt nur zu meinem Alten, wenn ich nicht da bin“, wetterte Max und öffnete die Wohnzimmertür. Sein Vater, ein attraktiver vierzigjähriger Mann, saß mit einer jungen Frau auf der Couch. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Flasche Champagner. Die Frau stellte ihr Glas auf dem Tisch ab. Sie sah wie fünfundzwanzig aus und es schien Max, als würde sie einfach nicht älter werden, seit dem sie vor drei Jahren - nur wenige Wochen nach dem Unfalltod seiner Mutter- ungebeten in sein Leben hinein geplatzt war. So ungern es sich Max eingestand, diese Person sah nicht nur gut aus, sie würde vermutlich jeden Schönheitswettbewerb gewinnen. Löckchen kräuselten ihr pechschwarzes Haar und rahmten ein gebräuntes Gesicht ein, das selbst im Winter seine Farbe behielt. Vermutlich lag das daran, dass irgend einer ihrer Vorfahren aus Afrika stammte.
„Guten Abend Maximilian“, begrüßte sie ihn und nickte Caroline einen Gruß zu. Sein Vater hingegen blickte erst Max und dann Caroline mit gerunzelter Stirn an.
Caroline blieb hinter Max an der Tür stehen und gab ein schüchternes „Guten Abend“ von sich.
Max ignorierte den Gruß der Frau.
„Vater, was will die hier?“, blaffte er seinen Vater an.
„Guten Abend Caroline, guten Abend Maximilian“, erwiderte Max’ Vater steif und deute auf die junge Frau neben ihm. „Vielleicht solltest du wenigstens dann Manieren zeigen, wenn deine Freundin dabei ist. Außerdem hat die ‚die‘ auch einen Namen und heißt Frau Zimmermann.“
Die Frau tätschelte Herrn Wellers Arm. „Schon gut Alex. Ich kann Maximilians Verhalten verstehen. Außerdem ist mein Sohn mindestens genauso stur.“
Max schnaubte und wandte sich zu Caroline um. „Komm, wir verziehen uns in mein…“
„Einen Moment Maximilian!“, schnitt ihm sein Vater das Wort ab. „Caroline, ich möchte kurz mit meinem Sohn reden.“
Caroline nickte und huschte zur Treppe, die zu den Schlaf- und Gästezimmern hinauf führte.
„Wieso muss Caro verschwinden und die darf hier sitzen bleiben, wenn du mit mir reden willst?“, maulte Max und ließ sich in einen Sessel fallen.
„Ganz einfach, Maximilian. Weil das, was ich dir sagen will, auch Frau Zimmermann betrifft.“
„Bianca. Lass das mit Frau Zimmermann, Alex“, sagte die Frau und umklammerte Herrn Wellers Arm, als müsse sie sich an ihm festhalten.
Max’ Vater hingegen schien sich an seinem Sektglas festzuhalten. Er hob den Blick und sah Max fest in die Augen. „Nun gut. Maximilian, Bianca und ich, wir werden im Juli heiraten.“
„Nein!“ Max fuhr vom Sessel auf.
„Bleib sitzen!“, herrschte ihn sein Vater an. „Ich bin noch nicht fertig!“
Max sank kraftlos in den Sessel zurück. Seine Gedanken kehrten an den schrecklichen Tag vor drei Jahren zurück, an dem seine Mutter vom Seitensprung ihres Mannes erfahren hatte. Sie hatte überstürzt ihre Siebensachen zusammen gepackt, um ihn zu verlassen. Doch auf der Fahrt zu ihren Eltern nach Dessau krachte sie mit dem Auto in einen Baum. Und jetzt holte Max’ Vater die Frau ins Haus, wegen der seine Mutter in den Tod gerast war?
„Wir werden keine Hochzeitsfeier ausrichten, du kannst dir also deine Absage sparen. Wir heiraten auf einer Kreuzfahrt.“
„Vater!“ Max Hände krallten sich in die Sessellehne. „Wenn du die ins Haus holst, haue ich ab! Außerdem, die ist bestimmt fünfzehn Jahre jünger als du. Oh Mann, sie könnte deine Tochter sein.“
„Ich bin dreiundreißig, Maximilian. Im übrigen ist mein Sohn ungefähr in deinem Alter. Ich werde mir Mühe geben und hoffe…“
Für einen Moment war Max zu perplex, als dass er ihren Worten hätte folgen können. Die Frau war jünger gewesen als er, als ihr Sohn geboren wurde!
„Sag bloß, ihr Sohn soll auch hier einziehen?“, wandte er sich an seinen Vater.
„Er lebt bei seinem Vater in Wurzen, das ist eine Kleinstadt bei Leipzig“, antwortete die Frau an Stelle seines Vaters. „Vielleicht…“
„Bianca, das besprechen wir mit Maximilian nach unserer Hochzeit“, sagte Max’ Vater und tätschelte ihre Hand, die immer noch seinen Arm umklammerte.
Max erhob sich und ballte die Fäuste. „Ich würde diesem Sohn raten, sich niemals hier blicken zu lassen“, presste er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte er aus dem Wohnzimmer.

„Und? Was wollte dein Vater?“, fragte Caroline, nach dem sich Max in seinem Zimmer zu ihr auf die Schlafcouch gesetzt hatte.
„Ich schätze, ich werde mir bald 'ne andere Bleibe suchen müssen“, sagte Max, legte einen Arm um Carolines Schulter und zog sie zu sich heran.
„Wie meinst du das?“ Sie fuhr mit ihren Fingern durch sein weiches, schulterlanges Haar und kämmte ein paar der blonden Strähnen aus seinem Gesicht.
Statt einer Antwort ließ Max den Blick durch sein geräumiges Zimmer schweifen. Es war Schlafraum, Büro und Fitnesscenter in einem. In der Mitte des Zimmers hingen mehrere Boxsäcke von der Decke, eine Wand und ein Stück der angrenzenden Decke war mit Klettergriffen übersät, der Fußboden darunter mit Matten ausgepolstert. Eine Kraftstation und ein Laufband flankierten den Schreibtisch. Neben der Couch wartete ein Bücherregal auf Bücher.

Ich würde mein Zimmer vermissen!

„Maxi?“
„Mein Alter will diese Tussi heiraten. Wenn die hier einzieht, bin ich weg!“
„Aber wohin?“, fragte Caroline erschrocken.
„Vielleicht zu Leon. Ich hab dort auch ein Zimmer, aber das ist nicht so toll wie dieses hier. Komm, lass uns von was anderem quatschen“, sagte Max und fuhr mit den Fingern zunächst über Carolines gerötete Wangen und spielte danach mit ihren blonden Locken. Anders als Charles vollbusiges Püppchen war Caroline gertenschlank und ihre festen Brüste füllten gerade mal Max’ Hände aus. Er zog Carolines Gesicht zu sich heran, erst fanden ihre Lippen, dann auch ihre Zungen zueinander.
Max’ Hand glitt unter ihr Shirt, strich über die weiche Haut ihres flachen Bauches und tastete sich hinauf zu ihrem Busen.
In seinem Schoß regte sich der kleine Max, wurde immer dicker und länger.
„Maxi?“, keuchte Caroline und versuchte, seinen Lippen zu entkommen.
„Was?“
„Liebst du mich?“
„Caro, wie oft soll ich dir das noch zwitschern, klar lieb’ ich dich, seit … über achtzehn Monaten, okay?“, erwiderte Max, hob ihre Beine aufs Bett und zog sie in seine Arme.
Sie stöhnte leise, als Max mit der Zunge in ihren Mund stieß. Seiner Hand war es endlich gelungen, den nervigen Verschluss des Büstenhalter zu lösen. Doch statt sich nun mit den Brüsten zu befassen, glitt sie wieder zurück über die heiße Haut ihres Bauches und tastete sich zum Hosenbund voran.
Carolines Hände streichelten seinen Rücken. Am liebsten hätte er sich ihre Rechte gekrallt, um sie dorthin zu führen, wo er sie im Moment am dringendsten brauchte.
Sein Herz schien sich in der Brust aufzubäumen.
Endlich würde er erfahren, wie es sich anfühlte, mit einer Frau zu schlafen. Wie hatte ihm Leon die Sache erklärt? Wer das mit sechzehn nicht geschafft hat, aus dem würde nie ein echter Kerl werden. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Schon in vier Wochen würde er siebzehn werden!
Max’ Hand tastete sich etwas weiter voran.
Doch plötzlich gesellte sich eine weitere Hand hinzu und stoppte Max’ Hand.
„Maxi… nicht.“
Max fühlte sich, als hätte sie ihm Eiswasser ins Gesicht gekippt. „Wieso nicht?“, krächzte er. „Du hast immer gesagt, ich soll damit warten, bis du sechzehn bist. Seit einer Woche bist du sechzehn, schon vergessen? Soll ich jetzt warten, bis du siebzehn bist, oder siebzig?“
Caroline seufzte und schloss ihre halb geöffnete Hose. „Ich will nur sicher sein, dass du mich liebst und… Maxi, vielleicht im Sommer, oder im Herbst…“
„… oder im Winter?“
Caroline wischte sich eine Träne aus den Augen. „Ich kann heute nicht, Maxi.“
Max setzte sich auf und tätschelte ihre Schulter. „Vergiss es. Vielleicht hätte ich ja auch nicht gekonnt heute. Hau’n wir uns aufs Ohr. Ich bin müde.“
Anders als Caroline lag Max später noch längere Zeit wach und grübelte über das misslungene erste Mal nach.

Liebe ich sie wirklich?

Caroline war zweifellos eines der hübschesten, nein – das hübscheste Mädchen an seiner Schule, und nicht wenige Jungen beneideten ihn um dieses Mädel. Aber er würde gewiss nicht bis zum Herbst warten, zumal ihm auf Anhieb zwanzig oder mehr Mädchen einfielen, die bestimmt ohne Zögern zu ihm ins Bett steigen würden. Allerdings ergab sich dann das Problem, diese Bettgenossin wieder loszuwerden.
Max sah, dass Caroline neben ihm schlief, als wäre alles in bester Ordnung. Er angelte sein Handy vom Nachtschränkchen und fand dort eine Nachricht seines Onkels Leon.
„Na Champ, hat es geklappt?“
Er überlegte kurz und tippte dann seine Antwort: „Nö, durfte nicht ran. Aus mir wird wohl doch kein echter Kerl.“

  1. Max wird doch noch ein echter Kerl

Max

Als Max am nächsten Morgen erwachte, vermochte er nicht zu sagen, wie oft er in seinen wirren Träumen versucht hatte, Caroline ihrer Jungfräulichkeit zu berauben und selber zum echten Kerl zu werden. Doch egal wie er es anstellte, das Tor zum Liebeshimmel blieb ihm verschlossen.
Caroline schlief noch, ihre nackte Schulter lugte unter der Bettdecke hervor. Max rechte Hand ging auf Wanderschaft und erreichte ihren Slip. Doch noch ehe er mit den Fingern hinein schlüpfen konnte, fuhr Carolines Hand wieder einmal dazwischen.
„Maxi, nicht…“, ertönte ihre verschlafene Stimme und sie wälzte sich zu ihm herum.
„Wieso nicht?“, fragte Max und zog genervt seine Hand zurück. Wie eine Sturzflut schlugen Enttäuschung und Frust über ihm zusammen.

Stelle ich mich einfach nur zu blöde an? Muss ich mir vielleicht doch von Leon erklären lassen, wie man ein Mädel 'rum kriegt?

„Wieso nicht?“, wiederholte er seine Frage.
„Hab ich dir doch gesagt.“
„Nö, hast du nicht!“
„Erst wenn ich sicher bin, dass wir zusammen bleiben.“
Max schnaubte verärgert. „Bisher hieß es immer, erst wenn du sechzehn bist. Was soll denn das jetzt bedeuten? Muss ich dich zuerst heiraten, bevor ich meinen Pimmel bei dir reinstecken darf?“
"Maxi, ich… "
Max sprang aus dem Bett. Es war ihm egal, dass er dabei seine Erektion zur Schau stellte. Leon hatte ihm kurz und bündig auf seine letzte WhatsApp- Nachricht geantwortet.
„Such dir endlich eine, bei der du ran darfst!“

Genau das werde ich machen!

Viel zu lange hatte er sich damit zufrieden gegeben, dass zwar das hübscheste Mädchen der Schule zu ihm gehörte, er aber nicht wie andere Jungen seiner Klasse beim Thema Nummer Eins so richtig mitreden konnte.
„Vielleicht solltest du dir einen Kerl suchen, der nur Händchen halten will“, fauchte er und ohne auf ihre Antwort zu achten, begann er mit seinen morgendlichen Fitnessübungen. Inzwischen stand für ihn fest, dass an diesem Tag ihre Beziehung enden würde.

Die Beziehung endete wenig später am Frühstückstisch in der Küche. Sein Vater hatte ihm dort eine Nachricht hinterlassen, dass er das Wochenende mit dieser Frau Zimmermann in der Sächsischen Schweiz verbringen würde und der Nachricht zwei Hundert Euro Scheine für Essen und Getränke hinzugefügt.
Während Max zwei Becher mit Cappuccino aus dem Automaten befüllte, hielt ihm Caroline einen Vortrag darüber, warum sie erst ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte zusammen sein müssten, bevor sie miteinander ins Bett steigen konnten.
Max stellte ihr den dampfende Becher vor die Nase und fragte sich, wie ein Mädchen im Berlin des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu solch kruden Ansichten kommen konnte. Ihre Eltern gehörten keiner Sekte an, waren - soweit Max wusste - nicht besonders religiös und betrieben einen eigenen Edeka- Supermarkt.
„Okay Caro, wir machen es so…“, beendete er abrupt er ihre Moralpredigt. „… du bist meine Freundin für’s Händchen halten und für die Küsschen, natürlich nicht auf den Mund, so was gehört sich nicht. Und für meinen Pimmel suche ich mir ein Paulinchen wie die von Charly, damit ich nicht immer die Hand nehmen muss.“
Für ein paar Augenblicke schien Caroline nach Luft zu schnappen. Dann starrte sie Max an, als hätte er einen Popel an der Nase und wischte sich Tränen von der Wange, die ihr nun aus den Augen kullerten. „Das ist widerlich, Maximilian. Ich dachte, du bist anders als solche Kerle wie dieser Charly oder deine Kumpel Nicholas und Oskar. Wenn du nichts weiter willst als Sex, dann frag doch Paulinchen. Vielleicht ist die mit ihrem Charles noch nicht ausgelastet.“
Max nickte. „Ich werde Charly um ihre Nummer bitten.“
„Du bist so ein Idiot, Max!“, rief sie, sprang vom Tisch auf und stürzte aus der Küche.
Vielleicht hast du sogar Recht!, ging es ihm durch den Kopf, nach dem das Knallen der Wohnungstür verhallt war.

Ich hätte den Schlussstrich schon viel früher ziehen sollen.

Das war nun schon die dritte gescheiterte Beziehung, er war fast siebzehn, trotz seines blendenden Aussehens in sexuellen Dingen immer noch völlig unerfahren und Max fragte sich, ob irgend etwas mit ihm nicht stimmte…

„Es ist alles in bester Ordnung mit dir, kleiner Bruder!“, versicherte ihm sein Onkel Leon am Abend des nächsten Tages.
Leon war am späten Nachmittag aus Bratislava zurückgekehrt, wo er für die Firma ein Wohnungsbauprojekt betreute. Nach dem Fiasko mit Caroline hielt es Max für das Beste, die Ferienwoche bei seinem Onkel zu verbringen, zumal er dort ein eigenes Zimmer hatte.
Schon einmal war Leons Haus in einem erst vor wenigen Jahren entstandenen Villenviertel am westlichen Stadtrand Berlins für Max eine Zuflucht gewesen. Nach dem Unfalltod seiner Mutter hatte er es zu Hause nicht mehr ausgehalten, zumal er seinem Vater wegen des Seitensprungs eine Mitschuld an ihrem Tod gab.
Leon hatte ihn nicht nur bei sich aufgenommen, sondern in jeder freien Minute mit ihm etwas unternommen. Er trainierte mit ihm im Ring des Kampfsportclubs oder im eigenen Fitnessraum, sie durchstiegen zusammen die schwierigsten Routen in den Berliner Kletterhallen und in den Sommerferien erkundeten sie fast sieben Wochen lang Klettergebiete und Nationalparks im Südwesten der USA. Max wollte lieber nicht darüber nachdenken, was aus ihm geworden wäre, hätte Leon ihn damals nicht aufgefangen.
Sie saßen auf der Couch in Leons Wohnzimmer. Max hatte seinem Onkel erzählt, wie es zum Bruch mit Caroline gekommen war und erhoffte sich von Leon ein paar kluge Ratschläge, während sie sich eine Pizza schmecken ließen.
„Ich würde mal sagen, irgendwas stimmt nicht mit deiner Ex“, fuhr Leon fort. „So einen Prachtkerl wie dich findet sie nicht noch mal.“
Max nippte an einem Radler. „Vergiss das mit dem Prachtkerl, Onkelchen. In ein paar Wochen bin ich siebzehn und ich bin immer noch…“
Leon tätschelte Max’ Schulter. „Bleib locker, kleiner Champ. Morgen Abend steigt hier eine Party zu viert.“
„Zu viert?“
„Zu viert. Du, ich meine Freundin und ihre Freundin.“
Max runzelte die Stirn. „Du hast eine neue Freundin?“
Leon zwinkerte Max zu. „Noch nicht. Aber in zwei Stunden öffnet das Maxxim und in drei Stunden bin ich wieder in festen Händen.“
Das Maxxim war ein Nachtclub, den sein Onkel mindestens einmal in der Woche aufsuchte, wenn er sich in Berlin aufhielt. Max konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Frauen in so einem Nachtclub auf einen Kerl wie Leon standen. Leon war mit knapp dreißig im besten Mannesalter. Er trug stets enge Shirts, die von den Brust- und Bauchmuskeln ausgebeult wurden und die muskulösen Arme unbedeckt ließen. Wie Max hatte er weiches, strohblondes Haar. Während aber Max’ Haare bis auf die Schulter fielen und er zudem das halbe Gesicht darunter verstecken konnte, waren Leons Haare kurz geschnitten und wohl frisiert.
Auch wenn Leon normalerweise hielt, was er versprach, glaubte Max nicht so richtig daran, dass zu Leons Party eine zweite Frau erscheinen würde. Aber sollte Leons neue Freundin tatsächlich eine Freundin mitbringen, hoffte Max, dass diese Freundin nicht so eine vollbusige Sexbombe sein würde wie Charlys Paulichen.
Es gab freilich noch eine weitere Sache, über die er mit seinem Onkel reden wollte. „Leon, weißt du, dass mein Alter diese Tussi heiraten will?“
Ein Schatten huschte über Leons Gesicht. Er seufzte. „Maxi, wie du weißt, ist dein Alter mein großer Bruder. Hätte Alex mich vor siebzehn Jahren nicht gerettet und in eure Familie geholt, würde ich jetzt mit meinen Alten in Costa Rica in der Sonne braten und Palmen zählen. Aber das nur nebenbei…“
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und strich sich über das glattrasierte Kinn. „Die… äh Tussi, also ich muss schon sagen, da könnte man glatt blass werden vor Neid. Alex hat mir erzählt, dass du die Fliege machen willst, falls die bei euch einzieht. Maxi, von mir aus könntest du hier wohnen, auch wenn ich in Bratislava bin. Aber ich glaube nicht, dass dein Vater damit einverstanden wäre. Sobald Alex von seiner Hochzeitsreise zurückkommt, bin ich dran mit Urlaub. Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen in den Sportklettergebieten Südfrankreichs austoben und uns dabei eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen?“
Max’ Frust über den unerwarteten Bruch mit Caroline und die bevorstehende Hochzeit seines Vaters wurde regelrecht aus seiner Brust gefegt.
Er umarmte Leon. „Ich halte sehr viel davon Onkelchen.“

Am nächsten Tag kehrte Leon erst am Mittag nach Hause zurück. Die Nacht hatte er bei seiner neuen Freundin verbracht. Als Max etwas mehr darüber erfahren wollte, ob denn die neue Freundin eine Freundin habe, die am Abend zu Leons Party kommen würde, grinste Leon. „Lass dich überraschen, kleiner Bruder!“
Den Nachmittag verbrachten sie in der Magic Mountain Kletterhalle. Während bei ihren Zweikämpfen im Ring Leon Max immer noch leicht überlegen war, durchstieg Max in der Kletterhalle inzwischen Routen, bei denen Leon das Handtuch warf.
Je näher der Abend rückte, desto nervöser wurde Max, zumal er von Leon weder etwas über das Alter noch über das Aussehen der Freundin der neuen Freundin erfuhr. Leon schien sicher zu sein, dass sie zu seiner Party kommen würde, denn er bestellte nach ihrer Rückkehr von der Kletterhalle ein kaltes Buffet für vier Personen.
Gegen sieben Uhr klingelte es an Leons Haustür und gleich darauf führte Leon zwei junge Frauen in sein Wohnzimmer.
Max wusste sofort, welche der beiden Frauen sich Leon am gestrigen Abend geangelt hatte. Leon bevorzugte kurvige Damen. Sein Blick heftete sich auf die andere Frau. Sie mochte Anfang oder Mitte zwanzig sein, war ebenso zierlich wie Caroline, ihr dunkles Haar fiel ihr auf einer Seite bis auf die Schulter, auf der anderen war es kurz geschoren. Ihre Lippen waren kirschrot geschminkt. Sie trug einen Rock und Max Augen klebten einige Sekunden an ihren schlanken Beinen. Er bemerkte, dass sie ihn aus überrascht aufgerissenen Augen musterte. Was hatte sie erwartet? Einen ergrauten Fettklops?
Leon wandte sich am Max und deutete auf seine kurvenreiche Freundin. „Maxi, das ist Jasmin, wir sind seit gestern Abend ein Paar. Jasmin… mein Neffe Max.“
Max erhob sich von der Couch. „Hi Jasmin.“
„Du meine Güte, was für ein süßer Kerl.“ Sie schien Max ihren Blicken zu entkleiden. und drehte sich dann zu ihrer Freundin um. „Was meinst du, Alice?“
„Schön, dich kennenzulernen Max“, sagte Alice und zauberte ein verführerisches Lächeln auf ihre Lippen.
Inzwischen hatte sich Max wieder im Griff. Ihm gefiel Alice, auch wenn er sich nicht in sie verknallen würde. „Mir geht’s genauso, Alice.“
„Na super Leute. Dann lasst uns darauf anstoßen“, sagte Leon und entkorkte eine Flasche Champagner.
Sie prosteten sich gegenseitig zu, dann zwinkerte Leon Max zu und legte einen Arm um Jasmins Hüfte.
Alice blieb an Max’ Seite. „Wie alt bist du, Max?“
Max hielt es für besser, etwas zu mogeln. „Siebzehn, und du?“
Alice lachte auf. „Max! Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter.“
Kurz darauf trafen zwei Männer vom Partyservice ein. Auf einem Tresen, der Leons Wohnzimmer von der Küchenzeile trennte, platzierten sie Teller und Schalen mit Salaten und mit Früchten garnierten Wurstplatten.
Nach dem Abendessen leerten sie eine weitere Flasche Champagner. Leon und Jasmin hatten es sich in den beiden eng nebeneinander stehenden Sesseln bequem gemacht, während Max und Alice etwas steif auf der Couch nebeneinander saßen.
„Maxi, Alice, wenn es für euch okay ist… Jasmin und ich, wir würden gerne einen kleinen Spaziergang machen“, sagte Leon, nachdem er sein Glas geleert hatte und zog Jasmin auf die Füße.
Alice warf Max einen Blick zu. „Was meinst du, Max?“
Max ahnte, was Leon mit dem Spaziergang bezweckte. „Wir könnten so lange hier aufräumen“, grinste er.
Alice erwiderte sein Grinsen. „Gute Idee, wir räumen hier auf.“
Leon zeigte Max einen gereckten Daumen. „Viel Spaß dabei“, kicherte er und verließ zusammen mit seiner Freundin das Wohnzimmer.
So unerfahren Max auch sein mochte, er verstand es, in den Augen einer Frau zu lesen. Und in Alice’ Augen schien in riesigen Lettern „Komm schon, küss mich!“ geschrieben zu stehen. Er streichelte ihre Wangen. Alice Hand strich die Haare aus seinem Nacken und zog ihn zu sich heran.
Alice küsste anders als Caroline. Sie küsste nicht nur mit der Zunge, sondern auch mit den Händen. Und Alice wusste offenbar, wo Max am diese Hände haben wollte. Seine rechte Hand glitt unter ihren Rock und als sie sich der Stelle ihres Bauches näherte, an der ihn Caroline stets gestoppt hatte, stöhnte Alice leise auf.
„Wollten wir nicht hier aufräumen“, hauchte sie ihm ins Ohr, während sie mit ihrer Hand genau dort hin glitt, wo Max die Hand jetzt haben wollte.
„Das Aufräumen hier verschieben wir auf morgen, oben bei mir im Zimmer müsste auch mal wieder aufgeräumt werden“, erwiderte Max und erforschte mit den Fingern eine Gegend, die ihm bislang verwehrt geblieben war.
„Dann sollten wir in deinem Zimmer weiter machen“, sagte Alice und erhob sich, ohne Max loszulassen.
An diesem Abend erreichte Max, was er nach dem Bruch mit Caroline nicht mehr zu hoffen gewagt hatte - er schaffte es doch noch, vor seinem siebzehnten Geburtstag zum echten Kerl zu werden, wenngleich mit klar verteilten Rollen. Alice übernahm die Rolle der Lehrerin, sie führte sogar Unterrichtsmaterialien aus Gummi für den kleinen Max mit sich. Max hingegen gab sich mit der Rolle eines eifrigen und wissbegierigen Schülers zufrieden
Alice verbrachte in den Ferien drei weitere Nächte mit Max. Offenbar genoss sie es, Max zu unterrichten. Auch nach der vierten gemeinsamen Nacht wusste Max weder wie alt Alice wirklich war noch wo sie wohnte oder womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente, auch wenn er diesbezüglich einen Verdacht hatte. Ebenso wenig kannte er ihre Telefonnummer, er hatte nie danach gefragt und Alice hatte sich auch nie nach seiner Handynummer erkundigt.
Wie es Max erwartet hatte, war Handarbeit ein mehr als dürftiger Ersatz für echten Sex. Er hatte angenommen, nun ebenso wie Leon geradezu süchtig nach Sex mit einer Frau zu werden. Doch merkwürdigerweise verspürte er keinen Drang, sich alsbald die nächste Frau ins Bett zu holen.
Max vermutete, dass beim Sex mit Alice etwas gefehlt hatte. Er war weder in sie verknallt noch an einer Beziehung mit ihr interessiert gewesen. Vielleicht war aber das Verliebtsein so etwas wie das Salz in der Suppe?

Am Samstag des darauffolgenden Wochenendes begleitete Max seinen Onkel zum Flughafen. Leon hatte für den Nachmittag einen Flug zurück nach Bratislava gebucht.
Max würde seinen Onkel weit mehr als Alice vermissen.
Als sie sich vor der Sicherheitskontrolle voneinander verabschiedeten, stellte Max eine Frage, die ihm bereits seit Tagen auf der Zunge lag.
„Onkelchen, Alice ist gar nicht die Freundin deiner Freundin Jasmin, sondern eine Nutte, oder?“
Leon striegelte Max’ Haare. „Keine billige Nutte, sondern ein Callgirl. Teuer obendrein.“
„Wie teuer?“
Leon grinste und drückte Max an sich. „Wie es scheint, hast du dich wacker geschlagen, Champ. Eine Nummer kostet zweihundert Mäuse. Ich weiß zwar nicht, wie viele Nummern ihr durchgezogen habt, aber ich musste nur für die erste bezahlen. Betrachte das als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk, um aus dir einen echten Kerl zu machen.“

  1. Eine Freundin für Cosmin

Cosmin

„Was soll ich vier Wochen in deinem Porumbita anstellen, Tata? Du bist von dort abgehauen, weil dich das Nest und die Armut dort so angestunken hat und jetzt schleifst du mich dort hin“, maulte Cosmin. Er saß zusammen mit seinem Vater am Küchentisch beim Abendessen und stocherte ohne Appetit in seinem Maisbrei herum. Je näher die Sommerferien am Ende seines elften Schuljahres rückten, desto mieser fühlte sich Cosmin beim Gedanken an die bevorstehende Reise in das Dorf, in dem die umfangreiche Verwandtschaft seines Vaters lebte. Porumbita, wie Porumbitza ausgesprochen, lag in einer der armseligsten Gegenden im Süden Rumäniens an der Donau. Das gegenüberliegende Ufer des Flusses gehörte bereits zu Bulgarien.
„Ich hätte hier an der Hochschule ein paar Schnupperkurse besuchen können“, fuhr er verbittert fort. Die Dessauer Hochschule veranstaltete im Juli mehrere Vorlesungen für Schüler der Abiturstufe, die Architektur studieren wollten. Sein Vater fuhr sich mit der Hand durch das pechschwarze Haar und senkte den Blick. „Vor drei Jahren hat es dir doch gefallen dort, Cosmine.“
Cosmin konnte inzwischen an die Zeit vor etwas mehr als drei Jahren zurück denken, ohne dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Im Frühjahr war seine Mutter über Nacht verschwunden, durchgebrannt zu einem reichen Kerl, der - soweit Cosmin wusste - irgendwo bei München wohnte und dort eine Baufirma hatte. Für den dreizehnjährigen Cosmin war eine Welt zusammengebrochen. Bis zu jener Nacht war er ihr kleiner Liebling gewesen; wie viele Abende hatte sie neben ihm gelegen, ihn gestreichelt oder ihm beim Einschlafen zugeschaut? Wie viele Geschichten hatten sie einander erzählt?
Cosmin hatte nach ihrem Verschwinden unzählige Male versucht, seine Mutter anzurufen, doch nie kam eine Antwort.
Sein Vater brachte ihn in den Sommerferien nach Porumbita in der Hoffnung, dass Cosmin so leichter über den Verlust der Mutter hinweg kommen würde. Und tatsächlich linderte die ungewohnte Gegend und das Spielen mit den gleichaltrigen Kindern oder das Abhängen mit den Jugendlichen des Dorfes ebenso wie die Fürsorge seiner unzähligen Tanten und Onkel im Dorf die Schmerzen in seiner Brust.
Erst ein knappes Jahr später rief sie ihn mit einer neuen Handynummer an und erklärte ihm, dass sie es einfach nicht ertragen hätte, die Stimme ihres kleinen Lieblings zu hören. Doch nun war es Cosmin, der ihre Stimme nicht mehr hören wollte.
Sie wusste nicht einmal, dass er seit fast einem Jahr in Dessau, einer Stadt im südlichen Sachsen- Anhalt, wohnte, weil sein Vater dort einen besser bezahlten Job als Monteur von Solaranlagen gefunden hatte.
Sein Vater räusperte sich. „Außerdem… hier hast du niemanden außer mir. In Porumbita hättest du Freunde in deinem Alter, Verwandte und… Camelia. Als deine Frau wäre sie…“
„Tata!“, brauste Cosmin auf. „Es interessiert mich nicht, was du dir mit Onkel Radu ausgedacht hast. Ich suche mir selber eine Frau, wenn es soweit ist.“
Onkel Radu war Camelias Vater und der Cousin seines Vaters. Zugleich war er auch so etwas wie der Boss aller in Porumbita lebenden Romi.
An Camelia erinnerte sich Cosmin so gut wie gar nicht mehr.
"Cosmine, hättest du denn nicht gerne auch ein Mädchen. Aus Camelia ist jetzt ein sehr hübsches junges Fräulein geworden. Ich war achtzehn, als ich deine Mutter… "
„… du sie geschwängert hast?“
Cosmins Vater schluckte und schob den halbvollen Teller beiseite. Seine schwarzen Augen füllten sich mit Trauer. Cosmin wusste natürlich, dass sein Vater immer noch unter der Trennung litt.
Er legte die Hand auf den sehnigen, von der Sonne gebräunten Unterarm seines Vaters. „Reden wir nicht von der. Ich kann mir diese Camelia ja mal anschauen.“
Tatsächlich war Cosmin inzwischen siebzehn und hatte überhaupt noch keine Erfahrungen mit Mädchen. Anfangs schien es, als würden sich an der neuen Schule einige Mädchen für ihn interessieren. Vielleicht hätte sich auch etwas ergeben, wären da nicht die Idioten in seiner Klasse. Einer dieser Idioten hieß Anton. Er hatte Cosmin irgendwann in den ersten Schultagen ein ziemlich frivoles Freundschaftsangebot gemacht und war natürlich abgeblitzt. Danach hatten Anton und seine Kumpane angefangen, Cosmin zu mobben. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn „Tziggi“, was soviel wie Zigeuner bedeutete. Kein Mädchen interessierte sich für einen Jungen, der von anderen gemobbt wurde oder für sie die Hausaufgaben machen musste.
Vielleicht würde er in Porumbita endlich erfahren wie es war, eine Freundin zu haben und ein Mädchen zu küssen oder vielleicht sogar…
Nein, das konnte er vergessen. Das würde in Porumbita wahrscheinlich bedeuten, dass dieses Mädel dann auch seine Frau werden müsse.
Sein Vater schien Cosmins Sinneswandel zu bemerken. „Es wird dir gefallen dort, Cosmine. Und keine Sorge, keiner wird dich zu etwas zwingen. Auch Onkel Radu nicht.“

Cosmins Vater hatte es offenbar nicht erwarten können, Porumbita, seine Mutter, seine zehn oder elf Geschwister und die etwa hundert Cousins oder Cousinen wiederzusehen.
Schon an Cosmins erstem Ferientag begann die etwas umständliche Reise von Dessau nach Porumbita. Da die Preise für Flugtickets nach Bukarest in der Ferienzeit unerschwingliche Höhen erklommen, nahmen sie einen Reisebus, der für die Fahrt von Leipzig nach Bukarest wegen einer Panne kurz hinter der rumänischen Grenze mehr als fünfunddreißig Stunden benötigte und bis auf den letzten Sitzplatz besetzt war. Nach einer mehrstündigen Wartezeit auf dem schon am frühen Morgen völlig überfüllten Bukarester Nordbahnhof erwischten sie einen ebenso überfüllten Zug nach Turnu Magurele, der zu Porumbita nächstgelegenen Stadt.
Auf dem Bahnsteig in Turnu Magurele wurden sie von Onkel Vasile, dem ältesten Bruder von Cosmins Vater, überschwänglich begrüßt. Cosmin mochte kaum glauben, dass Onkel Vasile und sein Vater Brüder waren. Zwar hatten sich nach der Trennung von seiner Frau erste Falten ins Gesicht seines Vaters gegraben und an den Schläfen mogelten sich ein paar graue Strähnen ins schwarze Haar, aber es fiel Cosmin nicht schwer, sich vorzustellen, warum sich seine Mutter Hals über Kopf in seinen Vater verknallt hatte und mit ihm durchgebrannt war. Onkel Vasiles stoppelbärtiges Gesicht hingegen war zerknittert wie Elefantenhaut, zudem roch er, als würde er im Schafstall übernachten.
Onkel Vasile zauste Cosmins schulterlange, pechschwarze Zotteln. „Meine Güte, Florin, dein Junge ist ja ein richtiger Prachtkerl geworden. Wieso hat er eigentlich solche Locken?“
„Die hat er wahrscheinlich von Biancas Großvater“, erwiderte Cosmins Vater. „Der war übrigens ein afrikanischer Professor und von dem hat Cosmine auch diese Schlauheit geerbt. Stell dir vor, er hat auf dem Zeugnis in allen Fächern nur Bestnoten.“
Cosmin verdrehte die Augen. Das klang nach der für Porumbita typischen Angeberei. Gleich würde Onkel Vasile erzählen, wie viele Schafe und Kühe jeder seiner Söhne im Stall hatte. „Tata, nicht in allen Fächern. In Sport hab ich nur eine Zwei.“
Wie Cosmin vermutet hatte, begann Onkel Vasile tatsächlich von all den Schafen und Maisfeldern seiner Familie zu erzählen, während sie sich beladen mit Koffern und prall gefüllten Beuteln durch das Gewimmel auf dem Bahnhof zwängten.
Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof parkte Onkel Vasiles altersschwacher Dacia Jeep, ein Duster Geländewagen. Nach Porumbita führte eine Straße, die eher an einen Feldweg erinnerte und nach Regen nur mit einem Allradfahrzeug oder Pferdefuhrwerk befahrbar war. Sie schlängelte sich durch endlose Mais- und Getreidefelder und erlaubte hin und wieder einen Blick auf das blaue Band der Donau. Weit mehr als vierzig Stunden waren seit ihrem Aufbruch in Dessau vergangen, und so verschlief Cosmin den größten Teil der Fahrt.
Cosmin erwachte, als der Dacia vor einem der windschiefen Häuschen am Ortseingang hielt.
„Ihr werdet im Gästehaus von Onkel Radu übernachten“, erklärte Onkel Vasile, der offenbar Cosmins erschrockenen Blick bemerkt hatte. „Hier wohnt unsere Mutter, deine Großmutter.“
Cosmin hatte sie als alte Frau mit krummen Rücken in Erinnerung.
Cosmins Vater schnappte sich eine der prall gefüllten Plastiktüten, dann betraten sie die Hütte. Sie bestand aus einem einzigen Raum; auf dem Boden aus festgestampftem Lehm lag ein löchriger Teppich. In der Mitte des Raumes stand ein grob zusammen gezimmerter Tisch mit ein paar Hockern, auf dem Bett an der hinteren Wand häuften sich trotz der stickigen Hitze im Raum Unmengen an Decken. Am gusseisernen Herd rührte ein uraltes Mütterchen in einem Topf herum.
„Mama, ich bin da“, rief Cosmins Vater und griff nach den schmalen Schultern der Frau. Sie steckten in einem Pullover, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die Frau drehte sich zu Cosmins Vater um. „Florine, mein Junge“, krächzte sie und entblößte dabei ihre zwei verbliebenen Zähne. „Es gibt deine Lieblingssuppe.“
Cosmin begriff weder, wie diese Frau, die seine Großmutter war, in so einem Verschlag leben konnte, noch wie früher die Familie mit zehn Kindern hier gehaust hatte. Aber er verstand, warum sein Vater als junger Bursche aus diesem Elend geflohen war. Im Vergleich dazu war die eigene kleine Plattenbauwohnung in Dessau geradezu luxuriös.
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Cosmin. „Wer ist dieser Mann, Florine?“
„Das ist mein Sohn Cosmin, Mama. Er war schon mal vor drei Jahren hier. Erinnerst du dich?“
Sie wackelte ein paar Mal mit dem Kopf, was sowohl eine Verneinung als auch eine Bejahung bedeuten konnte. „Dann ist es gut. Setzt euch, du auch Vasilika.“
Cosmin nahm vorsichtig auf einem der Hocker Platz und versuchte nicht daran zu denken, was gleich auf den Tisch kommen würde. Sein Vater stellte vier Blechschüsseln auf den Tisch und warf Cosmin einen beinahe flehenden Blick zu. „Unsere Mutter kocht die besten Suppen im ganzen Dorf“, versprach er und deute auf einen mit Wasser gefüllten Eimer neben dem Tisch. „Hier gibt es kein fließendes Wasser, aber da kannst du dir die Hände waschen. Wenn du mal musst, die Toilette ist… äh… draußen.“
Anders als es Cosmin befürchtet hatte, war die Suppe seiner Großmutter nicht nur genießbar, sie schmeckte sogar. Während des Essens fragte sie mit einem Kopfnicken in Cosmins Richtung zwei weitere Male, wer denn dieser Mann sei.
„Er sieht gar nicht so richtig wie einer von uns aus“, stellte sie nach dem zweiten Mal fest und Cosmins Vater erinnerte seine Mutter daran, dass Cosmins Mutter Deutsche sei und die nun mal anders als Romi aussehen würden.
„Sind Deutsche nicht weiß? Er ist ja fast schon schwarz.“
„Wir hatten ein heißes Frühjahr, Großmutter“, erklärte Cosmin, um das Gespräch vom mütterlichen Anteil seiner Gene weg zu lenken.
Cosmin verzichtete auf eine weitere Portion Suppe und war heilfroh, als sie nach dem Essen aus dem stickigen Raum ins Freie traten und die Fahrt fortsetzten. Porumbita bestand aus einer unbefestigten Dorfstraße und den Häusern links und rechts der Straße. Zum Dorfzentrum hin waren die Häuser größer und die roten Ziegelwände mit Lehm verputzt. Villen mit Türmchen, Erkern und von Säulen im römischen Stil getragene Balkone bildeten das Zentrum des Dorfes. Beim Anblick der Villen richteten sich Cosmins Nackenhaare auf. Hier stellte die Dorfelite ihren Reichtum zur Schau, ohne sich mit Zweckmäßigkeit oder gar Ästhetik aufzuhalten. Vor der mit Abstand größten Villa stoppte Onkel Vasile und wandte sich an Cosmins Vater, der auf dem Beifahrersitz saß.
„Radu erwartet euch. Geht schon mal rein, Florin. Ich bringe eure Sachen ins Gästehaus.“
„Warum lassen deine Geschwister eure Mutter in dieser Bruchbude hausen?“, fragte Cosmin seinen Vater, während sie die von Koniferen gesäumte und betonierte Zufahrt zur Villa entlang schritten.
„Sie wohnt dort seit ihrer Geburt, Cosmine“, sagte sein Vater und zuckte mit der Schulter. „Sie will nicht raus aus diesem Haus. Und die Möbel… mein Vater hatte sie gebaut, deshalb hängt sie an ihnen.“
Sie erreichten die halbrunde, mit Marmor verkleidete Eingangstreppe. Die Eingangstür stand halb offen, aus dem Inneren des Hauses drangen erregte Stimmen nach außen.
"… sucht der sich hier eine Frau? Findet der Blödmann bei sich keine? Ich will mit Alin zusammen… "
Cosmin griff nach dem Arm seines Vaters. „Warte!“, zischte er ihm zu. Er ahnte, wen die schrille Mädchenstimme mit „Blödmann“ gemeint hatte.
„… was zusammen?“, polterte die Stimme eines Mannes durch den Türspalt. „Schafe hüten? Florin sagt, dass sein Junge mal ein berühmter Architekt wird. Mit ihm könntest du…“
„Tata!“, schnaubte Cosmin leise. „Hör auf, mit mir herum zu prahlen.“
Sein Vater zog ein Gesicht, als wäre er beim Mogeln erwischt worden, sagte jedoch nichts.
„Wenn der es wagt, mich anzufassen…“
Cosmin hatte genug gehört. Zumindest bei Camelia würde er das Sammeln erster Erfahrungen mit Mädchen vergessen können. Er klopfte an die Tür und augenblicklich verstummte das ihn betreffende Streitgespräch.
„Kommt rein, Jungs!“, rief ihnen der Mann zu.
Cosmin betrat hinter seinem Vater einen Raum, der mit all den nicht so richtig zusammenpassenden Möbeln eher wie ein Fundbüro für teure Antiquitäten anmutete. Immerhin schien es Onkel Radu zu verstehen, sein Geld gewinnbringend anzulegen. Er kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen und musterte Cosmin wie eine weiteres interessantes Stück für seine Sammlung.
Cosmin hatte sich einige seiner langen Zotteln ins Gesicht gestrichen und sah zwischen ihnen hindurch, dass Camelia offenbar zu einer Treppe flüchten wollte, die ins Obergeschoss führte und wie angewurzelt stehen blieb. Sie starrte ihn aus ihren schwarzen Augen an, die sich zusehends weiteten. Und plötzlich zupfte sie an ihren langen, pechschwarzen Haaren herum und trat zögerlich näher.
Onkel Radu ergriff Cosmins Schulter und taxierte ihn von den Sandalen bis hinauf zum zerwurstelten Scheitel. „Mein Gott, Florin. Was für ein rassiger Bengel dein Junge geworden ist. Willkommen, Cosmine.“
Er zog Cosmin in seine Arme und und kitzelte dabei Cosmins Gesicht mit dem gewaltigen Schnurrbart. „Camelia, komm her!“ brüllte er, dass es in Cosmins Ohren klingelte. Er wandte sich um und schien für einen Moment die Sprache zu verlieren. Denn Camelia stand bereits hinter ihm.
„Das ist der Sohn meines Lieblingscousins, mein Schatz. Macht euch miteinander bekannt.“
Cosmin strich sich die Locken aus der Stirn. „Hallo Camelia, ich bin Cosmin“, sagte er und reichte ihr die Hand. Ohne ihren Blick von seinem Gesicht abzuwenden, ergriff sie seine Hand. „Ich freue mich, dich zu sehen, Cosmin. Ich hatte mir dich ganz anders vorgestellt.“
Und was wird nun aus Alin und dem Schafe hüten?, fragte Cosmin in Gedanken. Er hatte die Musterung Camelias längst beendet, mit seinen Blicken ihr bis zu den schlanken Hüften reichendes Haar gestreichelt, ebenso wie die beiden Wölbungen in ihrem Shirt. An seiner Schule wäre Camelia zweifellos eines der hübschesten Mädchen.
Und dieses Mädchen schien ihn mit den Augen regelrecht zu verschlingen.
„Mir geht es genauso“, erwiderte Cosmin und wusste nicht so recht, wie er auf ihr offenkundiges Interesse reagieren sollte.
Sie hielt immer noch seine Hand. Aus den Augenwinkeln sah Cosmin, dass sich Onkel Radu und sein Vater zuzwinkerten und dann mit einem Glas Pflaumenschnaps auf ihr Wiedersehen anstießen.
„Möchtest du, dass ich dir ein bisschen das Dorf zeige, Cosmin?“, fragte sie und zog an seiner Hand.

Eben war ich ein Blödmann für dich und jetzt willst du nicht mal mehr meine Hand los lassen?

"Camelia, ich habe zwei Nächte in diesem Bus hinter mir. Ich muss mich ein bisschen ausruhen. Aber heute Abend… "
Camelias Augen leuchteten auf. „Heute Abend nehme ich dich mit zum Sportplatz. Ein paar Jungs sorgen für Musik und wir tanzen dazu. Willst du?“
„Ich äh… ich kann eigentlich gar nicht tanzen, Camelia.“
„Kein Problem. Ich bringe es dir bei.“

Der unweit der Dorfmitte gelegene Sportplatz mit einem Fußball- und Volleyballfeld sowie ein paar kleinen Holzhütten, in denen Frauen des Dorfes gegrillte Hackröllchen oder Getränke und Snacks verkauften, war fast jeden Nachmittag ein Treffpunkt für Kinder und Jugendliche. Sie vergnügten sich dort bei Spielen oder lungerten im Schatten grob zusammen genagelter Unterstände mit ihren Handys an Tischen herum. Abends trafen sich dort häufig ältere Jugendliche. Sie lauschten den wilden Rythmen der traditionellen Zigeunermusik, die beinahe pausenlos von einigen Radiosendern abgespielt wurden und manchmal musizierten auch einige der Jugendlichen. So wie an diesem Tag.
Cosmin vermutete, dass er der Grund war, weshalb die vier Jungen und zwei Mädchen ihre Geigen, Trommeln und eine Ziehharmonika mitgebracht hatten, musizierten und Zigeunerlieder sangen, begleitet vom vielstimmigen Gesang aus den Kehlen von mehr als einhundert Zuschauern. Immer wieder fing Cosmin Blicke der Mädchen und Jungen auf, zumeist neugierig und manche begleitet von einem Lächeln. Auch die sechs Musikanten schauten ständig zu ihm herüber, als wollten sie sich davon überzeugen, dass ihm ihre Musik gefiel. Er lächelte jedes Mal zurück oder zeigte ihnen den gereckten Daumen.
Auch Camelia, die neben ihm am Tisch saß, fragte nach jedem Lied, ob es ihm gefallen hatte, was er natürlich bejahte.
Doch Cosmin fühlte sich alles andere als wohl. Fast wünschte er sich in die Einsamkeit seines Zimmers in Dessau zurück, wo ihn allenfalls ein paar auf Postern abgebildete Leute anglotzten. Sein Blick begegnete dem finsteren Blick eines jungen Mannes, der am Rande des Fußballfeldes an einem Torpfosten lehnte. Cosmin strich sich ein paar seiner schwarzen Locken ins Gesicht und durch die Gardine aus schwarzen Haaren sah er, dass der Mann mal ihn und mal Camelia anstarrte und dabei seinen Dreitagebart striegelte. Er mochte knapp zwanzig Jahre alt sein und war größer und viel kräftiger gebaut als er selber.
Als der Mann endlich seinen Blick abwendete, deute Cosmin mit einem Kopfnicken zum Fußballfeld. „Camelia, der Junge dort am Tor. Ist das Alin?“
Camelia schaute ihn verdutzt an, und schien nach Worten zu suchen. Ohne zum Fußballfeld hinüber zu schauen, nickte sie. „Der ist ein Blödmann und läuft mir schon seit einem Jahr hinterher. Was soll ich mit dem? Mit ihm zusammen seine Schafe hüten? Er ist übrigens ein Cousin von dir.“

Auch das noch!

Vermutlich war er ohnehin irgendwie mit der Hälfte der hier anwesenden Jugendlichen verwandt. Cosmin fühlte, dass sich das schlechte Gewissen in ihm rührte.

Ich habe ihm die Freundin vor der Nase weggeschnappt!

„Ist er der Sohn von Onkel Vasile?“, fragte er vorsichtig und ihm fiel ein Stein vom Herzen, als Camelia verneinte und ihm erklärte, dass Alin ein Sohn seiner Tante Alina sei.
Sollte er mit seinem Vater diese Tante Alina besuchen, würde er sich bei Alin entschuldigen.
Später versuchte Cosmin so gut es ging, sich vorm Tanzen zu drücken, zumal er immer öfter von Jugendlichen umringt wurde, die ihm Löcher in den Bauch fragten. Zudem fielen ihm trotz eines kurzen Nickerchens am Nachmittag fast die Augen zu. Offenbar bemerkte Camelia, dass sie Cosmin an diesem Abend nicht für sich alleine haben konnte und begleitete ihn zurück zum Gästehaus, das eher ein Anbau von Onkel Radus Villa darstellte.
Als sie die Eingangstür erreichten, griff Camelia nach seiner Hand. „Hat dir der Abend gefallen?“
Cosmin wusste nicht so richtig, wo er die andere Hand lassen sollte. Wartete Camelia darauf, dass er sie zum Abschied küsste? Oder würde sie ihm eine scheuern, wenn er es versuchte?
„Danke Camelia. Es war sehr schön.“
„Sehen wir uns morgen? Ich könnte dir ein paar schöne Stellen am Fluss zeigen.“
„Das wäre toll!“
Camelia schenkte ihm ein Lächeln. „Gute Nacht, Cosmin“, sagte sie und noch ehe Cosmin etwas erwidern konnte, flitzte sie zur Villa ihres Vaters.

  1. Donau am Tag und in der Nacht

Cosmin

Cosmin verschlief den Vormittag.
Als er mittags endlich aus den Tiefen eines langen Schlafes auftauchte, saß sein Vater bereits an einem mit frischem Brot, Schafskäse und Würsten beladenen Tisch, obwohl er erst ins Gästehaus zurückgekehrt war, als Cosmin längst geschlafen hatte.
„Guten Morgen, mein Junge. Wie war dein Abend? Bist du mit Camelia ausgegangen?“, fragte er und schaufelte eine weitere Portion des hausgemachten Käse in sich hinein.

Ja, und einem Sohn deiner Schwester Alina habe ich die Freundin weggeschnappt.

„Sie hat mich zum Sportplatz mitgenommen. Es war ganz lustig dort“, antwortete er und wälzte sich aus dem Bett. Das Zimmer war mit zwei Doppelbetten, einem Tisch und vier Stühlen möbliert. Am erfreulichsten fand Cosmin, dass es ein eigenes Bad hatte, wenngleich das WC nur aus zwei Tritten und einem Loch im gefliesten Boden bestand.
„Und was hast du gestern Abend gemacht?“, fragte Cosmin, nachdem er aus dem Bad zurückgekehrt war.
Wahrscheinlich ziemlich viel Wein und Pflaumenschnaps getrunken. Das zumindest sah er seinem Vater an den verquollenen Augen an.
„Ich habe so viele Geschwister hier, ich wusste gar nicht, bei wem ich anfangen soll. Heute will ich noch Vasile, Claudiu und Alina besuchen. Willst du mitkommen?“
Cosmin dachte an die finsteren Blicke, die ihm sein Cousin Alin zugeworfen hatte.
"Ich will heute mal bis zur Donau wandern, Tata.
„Allein?“
Cosmin setzte sich zu seinem Vater an den Tisch. Das Lauern in dessen Stimme war nicht zu überhören.

Ist es hier so üblich, dass Väter die Ehen ihrer Kinder arrangieren?

„Mal sehen“, erwiderte Cosmin knapp, um den diesbezüglichen Hoffnungen seines Vaters einen Dämpfer zu verpassen.
"Du könntest doch Camelia fragen. Sie kennt bestimmt ein paar schöne Stellen dort und… "
„Tata!“, funkte Cosmin dazwischen. „Hör auf, mich zu verkuppeln! Ich bin vor einem Monat siebzehn geworden und werde jetzt bestimmt nicht ans Heiraten denken.“
„Ich meine es doch nur gut mit dir…“, erwiderte sein Vater leise.

Vom Dorf führten mehrere Wege an Getreidefeldern vorbei bis hinunter zum Donauufer. Nach einem etwas mehr als halbstündigen Fußmarsch erreichten Cosmin und Camelia eine kleine, von mannshohen Schilfstauden eingerahmte Bucht, kleine Wellen plätscherten an das sandige Ufer. Der fast einen Kilometer breite Strom flimmerte in der Nachmittagshitze.
Camelias Mutter hatte Cosmin einen Picknickkorb mitgegeben. Camelia breitete eine Decke im kniehohen Gras nahe des Ufers aus und streckte sich darauf aus. Sie trug Shorts und ihre Bluse verriet mehr als sie verbarg. Cosmin stellte den Korb ab und hockte sich nach kurzem Zögern neben sie.
Camelia stützte den Kopf auf ihren angewinkelten Arm, ihr Blick wanderte von Cosmins schlanken, braunen Beinen hinauf bis zu den Zotteln, die an seiner Stirn klebten. „Hier in der Bucht kann man baden“, sagte sie so, als würde sie über das Wetter reden.
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Ich habe keine Badesachen mit.“
„Ich auch nicht“, kicherte Camelia und kämmte mit den Fingern ihre Haare. „Hast du Angst, dass ich gucke, wie du du nackt aussiehst?“
"Ich äh… " Cosmin suchte nach Worten.

Will sie mich hier und jetzt verführen?

War er dann verpflichtet, sie zu heiraten? Obwohl sie erst im Herbst sechzehn Jahre alt werden würde, was bei den Romi Porumbitas als heiratsfähiges Alter galt.
„… vielleicht beobachtet uns jemand“, wand er sich.
Camelia blickte sich um. „Ich sehe niemanden.“
Sie richtete ihren Blick wieder auf Cosmin. „Cosmin?“
„Hm?“
„Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“
Hitze schoss bis in Cosmins Ohrenspitzen. Er fragte sich, wie es sich anfühlen würde, Camelia zu küssen. Aber es war zugleich peinlich zuzugeben, dass er noch nie eine Freundin gehabt hatte. „Nicht so richtig, glaube ich.“
„Ich habe noch nie mit einem Jungen geküsst“ seufzte Camelia

Und was ist mit Alin?

So unerfahren Cosmin auch war, fühlte er, was Camelia ihm zu sagen versuchte. Sein Herz hämmerte in der Brust, während er sich zu ihr hinunter beugte. Camelia griff in seinen Nacken und zog ihn zu sich heran. Dann spürte er ihre weichen Lippen auf den eigenen. Cosmin hatte erwartet, dass sie sich auch mit ihren Zungen küssen würden. Doch Camelia löste sich wieder von ihm und für einen Moment befürchtete er, dass er sich ungeschickt angestellt hatte.
Stattdessen küsste sie ihn auf die Wange. „Du schmeckst süß, Cosmi.“
Sie sprang auf. „Komm, ich zeige dir was!“
Sie griff nach Cosmins Hand und zog ihn mit sich. Hand in Hand durchstreiften sie das Schilfdickicht am Ufer, kletterten über Baumstämme, die von früheren Hochwasserfluten angeschwemmt wurden, bis sie eine weitere Bucht erreichten, die eher einen kleinen, von Weiden eingefassten Teich bildete. Am Ufer waren ein paar Fischerboote vertäut und auf dem Teich schwamm eine schnittige eine kleine Yacht.
„Wow, wem gehört das Boot?“, fragte Cosmin.
„Meinem Papa. Wenn du möchtest, frage ich ihn, ob er mir uns mal einen Ausflug macht.“
„Das wäre toll! Glaubst du, dass er das machen würde?“
Camelia schenkte ihm ein spitzbübisches Lächeln. „Er mag dich.“

Und nun will mich auch als Schwiegersohn?

Sie kehrten zur Bucht zurück, wo sie die Decke und den Picknickkorb gelassen hatten.
Dort ließen sie sich frisches Brot, Käse und Obst schmecken. Anschließend lagen sie ausgestreckt nebeneinander. Sie lauschten dem Plätschern der Wellen und dem Gezwitscher der Vögel.
„Camelia, kann ich dich was fragen?“
„Das kommt drauf an“, erwiderte Camelia und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Wie alt sind hier die Mädchen, wenn sie heiraten?“
„Es gibt Mädchen, die mit siebzehn oder achtzehn noch keinen Mann haben, weil sie nicht gut aussehen oder weil sie arme Eltern haben“, erklärte Camelia, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Die schönen Mädchen haben natürlich einen Mann, wenn sie sechzehn sind.“
Cosmin ahnte, dass sich Camelia zu den schönen Mädchen zählte und sie ihren Mann offenbar gefunden hatte. Nur dass der Mann plötzlich nicht mehr Alin hieß.
Camelia gefiel ihm, aber er konnte sich kein Zusammenleben mit ihr vorstellen. Zwar war auch seine Mutter etwa in Camelias Alter gewesen, als er geboren wurde, aber er würde gewiss nicht mit siebzehn oder achtzehn heiraten.
„Bei uns darf man erst ab achtzehn heiraten, aber die meisten heiraten erst, wenn sie Mitte zwanzig oder dreißig sind.“
Ein Schatten huschte über Camelias Gesicht. „Willst du etwa so lange warten?“ Fast schien es, als wolle sie ihre Siebensachen zusammen packen und ohne ihn verschwinden.
„Äh nee… natürlich äh… natürlich nicht“, stammelte Cosmin und fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut, weil er ihr was vormachte. Aber ihre Beziehung wäre wohl jetzt zu Ende gewesen, noch bevor sie so richtig begonnen hatte.
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die glühende Wange. „Ich bin immer noch sechzehn, wenn du achtzehn wirst, Cosmi“, sagte sie und streckte sich wieder auf der Decke aus.
Cosmin seufzte leise und ließ seinen Kopf auf die verschränkten Hände sinken. Er war plötzlich froh, dass zwischen Dessau und Porumbita mehr als 1500 Kilometer lagen…

In den darauffolgenden Tagen traf Cosmin auch zahlreiche seiner Cousinen und Cousins. Lediglich um seine Tante Alina machte er einen großen Bogen, um nicht Cousin Alin über den Weg zu laufen. Andererseits fragte er sich, wie lange eine Ehe zwischen Alin und Camelia gehalten hätte. Cosmin vermutete, dass sich Camelia auf den ersten Blick in ihn verknallt und Alin im selben Moment vergessen hatte.
An beinahe jedem Tag verbrachten Cosmin und Camelia einige Stunden am Ufer der Donau.
Ihre Küsse dauerten von Tag zu Tag etwas länger und irgendwann glitt Cosmins Hand bei diesen Küssen auch unter ihre Bluse, ohne dass Camelia seine Hand weg schubste. Allerdings vermied sie es jedes Mal, der Beule in seinen Shorts zu nahe zu kommen.
Cosmin genoss die Zärtlichkeiten. Sie waren vielleicht nicht so atemberaubend, wie er es sich vorgestellt hatte. Insbesondere wenn er daran dachte, was andere Jungs sich so über das Küssen und Mädchenbrüste anfassen erzählten. Aber das lag wohl daran, dass er noch keinen richtigen Sex mit ihr hatte.

Zu Beginn der dritten Ferienwoche unternahm Cosmin zusammen mit Camelia und ein paar anderen Jugendlichen des Dorfes einen Ausflug in das etwa fünf Kilometer entfernte Nachbardorf Cosevita. Dort verkauften Leute aus den umliegenden Dörfern auf einem Flohmarkt alles mögliche, angefangen von Kochlöffeln über Hühner bis hin zu Traktoren, Eseln oder Pferden.
Als er mit Camelia am späten Nachmittag nach Porumbita zurückkehrte, parkten drei fremde Geländewagen vor Onkel Radus Villa. Sie hatten Kennzeichen des Bezirkes Arad, der im Westen Rumäniens an der Grenze zu Ungarn lag.
Cosmin wollte sich von Camelia verabschieden, doch ihr Vater trat aus der Eingangstür der Villa und winkte ihnen zu. Offenbar hatte er sie von seinem Wohnzimmer aus gesehen.
„Kommt mal beide rein, Kinder!“, rief er ihnen zu.
Camelia zog Cosmin mit sich in das mit antiken Möbeln voll gestellte Wohnzimmer. An einem der Tische saßen drei Männer. Auf dem Tisch standen vier Mokkatassen und Gebäck. Sie qualmten Zigaretten, von ihrem Rauch tränten Cosmin die Augen. Die Männer waren hellhäutig, also vermutlich keine Romi.
Onkel Radu wandte sich an die drei Männer und zeigte auf Cosmin und Camelia. Beide standen immer noch Hand in Hand an der Eingangstür, die direkt ins Wohnzimmer führte.
„Das, liebe Freunde und Geschäftspartner, ist meine Jüngste und mein künftiger Lieblingsschwiegersohn“, polterte er und sein ohnehin breiter Brustkasten schien noch etwas anzuschwellen. „Der Junge geht in Deutschland aufs Gymnasium und ist dort der beste Student. Er wird ein Architekt!“
„Glückwunsch!“
„Was für ein tolles Paar!“
„Ein deutscher Architekt in Radus Familie, wunderbar“, kommentierten die Männer Onkel Radus Prahlerei. Camelia strahlte zuerst ihren Vater und die Männer, dann auch Cosmin an.
Cosmin verbog seine Lippen und hoffte, dass es halbwegs wie ein Lächeln aussah. Inzwischen entglitt ihm die Kontrolle über seine Beziehung zu Camelia und würde er nicht 1500 Kilometer entfernt wohnen, hätte er wohl noch heute die Reißleine ziehen und aus diesem Dorf fliehen müssen.
„Cosmine, mein Töchterchen sagte, dass du gerne mal bei einem Ausflug mit meinem kleinen Schiff auf der Donau dabei sein möchtest“, wandte sich Onkel Radu an Cosmin. „Wie wäre es heute Abend? Ich muss ein paar Leute von der anderen Seite des Flusses abholen.“
Für einen Moment vergaß Cosmin das Problem, noch möglichst für ein paar Jahre ledig zu bleiben. „Wir fahren auf die bulgarische Seite?“, fragte er verblüfft.
Onkel Radu grinste nur.
„Danke Onkel Radu, wann fahren wir los?“
„Sei einfach um neun hier, Junge. Und den nächsten Ausflug mache ich nur mit euch zwei Süßen.“
„Das wäre schön“, versuchte Cosmin erfreut zu klingen und verabschiedete sich von Onkel Radu und den Männern. Camelia begleitete ihn nach draußen. „Was machst du bis um neun?“
„Mein Vater hat mir geschrieben, dass er mit ein paar seiner Brüder auf dem Sportplatz ist.“
Camelia hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich kann nicht mitkommen, weil ich meiner Mutter mit dem Essen für die Leute helfen soll. Wir sehen uns morgen.“
Cosmin sah, dass Camelia zögerte und er ahnte, worauf sie wartete. Er küsste ihre Lippen und erst danach kehrte Camelia mit einem zufriedenen Lächeln auf diesen Lippen ins Haus zurück.
Als Cosmin Onkel Radus Grundstück verließ und auf die Dorfstraße hinaus trat, fiel sein Blick auf die Eingangstür des angrenzenden Gästehauses und vor Schreck blieb er wie angewurzelt stehen. Auf den Stufen saß Cousin Alin, die Fäuste geballt, den stechenden Blick fest auf Cosmin gerichtet. Cosmin blickte sich auf der Dorfstraße um. Vor den Häusern saßen alte Leute auf Holzbänken, ein paar kleine Kinder jagten einer Katze hinterher. Falls sich Alin mit ihm schlagen wollte, würde er nicht auf Hilfe hoffen können. Auch wenn seine Knie plötzlich aus Wackelpudding zu bestehen schienen, setzte Cosmin wieder einen Fuß vor den anderen und blieb zwei Schritte vor der Treppe stehen.
Alin schnellte von der Stufe hoch und Cosmin wich einen Schritt zurück. Alin überragte ihn um mindestens eine Handbreit, seine Unterarme waren dicker als Cosmins Oberarme. „Findest du bei dir in Deutschland keine Frau?“, fuhr Alin ihn an, behielt seine Fäuste jedoch bei sich.
„Ich wusste nicht…“, begann Cosmin, doch Alin ließ ihn nicht ausreden. „Erinnerst du dich an mich, Cosmin?“
„Äh, ich weiß nicht.“
Alin lachte freudlos auf. „Vor drei Jahren war ich mit dir fast jeden Tag auf dem Sportplatz, habe versucht, dich auf andere Gedanken zu bringen.“
Cosmin erinnerte sich an diesen älteren Jungen, doch es fiel ihm schwer zu glauben, dass genau dieser Junge jetzt als verbitterter junger Mann vor ihm stand.
„Und jetzt kommst du her und nimmst dir das Mädchen, das ich im Winter heiraten wollte.“
„Alin, es tut mir Leid“, sagte Cosmin leise. „Aber hat dich Camelia wirklich geliebt? An meinem ersten Abend hier auf dem Sportplatz hat sie dich nicht mal angeschaut. Glaubst du, dass du mit ihr glücklich geworden wärst?“
„Spar dir deine schlaue Rede, Cosmin!“, fauchte Alin. „Wärst du nicht der Sohn von Onkel Florin, würdest du jetzt hier im Dreck liegen.“
Plötzlich schoss seine Hand vor und schnappte sich Cosmins T- Shirt. „Ich liebe Camelia immer noch, Cosmin. Wehe, du spielst nur mir ihr, um dich ein bisschen zu vergnügen. Ich schwöre, lässt du sie sitzen, werde ich dir all deine Zähne ausschlagen, auch wenn du Onkel Florins Sohn bist!“
Alin ließ Cosmins T Shirt los und stapfte davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Cosmins Herzschlag beruhigte sich nur zögernd und der Schreck saß ihm noch in den Gliedern, als er den Sportplatz erreichte.
Sein Vater saß zusammen mit mehreren Brüdern und Schwäger bei Wein und gegrillten Hackröllchen, sogenannten, Mici, an einem der Tische und winkte ihm zu. Cosmin begrüßte die Männer und wandte sich an seinen Vater. „Tata, kann ich dich kurz sprechen?“
„Natürlich. Worum geht es denn, Cosmine?“
„Unter vier Augen!“
Sein Vater warf den anderen Männern einen entschuldigenden Blick zu und erhob sich.
„Tata, hast du gewusst, dass Camelia Alins Freundin gewesen ist?“, fragte Cosmin, als sie außer Hörweite der anderen Leute waren.
Der Blick seines Vaters beantwortete bereits Cosmins Frage. „Onkel Radu hätte es nicht gestattet, dass Alin Camelia heiratet.“
„Und deshalb sollte ich dazwischen funken?“, fragte Cosmin verbittert.
„Wir fanden, dass ihr wunderbar zusammen passt. Und wir hatten doch Recht, oder? Man kann richtig sehen, wie gerne ihr euch habt.“
„Ach Mann!“ Cosmin zuckte resigniert die Schulter. Begriff sein Vater nicht, dass er noch nicht ans an Heiraten denken wollte? Und schon gar nicht an eine Braut, die gerade mal sechzehn Jahre alt sein würde.
„Ich könnte eine Portion Mici vertragen“, wechselte Cosmin das Thema, weil sein Vater für das andere Thema offenbar taube Ohren hatte.

Ein von Spurrinnen durchzogener Feldweg führte bis fast an die Bucht mit den Fischerbooten und der Jacht. Onkel Radu ließ seinen geländegängigen Landrover am Ende des Feldweges stehen. Die letzten hundert Meter kämpfte er sich, gefolgt von Cosmin, im Schein einer Taschenlampe durch das Schilfdickicht.
„Onkel Radu, warum fahren wir eigentlich nachts auf den Fluss?“, fragte Cosmin, als sie mit einem der Boote zur Jacht paddelten, die in der Mitte der Bucht ankerte.
„Das verstehst du, wenn wir in Bulgarien sind, mein Junge“, erklärte Onkel Radu und vertäute das Boot an einem Pfahl, der neben der kleinen Jacht aus dem Wasser ragte.
Über eine Strickleiter erreichten sie das Deck der Jacht. Cosmin hätte es nicht für möglich gehalten, dass er in seinem Leben einmal den Fuß auf ein derartiges Schiff setzen würde. Die Kajüte glich eher einem luxuriös eingerichteten Wohnzimmer. Er fragte sich, welchen Geschäften man nachgehen musste, wenn man sich so etwas wie diese Jacht leisten konnte. Onkel Radu startete den Motor und beinahe lautlos glitt die Jacht auf den Fluss hinaus, über dem sich ein klarer Sternenhimmel wölbte.
Cosmin stand an der Reling bestaunte mit offenem Mund das nächtliche Panorama. Er wandte sich zu Onkel Radu um, der das Steuerrad bediente, als wäre das seine alltägliche Beschäftigung. „Das ist wunderschön.“
Vor ihnen tauchte eine Insel auf, an der sich der Fluss gabelte. „Noch wunderschöner ist das Geld, das ich für unseren Ausflug kassieren werde, Cosmine.“
Onkel Radus Handy klingelte. Er sprach mehrere Sätze in einer fremden Sprache, vermutlich bulgarisch, ins Handy und seufzte. „Wir müssen eine kurze Pause einlegen, mein Sohn.“

Mein Sohn?

Onkel Radu lenkte die Jacht im linken Seitenarm des Flusses in die Nähe des Ufers und löschte die Lichter auf der Jacht.
Motorengeräusche drangen an Cosmins Ohren und dann tauchte im anderen Seitenarm der Donau ein Schnellboot auf, das in östlicher Richtung davon schoss. Kaum waren die Lichter des Schnellbootes in der Ferne verschwunden, schaltete Onkel Radu die Beleuchtung wieder ein und startete den Motor.
„Wer war das?“, fragte Cosmin und ihm schwante, dass er gerade einer illegalen Beschäftigung beiwohnte.
„Rumänische Grenzpolizei. Aber wir sind jetzt in Bulgarien“, antwortete Onkel Radu. Er tippte etwas in sein Handy und kurz darauf traf die Antwort ein.
„Hier in Bulgarien ist die Luft rein.“
Inzwischen fiel es Cosmin schwerer, die nächtliche Fahrt unter dem funkelnden Sternenhimmel zu genießen.
Was trieb Onkel Radu hier? Schmuggel? Das war unwahrscheinlich. Wie Rumänien gehörte auch Bulgarien zur EU. Aber was dann?
In der Ferne tauchte ein Licht in Ufernähe auf, zu einsam für eine Ortschaft. Onkel Radu hielt geradewegs auf dieses Licht zu und stoppte die Jacht, als sie sich auf der selben Höhe wie das Licht befanden, etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Das einsame Licht war in das Leuchten mehrerer Taschenlampen zerfallen. Cosmin erkannte mehr als ein Dutzend zum Teil ziemlich zerlumpter Gestalten mit Rucksäcken, Beuteln oder Reisetaschen. Die meisten von ihnen hatten eine noch dunklere Hautfarbe als er selber.
„Onkel Radu, wer sind diese Leute?“, fragte Cosmin, obwohl er die Antwort bereits erahnte.
„Zahlende Kundschaft, Junge. Und zwar eine Kundschaft, die sehr uns sehr gut bezahlt.“

  1. Die Vorverlobung

Cosmin

Die drei Geländewagen der „Geschäftspartner“ von Onkel Radu erwarteten sie und ihre zwölf Passagiere bereits am Ende des Feldweges, wo Onkel Radu den Landrover zurückgelassen hatte.
Cosmin wusste inzwischen, dass Onkel Radus Kollegen die hauptsächlich aus Pakistan, Bangladesh und Nepal stammenden Männer in den Westen Rumäniens bringen würden, um sie dann über die Grenze nach Ungarn zu schleusen. Das Ziel der Flüchtlinge war vermutlich Österreich oder Deutschland.
Nachdem die Nacht die hoppelnden Rücklichter der drei Geländewagen verschluckt hatte, lehnte sich Onkel Radu gegen den Landrover, zündete sich eine Zigarette an und stieß genüsslich den Qualm aus.
„Geschafft, mein Junge“, sagte er und legte seine Pranke auf Cosmins Schulter. Nach dem Cosmin wusste, wie der Onkel zu seinem Reichtum kam, hätte er die Hand am liebsten von seiner Schulter gewischt. „Noch ein paar dieser Touren, und ich habe das Geld für eure Wohnung in Deutschland zusammen. Ich verspreche dir, ihr beide werdet es mal besser haben werdet als ich und Viorica es nach unserer Hochzeit hatten.“
Cosmin traute seinen Ohren nicht. Onkel Radu plante allen Ernstes, ihm und Camelia eine Wohnung zu kaufen, was sich die meisten Dessauer nur dann leisten konnten, wenn sie sich bei einer Bank verschuldeten. Cosmin fühlte sich, als wäre er wie eine Fliege in einem Netz gefangen, das sich immer fester zuzog.
„Onkel Radu, es ist nicht nötig, dass Sie…“
„Schon gut, Cosmine! Ich mache das gerne für euch.“ Onkel Radu trat die Zigarettenkippe aus und sie stiegen in den Landrover. Dort tätschelte er Cosmins Schulter.
„Und morgen Abend planen wir eure Verlobung. Du bist nur noch zwei Wochen hier und auch ich kann so etwas nicht von heute auf morgen organisieren“, sagte er und startete den Motor, während Cosmin auf dem Beifahrersitz vor Schreck erstarrte. Fieberhaft suchte er nach einer losen Masche im Netz. Nach seiner Begegnung mit Alin drohte ihm zudem der Verlust sämtlicher Zähne, sollte sich Camelia sitzengelassen fühlen.
„Da könnte es ein Problem geben, Onkel Radu“, sagte er, während sie über den Feldweg holperten. Schlagartig schien die Temperatur im Landrover um zwanzig Grad zu sinken.
„Was für ein Problem?“ Auch die Stimme des Onkels klang frostig und ließ Cosmins Widerstand bröckeln.
„Nicht weiter schlimm, aber bei uns in Deutschland ist eine Verlobung mit einem Mädchen unter sechzehn strikt verboten“, schwindelte er und hoffte, dass Onkel Radu nicht auf die Idee kam, zu diesem Thema Google zu befragen. „Es wäre besser, das Vorverlobung zu nennen. Dann bekomme ich keine Probleme mit der Polizei.“
Cosmin sah durch den Vorhang aus Haarsträhnen, dass sich Onkel Radus Miene wieder aufhellte. Dann lachte der Onkel. „Vorverlobung. Mir soll es egal sein, wie du es nennst. Sollte dich in Deutschland also jemand von der Polizei fragen, ob du verlobt bist, sagst du einfach, du bist nur vorverlobt.“
Onkel Radu schüttelte sich immer noch vor Lachen und Cosmin fragte sich, ob es auf dieser Welt überhaupt jemanden gab, der ihm aus so einem Schlamassel helfen könnte. Offenbar war er allein dazu nicht in der Lage, auch weil er sich trotz allem ein bisschen nach den den Küssen und Zärtlichkeiten mit Camelia sehnte.

Cosmins Vater und Onkel Radu planten die Verlobungsfeier für das erste Wochenende im August und der Onkel verstand es, das halbe Dorf bei der Vorbereitung einzuspannen. Zugleich wurde Cosmin nicht müde darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Verlobung wegen Camelias Alter ja eigentlich nur um eine Vorverlobung handeln würde.
Die Verlobungsfeier sollte auf dem Sportplatz stattfinden. Und weil mit Camelia die Lieblingstochter des unangefochtenen Bosses der in Porumbita lebenden Romi ihre Verlobung feiern wollte, erwartete Cosmin, dass sich fast alle Dorfbewohner auf dem Sportplatz einfinden würden.
Die Kosten einer solchen Feier, die selbst die am Wochenende zuvor stattfindende Hochzeit in den Schatten stellen würde, bereiteten Cosmin und seinem Vater keinerlei Kopfzerbrechen.
Denn zwei weitere Male tauchten die Geländewagen mit dem Autokennzeichen des Bezirkes Arad auf; beim zweiten Mal waren es sogar fünf Fahrzeuge. Die armen Schlucker aus Südasien, dem Nahen Osten oder Afrika füllten unter anderem auch Onkel Radus Geldbörse.
Cosmin hatte im Reisegepäck unter anderem ein Mathebuch mit Aufgaben des Leistungskurses verstaut. Doch er kam an keinem seiner Ferientage in Porumbita dazu, auch nur einen Blick hinein zu werfen. Fast täglich unternahm er Ausflüge mit Camelia, meistens ins Flusstal der Donau. Zu jedem dieser Ausflüge brachte Camelia eine Decke mit und auf keinem dieser Ausflüge blieb die Decke ungenutzt.
Die Abende verbrachten sie oft zusammen mit anderen Jugendlichen auf dem Sportplatz.
Cosmin gewöhnte sich allmählich daran, dass sich viele der Jungen um ihn scharten, als wäre er so etwas wie ein Popstar. Zum einen lag das daran, dass er aus Deutschland stammte und die Jungen offenbar annahmen, dass man dort wie im Paradies leben würde. Zum anderen galt er als künftiger Schwiegersohn des Dorfbosses und Bräutigam des schönsten Mädchens im Dorf, worum ihn auch einige der Jungen zu beneiden schienen.
Einmal kreuzte Alin auf. Wie schon am ersten Abend beobachtete er Cosmin und Camelia vom Rand des Fußballfeldes. Cosmin nickte ihm einen Gruß zu, den Alin nicht erwiderte.

Der erste Samstag im August begann mit einem morgendlichen Donnerwetter und prasselndem Regen. Fast schien es, als wolle Petrus höchstpersönlich Cosmin zu Hilfe eilen und die Vorverlobung mit Camelia ins Wasser fallen lassen. Doch noch am späten Vormittag klarte der Himmel wieder auf und am Nachmittag strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und leckte das Wasser aus den Pfützen.
Die Frauen des Dorfes brachten tonnenweise selbstgebackene Kuchen zum Sportplatz, während Onkel Radu mehrere Männer damit beschäftigte, zusätzliche Sitzgelegenheiten und Tische zu zimmern. Kinder tobten auf dem Fußballfeld und stiebiezten Naschereien, die von den Frauen auf einem Buffet aufgereiht wurden.
Cosmin saß zusammen mit seinem Vater und einigen von dessen Brüdern und Schwäger an einem der größten Tische und versuchte sich vorzustellen, dass er sich auf einem ganz normalen Dorffest befinden würde. Die Männer stießen bereits mit Hauswein auf sein Wohl an.
„Junge, ich bin schon richtig auf deine Rede gespannt“, rief ihm Onkel Vasile vom anderen Ende des Tisches zu.
Cosmin runzelte die Stirn und wandte sich an seinen Vater. „Was für eine Rede, Tata?“
Sein Vater zuckte die Schulter. „Onkel Radu und Tante Viorica geben dir ihre jüngste Tochter, Cosmine. Sag ihnen, dass Camelia bei dir in guten Händen ist.“
Cosmin schoss einmal mehr glühende Hitze bis in die Ohrenspitzen. Inzwischen hatte Camelia gefühlte tausend Mal von ihm hören wollen, wie sehr er sie lieben würde.
Er liebte es, mit ihr auf einer Decke zu liegen, sie zu küssen und ja, auch mal ihre Brüsten anzufassen. Aber war das Liebe? Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in seinem Zimmer am Schreibtisch zu sitzen und knifflige Matheaufgaben zu lösen, weit weg von diesem Ort.

Warum will ich nicht hier bleiben, wo Camelia ist?

Sein Hirn arbeitete bereits an einer Rede, bei der er nicht zu viel versprach, aber auch nicht riskierte, sämtliche Zähne zu verlieren.
Immer mehr Leute strömten zum Sportplatz. Aus mehreren Lautsprecherboxen dröhnten die rasanten Rhythmen traditioneller Zigeunermusik.
Tante Elena, die älteste Schwester von Cosmins Vater, erschien im Gedränge und führte die Großmutter an den Tisch. Die alte Frau blickte von einem der Männer zum anderen und schließlich blieb ihr Blick an Cosmin hängen. „Du siehst ein bisschen aus wie mein Florin. Wer bist du?“
„Mama, das ist mein Sohn Cosmin“, antwortete Cosmins Vater an Cosmins Stelle, sprang auf und half seiner Mutter, sich neben ihm auf den schnell herbeigeschafften Stuhl zu setzen. „Er wird Radus Jüngste heiraten und wir feiern heute die Verlobung der beiden.“
„Vorverlobung“, korrigierte Cosmin schwach.
Wenig später trat Onkel Radu an den Tisch und Cosmin entging nicht, dass die Männer am Tisch respektvoll zu ihm aufblickten. Onkel Radu legte seine Pranken auf Cosmins Schulter. „Gleich kommt mein Töchterchen, Sohn.“ Er deutete auf einen auf einer Art Podest platzierten Tisch. Wie ein Berg erhob er sich aus dem von all den anderen Tischen gebildeten Tal. „Ihr werdet dort sitzen. Und wir natürlich auch Florine“, wandte er sich an Cosmins Vater. „Und du, mein Junge…“, fuhr er fort und knetete Cosmins Schulter, „… du bist hier auf deiner Verlobung und brauchst nicht mehr so zu gucken, als wärst du auf einer Beerdigung.“
„Vorverlobung, Onkel Radu. Wegen der Polizei…“, sagte Cosmin leise, doch laut genug für die Ohren des Onkels.
Onkel Radu lachte schallend. „Vorverlobung klingt gut. So etwas können nur die Deutschen erfinden.“ Er schaute zum Rand des Fußballfeldes, wo seine Leute an Brettern herum hämmerten. „Was machen die denn da!“, polterte er und ließ endlich Cosmins Schulter los. „Ich muss schauen, was die Idioten dort treiben.“ Schnaubend wie ein Stier beim Anblick eines roten Tuchs stürmte er zum Fußballfeld.
Cosmin verfolgte ihn mit seinem Blick, doch noch ehe Onkel Radu seine Männer dort nieder machte, klingelte das Handy in seiner Hosentasche. Der einzige, der ihn bisher in diesen Sommerferien angerufen hatte, war sein Vater. Doch der saß gerade neben ihm.
Und Freunde in Deutschland, die ihn hier anrufen würden, hatte er nicht.
Cosmin fischte sein Handy aus der Hosentasche und schaute auf das Display. Es verkündete einen Anruf von „Die Mutter“. Hatte sie etwa von seiner Verlobung erfahren? Aber wie? Sein Vater hatte nach der Scheidung nie wieder mit ihr geredet.
Cosmin drückte die grüne Taste. „Was willst du?“, schnauzte er auf deutsch ins Handy und bemerkte, dass sein Vater neben ihm erstarrte.
„Cosmin, bitte leg nicht auf“, drang die Stimme seiner Mutter aus dem Handy. „Ich habe wieder geheiratet und mein Mann, dein Stiefvater, er möchte dich kennen lernen. Und ich, ich möchte dich sehen.“
„Glückwunsch Mutter, aber ich bin mit meinem Papa in Rumänien. Sag diesem Stiefvater, dass ich nicht interessiert bin. Mach’s gut…“
„Warte, bitte!“, rief seine Mutter.
„Was?“
„Cosmin, bitte… ich will dich sehen, du bist doch mein Kind. Wann kommst du zurück?“
„Wenn die Schule wieder los geht“, schwindelte er einmal mehr. „Also vergiss das mit dem sich sehen. Ich bin hier gerade auf einer Feier in Papas Dorf und kann jetzt nicht stundenlang mit dir reden. Vielleicht in den nächsten Ferien. Mach’s gut!“
"Cosmin… "
Cosmin brachte ihre Stimme mit einem Druck auf die rote Taste zum Verstummen.
Aus dem Gesicht seines Vaters war jegliche Bräune verschwunden. „Stiefvater? Sie hat wieder…?“, fragte er auf deutsch.
Cosmin nickte und tätschelte den Arm seines Vaters. Tränen schimmerten in dessen Augen.
„Tata, vergiss die einfach.“
Sein Vater schüttelte schwach den Kopf. Einer seiner Brüder schenkte ihm Wein ein und schob das Glas in seine Richtung. Auch die anderen Männer hatten offenbar begriffen, mit wem Cosmin geredet hatte und zogen betretene Gesichter.
Für einen Moment verstummte das Stimmengewirr an den Nachbartischen. Camelia bahnte sich zusammen mit ihrer Mutter einen Weg durch das Gewimmel auf dem in eine Festwiese verwandelten Sportplatz. Ihrer Mutter sah man zwar immer noch an, wie schön sie in früheren Jahren gewesen war, aber auch, dass sie sechs Kindern das Leben geschenkt hatte. Graue Strähnen mischten sich in ihr schwarzes Haar. Wie bei Camelia reichte es ihr bis fast zu den vom Alter gerundeten Hüften. Camelia trug eine schneeweiße Bluse und einen ebenso weißen, knielangen Rock, der sich eng an ihre Hüften schmiegte und ihre schlanke Figur betonte. Cosmin hatte gewiss nicht vorgehabt,die Heimreise in ein paar Tagen als Vorverlobter anzutreten. Aber um dieses Mädchen würde ihn vermutlich jeder Junge in seiner Klasse beneiden.
Camelia trat an ihn heran und küsste seine Wange. „Cosmi, wie sehe ich aus?“
Cosmin musste sich ausnahmsweise mal nicht verbiegen. „Du siehst toll aus Camelia“, antwortete er und wandte sich an ihre Mutter. „Und Sie sehen auch toll aus, Tante Viorica.“ Camelias Mutter erwiderte das Kompliment mit einem Lächeln. „Schön, dass du bald zu unsere Familie gehören wirst, Cosmin.“
Cosmin jaulte lautlos auf. Musste man ihn ständig daran erinnern? Waren es die Küsse und Zärtlichkeiten mit Camelia wert gewesen, dass er sich in eine Ehe mit ihr hinein treiben ließ?
Am frühen Abend begannen mehrere Frauen, auf den zum Buffet umfunktionierten Tischen Brote sowie Platten mit Käse und frischer Wurst abzustellen. Andere Frauen brieten Fleisch, für das mehrere Schafe und Lämmer ihr Leben gelassen hatten.
Cosmin saß inzwischen zusammen mit Camelia, seinem Vater und Camelias Mutter auf den Ehrenplätzen und schätzte, dass mindestens dreihundert Erwachsene und Dutzende Kinder an den Tischen oder auf im Gras ausgebreiteten Decken saßen. Noch übertönten rasante Rythmen aus den Lautsprechern das Stimmengewirr.
Onkel Radu trat an den Tisch und reichte Cosmin ein kleines aus zusammen gefaltetem Papier geformtes Päckchen.
Cosmin zögerte, als würde er befürchten, dass sich im Päckchen eine Giftspinne befinden könnte.
„Was ist da drin, Onkel Radu?“
„Mach es auf, Junge!“
Umständlich entfaltete er das Papier. Ihm schwante, dass es etwas verbarg, das seinen Fesseln einen weiteren Knoten hinzufügen würde.
Endlich beförderte er zwei schlichte goldene Ringe ans Tageslicht. Sein Herz sank noch etwas tiefer. Onkel Radu schien seine entglittenen Gesichtszüge als Überraschung über das wertvolle Geschenk zu deuten und striegelt zufrieden seinen Schnurrbart. Camelias Augen leuchteten. Sie schnappte sich den kleineren der beiden Ringe und einen Augenblick später steckte er am Mittelfinger der linken Hand.
„Probier ihn aus, Cosmine“, polterte der Onkel.
Der Ring passte wie angegossen; schien aber an seinem Finger einen Zentner zu wiegen. Cosmin fragte sich, wie Onkel Radu Maß genommen hatte.
„Danke Onkel Radu“, brachte er über die Lippen.
Onkel Radu winkte ab. „Die Zeremonie wird so ablaufen: Zuerst sagst du allen hier, warum du mein süßes Töchterchen zur Frau haben möchtest. Dann wird Camelia antworten, warum sie deinen Heiratsantrag annimmt. Danach steckt ihr euch gegenseitig die Ringe an die Finger und dann seid ihr verlobt und wir stoßen auf euch an.“
„… vorverlobt“, korrigierte Cosmin mit leiser Stimme.
Onkel Radu überhörte den Einwand. „Gib den Ring Cosmin zurück“, sagte er zu Camelia und wandte sich an Cosmins Vater. „Florine, lass uns anfangen. Geh und sag Adrian, er soll die Musik abstellen.“
Cosmins Vater erhob sich und strich Cosmin über das zottelige Haar. „Nur Mut, mein Sohn. Ich bin so stolz auf dich.“
Cosmin fühlte einen Kloß im Hals. Er würde nicht nur vor hunderten Leuten eine Rede halten müssen. Er würde vor all diesen Leuten einen Heiratsantrag machen und unsterbliche Liebe heucheln müssen, ohne dass die Heuchelei jemandem und schon gar nicht Camelia auffallen durfte.
Sein Blick schweifte durch die Menge und wurde von zwei finster zu ihm aufblickenden Augen eingefangen. Alin saß zusammen mit einigen anderen von Cosmins Cousins und Cousinen an einem Tisch und hielt die geballten Fäuste so, dass Cosmin sie gar nicht übersehen konnte.
Die Musik verstummte und einen Augenblick später verebbte auch das Stimmengewirr.
„Willkommen Leute!“, donnerte Onkel Radus Stimme über die Köpfe der versammelten Menge hinweg. „Cosmin, der Sohn meines Freundes und Cousins Florin Munteanu, möchte uns was sagen.“
Cosmin erhob sich und versucht auszublenden, dass sich an die vierhundert Augenpaare auf ihn richteten. Er stellte sich vor, Herr Schneider, sein Deutschlehrer am Dessauer Gymnasium hätte die Aufgabe gestellt, einen Heiratsantrag zu verfassen. Und nun stand er in seinem Zimmer am Schreibtisch und probte die von ihm verfasste Rede.
„Schon, als ich vor drei Jahren hier bei euch im Dorf war, fiel mir auf, was für ein hübsches Mädchen Camelia ist.“ (gelogen)
„Bevor ich jetzt wieder hier her kam, fragte ich mich jeden Tag, wie sie jetzt aussieht, als junge Frau.“ (gelogen)
„Dann, als ich ihr hier vor vier Wochen endlich wieder begegnete, war ich überrascht, wie schön sie jetzt ist…“ (stimmt) „… und verspürte sofort den Wunsch, für immer mit ihr zusammen zu sein.“ (gelogen)
„Die Stunden, die wir hier zusammen verbracht haben, waren die schönsten Stunden meines Lebens.“ (vielleicht etwas übertrieben)
„Ich merkte, dass ich in dich verliebt bin, Camelia.“ (bin ich das wirklich???)
„In drei Tagen fahre ich wieder zurück nach Deutschland und ich werde dich vermissen.“ (mal sehen)
„Ich möchte nie wieder von dir getrennt sein, Camelia.“ (total übertrieben)
„Deshalb frage ich dich, möchtest du meine Frau werden, wenn du so alt bist, dass du heiraten darfst?“ (total gelogen, bitte sag nein oder sag wenigstens, dass du noch ein paar Jahre Bedenkzeit brauchst)
Cosmin verstummte und sah, dass Camelia ihn anstrahlte. Auch sein Vater schien für einen Moment die Nachricht von der Heirat der Ex-Frau vergessen zu haben. Onkel Radu klatschte und gleich darauf klatschten auch die anderen Leute.
„Steh auf Schatz und sag, dass du ihn willst“, raunte Onkel Radu seiner Tochter zu.
Camelia stellte sich neben Cosmin, küsste ihm unter dem Beifall der Menge auf die Wange und sagte so laut sie konnte: „Ich will deine Frau werden, Cosmin. Ich will mit dir in Deutschland leben und ich will deine Kinder gebären.“
Erneut brandete Beifall auf. Doch es gab ein Augenpaar, finster wie ein schwarzes Loch und es vermochte immer wieder, Cosmins Blick in sich hinein zu saugen.
„Die Ringe, Cosmi!“, zischte Camelia ihm zu.
„Äh ja…“ Cosmin löste den Blick von Alins Augen und reichte Camelia den Ring für seinen Finger.
Gegenseitig steckten sie sich die Ringe an den Mittelfinger der linken Hand. Die Leute an den Tischen und auf der Wiese jubelten; sogar die Kinder klatschten Beifall.
Vor allem die Jugendlichen skandierten lauthals, was sie nun erwarteten.
„Küssen!“
„Küssen!“
„Cosmi, du musst mich jetzt küssen. Auf den Mund, aber nicht mit der Zunge“, erklärte Camelia. Ihre Hand glitt unter die Mähne in seinem Nacken und zog ihn zu sich heran. Cosmin legte seine Hand auf ihre Schulter. Für ein paar Sekunden trafen sich ihre Lippen.
„Ich werde den Ring bis zu unserer Hochzeit nicht mehr absetzen“, versprach Camelia anschließend und Cosmin bemerkte, dass nicht nur Camelia auf seine Erwiderung wartete.
„Ich… äh, bei uns in der Schule sind Ringe verboten… Aber… äh sonst werde ich ihn immer tragen“, versprach nun auch Cosmin.

Dieses Versprechen brach Cosmin bereits drei Tage später in Bukarest, kurz nach dem er mit seinem Vater im Flixbus nach Leipzig auf seinem Platz saß.
Sein Vater schaute entgeistert zu, wie er sich den Ring vom Finger zerrte. „Was machst du denn da, Cosmine?“, fragte er erschrocken.
„Tata! Ich brauche jetzt echt mal eine Pause von diesem ganzen Hochzeitsquatsch.“

  1. Flucht nach Dessau

Max

„Vergiss es, Onkel! Ich komme nicht mit! Ich warte so lange hier in der Kiste auf dich.“
Max warf seinem Onkel Leon einen trotzigen Blick zu. Drei Wochen waren sie zusammen im Campervan unterwegs gewesen, hatten in verschiedenen Sportklettergebieten Südfrankreichs die schwierigsten Routen durchstiegen und die Abende am Lagerfeuer verbracht. Max wäre am liebsten die gesamten Sommerferien mit Leon dort geblieben, aber sein Onkel würde morgen zu irgendwelchen Bauprojekten nach Bratislava zurückkehren. Auf dem Rückweg hatte sein Vater Leon angerufen und ihn zu einem ersten gemeinsamen Abendessen mit dessen neuer Frau eingeladen.
„Maxi, verdammt!“, fluchte Leon, während er den Van zur Tordurchfahrt steuerte, die zu den Parkplätzen hinter dem Haus von Max’ Vater führte. „Keiner zwingt dich, mit deiner Stiefmutter zu reden. Aber wir müssen auch klären, wie es mit dir weiter gehen soll. Vielleicht kriege ich deinen Vater doch noch 'rum und du kannst in meinem Haus wohnen. Aber ich könnte vielleicht auch ein bisschen deine Hilfe dabei gebrauchen, okay?“
„Wenn mich mein Alter nicht bei dir wohnen lässt, haue ich von hier ab“, presste Max zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
Leon kraulte Max’ vom Fahrtwind zerzaustes Haar. „Und wohin willst du abhauen, Champ?“
Ein Grinsen huschte über Max’ Gesicht. „Nach Bratislava vielleicht?“
„Und die Schule?“
„Scheiß auf die Schule!“
Leon verpasste Max einen Klaps auf den Hinterkopf. „Los jetzt, Maxi. Zeig deiner Stiefmutter die Zähne.“
Max schnaubte, schwang sich jedoch aus dem Van.
Wenig später betraten sie das Wohnzimmer in der ersten Etage des Hauses. Max’ Vater saß allein auf der Couch und erhob sich, um sie zu begrüßen. Seine Haushälterin arrangierte das Geschirr auf dem zur Tafel ausgezogenen Tisch und nickte ihnen einen Gruß zu. Max’ Vater und Leon umarmten sich herzlich und Max versuchte sich vorzustellen, wie sein Vater früher dem kleinen Leon der geliebte große Bruder gewesen war.

Wieso ist so ein Ätzer aus ihm geworden?

Max ließ sich in einen der Sessel fallen.
„Hallo Maximilian“, sagte sein Vater.
„Vater“, erwiderte Max. Nach dem Tod seiner Mutter hielten sie sich bei einer Begrüßung nicht mal mehr mit einem Handschlag auf. Leon runzelte die Stirn und ließ sich in den anderen Sessel fallen.
Max wartete, bis die Frau in der Küche verschwunden war und tat so, als würde er etwas unter dem Tisch suchen. „Wo ist deine Frau?“
Sein Vater seufzte. „Du suchst an der falschen Stelle, Maximilian.“
„Alex, so lange sie nicht hier ist… wir sollten nochmal darüber reden, was ist, wenn Maxi mit seiner Stiefmutter nicht klar kommt“, wandte sich Leon an Max’ Vater.
„Leon, das haben wir doch besprochen. Maximilian ist immer noch minderjährig. Es kommt nicht in Frage, dass er allein in deinem Haus wohnt.“
„Hör mit diesem minderjährigen Quatsch auf, Vater“, brauste Max auf. „Wenn ich nicht bei Leon wohnen darf, mache ich die Fliege. Und wenn ich irgendwo auf einem Bahnhof pennen muss…“
„Bist du völlig durchgeknallt?“, erwiderte sein Vater lautstark.
„Hehe…“, funkte Leon dazwischen. „Lasst uns doch mal in Ruhe…“ Er unterbrach sich, weil die Haushälterin mit Geschirr anrückte. Er wartete, bis sie wieder in der Küche verschwunden war. „Wie wäre es damit… während der Schultage bleibt Max hier und an den Wochenenden wohnt er bei mir.“
„Nö!“
„Maxi! Schon mal vom Wort Kompromiss gehört?“
„Drei Tage in der Woche hier und vier bei dir“, sagte Max und lehnte sich im Sessel zurück.
„Wo sind wir hier?“, schimpfte sein Vater. „Auf einem Flohmarkt?“
„Alex… ich wollte auch nicht bei unseren Eltern bleiben, weißt du noch?“, sagte Leon leise. „Lass Maxi doch ein paar Tage in der Woche bei mir wohnen. Meinetwegen drei Tage am Stück.“
„Mit den Wochenenden wäre ich einverstanden.“
Max schüttelte den Kopf. „Ich will drei Tage am Stück!“
„Und was machen wir, wenn Maximilian einen Saustall aus deinem Haus macht?“
Leon zuckte mit der Schulter und nickte in Richtung der Küchentür. „Dann kommt jemand vorbei und macht wieder sauber. Also abgemacht, Leute?“ Er zog Max an sich. „Komm schon, kleiner Bruder. Versuch es wenigstens.“
„Aber ich halte trotzdem schon mal nach einem Bahnhof Ausschau“, antwortete Max mit einem flüchtigen Grinsen.
Sein Vater brachte aus der Küche drei Flaschen Radler. Max nahm an, dass der Vater mit Leons Vorschlag einverstanden war und auf diesen Kompromiss anstoßen wollte.
„Wo ist denn nun eigentlich deine Frau, Alex?“, fragte Leon nach einem kräftigen Schluck aus der Bierflasche.
„Sie stand unter der Dusche, als ihr gekommen seid.“
Die als Haushaltshilfe tätige Frau trat aus der Küche. Der Duft nach Grillfleisch und gebackenem Käse wehte ins Wohnzimmer „Wann darf ich das Abendessen servieren, Herr Weller?“, wandte sie sich an Max’ Vater.
Der warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Servieren Sie es in einer halben Stunde.“ Die Frau nickte und verschwand wieder in der Küche.
„So, und nun erzählt mal, was ihr in den drei Wochen alles angestellt habt.“
Während Leon von ihren Kletterabenteuern berichtete, las Max eine zwei Seiten lange Nachricht, die ihm Caroline schon vor einer Woche geschrieben und die er bislang ignoriert hatte. Wie es schien, war sie immer noch scharf auf ihn. Allerdings schrieb sie auch, warum sie nicht mit dem Erstbesten ins Bett steigen würde. Max ließ die Nachricht unbeantwortet und tippte stattdessen mehrere Nachrichten an seine Kumpel Oskar und Nicholas ins Handy.
Die Wohnzimmertür schwang auf und seine Stiefmutter betrat das Wohnzimmer. Sie trug ein helles, ärmelloses Abendkleid, das die Bräunung ihrer Haut betonte. Lockiges, schwarzes Haar fiel ihr auf die unbedeckte, zarte Schulter. Max gestand sich widerwillig ein, dass diese Frau atemberaubend schön war.
Leon erhob sich aus dem Sessel und reichte ihr die Hand und Max bemerkte aus den Augenwinkeln die bewundernden Blicke des Onkels für die neue Schwägerin.
"Guten Abend Maximilian."Offenbar ahnte sie, dass Max ihr nicht die Hand reichen würde. Sie setzte sich sofort zu seinem Vater auf die Couch.
„Und?“, fragte Max, ohne ihren Gruß zu erwidern. „Hast du dich schon eingelebt bei uns?“
Sein Vater zog scharf die Luft durch die Nase, aber falls die Stiefmutter verärgert war, ließ sie es sich nicht anmerken. „Ich glaube, das wird noch eine Weile dauern.“
Die Haushaltshilfe servierte das Essen. Als all die Delikatessen und Köstlichkeiten auf dem Tisch standen, seufzte Max’ Stiefmutter. „Weißt du Alex, wenn ich dieses Essen auf dem Tisch sehe, muss ich daran denken, was für ein billiges und ungesundes Zeug bei meinem Jungen auf den Tisch kommt.“
Max’ Vater tätschelte den Arm seiner Frau. „Schade, dass es mit einem Treffen nicht geklappt hat. Ich hätte deinen Jungen gerne kennengelernt. Vielleicht fahren wir nach den Ferien mal zu ihm nach… wie hieß dieser Ort, wo er mit seinem Vater wohnt?“
„Wurzen.“
„… nach Wurzen und bringen ihn für ein paar Tage hier her zu uns. Maximilian und dein Junge könnten…“
Max knallte sein Besteck auf den Tisch und fuhr zu Leon herum. „Ich warte unten im Van auf dich.“
„Bleib sitzen!“, brüllte ihn sein Vater an und Leon legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Maxi, bitte…“
„Wir werden meinen Sohn nicht hier her bringen, wenn du das nicht willst, Maximilian“, versprach seine Stiefmutter.
Max blieb zwar sitzen, doch der Appetit war ihm vergangen. Er rührte keinen Bissen mehr an.

Am nächsten Nachmittag begleitete er Leon zum Flughafen.
„Wieso musst du ausgerechnet jetzt in Bratislava arbeiten?“, nörgelte Max, während sie zur Schlange trotteten, die sich vor dem Eingang zur Sicherheitskontrolle gebildet hatte.
Leon hatte seinen Arm um Max’ Schulter gelegt. „Das Timing ist ist echt suboptimal, kleiner Bruder, aber wir haben immerhin drei Tage am Stück für dich raus geholt.“
„Und vier Tage am Stück soll ich es zu Hause mit der aushalten?“ Max hatte diese Frage für sich inzwischen beantwortet.
„Bis zum Ende der Ferien bleibst du ja erst einmal bei mir. Und danach… Mach keine Dummheiten, Champ, okay?“
„Okay, Onkelchen.“
Sie umarmten sich und erst als Leon vom Gedränge an den Sicherheitskontrollen geschluckt wurde, machte Max auf dem Absatz kehrt und schlenderte zum Ausgang des Terminalgebäudes.
Auf dem Bahnhof des Flughafens betrat er den Servicebereich mit den Fahrkartenschaltern und begab sich an einen der Schalter, wo eine ältere Bahnangestellte auf Kundschaft wartete.
„Hallo, wo soll es denn hingehen, junger Mann?“
Max erwiderte den Gruß und strich nachdenklich über sein Kinn. „Wissen Sie was?“
Die Frau blickte Max fragend an.
Max fischte seine Kreditkarte aus der Brieftasche. „Ich war in diesem Sommer überhaupt noch nicht in Dessau.“

Es war bereits kurz vor 19 Uhr, als Max an diesem Abend vor einer vornehmen, zweistöckigen Villa stand, die wie die anderen Villen zu beiden Seiten dieser Straße in Dessau im Jugendstil erbaut war.
Er sandte ein Stoßgebet in den wolkenverhangenen Abendhimmel über ihn, dass sich seine Großmutter Lisa zu Hause aufhielt. Zwar hätte er sie vorab anrufen können, aber vielleicht hätte sie versucht, ihm den verrückten Plan auszureden, den er auf dem Weg zum Flughafen ausgeheckt hatte.
Falls sie nicht zu Hause war, würde er vielleicht wirklich auf einem Bahnhof übernachten müssen, weil er mit seinen siebzehn Jahren in den meisten Hotels nicht einchecken konnte. Sein Reisegepäck bestand aus dem, was er am Leib trug.
Er blickte zu den Rundbogenfenstern des Erkers im Erdgeschoss. Dahinter befand sich der Arbeitsplatz seiner Großmutter. Falls sie dort gerade über ihren Steuerabrechnungen brütete, müsste sie ihn bereits gesehen haben. Die Pforte, hinter der ein gepflasterter Weg zur zweiflügligen Eingangstür führte, war nicht abgeschlossen und Max betrat das Grundstück seiner Oma.
Noch ehe er die Eingangstür erreicht, schwang sie auf und seine Großmutter trat ins Freie. Sie trug sie ein elegantes zweiteiliges Kostüm, ihre dunkelblonden Haare bauschten sich auf ihrem Kopf wie eine Haufenwolke.
„Max?!“
Sie schob kurz ihre Brille auf die Nasenspitze, um darüber zu spähen, als würde sie den teuren Brillengläsern keinen Glauben schenken, dann eilte sie Max entgegen und drückte ihn an sich.
„Warum hast du nicht angerufen, Kind. Ich hätte dich doch vom Bahnhof abgeholt.“ Sie ließ ihren Blick über ihn hinweg gleiten. „Hast du nichts dabei?“
„Omi, ich brauche deine Hilfe.“
Die Großmutter sah Max erschrocken an. „Was ist passiert?“, fragte sie und zog ihn ins Haus.
„Ich bin von zu Hause abgehauen“, sagte er und betrat, gefolgt von seiner Oma, das geräumige Wohnzimmer.
Sie räumte einige auf dem Wohnzimmertisch ausgebreiteten Unterlagen auf eine Anrichte, über der ein Flachbildschirm thronte und zeigte auf die Couch. „Setz dich, Maxi. Ich bringe dir was zu essen und dann erzählst du mir, was passiert ist.“
Max nickte, doch er wandte sich nach rechts zu einer Tür. Seit drei Jahren begab er sich zunächst in den dahinter liegenden Raum, wenn er seine Großmutter besuchte.
Oma Lisa hatte dort eine Art Museum eingerichtet mit allen Sachen, die ihr von seiner Mutter geblieben waren.
Max bemerkte, dass ihm die Oma ins Zimmer folgte. In der Mitte des Zimmers reihten sich mehrere Bücherregale aneinander, in einigen stapelten sich Hefter und Ordner, sogar einige Schulsachen seiner Mutter bewahrte Oma Lisa hier auf. An den Wänden wäre für Bücherregale kein Platz gewesen, sie waren übersät mit Ölgemälden, wobei seine Oma die Gemälde sortiert hatte. An einer Wand befanden sich ausschließlich Gemälde mit allen möglichen Landschaften, die Wand rechts von Max war tapeziert mit Stadtansichten und an der Wand links befanden sich unzählige Porträts von Menschen jeden Alters.
Eines der Gemälde zeigte ihn im Alter von zehn Jahren. Seine Mutter hatte ihren Arm um ihn gelegt; die Hand zauste das schulterlange, blonde Haar. Sein Kopf lehnte an ihrer Schulter.
Sie hatte damals als Vorlage für das Gemälde mehrere Selfis in ihrem Atelier aufgenommen und fast war es, als könne er noch immer ihre Hand in seinen Haaren spüren.
Eine Träne rollte über seine Wange. "Mam, es tut mir so Leid, dass du nicht mehr da bist. Jetzt hat mein Vater diese Frau geheiratet und zu uns ins Haus geholt. Warum habe ich nicht aufgepasst, als wir… " Seine Stimme brach. Hinter sich hörte er das Schluchzen seiner Oma. Nur ein Jahr nach dem Tod ihrer Tochter war ihr auch Mann, Max’ Großvater, an Krebs gestorben.
Max’ Blick schweifte über weitere Gemälde, die seine Mutter von ihm gemalt hatte und blieb an der letzten Arbeit seiner Mutter hängen, dem Bildnis des traurigen Zigeunerjungen. Der Gemälde war unvollendet geblieben, der Hintergrund bis auf ein paar Pinselstriche weiß. Als die Großeltern die Gemälde seiner Mutter nach ihrem Tod hier her nach Dessau brachten, hatte Max darauf bestanden, dass das Bildnis des Zigeunerjungen neben einem Bild aufgehängt wird, das ihn selber in etwa demselben Alter zeigte. So waren sie wenigstens an dieser Wand Freunde geworden, wie er es seiner Mutter versprochen hatte.
Max fragte sich, ob der Junge immer noch so traurig darüber war, dass dessen Mutter ihn verlassen hatte. Der Zigeunerjunge musste jetzt ebenfalls siebzehn Jahre alt sein und sah vermutlich verdammt hübsch aus. Vielleicht hatte er inzwischen ein Mädchen, das ihm half, über den Verlust der Mutter hinweg zu kommen?
Einmal mehr wünschte sich Max, er wäre diesem Jungen begegnet. Aber er hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, in welcher Ecke Deutschlands der Zigeunerjunge lebte.
„Maxi…“, drang die Stimme seiner Großmutter durch die geöffnete Tür.
Wenig später saß er neben seiner Oma auf der Couch. Sie hatte ihm ein Körbchen mit Brötchen, einen Teller mit Aufschnitt und Saft auf den Tisch gestellt und zauste ihm das Haar, so wie es seine Mutter auf dem Gemälde getan hatte.
Max hatte ihr bereits erzählt, weshalb er nach Dessau geflüchtet war.
„Darf ich bei dir bleiben?“, fragte er leise.
Seine Oma drückte ihn noch fester an sich. „Natürlich! Dass du im letzten Jahr die Schule wechselst, noch dazu von einem Bundesland in ein anderes, das ist natürlich nicht so gut. Ich hoffe, du wirst trotzdem dein Abitur schaffen. Ich werde morgen mit deinem Vater reden und dich am Gymnasium in der Stadt anmelden. Und morgen Nachmittag werden wir Sachen für dich einkaufen. Einen Schreibtisch für dein Zimmer müssen wir auch suchen, damit du daran die Hausaufgaben machen kannst.“
„Omi“, stöhnte Max. „Jetzt hörst du dich echt wie meine Mam an.“
Nach dem Essen bat er seine Oma um einen Permanentmarker. Ausgerüstet mit dem Stift stapfte er die Treppe bis zum Dachgeschoss hinauf. Den Dachboden hatten bereits seine Mutter und ihr Bruder Tobi als Trainingsraum benutzt. Beide waren Geräteturner gewesen. Max hatte zudem schon vor Jahren zusammen mit seinem Großvater vier große Boxsäcke und zwei kleinere, die etwa so groß wie Medizinbälle waren, an der Decke befestigt und sich im hinteren Teil des Dachbodens einen Bereich für das Klettertraining eingerichtet.
Mehrere Minuten lang traktierte er die Boxsäcke mit Schlägen und Tritten und schließlich wirbelte er dabei so schnell zwischen den Boxsäcken herum, dass sie alle zugleich heftig ins Schaukeln gerieten und es aussah, als würden sie sich nun gegenseitig traktieren wollen.
Max kramte den Stift aus seinen Sachen und wartete, bis die Boxsäcke ihren wilden Tanz beendet hatten. Dann begann er, auf jeden der Boxsäcke Strichgesichter zu malen, eines hässlicher als das andere. Seine Großmutter betrat den Dachboden und sah seinem Treiben eine Zeitlang mit gerunzelter Stirn zu.
„Maxi?“
Max verpasste einem Strichgesicht einen Mund mit Zahnlücken.
„Max! Was machst du denn da?“
Max betrachtete zufrieden das hässliche Gesicht und verpasste ihm einen derart kraftvollen Tritt, dass der Boxsack gegen den neben ihm hängenden Sack knallte.
„Das ist die dämliche Fresse von meinem Stiefbruder, Omi.“

Am nächsten Tag führte Oma Lisa zum ersten Mal seit drei Jahren ein längeres Telefongespräch mit Max’ Vater. Er war damit einverstanden, dass Max bis zum Ende der zwölften Klasse bei ihr wohnen und die Schule wechseln würde. Nach dem Zoff beim ersten gemeinsamen Abendessen mit seiner neuen Frau schien er zu spüren, dass ein Zusammenleben von Max mit ihr unter einem Dach nicht möglich sein würde.
Zusätzlich zu den fünfhundert Euro, die er jeden Monat Max auf dessen Konto überwies, wollte er der Großmutter monatlich eintausend Euro zahlen, um für Max’ Kosten aufzukommen. Oma Lisa lehnte das Geld nicht ab. Allerdings nahm sie das Geld nur, um es dann ebenfalls auf Max’ Konto zu überweisen. Vom ersten Tausender seines Vaters kaufte sich Max ein Fahrrad für den Schulweg und neue Kletterschuhe für Besuche in der Kletterhalle. Da er nur mit der Kleidung nach Dessau gekommen war, die er beim Abschied von Leon auf dem Flughafen in Berlin getragen hatte, musste Max völlig neu eingekleidet werden und das Geld dafür spendierte ihm seine Oma.
Obwohl das neue Schuljahr in Dessau nur zwei Wochen nach seiner Flucht nach Dessau begann, schaffte es Oma Lisa, den Schulwechsel zu organisieren.
Die letzten Ferientage vergingen wie im Fluge und schließlich brach Max’ erster Schultag in Dessau an…

Sorry, ich wollte eigentlich nicht löschen, sondern den bereits hochgeladenen Teil bearbeiten, weil ich einige Fehler erst entdeckte, als ich ihn schon gepostet hatte.
Könnt Ihr mir Tipps geben, wie man bei einer Geschichte Kapitel für Kapitel hochlädt und sie auch nachträglich bearbeiten kann?

Hey, willkommen bei queerpoint!

Ich hab deine Geschichte gerade wiederhergestellt.

Bearbeiten geht, wie bei allen Beiträgen hier nur eine gewisse kurze Zeit nach dem Posten, damit Zusammenhänge nicht nachträglich auseinander gerissen werden.

Hier im Geschichten-Bereich können Thread-Ersteller weitere Teile der Geschichten posten, in dem sie normal auf den Thread antworten („neuer Beitrag“) - nicht auf einen einzelnen Beitrag.

Viele Grüße
nobodyfrm - Felix

@nobodyfrm
Vielen Dank, jetzt habe ich es kapiert.
Ich werde bei den nächsten Beiträgen nicht so viel Text hochladen und ihn zuvor lieber zweimal durchlesen.

  1. Der 1. Schultag

Max

Mehr als eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn schob Max sein Rad in einen der zahlreichen und zu dieser frühen Morgenstunde verwaisten Fahrradständer vor der gläsernen Eingangshalle der Schule. Das Schulgebäude bestand aus einer Kombination aus Ziegelmauerwerk und Glasfassaden und thronte über den zum Teil recht aufwändig sanierten Altbauten zu beiden Seiten der mitten im Stadtzentrum gelegenen Straße.
Für Max war klar, wie der 1. Schultag in seiner neuen Klasse ablaufen würde, ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Schulwechsel erlebte. Nach dem Tod seiner Mutter war er wegen mehrerer Schlägereien von der Schule geflogen und vor genau drei Jahren hatte er so wie jetzt vor seiner neuen Schule gestanden. Sofern nicht alle Jungen einer Klasse Streber oder Nullen waren, existierte zumindest so etwas wie ein harter Kern mit einem Alphatier, so wie Charles, Murat und vielleicht noch Oskar in seiner Berliner Klasse. Vermutlich würde es genauso ablaufen wie vor drei Jahren in Berlin. Das bisherige Alphatier der Klasse, derjenige, der das Sagen hatte, würde in Max einen Nebenbuhler, einen Konkurrenten sehen und versuchen, ihn fertig zu machen. Sollte es wirklich so kommen, würde er das bisherige Alphatier irgendwie erledigen, in Sport am Reck oder Barren, notfalls mit den Fäusten, und sich anschließend eventuell sogar eine eigene Clique zum Rumhängen aufbauen. Max erwartete nicht, auch nur einen einzigen echten Freund zu finden. Auch in Berlin gab es unter all den Bewunderern und Neidern in seiner dortigen Clique eigentlich kaum einen Jungen, den er als echten Freund ansehen würde. Nicholas und Oskar vielleicht, obwohl beide vermutlich auch deshalb wie Kletten an ihm hingen, weil er in seiner alten Klasse nach Charles’ Entthronung das Alphatier gewesen war. Von den anderen aus seiner alten Clique hatte er seit seiner Flucht aus Berlin nichts mehr gehört oder gelesen.
Max schlenderte gemächlich um das Schulgebäude zum rückseitig gelegenen Sportplatz. Ein flüchtiges Grinsen stahl sich auf seine Lippen, als er die hofseitig an einer etwa sechs bis sieben Meter hohen Randmauer befestigten Klettergriffe bemerkte.

Die haben hier eine Kletterwand!

In der Dessauer Kletterhalle war er bei seinem ersten Besuch nur beiläufig beachtet worden. Das änderte sich, als er einem der hiesigen Spitzenkletterer demonstriert hatte, wie man die schwierigsten Routen ohne Stürze und Herumgeeiere meistern konnte.
Allmählich füllte sich der Vorplatz der Schule mit Mädchen und Jungen, die kichernd oder johlend, lauthals schwatzend oder mit hängenden Köpfen ins Schulhaus strömten. Max lehnte noch einige Zeit lässig an seinem Fahrrad und beobachtete aus den Augenwinkeln das Gewimmel auf dem Vorplatz. Ihm entgingen weder die verstohlenen und manchmal beinahe schon aufdringlichen Blicke der Mädchen fast aller Klassenstufen. Noch entging ihm, dass ihm wie erwartet viele der älteren Jungen abschätzige und teils neidische Blicke zuwarfen. Inzwischen waren auch die meisten Lehrer eingetroffen. Max stieß sich von seinem Fahrrad ab und schlenderte ins Schulhaus, um sich dort auf die Suche nach dem Sekretariat zu begeben.

Außer ihm befand sich noch ein vielleicht sechzehnjähriges Mädchen mit blonden Pferdeschwanz im Sekretariat, das an einem der beiden Arbeitstische Anmeldeformulare ausfüllte. Max begab sich ohne Zögern zum anderen Arbeitstisch, wo ihn eine Angestellte erwartete, die etwa so alt wie seine Großmutter Lisa sein mochte.
„Hallo, Maximilian Weller mein Name. Ich soll mich hier melden.“
„Hm, Maximilian. Willkommen an unserer Schule.“ begrüßte ihn die Sekretärin mit einem prüfenden Blick, so als wolle sie herausfinden, ob Max ein Willkommen an der Schule überhaupt verdiene. Dann kramte sie in den Unterlagen und fischte eine Mappe vom Tisch ihrer Kollegin.
„Bitte überprüfen Sie das Anmeldeformular und tragen Sie Ihre Email - Adresse für den Verteiler der Schule und eine Telefonnummer ein, Maximilian“, erklärte sie und wies auf den Stuhl neben ihrem Tisch. „Setzen Sie sich besser, Sie müssen außerdem noch die Datenschutzerklärung und die Hausordnung lesen und unterschreiben. Ihre Klasse ist die 12B im Raum 411, ein Stockwerk höher. Ihre Klassenleiterin ist Frau Dr. Meyer.“
Max warf einen kurzen Blick auf den bereitstehenden Stuhl und schob ihn mit dem Fuß einen halben Meter beiseite.
„Ich stehe lieber!“, entgegnete er und unterschrieb Hausordnung und Datenschutzerklärung, ohne auch nur eine Silbe zu lesen. Er tat so, als würde er den säuerlichen Blick der Sekretärin nicht bemerken und schnappte sich das Anmeldeformular. Keine zwei Minuten später wandte er sich mit einem kurzen Kopfnicken zur Sekretärin um und verließ den Raum, verfolgt von drei gezischelten Wörtern: „Noch so einer…“
Das Schulhaus war erfüllt von lautem Stimmengewirr in der unteren Etage, wo die Frischlinge der Fünften offenbar ihren neuen Klassen zugeteilt wurden.
Max schlenderte durch den Gang der vierten Etage, bis er die Zimmertür mit der Nummer 411 erreichte. Er klopfte an, als würde das Anklopfen keine andere Antwort als ein sofortiges „Herein!“ dulden. Das auch sofort mit einer hellen Frauenstimme zu ihm drang.
Max öffnete die Tür und erlebte die erste Überraschung, als er Frau Dr. Meyer erblickte. Er hatte eine vertrocknete, alte Schachtel als Klassenlehrerin erwartet. Stattdessen begrüßte ihn das freundliche Lächeln einer jungen Frau, die nicht viel älter aussah als sein Geburtstagsgeschenk Alice. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte sein Blick auf dem Busen und der schlanken Hüfte seiner künftigen Klassenlehrerin, überlagert mit der Erinnerung an seine Verführerin Alice. Dann räusperte er sich, froh darüber, dass Frau Dr. Meyer so tat, als wäre ihr sein unziemlicher Blick entgangen und ebenso froh darüber, dass er nicht wie ein Rüpel in den Klassenraum gestürmt war.
„Ich bin der Neue hier!“, sagte er, während er das hübsche Gesicht der jungen Frau musterte.
„Willkommen bei uns“, begrüßte sie ihn und deutete hinter sich, wo ihn etwa zwei Dutzend Schüler anstarrten. Sie saßen mucksmäuschenstill an ihren Bänken, die in einem Halbrund in zwei Reihen um den Lehrertisch herum so angeordnet waren, dass jeder der Schüler viele der anderen Schüler im Blickfeld hatte.
Die junge Lehrerin nickte ihm zu. „Bitte stellen Sie sich kurz Ihren neuen Mitschülern vor. Wie Sie sehen, platzen sie vor Neugier.“
Augenblicklich verfinsterte sich Max’ Blick. Vielleicht fand Frau Doktor ihren Scherz selber lustig, aber er hatte gewiss nicht vor, die Neugier anderer zu befriedigen. Er nahm einen freien Platz in der zweiten Reihe ins Visier.
„Ich bin Maximilian Weller. Ihr könnt mich Max nennen!“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stapfte er zu seinem neuen Sitzplatz. Augenblicklich schwoll Gemurmel im Raum an, Fragezeichen schienen plötzlich durch den Raum zu schweben.
„Was? War das alles?“
„Mehr nicht?“
„Nennt der so was eine Vorstellung?“
Frau Dr. Meyer seufzte und fuhr nach einem Schulterzucken fort, der Klasse den neuen Stundenplan vorzustellen.
Max hingegen begann damit, seine neuen Mitschüler zu beäugen. Einen ersten Eindruck hatte er bereits beim Betreten des Raumes gewonnen. Anders als in Berlin waren fast alle seiner Mitschüler offenbar deutscher oder mitteleuropäischer Herkunft. Als erstes glitt sein Blick zum Banknachbarn. Er war etwas pummelig und das runde Gesicht war so bleich, als hätte der Bursche die Sommerferien in einem Verlies verbracht. Ein bisschen interessanter war die rechte Nachbarbank. Zwei Mädchen erwiderten dort seinen Blick. Auf der Hakennase des einen Mädchens saß eine etwas überdimensionierte randlose Brille, die ihre Augen wie die eines Uhus erschienen ließen. Das Mädchen daneben fuhr sich mit der Hand durch das lange blonde Haar. Sie lächelte ihm zu; ihre geschminkten Lippen waren zu einem Kussmund verzogen.

Vergiss es, Süße! Ich muss mich erst mal umschauen hier!

Er ließ seinen Blick zur übernächsten Bank wandern und…
Es war, als würde eine Faust seinen Brustkorb rammen und die Luft aus seinen Lungen treiben.
Unmöglich!!!, schrie jede seiner Hirnzellen.
Dort saß ein etwas schmächtig wirkender Junge alleine an der Bank, das gebräunte, beinahe mädchenhaft wirkende Gesicht war von langen, pechschwarzen Zotteln umrahmt, die ihm bis auf die Schultern fielen und vermutlich noch nie einen Frisör gesehen hatten. Der Blick aus den ebenfalls schwarzen Augen schien zu glühen und Max’ eigenen Blick so fest zu umklammern, dass beider Augen für einige Sekunden miteinander verschmolzen.
Max versuchte verzweifelt, seine Augen aus diesen Fesseln zu befreien, doch war es der fremde Junge, der seinen Blick abwandte und dann die wohl sortierten Unterlagen auf seiner Bank anstarrte, so als hätte es den vorangegangenen Blickkontakt niemals gegeben.

Er ist der Zigeunerjunge auf dem letzten Gemälde meiner Mutter!

Der Junge, dessen Foto er auf dem Laptop seiner Mutter gesehen hatte und mit dem er sich vor etwas mehr als drei Jahren hatte anfreunden wollen.
„Unmöglich!“, funkte eine andere Stimme in seinem Inneren dazwischen. „Wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, ihm hier in diesem Nest zu begegnen?“
Max tastete sich mit seinen Augen erneut an das Gesicht des Jungen heran, dieses Mal darauf bedacht, einen erneuten Blickkontakt zu vermeiden. Der Junge lauschte jetzt der Lehrerin und schrieb irgendetwas ins vor ihm liegende Heft.
Max’ Blick tastete sich etwas mutiger voran und begann, jeden Zentimeter dieses Gesichtes mit dem Porträt des Zigeunerjungen, das sich vor seinem inneren Auge materialisierte, zu vergleichen. Die niedliche Traurigkeit des Porträts war jugendlichen Zügen gewichen, der Schatten eines Bartflaums schwärzte den Bereich über den Lippen. Aber dieselben melancholischen Züge zeichneten das Gesicht. Die Augen des Jungen wären zweifellos dieselben wie auf dem Gemälde, würden sich kleine Tränen in ihren Winkeln verstecken. Er wirkte wie ein orientalischer Märchenprinz, der sich aus Versehen an diesen Ort und in diese Zeit verirrt hat. Jäh hob der Junge seinen Blick und buchstäblich im letzten Moment flutschten Max’ Augen in eine andere Richtung.

Cosmin

„Hey Tziggi!“
Ein paar Schritte von der Eingangstür zur Schule knallte eine Hand auf Cosmins Schulter.
Cosmin spannte jeden seiner Muskeln, um das Gleichgewicht zu halten. Allein der Gedanke, hier gleich am ersten Schultag vor aller Augen zu stolpern oder gar auf dem Pflaster des Vorplatzes der Schule zu landen, trieb ihm kalten Schweiß auf die Stirn. Er wandte sich mit ausdruckslosem Gesicht um.
„Anton! Wie waren die Ferien?“, fragte er, ohne ein Interesse an der genuschelten Erwiderung auch nur zu heucheln. Er blickte kurz in das feiste Gesicht des Jungen neben ihm. Bartstoppeln zierten das vorspringendes Kinn. Die kleinen Schweinsäuglein musterten ihn herablassend und Cosmin wollte lieber nicht darüber nachdenken, welch widerliche Gedanken im Hirn hinter diesen Augen lauerten, gepaart mit Hinterlist und Boshaftigkeit. Viel gefährlicher als Trampel Anton war Chris, der einen Schritt hinter Anton das Schulhaus betrat. Mit seinem glatten und gepflegten Gesicht sah er aus, als wäre er einer Rasierwasser - Reklame entstiegen und der bullige Oberkörper schien vor Kraft zu strotzen. Chris würdigte Cosmin keines Blickes. Aber spätestens, wenn in Mathe, Physik oder Chemie Hausaufgaben anstanden, würde sich das ändern. Immerhin kostete es Cosmin keine zusätzliche Zeit, Chris und die anderen Kerle in dessen Clique seine Hausaufgaben abschreiben zu lassen. Im Gegenzug hatte er halbwegs Ruhe vor diesen Kerlen, wenn man mal von erträglichen Hänseleien absah. Sie nannten ihn „Tziggi“, was genauso abwertend klang wie Zigeuner.
Im Klassenraum besetzten Anton und Chris umgehend eine der letzten freien Bänke in der zweiten Reihe. An der Nachbarbank fläzte Michel, ein eher unauffälliger, pummeliger Bursche mit bleichem Gesicht.
Anton trat grob gegen Michels Stuhl.„Verzieh dich, Blödmann!“, blaffte er und wandte sich Cosmin zu, der bereits begonnen hatte, Hefte und Stifte auf einer Bank in der ersten Reihe auszubreiten. „Tziggi! Du sitzt hier neben uns, klar?!“
Cosmin fühlte sich, als wäre er vor der gesamten Klasse geohrfeigt worden. In Sekundenschnelle wägte sein heller Verstand ab, wie er auf Antons gebrüllte Erniedrigung reagieren könne. Ignorieren? Ablehnen? Anton, Chris und andere Kumpane der beiden würden ihm das neue Schuljahr zur Hölle machen. Zähneknirschend sammelte Cosmin den auf der Schulbank ausgebreiteten Kram ein. Ohne aufzublicken spürte er, dass an die zwanzig Augenpaare verfolgten, wie er zur Bank neben Chris und Anton trottete. Ebenso wenig entging ihm, wie sehr vor allem Anton die Szene genoss und sich in seiner vermeintlichen Macht über andere sonnte.
Mit dem Schrillen der Klingel betrat Frau Dr. Meyer, die Mathe - und Physiklehrerin der Klasse, den Raum.
Cosmin seufzte. Er mochte die junge Klassenlehrerin und verfluchte sich innerlich dafür, dass er die Bank vor dem Lehrertisch aufgegeben hatte.
Als erstes informierte Dr. Meyer die Klasse, dass sie einen neuen Mitschüler erwartete und begann anschließend, den Stunden- und Raumplan für das neue Schuljahr zu erläutern.
Ein forsches Klopfen unterbrach ihre Ausführungen.
Sofort erstarb das Gemurmel im Raum, zwei Dutzend Augenpaare richteten sich auf die Tür.

„Herein!“

Cosmin schaute eher desinteressiert auf, doch kaum hatte er den Neuen erblickt, weiteten sich seine Augen und für einen Moment schien sein Herzschlag auszusetzen. Mit Schritten, die Eleganz und Kraft eines Panthers in sich vereinigten, betrat der Junge den Raum. Er schien mit seinen Augen die Lehrerin abzutasten. Zugleich hielten vermutlich sämtliche Mädchen der Klasse den Atem an. Kein Wunder! Das lange blonde Haar dieses Jungen schien bei jeder seiner Bewegungen mitzuschwingen, und jede Pore des Gesichtes verströmte Selbstsicherheit, Draufgängertum und eine Überlegenheit, die merkwürdigerweise nicht mit Arroganz gepaart war. Ein Hauch von Neid wehte durch Cosmins Gedanken beim Anblick der muskulösen Arme. Auch das Shirt verriet mehr von den darunter liegenden Muskelsträngen, als es verbarg. Gäbe es Engel, dann würden sie wohl aussehen wie dieser Junge.

Er ist wunderschön!

Cosmin hätte nicht geglaubt, dass er so etwas je über einen anderen Jungen denken würde, aber ihm fiel kein passenderes Wort ein, um das Aussehen des Jungen zu beschreiben. Und was für Cosmin völlig unbegreiflich war, er überlegte, wie es wäre, diesen Jungen als Freund zu haben. Aber sofort verwarf er den Gedanken. Der Neue sah nicht aus, als würde er sich mit Losern und Schwächlingen abgeben.
Einen Moment lang fragte sich Cosmin, wie sich dieser Junge bei den Mädchen anstellte. Gewiss wäre er aus einem Nest wie Porumbita nicht als Vorverlobter heimgekehrt.
Wie alle anderen im Raum spitzte auch Cosmin die Ohren, als Frau Dr. Meyer den Jungen bat, sich vorzustellen.
„Ich bin Maximilian Weller. Ihr könnt mich Max nennen!“

Das war alles?

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, steuerte dieser Max die zweite Bankreihe an. Für einen Moment blitzte in Cosmin die Hoffnung auf, dass Max den freien Platz an seiner Schulbank wählen würde und sie vielleicht doch Freunde werden würden. Stattdessen nahm er auf dem Stuhl neben Michel Platz.
Noch immer richteten sich die Blicke aller Mitschüler auf Max, der nun seinerseits begann, seine neuen Klassenkameraden zu mustern.
Gerade als Cosmin seinen Blick abwenden wollte, geschah das Unbegreifliche.
Wie zwei Speere stach plötzlich Max’ Blick in seine Augen und im selben Augenblick wich jegliche Farbe aus dem Gesicht des Neuen; Fassungslosigkeit und Unglauben breitete sich aus, wo eben noch Selbstsicherheit und der Ausdruck gelassener Überlegenheit gewohnt hatten.
Es schien, als hätte Max einen Geist gesehen.
Cosmin begriff nicht, wie sich ihre Blicke ineinander hatten so verknoten können, dass er mehrere Sekunden brauchte, um sich aus den Fesseln von Max’ Augen zu befreien. Völlig verwirrt versuchte er, den Blick auf den vor ihm liegenden Schreibblock zu heften. Er war sicher, dass er und dieser Max sich noch nie begegnet waren, doch in dessen Augen hatte Cosmin etwas anderes gelesen.
Aber was?
Wiedererkennen? Das war unmöglich!
Was noch rätselhafter war: Cosmin hatte gespürt, dass in Max’ Blick kein Erschrecken, keine Ablehnung mitgeschwungen hatte, eher so etwas wie Freude. Ein Gefühl vielleicht, das jemand empfindet, der nach langem Suchen eine (geliebte?) Person wiederfindet?

Unsinn!

Es gab nur eine Erklärung. Dieser Max verwechselte ihn mit jemanden, den er vielleicht viele Jahre nicht gesehen hatte.
Nichtsdestotrotz notierte er sich den Namen des Neuen. „Maximilian Weller“. Vielleicht würde er herausfinden, was Max bei seiner knappen Vorstellung weggelassen hatte.
Obwohl Cosmin weiter auf sein Blatt starrte und versuchte, sich auf Frau Dr. Meyers Ausführungen zu konzentrieren, verspürte er das merkwürdige Prickeln, das man fühlt, wenn man von einer anderen Person beobachtet wird. Cosmin strich sich ein paar seiner schwarzen Zotteln ins Gesicht und riskierte in ihrem Schutz einen weiteren Blick nach links. Max’ Gesicht war wie das eigene Gesicht hinter einer Gardine versteckt, nur dass dessen Gardine blond war. Er beschloss, vorläufig jeden weiteren Blickkontakt zu vermeiden. Dieser Max würde es irgendwann wahrscheinlich selber herausfinden, dass er die falsche Person mit den Augen verschlang.

Max

Tatsächlich aber hatte Max sich wieder im Griff. Solange er nicht sicher war, dass seine Mutter vor ihrem Tod diesen braunhäutigen Jungen porträtiert hatte, würde er ihn wie jeden anderen seiner neuen Mitschüler beobachten und einordnen. Insgeheim jedoch verspürte er den Wunsch, sich mit diesem Jungen anzufreunden. Er versuchte, den durch einen Vorhang aus blonden Haaren versteckten Blick von dem braunhäutigen Jungen zu lösen. Was er im Moment am wenigsten gebrauchen konnte war, dass der Junge sein Interesse missverstand.
In der Hofpause nach der ersten Doppelstunde schlenderte Max zur Kletterwand. Eine kniehohe Mauer säumte das Kiesbett darunter; sie bot eine ausgezeichnete Sitzgelegenheit. Fünf Jungen aus der Elften oder der anderen Zwölften hatten es sich dort bereits gemütlich gemacht. Ihr Gespräch verstummte, als Max an die Mauer herantrat. Er nickte ihnen einen stummen Gruß zu und ohne auf eine Erwiderung zu warten, studierte er die Routen an der Wand. Sie waren eher für Anfänger oder mittelmäßige Kletterer gedacht, ließen sich aber etwas schwieriger klettern, wenn man auf einige der Griffe verzichtete.
Anschließend schaute er auf die Mauer vor ihm. Dort saß ein magerer Junge mit einer Hornbrille, deren Rahmen die selbe Farbe hatte wie das braune Wuschelhaar. Dessen Nachbar, ein kräftig gebauter Bursche mit mehreren blondierten Haarsträhnen, ließ seinen Blick über Max’ Oberarme schweifen und zog den Jungen näher an sich heran, sodass Max sich mit auf die Mauer setzen konnte.
Von seinem neuen Sitzplatz aus hatte er einen guten Überblick über den Pausenhof der Schule. Die besten Plätze waren offenbar die Betoneinfassungen von etwa einem Dutzend Koniferen. Auf einer der hüfthohen Einfassungen lümmelten auch mehrere seiner neuen Mitschüler, von denen er annahm, dass sie in der Klasse den Ton angaben. Max spähte durch den Vorhang aus blonden Haaren.

Wo steckt der Zigeunerjunge?

Max durchpflügte mit den Augen das Gewimmel auf dem Pausenhof und erblickte ihn neben dem Ausgang zum Pausenhof, wo er an der Hauswand lehnte. Die schwarzen Zotteln verbargen dessen Augen. Max grinste in sich hinein.

Wie es scheint, haben wir dieselbe Angewohnheit.

Max hätte zu gern gewusst, nach wem der Bursche Ausschau hielt. Hatte er sich ein Mädchen ausgeguckt? Max konnte sich vorstellen, dass besonders jüngere Mädchen auf diesen hübschen Kerl flogen.

Bis zum Ende der letzten Stunde des ersten Schultages hatte Max beim Studium seiner neuen Mitschüler gute Fortschritte gemacht. Er wusste inzwischen, dass mindestens neun von den zwölf Mädchen der Klasse ihm geradezu sehnsuchtsvolle Blicke hinterher warfen. Allerdings sah umgekehrt die Sache mit den Mädchen nicht ganz so erfreulich aus. Zumindest war eine Liebe auf den ersten Blick ausgeblieben und das würde sich wohl auch nicht beim zweiten Blick ändern.
Auch hatte Max den Namen des braunhäutigen Jungen erfahren: Cosmin. Ein seltsamer Name, aber als Berliner war Max weit seltsamere Namen gewohnt.
Er bedauerte zutiefst, dass der Zufall ihn in der ersten Stunde nicht auf den freien Platz neben Cosmin geführt hatte. Zumal der Junge offenbar Probleme mit den Kerlen an der benachbarten Schulbank hatte. Freilich war es jetzt zu spät, den Platz zu tauschen.
Über eine eine Frage hatte sich Max jedoch den Kopf vergeblich zerbrochen:
Wie konnte er herausfinden, ob Cosmin der Zigeunerjunge auf dem letzten Gemälde seiner Mutter war?

Cosmin

Nach dem Ende des ersten Schultages trottete Cosmin wie immer allein und in Gedanken versunken über den Marktplatz, ohne das Gejohle und Gelächter der anderen Schüler, die um diese Zeit das Stadtzentrum bevölkerten, zu beachten. Hinter dem Rathaus bog er in eine Gasse ab, die direkt in ein Plattenbauviertel führte. Es war Cosmin nicht entgangen, dass Max eher unauffällige, aber dennoch teure Markenklamotten trug. Ganz gewiss wohnte Max nicht in so einem schäbigen Plattenbau wie er, zusammen mit seinem Vater.
Zu Hause angekommen, durchforstete Cosmin als erstes den alten Kühlschrank nach etwas, das sich als schnelles Mittagsmahl eignete und erstellte beim Anblick der halbleeren Fächer in Gedanken eine Einkaufsliste.
Er fand ein paar Würstchen, die ihr Mindesthaltbarkeitsdatum bereits hinter sich hatten und erhitzte sie in der Mikrowelle.
Während er sie kurz darauf am Küchentisch hinunterschlang, wischten die Finger seiner Linken über das Display des Handys. Er zappte sich durch unzählige „Maximilian Weller“ - Fotos, doch keines davon hatte auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit seinem neuen Mitschüler. Offenbar legte - anders als Cosmin es vermutet hatte - dieser Max keinen Wert darauf, sich auf Facebook oder Instagram der Welt zu präsentieren.
Erst auf der Webseite einer Berliner Zeitung wurde er fündig. In einem kurzen, mehr als drei Jahre alten Artikel berichtete sie über einen Kampfsportverein. Einer der in Sportsachen gekleideten Jungen, die auf einem kleinen, unter dem Artikel geposteten Foto abgebildet waren, konnte durchaus Max sein. Allerdings hatte der Junge auf dem Foto einen kahl rasierten Kopf, sah man von einem blonden Streifen auf dem Scheitel ab.
Cosmin brach die Suche ab. Ohnehin würde Max schon bald das Interesse an ihm verlieren.
Nach dem Mittagessen warf sich Cosmin in seinem Zimmer auf die Couch, verschränkte die Arme unter dem Kopf und starrte gedankenverloren die Zimmerdecke an. Immer wieder schien sich dort Max’ völlig entgeistertes Gesicht zu materialisieren. Cosmin fragte sich, wer wohl der Junge sein mochte, mit dem Max ihn verwechselt hatte.

Als Cosmin am Abend mit seinem Vater am Küchentisch saß und sich Maisbrei auf den Teller schaufelte, bimmelte das Handy in seiner Hosentasche. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die unbekannte Nummer.
„Hallo!“
„Cosmin, bitte leg jetzt nicht auf!“, tönte eine Frauenstimme aus dem Handy. Cosmin hätte sich am liebsten geohrfeigt. Seine Mutter musste geahnt haben, dass er ihren Anruf ignorieren würde und rief mit einem anderen Handy an.
„Was willst du?!“, fragte er und bemerkte, dass sich sein Vater versteifte.
„Ich bin am Wochenende mit meinem Mann in Leipzig und wir könnten nach Wurzen kommen, um uns mit dir zu treffen. Mein Mann, dein Stiefvater, er würde sich wirklich freuen, dich…“
„Ich hab dir doch schon vor ein paar Wochen gesagt, dass ich nicht interessiert bin“, fiel er ihr ins Wort. "Außerdem hab ich was vor am Wochenende.“
Sie erwiderte etwas, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Mutter, ich sitze mit Papa beim Abendbrot, ich habe jetzt keinen Bock auf telefonieren.“
Ohne einen Abschiedsgruß beendete er das Telefonat. Sein Vater hatte sich erhoben und streichelte Cosmins glühende Wange.
„Sie ist deine Mutter, Junge. Ich verstehe, dass sie dich sehen möchte.“
„Tata, die hat auch dich sitzen lassen!“, erwiderte Cosmin mit bebenden Lippen. „Du müsstest sie dafür hassen!“
Sein Vater stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich rede nicht mehr mit ihr, aber ich hasse sie nicht. Sie hat mir ein Geschenk gemacht, auf das ich sehr, sehr stolz bin.“
„Ach ja! Und was soll das für ein Geschenk sein?“
„Cosmine, Du bist das Geschenk.“

Max

Nach dem Ende des Schultages tauchte Max mit seinem Rad im Gewimmel der Schülerscharen auf dem Marktplatz unter und es gelang ihm, Cosmin im Auge zu behalten, ohne dass der es bemerkte. Kein Wunder, Cosmin schien beim Gehen nur Augen für die eigenen Füße zu haben. Max verfolgte ihn, bis Cosmin hinter dem Rathaus in eine Gasse abbog, die in ein nahes Plattenbauviertel führte. Wie es schien, hauste Cosmin mit seinen Eltern in einem der grauen Betonklötze.

Das Leben ist ungerecht, Cosmin hätte Besseres verdient als dieses armselige Plattenbauviertel. Und dieser Lackaffe namens Chris wohnt mit seinen Eltern wahrscheinlich in einem schmucken Einfamilienhaus.

Freilich wohnte Max hier in Dessau auch nicht gerade in bescheidenen Verhältnissen. Nachdem er den weitläufigen Stadtpark durchquert hatte, erreichte er die Straße, die an ehemaligen Fabrikantenvillen mit parkähnlichen Grundstücken vorbeiführte. In einer dieser prachtvollen Villen wohnte seine Großmutter.
Großmutter Lisa saß an ihrem Computertisch, als Max an diesem Nachmittag nach Hause zurückkehrte und das Wohnzimmer betrat. Sie wischte einen Stapel mit irgendwelchen Steuerabrechnungen von der Tastatur und erhob sich, um Max zu begrüßen.
Max’ Oma mochte zwar die 60 überschritten haben, doch die Jahre hatten es nicht geschafft, die frühere Schönheit aus ihrem Gesicht zu tilgen. Max hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie seine Oma es fertig brachte, schon morgens perfekt frisiert am Frühstückstisch zu sitzen. Zudem glänzte sie mit einer Figur, um die sie wahrscheinlich viele Frauen in den Zwanzigern beneideten. Er vermutete, dass sie einige der Geräte auf dem als Fitnessraum genutzten Dachboden auch für sich selber gekauft hatte.
„Und mein Junge, die Schule? Wirst du dich dort einleben?“, fragte sie, während sie ihn in ihre Arme nahm. In ihrer Stimme schwang die Sorge mit, er könne nach den ersten Schultagen seine Sachen packen und frustriert das Weite suchen.
Max ertrug die Umarmung nicht nur, er erwiderte sie sogar. Zum einen fühlte es sich ein bisschen so an, als würde er in den Armen seiner Mutter liegen. Zum anderen spürte er, dass die Oma nicht nur ihn umarmte, sondern auch ihre Tochter, seine Mutter.
„Ich krieg’ das hin, Omi“, versicherte er ihr und löste sich behutsam aus ihren Armen. Der Duft gebackenen Käses lockte seinen leeren Magen, doch etwas zog ihn noch mehr an als ein knuspriger Auflauf.
Er eilte zur Tür, die in ein das Zimmer mit den Gemälden seiner Mutter führte. Max fühlte, wie sich seine Innereien verkrampften, als sein Blick auf das Bildnis des Zigeunerjungen fiel.

Er ist es!
Mein Gott, wie zum Geier kommt dieser Cosmin auf das letzte Gemälde meiner Mam???

Seine Mutter war vor etwas mehr als drei Jahren gestorben. Also war der Cosmin auf dem Gemälde etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt.
Er trat noch näher heran, um jede Einzelheit dieses Gesichtes in sich aufzunehmen.
Die schwarzen Zotteln des Jungen auf dem Gemälde waren etwas kürzer, aber auch ihnen sah man an, dass sie noch nie einen Kamm gesehen hatten, geschweige denn einen Frisör. Vielleicht gab es irgendetwas, das nur dieses Gesicht hatte, ein Muttermal vielleicht oder… natürlich! Leberflecken, sie sind so einzigartig wie Fingerabdrücke.
„Max?“
Die Oma tätschelte seine Schulter. Sie wusste zwar, dass das Gemälde für ihn etwas besonderes war, zumal er seiner Mutter bei der Arbeit an dem Gemälde oft genug zugeschaut hatte. Aber vermutlich beunruhigte sie sein plötzliches, geradezu zwanghaftes Interesse.
„Komm, das Essen wird kalt.“
„Eine Sekunde, Omi!“
Max’ Nase war nur noch wenige Zentimeter von der rauen Oberfläche des Gemäldes entfernt. Falls der Junge Leberflecken hatte, dann waren sie von der dunklen Hautfarbe gut getarnt. Doch dann entdeckte er etwas auf dem linken Ohrläppchen, das hinter den schwarzen Zotteln hervorlugte. Seine Mutter hatte dort ein kleines Mal gezeichnet. Es mutete wie ein versehentlicher Pinselstrich mit einem etwas helleren Braun an und erinnerte an ein nach hinten weg kippendes L, vielleicht einen Zentimeter lang. Max stieß den angehaltenen Atem aus und wandte sich zu seiner Oma um, die ihn stirnrunzelnd musterte. „Okay, alles klar, Omi! Lass uns was futtern!“

  1. Er ist es!

Max

Auch zwei Tage später, am Mittwoch,wusste Max noch nicht, ob Cosmin tatsächlich der Junge auf dem letzten Gemälde seiner Mutter war. Die dichten Haare des Jungen versperrten meistens den Blick auf die Ohren und wenn auf dem Pausenhof der Wind die Zotteln mal etwas beiseite pustete, war Max viel zu weit entfernt, als dass er ein kleines Mal am Ohr hätte erkennen können.
Zudem hatte Max nicht vor, sich zum Affen zu machen, indem er einem Ohrläppchen hinterher lief. Ihm war weiterhin aufgefallen, dass auch Cosmin einen erneuten Blickkontakt vermied. Aber das betraf nicht nur ihn. Die einzigen Leute, mit denen Cosmin Blicke oder gar Worte wechselte, waren die Lehrer.
In der zweiten Doppelstunde am Mittwoch stand Sport im Freien auf dem Unterrichtsplan. Vielleicht ergab sich ja während der Turnübungen die Gelegenheit, heimlich die Ohrläppchen - Erforschung wieder aufzunehmen…

Max betrat als letzter den Umkleideraum der Jungen. Der Geruch nach Schweiß und ungewaschenen Socken schlug ihm entgegen. Links neben der Tür stiegen Anton, Chris, Cem - ein Türke mit stämmigen, dicht behaarten Beinen und Richard, ein rattengesichtiger Kerl mit der Figur einer Bohnenstange in ihre Sportklamotten und schütteten sich dabei über irgendwelche dämlichen Witze aus. In der linken Ecke vor ihm quatschten vier Jungen pausenlos über ihre Mopeds, während sie sich umzogen. Rechts daneben sah er Michel und einen Typen, von dem Max nur wusste, dass der Norman hieß und außerhalb der Schule ständig mit einer Gitarre herumlief. Und in der rechten Ecke, so weit wie nur möglich von Anton und den anderen drei Heinis entfernt, streifte sich Cosmin - noch immer in seinen Straßenklamotten - die Schuhe von den Füßen.
Max warf seinen Rucksack auf die Bank rechts von der Tür und schlüpfte aus seinen Klamotten. Das Gelächter der vier Jungen ihm gegenüber erstarb.
Ja, glotzt nur!, grinste Max in sich hinein und gestatte ihnen einen Blick auf den entblößten Oberkörper.
Inzwischen hatte sich Anton an der Tür postiert. Außerdem bemerkte Max, dass Cosmin offenbar zögerte, aus seinen Jeans zu steigen.
Oh Mann! Der Junge ist ja völlig verklemmt!, fuhr es Max durch den Kopf.
„Hey Tziggi! Zeig uns mal dein braunes Zigeunerschwänzchen!“, grölte Anton und erntete brüllendes Gelächter seiner Kumpel sowie betroffenes Schweigen der anderen Jungen.
Max erstarrte und spürte wie Wut jede seine Adern flutete.
Scheißkerl!, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Er verstaute Rucksack und Straßenklamotten in einem der Schließfächer, ohne dass er sich seine Wut anmerken ließ.
Dann schlenderte er gemächlich zur Tür.
„Platz da, Schwanzgesicht!“, blaffte er Anton an, der plötzlich aussah, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Noch bevor Anton zur Seite treten konnte, rammte ihn Max derart heftig mit der rechten Schulter, dass es Anton von den Füßen riss und er geradewegs in die Arme seiner drei Kumpel krachte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder sich umzublicken schlenderte Max aus dem Raum.

Cosmin

Wie immer grauste es Cosmin vor dem Umziehen im Umkleideraum der Schulturnhalle. Zum einen lag das an dem penetranten Geruch nach Schweiß und ungewaschenen Männerfüßen. Aber es gab auch noch einen anderen Grund. Und das war dieses anzügliche Freundschaftsangebot, das ihm der Trampel Anton vor einem Jahr gemacht hatte. Er konnte Antons verstohlene Blicke so deutlich fühlen wie Nadelstiche, die nur darauf zu warten schienen, dass er Bauch und Beine entblößte. Aus den Augenwinkeln und versteckt hinter schwarzen Zotteln spähte er in Max’ Richtung. Max zog sich das Unterhemd über den Kopf und erneut blieb Cosmin die Luft weg. Max stellte einen flachen, von Muskelsträngen durchzogenen Bauch zur Schau.
Für einen Moment fragte sich Cosmin, wie es sich anfühlen würde, mit den Fingern die Muskeln nachzuzeichnen. Im nächsten Moment wischte er beinahe schon erschrocken diesen Gedanken aus seinem Kopf.

Hab ich jetzt genauso geguckt wie dieser Trampel Anton mich anglotzt?

Ihm fiel auf, dass auch die anderen Jungen Stielaugen ausfuhren, was ihn etwas beruhigte. Cosmin zog sich das Shirt über den Kopf.

„Hey Tziggi! Zeig uns mal dein braunes Zigeunerschwänzchen!“

Cosmin fühlte sich, als hätte ihm jemand Jauche ins Gesicht gekippt. Für einige Sekunden war er wie gelähmt und verharrte reglos, der Kopf steckte noch zur Hälfte im Shirt. Ein Tornado aus Wut und Scham fegte durch seine Stirn, Gedanken wirbelten durcheinander. Sollte er Antons Beleidigung ignorieren und wie ein Verlierer, ein totaler Loser dastehen? Oder sich wehren und dabei eine Prügelei riskieren? Gegen Anton allein hätte er vielleicht eine Chance, aber er würde es mit der gesamten Clique zu tun bekommen. Cosmin zerrte sich das Shirt vom Leib und warf es neben sich. Er schnellte von der Bank hoch, um sich auf Anton zu stürzen, doch in diesem Moment blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Vor seinen Augen verpasste Max dem Kerl einen derart wuchtigen Stoß mit der rechten Körperhälfte, dass Anton in die Arme seiner Kumpane segelte.
Und dann verließ Max den Raum, als wäre nichts passiert.
Cosmin sah, dass Anton und Cem Max hinter stürzen wollten, doch Chris hielt sie zurück.
„Nicht jetzt!“, zischte er. Dann verließen die vier Kumpane den Raum.
Cosmin wandte sich zur Bank mit seinen Sportsachen um und begann hastig seine Straßenkleidung auszuziehen.
„Wahnsinn!“, hörte er Michel neben sich keuchen.
Wahnsinn!, das fand auch Cosmin. Max hatte mit einer Drehung seines Körpers Antons gesamtes Gewicht angehoben und dem Burschen das Fliegen beigebracht. Während sich Cosmin die Sportsachen überstreifte, grübelte er darüber nach, welche Motive Max für einen derart gewalttätigen Angriff gehabt haben könnte. Hatte Max ihm helfen wollen? Oder hatte er den Vieren einfach nur gezeigt, wer ab sofort das Sagen in der Klasse haben würde.

Was bist Du, Max, Freund oder Feind?

Die Jungen der Klasse standen bereits in einer Reihe an der Aschenbahn des Sportplatzes, deren Oval ein Fußballfeld umschloss, als Cosmin sich zu ihnen gesellte. Der Sportlehrer Herr Recke, ein durchtrainerter, kahlköpfiger Mann in den Vierzigern, nahm keine Notiz von seiner Verspätung. Er schien nur Augen für Max zu haben.
„Ich habe dich letzte Woche in der Kletterhalle gesehen, du hast dort das Dach durchstiegen, eine Acht Minus, oder?“
„Neun Plus, wenn man nur die gelben Griffe nimmt“, erwiderte Max beinahe gelangweilt. Der Sportlehrer stieß einen leisen Pfiff aus.
„Mit den anderen Griffen schaffe ich das Dach, aber nur die gelben…“, Herr Recke ließ einen Blick über Max’ Arme und Beine gleiten und wandte sich dann an die anderen Jungen.
„Planänderung für heute, Männer. In der ersten Stunde lockere Ausdauer und Erwärmung hier auf der Aschenbahn. In der zweiten Stunde geht es ab in die Halle. Dort dürft ihr am Reck zeigen, was ihr drauf habt.“

Cosmin war zwar keine Sportskanone, aber zwanzig Minuten lockeren Dauerlaufs in der ersten Stunde brachten ihn ebenso wenig ins Schwitzen wie die anschließenden Dehnungsübungen. Während des Dauerlaufs blickte er immer wieder zur Begrenzungsmauer des Sportplatzes, wo ein Teil als etwa sieben Meter hohe Kletterwand genutzt werden konnte. Herr Recke stand am Fuß der Wand und schaute Max zu, der dort bestimmt zum fünften Mal zur Mauerkrone hangelte und Seile in die Umlenkrollen einfädelte. Auch wenn der Fuß der Wand mit einem Kiesbett gepolstert war und Herr Recke die Hände gehoben hatte, als wolle er Max im Falle eines Sturzes auffangen, begriff Cosmin nicht, wieso der Sportlehrer einem Schüler eine solch riskante Kletterei an einer senkrechten Wand ohne jegliche Sicherung gestattete.
Auch Herrn Reckes bisheriger Liebling Chris schaute während der Lauferei auf der Aschenbahn immer wieder zur Kletterwand und mit jeder Runde schien sein Gesicht länger zu werden.
In der Pause zwischen den Sportstunden führte Herr Recke die Jungen in die Turnhalle, wo die Mädchen der Klasse Volleyball spielten. Herr Recke ließ die Jungen im Halbkreis um das Reck antreten und zückte ein Notizbuch.
„Also Männer, zuerst lassen wir es locker angehen. Ich will von jedem zwanzig Liegestütze sehen. Dann tun wir was für eure schlaffen Bäuche und danach Leistungskontrolle im Klimmziehen. Fünfzehn für eine Eins, elf für eine Zwei und mindestens sieben für eine Drei. Alles klar?“
Irgend jemand murmelte etwas von einer Vier, aber Herr Recke überhörte die Frage.
Die erste Hälfte der zweiten Stunde verging mit Liegestützen und Übungen an der Sprossenwand. Cosmin bemerkte, dass Chris bei jeder Übung Max argwöhnisch beobachtete. Offenbar befürchtete er, Max könne ihm den Rang als Sportskanone der Klasse streitig machen, zumal Max jede der Übungen mit verblüffender Leichtigkeit absolvierte.
Danach versammelte Herr Recke die Jungen erneut am Reck und holte die Mädchen der Klasse hinzu, die die Jungen bei der Leistungskontrolle anfeuern sollten.
Er nickte Chris zu. „Du legst vor. Dann ist Michel dran, dann Cem, Cosmin und Max. Und dann… sehen wir weiter. Los jetzt Chris, ich will mindestens zwanzig sehen.“
Cosmin bemerkte, dass sich Chris und Max ein Blickduell lieferten, wobei Max auf das zur Faust geballte Gesicht von Chris mit einem schiefen Grinsen reagierte. Bei diesem Duell war Max der klare Sieger.
Cosmin drückte insgeheim Max beide Daumen. Würde Max auch das Duell am Reck gewinnen?
Chris rubbelte kurz an seinen Oberarmen, dann legte er unter den Anfeuerungsrufen einiger Mädchen 24 Klimmzüge vor, ehe er beim 25. Klimmzug die Stange nur noch mit der Nasenspitze berührte.
Bei Michel hingegen blieben Anfeuerungsrufe aus. Er rutschte bereits beim dritten Klimmzug von der Stange. Cem schaffte eine Eins, beim fünfzehnten Klimmzug halfen ihm die vielstimmige Anfeuerung der Mädchen und seiner Kumpane, das Kinn mit Ach und Krach über die Reckstange zu hieven…
Dann griff Cosmin nach der Stange. Und zum ersten Mal seit zwei Tagen begegnete er Max’ Blick. Max schien jede seiner Bewegungen zu analysieren. Vielleicht war Max’ Interesse an ihm doch noch nicht erloschen.
Nach dem achten Klimmzug fühlte Cosmin, dass ihn die Kräfte verließen. Er bemerkte, dass Max die Armmuskeln spannte, als würde er selber an der Stange hängen. Angetrieben von den vereinzelten Anfeuerungsrufen einiger Mädchen, doch vor allem angetrieben von Max’ flammenden Blicken schaffte Cosmin drei weitere Klimmzüge und damit zum ersten Mal überhaupt eine Zwei.
Dann schlenderte Max zum Reck, lockerte die eben noch angespannten Muskeln und griff mit der linken Hand nach der Stange. Sein Blick war jetzt auf Chris gerichtet. „Vierundzwanzig?“, fragte er mit einem spöttischen Grinsen und zog sich mit einer Leichtigkeit nach oben, dass sogar Herr Recke den Mund sperrangelweit aufklappte.
Ein Raunen ging durch die Reihen der Zuschauer. Ein vielstimmiger Chor aus „Oh’s“ und „Ah’s“ begleitete Max’ Vorführung, bis er sich nach fünfundzwanzig einhändigen Klimmzügen von der Stange rutschen ließ. Gleich darauf packte er sie mit der rechten Hand.
„Vierundzwanzig, richtig?“, sagte Max und schenkte Chris erneut ein schiefes Grinsen. Inzwischen schien Chris Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten.
Wieder glitt Max erst nach dem fünfundzwanzigsten Klimmzug von der Stange. Mädchen und Jungen starrten ihn an, als hätte er einen völlig unmöglichen Zaubertrick demonstriert.
Max schien nun so richtig in Fahrt zu kommen. Er packte die Stange mit beiden Händen. „Jetzt versuche ich das mal beidhändig, Chrissi. Bitte sei so nett, und zähle mit.“
Wieder zog sich Max nach oben, doch nun sauste sein gesamter Oberkörper an der Stange vorbei, bis beide Arme oberhalb der Stange gestreckt waren. Chris zählte bei Max’ verlängerten Klimmzügen nicht mit, dafür aber fast die gesamte Klasse. Cosmin ertappte sich dabei, dass er ebenfalls zu zählen begonnen hatte.
Nach dem fünfundzwanzigsten Klimmzug glitt Max von der Stange und ging mit einer geradezu raubtierhaften Bewegung auf Chris zu. Doch ehe er Chris erreicht hatte, fuhr er mit einer blitzschnellen Bewegung zu Anton herum und schnappte nach Antons Wange. Anton quiekte vor Schmerz, als Max dessen Gesicht mit einem Zangengriff an sich heranzog. „Du bist dran, Schwanzgesicht!“

Als sich die Jungen nach der Sportstunde wieder umzogen, bemerkte Cosmin, dass es Max anders als Chris und seine Kumpane nicht besonders eilig zu haben schien. Schließlich befanden sich außer ihm und Max nur noch Michel und Norman im Raum.
Plötzlich war Cosmin klar, weshalb Max trödelte.

Er will mit mir reden!

Seit zwei Tagen fragte sich Cosmin, mit wem ihn Max verwechselt haben könnte. Würde er es jetzt erfahren? Insgeheim hoffte er, dass einem Gespräch nicht nur ein weiteres Gespräch folgen, sondern sich auch eine Freundschaft entwickeln würde. Inzwischen wusste Cosmin nicht einmal mehr, wie es sich anfühlte, mit jemandem befreundet zu sein. Der letzte Freund, an den er sich erinnerte, war Martin. Mit ihm hatte er die Bank in der Grundschule geteilt und ihn später aus den Augen verloren. Zudem schien von Max eine geradezu unheimliche Anziehungskraft auszugehen. Cosmin hatte sich inzwischen einige Male dabei ertappt, dass er Max verstohlene Blicke zuwarf, die Augen versteckt hinter einer Gardine aus schwarzen Zotteln.
Doch es kam anders als er es sich erhoffte.
Gerade als Cosmin an den Schnürsenkeln seiner Schuhe fummelte, tauchte Max vor ihm auf. Ebenso blitzartig, wie er sich vor ein paar Minuten Antons Wange geschnappt hatte, griff Max in Cosmins Haare und zerrte das linke Ohr daraus hervor. Der Schock über diese völlig unerwartete Erniedrigung lähmte Cosmin, für einen Moment war er unfähig, sich auch nur zu rühren.
„Du bist es wirklich… Du bist der Zigeunerjunge!“, sagte Max leise.
Doch laut genug für Cosmin. Enttäuschung, Wut und Frustration explodierten in seinem Innersten, ließen alle Hoffnungen platzen wie Seifenblasen. Er wischte die Hand von seinem Ohr, sprang auf und versuchte Max von sich wegzustoßen.
„Begrapsch mich nicht!“, schrie er Max an. „Und ich weiß selber, dass ich Zigeuner bin. Und was? Soll ich auch dir mein braunes Zigeunerschwänzchen zeigen? Oder muss ich ab jetzt deine Hausaufgaben machen?!“
Cosmin blinzelte den Tränenschleier aus seinen Augen, schnappte Schulrucksack und Sportbeutel und stürmte aus dem Raum. Statt eines Freundes hatte er einen neuen Peiniger gefunden!

Max

Max blieb wie ein begossener Pudel zurück. Alles hatte sich so gut entwickelt! Er hatte Chris’ Clique regelrecht zertrümmert. Nach der Attacke auf Anton schien es, als hätte er auch Cosmins Vertrauen gewonnen. Er hatte ihm jetzt die Sache mit dem Gemälde des Zigeunerjungen erklären wollen und er hatte tatsächlich eine kleine L - förmige Narbe am Ohrläppchen gesehen.
Hätte er etwa um Erlaubnis bitten sollen?

Hi! Darf ich mir mal dein Ohr angucken?

Aus den Augenwinkeln sah Max, dass nun auch Norman und Michel aus dem Raum flüchteten.
Max stieß eine Salve lautloser Flüche aus. Der Zufall hatte ihn zu dem Jungen geführt, dessen Bildnis er seit mehr als drei Jahren im Herzen trug und von dem er geglaubt hatte, dass sie sich nie begegnen würden. Und nun würde dieser Junge vielleicht nie wieder mit ihm reden. Inzwischen fand Max die tolle Nummer am Reck gar nicht mehr so toll…

Die zweite Schulwoche verstrich, ohne dass Max auch nur die Chance hatte, mit Cosmin zu reden und ihm zu erklären, warum er nach dem Ohr gegriffen hatte. Sobald sich Max näherte, funkelte Cosmin ihn an und die beiden glühenden, schwarzen Augen schienen ihm jedes Mal zwei Worte entgegen zu schleudern:
„Hau ab!“ oder „Verpiss dich!“
Irgendwann gab Max seine Annäherungsversuche auf und begnügte sich damit, Cosmin gelegentlich während der Unterrichtsstunden und während der Hofpausen zu beobachten, die Augen versteckt hinter einem dichten blonden Vorhang. Er hoffte darauf, dass sich irgendwann eine Gelegenheit ergeben würde, ihm das Missverständnis zu erklären.
Chris und seine Kumpel bedachten Max eine Zeitlang mit mörderischen Blicken. Max tat so als wären die vier Jungen Luft und gegen Ende der zweiten Schulwoche begannen ihre üblen Gewohnheiten gegenüber Mitschülern zurückzukehren.
In der Pause nach einer Mathestunde ließ sich Chris neben Cosmin auf den Stuhl fallen und klopfte ihm beinahe kumpelhaft auf die Schulter. Max bemerkte, dass Cosmin regelrecht versteinerte, während er seine eigenen Hände so heftig zu Fäusten ballte, dass die Knöchel weiß hervortraten. So sehr Max auch die Ohren spitzte, wegen des Gezwitschers der Mädchen an der Nachbarbank verstand er nur Wortfetzen. Chris wollte offenbar von Cosmin eine Lieferung der Hausaufgaben per WhatsApp.

Am Freitag der zweiten Schulwoche überraschte Frau Dr. Meyer in der Mathestunde die Klasse mit einer Kurzkontrolle. Es sollten Schnittpunkte oder Abstände von Geraden berechnet werden.
Die Kontrolle traf Max völlig unvorbereitet. Als die Lehrerin die Zettel einsammelte, reichte Max ihr ein leeres Blatt mit seinem Namen. Sie zögerte und musterte Max mit einem enttäuschten Blick, griff dann aber doch nach dem Blatt.
Max war nicht entgangen, dass Chris immer wieder auf Cosmins Lösungen geäugt hatte. Die Zettel von Chris und seinen Kumpanen waren garantiert nicht leer geblieben.

Ich wette, mich hättest du nicht abschreiben lassen!

Als Max am Nachmittag nach Hause kam, sah er, dass seine Oma nicht wie sonst an ihrem Arbeitstisch saß, um an ihren Steuerberechnungen zu arbeiten, sondern auf der Couch. Der Wohnzimmertisch vor ihr war übersät mit aufgeschlagenen Mathebüchern, Heftern und leeren Blättern.
„Was rechnest du denn da?“, fragte Max verblüfft.
„Komm her“, sagte sie und deutete auf den Platz neben sich. „Erkennst du das, was ich hier rechne?“, fragte sie, nachdem Max sich gesetzt hatte und schob ihm ein Blatt zu. Darauf kreuzten sich mehrere Geraden und darunter reihte sich eine Berechnung an die andere.
„Oh Shit, Frau Meyer hat dich angerufen?“
„Frau Dr. Meyer, aber ja. Sie hat angerufen. Sie empfahl mir, einen Nachhilfelehrer für dich zu finden.“
Max versteifte sich. „Vergiss es!“
Oma Lisa seufzte, dann legte sie ihre Hand auf seine Schulter. „Du hast so viel mit deiner Mutti gemeinsam.“
„Mam wollte auch keinen Nachhilfelehrer?“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Sie konnte genauso stur sein wie du. Ich war ihr Nachhilfelehrer. Und ab heute bin ich deiner…“

Cosmin

Am darauffolgenden Montag stand gleich in der ersten Doppelstunde Mathe auf dem Unterrichtsplan. Cosmin saß bereits auf seinem Platz, als Max kurz vor Stundenbeginn den Raum betrat, ohne irgend jemandem im Raum auch nur einen Gruß zuzunicken. Es gab immer noch ein paar Mädchen, die ihm mit ihren Blicken folgten, aber die meisten schienen sich damit abgefunden zu haben, dass Max so zugänglich wie ein Granitblock war.
Chris, Cem und Richard nahmen inzwischen kaum noch Notiz von Max und verhielten sich fast schon wieder wie vor jener Sportstunde. Allein Anton war deutlich stiller, wenn Max in der Nähe war.
Cosmin hatte angenommen, dass sich Max nun als Klassenboss aufspielen würde, doch seltsamerweise schien Max gar nicht daran interessiert zu sein.
Offenbar war es bei Max nicht ohne Wirkung geblieben, dass er sich gegen ihn zur Wehr gesetzt hatte. Max hatte seit dem Vorfall im Umkleideraum nicht wieder versucht, ihn als Zigeunerjungen zu beleidigen oder die Ohren lang zu ziehen.
Frau Dr. Meyer betrat den Raum und gleich nach dem Beginn der Stunde begann sie, die Kontrollarbeiten auszuteilen. Cosmin war es am Freitag nicht entgangen, dass Max einen leeren Zettel abgegeben hatte. Was freilich kein Wunder war, wenn er den größten Teil des Unterrichts damit verbrachte, den Kopf auf die Hand zu stützen und das Gesicht hinter seinen blonden Haaren zu verstecken.

Wen oder was starrt der bloß die ganze Zeit an?

Die Lehrerin gab sämtliche Arbeiten zurück, bis auf zwei.
Das eine Blatt war leer, abgesehen vom Namen des Schülers. Das andere Blatt war auf beiden Seiten bis zum letzten Winkel mit Skizzen und Berechnungen ausgefüllt.
Ein heißer Schreck durchfuhr Cosmin und brachte seine Ohren zum Glühen. Verdächtigte Frau Dr. Meyer ihn, dass er einen Spickzettel benutzt hatte und behielt deshalb seine Arbeit ein?
„Cosmin, ihr konntet die Abstandsformel für windschiefe Geraden aus dem Tafelwerk verwenden.“ Die Lehrerin wendete Cosmins Arbeitszettel und zeigte auf die Rückseite. „Aber du hast sie hier auch hergeleitet.“
Er konnte regelrecht fühlen, wie sich plötzlich mindestens zwanzig Augenpaare auf ihn richteten.
„Ich hatte noch etwas Zeit“, erwiderte er schwach.
„Bitte versuche mal, diese Herleitung allen anderen hier an der Tafel zu erklären.“
Cosmin hätte sich für seinen Übereifer am liebsten geohrfeigt. Er stemmt sich vom Stuhl hoch und trottete zur Tafel, als wäre er zur eigenen Hinrichtung unterwegs. Er dachte an den Heiratsantrag an Camelia, den er vor vierhundert Zuhörern hatte von sich geben müssen. Er hatte es irgendwie überstanden.
Erst recht werde ich eine simple Herleitung vor zwanzig Zuhörern überstehen, versuchte er sich selber Mut zu machen.
„Am besten, ich mache erst mal eine Skizze.“
Er begann, mit unterschiedlichen Farben Geraden, gestrichelte Linien und Pfeile an die Tafel zu zeichnen und versuchte sich vorzustellen, dass er allein im Raum war.
„Die weiße Gerade hier nenne ich jetzt g“, sagte er, warf einen Blick über die Schulter und traute seinen Augen nicht. Während fast die Hälfte der Klasse mehr oder weniger gelangweilt zur Tafel schaute, hatte Max seine Haare zurück geworfen und zeichnete Cosmins Tafelbild ab. „Die grüne Gerade nenne ich h…“, fuhr er fort und erklärte jeden Pfeil, jeden Strich und jeden Rechenschritt so, dass sogar ein geistiger Tiefflieger wie Max die Herleitung verstehen musste.
„Toll. Danke, Cosmin!“, sagte Frau Dr. Meyer, nachdem er seine Erläuterungen beendet hatte. Mit einem Lächeln drückte sie ihm beide Zettel in die Hand. Cosmin begriff nicht, wieso sie ihm auch Max’ leeres Arbeitsblatt gegeben hatte. Er wandte sich um und trat an Max’ und Michels Bank.
„Das soll ich dir geben, glaub’ ich“, sagte er zu Max, der mit einem nachdenklichen Gesicht zu ihm aufschaute. Fast schien es, als würde Max ihn ein bisschen bewundern.

Unsinn! Das bilde ich mir nur ein.

Cosmin legte das Blatt auf die Bank und warf einen schnellen Blick auf das Blatt daneben.

Unglaublich!

Max hatte tatsächlich alles mitgeschrieben. Sogar die Farben der Linien und Pfeile stimmten mit denen an der Tafel überein.

Max

Max verstand ebenso wenig, warum die Lehrerin Cosmin beide Zettel gegeben hatte. Er vermochte es nicht, seine Bewunderung für diesen merkwürdigen Jungen zu verbergen, als ihm Cosmin das leere Arbeitsblatt auf die Bank legte.
Zwar hatte sich Oma Lisa am Wochenende alle Mühe gegeben, ihm beim Lösen der Übungsaufgaben zu helfen. Aber er hatte sich bei ihren Erklärungen gefühlt, als wäre er begriffsstutzig. Bei Cosmins Vortrag hingegen hatte er jeden Rechenschritt nachvollziehen können.

Ich habe ihn zum ersten Mal reden gehört!

Und es hatte ihm gefallen, dieser Stimme zu lauschen.

Cosmin wäre der perfekte Nachhilfelehrer für mich!

In der vorletzten Unterrichtsstunde des Tages verteilte der Deutschlehrer Herr Schneider, der mit seinem schlohweißen Vollbart an den Weihnachtsmann erinnerte, Kopien eines Bildes, auf dem nichts weiter zu sehen war als ein einsamer Baum auf einer Wiese. Doch dieses Bild war alles andere als ein Weihnachtsgeschenk an die Schüler der Klasse. Er verlangte stattdessen bis zum nächsten Tag einen zweiseitigen Aufsatz mit mindestens 500 Wörtern darüber, was auf dem Bild zu sehen war.
Max hatte am Ende der Stunde seinen Aufsatz fertiggestellt, allerdings mit nur sieben Wörtern:
„Ich sehe eine Wiese mit einem Baum.“
Als er in der Pause nach der Deutschstunde von der Toilette zurückkehrte, hörte er bereits auf dem Schulflur das Gepolter von umkippenden Stühlen und dass Chris, Anton, Richard und Cem jemanden beim Wickel hatten. Max blieb wie angewurzelt stehen.
„Wir sehen dich nach der Schule, Tziggi! Bis dahin hast du Zeit, es dir anders zu überlegen“, drang Chris drohende Stimme durch die halboffene Tür.
„Darauf könnt ihr lange warten. Schreibt euren Mist selber!“, klingelte Cosmins lautstarke Widerrede in Max’ Ohren.
Oh Mann! Endlich zeigt er den Schwanzgesichtern auch mal die Zähne!, freute sich Max, als er den Raum betrat. Chris hatte Cosmin beim Kragen gepackt und ließ ihn augenblicklich los. Max tat so, als hätte er nichts bemerkt und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Aber durch den Vorhang aus Haaren sah er Cosmins vor Wut bebende Lippen und dass ihm Anton und Chris verstohlene Blicke zuwarfen.

Verdammt, sie werden ihm irgendwo auflauern und dann wird er doch vier zusätzliche Aufsätze schreiben. Oder aber ich werde die Mistkerle höflich bitten, ihren Mist selber zu schreiben.

  1. Freunde werden ist schwer

Cosmin

Chris und seine drei Kumpane flutschten von ihren Stühlen, kaum dass das Schrillen der Klingel das Ende der letzten Stunde ankündigte. In diesem Moment war es für Cosmin klar, dass sie ihn auf dem Heimweg erwischen würden.
Zunächst überlegte er, auf einem Umweg nach Hause zu laufen. Aber da die Kerle wussten, in welchem Plattenbau er wohnte, gab es kein Entrinnen. Doch dieses Mal würde er sich mit seinen Händen und Füßen wehren!
Tatsächlich erwarteten sie ihn, lässig an den Hauswänden gelehnt, am Beginn der Gasse, die hinter dem Rathaus der Stadt zum Plattenbauviertel führte.
Als sich Cosmin bis auf zehn Meter genähert hatte, stießen sie sich von der Wand ab und angeführt von Chris schlenderten sie ihm entgegen.
„Na Tziggi, Meinung geändert?“, fragte Chris höhnisch grinsend.
Doch plötzlich gefror ihm das Grinsen auf den Lippen. Richard machte auf dem Absatz kehrt und sprintete in Richtung Rathaus zurück.
Cosmin runzelte verblüfft die Stirn. Ein Arm schob ihn beiseite.
„Ab hier übernehme ich“, ertönte Max’ Stimme neben ihm.
„Weller!“, schrie Chris mit vor Wut knallrotem Gesicht und stürzte sich auf Max.
Im selben Moment hob Max’ rechter Fuß ab und klatschte gegen Chris’ Kinn. Ohne sich umzublicken trat Max nach hinten aus und nun war es sein linker Fuß, der in Cems Schritt einschlug.
Cosmin starrte mit offenem Mund auf die beiden Jungen, die Max praktisch in einem Atemzug niedergestreckt hatte. Zumal Cem versucht hatte, Max von hinten anzugreifen.
Anton wich ängstlich zurück, doch Max war mit einem Satz bei ihm und packte mit der Linken Antons Shirt. „Wie sieht’s mit einer Backpfeife aus, Schweinsgesicht?“
„Wir … wir wollten nur…“, stammelte Anton und sah aus, als würde er sich jeden Moment in die Hosen machen.
Watsch!
„Und jetzt ab nach Hause, du musst einen Aufsatz schreiben.“
Max wandte sich um und näherte sich Chris und Cem wie ein Raubtier auf Beutezug. Chris packte Cem, der sich noch auf dem Asphalt wälzte.
„Wir erwischen dich, Weller!“, schrie Chris und ergriff mit Cem im Schlepptau die Flucht.
Cosmin war unfähig, klar zu denken.

Woher hat Max gewusst, dass die vier hier warten würden?
Und wo hat er gelernt, so zu kämpfen?

Und warum hatte Max ihm überhaupt geholfen? Noch immer spürte er die Schmach, die er bei Max’ Attacke auf sein Ohr empfunden hatte.
Cosmin bemerkte, dass die raubtierhafte Wildheit aus Max’ Augen nur zögernd schwand, als sich ihre Blicke trafen. Er fragte sich, was Max wohl als Gegenleistung für seine Hilfe von ihm erwarten würde.
„Danke“, sagte er und etwas schärfer, als er es eigentlich gewollt hatte, ergänzte er. „Soll ich jetzt für dich den Aufsatz schreiben?“
Schlagartig verfinsterte sich Max’ Gesicht. Seine Rechte schoss vor, packte Cosmins Hemdkragen und er zerrte Cosmin so dicht an sich heran, bis ihre Nasenspitzen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Vergeblich versuchte Cosmin, sich aus diesem Griff zu befreien.
„Du glaubst echt, dass ich dir helfe, damit du diesen Scheiß - Aufsatz für mich schreibst?!“, fauchte Max und plötzlich füllten sich Max’ blaue Augen mit Tränen der Wut. Oder der Enttäuschung? Er senkte die Stimme. „Du bist ja so was von daneben.“
„Lass mich los!“, keuchte Cosmin.
Max lockerte den Griff, sodass Cosmin zumindest frei atmen konnte.
„Erst wirst du mir genau zuhören. Du bist hier nicht der einzige, der Scheiße fressen musste, okay? Deine Mutter hat dich vor drei Jahren sitzen lassen. Das ist echt Kacke, klar! Aber sie ist noch da. Meine ist vor drei Jahren… ach Scheiß, wozu erzähle ich dir das überhaupt. Aber hätte sie gewusst, was du für ein Idiot bist, hätte sie dich niemals…“ Max’ Stimme brach. Er stieß Cosmin von sich und lief zu seinem Rad, das ein paar Meter weiter an der Hauswand lehnte.
„Warte…!“, rief Cosmin, als sich Max aufs Rad schwang und sprintete los.
„Ach leck mich!“, schnappte Max und trat in die Pedalen.
Cosmin blieb wie ein Häufchen Elend zurück. Er versuchte sich an jedes der Worte zu erinnern, die Max ihm um die Ohren gehauen hatte.
Etwas war mit dessen Mutter vor drei Jahren passiert. Also etwa zur gleichen Zeit als seine eigene Mutter ihn verlassen hatte. Aber was?
Und warum wäre Max’ Mutter von ihm enttäuscht? Das ergab nun gar keinen Sinn.
Aber in einem hatte Max Recht:

Ich bin ein Idiot!

Max

Am späten Abend, Max lag bereits im Bett, empfing er eine WhatsApp Nachricht seines Onkels Leon.

„Hey kleiner Champion, du fehlst mir. Wie gerne würde ich dir wieder mal den Hintern versohlen oder die hübsche Fresse polieren. Rufe auch du mal deinen Vater an, okay? Tu das wenigstens mir zu Liebe! Wann hast du Herbstferien? Ich nehme mir frei und du kommst zu mir nach Berlin. Wie läuft es in der Schule?“
Max starrte in die Dunkelheit seines Zimmers.
Er hatte am Nachmittag unter den verwunderten Blicken seiner Oma ein Gemälde abgehängt, dessen Platz seit mehr als drei Jahren unmittelbar neben dem Bildnis des Zigeunerjungen gewesen war - ein Gemälde, das ihn im Alter von dreizehn Jahren zeigte.
„Onkelchen, ich vermisse dich auch. Ich komme in den Herbstferien zu dir. Die beginnen Mitte Oktober. Ist der Sohn von der Tussi bei mir zu Hause schon eingezogen? Die Schule kotzt mich an. Die Kerle in meiner Klasse sind alles Arschgesichter.“

Am nächsten Morgen bemerkte Max auf seiner Seite der Schulbank ein eng bedrucktes Blatt. Zum ersten Mal, seit sie Banknachbarn waren, wandte er sich zu Michel um, der gelangweilt auf seinem Handy herum wischte.
„Was iss’n das hier?“, fragte Max und deutete auf das Blatt.
Michel blickte kurz auf. „Das lag schon da, ich dachte es ist von dir.“
Max ließ sich sich auf seinen Stuhl fallen und begann dabei zu lesen:

„Ein warmer Sommerwind weht durch die Zweige einer Eiche. Ihr Schatten fällt auf eine Wiese, die…“

„Was soll’n dieser Scheiß?!“, presste Max zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Rechte knallte so heftig auf das Blatt, dass Michel zusammenfuhr und für einen Moment das Stimmengewirr im Raum verstummte.
„Weiter machen!“, brummte Max und unterdrückte den Drang, das Blatt unter seiner Hand zusammen zu knüllen.
Er zog seine Rechte zurück. Unter dem gedruckten Text bemerkte er eine Notiz in einer Handschrift, die wohl jeden Wettbewerb im Schönschreiben gewonnen hätte.

„Du musst das abschreiben. Ich will nicht, dass Du wieder ein leeres Blatt abgibst.“

„Ach ja?“, knurrte Max. „Kratzt du dich jetzt bei mir ein, damit ich dir weiter diese Arschgesichter vom Halse halte?“
Während sich kurz darauf Frau Dr. Meyer über ihre Vektoren ausließ, wanderte Max’ Blick nach rechts. Anders als sonst versteckte sich der Blick nicht hinter einem Vorhang blonder Haare.
Anders als sonst war auch, dass Cosmin nicht fleißig mitschrieb, sondern nun seinerseits das Gesicht hinter Strähnen schwarzer Haare versteckte, den Kopf auf einer Hand gestützt.
Max fühlte, dass in seinem Inneren etwas fehlte, als sein Blick auf Cosmin verweilte.

Mam, ich habe mir meine Geschichte umsonst ausgedacht. Tut mir Leid, echt. Aber es gibt nichts, worüber der sich freut.

Max ließ seinen Blick weiter wandern. Chris erdolchte ihn geradezu mit den Augen und Cem erwiderte seinen Blick mit einer Kopf - ab - Geste.
Max warf beiden eine Kusshand zu und bemerkte plötzlich, dass Frau Dr. Meyer mitten im Satz verstummt war.
Max schaute zu ihr auf. Es war, als würden die Augen der Lehrerin versuchen, in seinen Kopf hinein zu blicken. Max wollte ihrem Blick standhalten, aber schon nach einigen Sekunden kapitulierte er.
„Tschuldigung“, murmelte er und griff nach einem Stift.

Eine Unterrichtsstunde später entschloss sich Max, Cosmins Aufsatz nicht in den Papierkorb zu werfen, sondern ihn abzuschreiben. Zwar war Deutsch erst in der letzten Doppelstunde dran, doch zumindest während der Unterrichtsstunde erwies sich das Abschreiben als schwierig. Es war, als wäre die Lehrerin einzig und allein darauf aus, ihn dabei zu erwischen.
Bis zur Hofpause hatte er nicht einmal ein Viertel des Aufsatzes abgeschrieben. Da die Klasse in der darauffolgenden Stunde Physik haben würde, fand der Unterricht im Fachkabinett statt. Obwohl es den Schülern während der Hofpausen nicht gestattet war, sich in solchen Fachkabinetten aufzuhalten, blieb Max auf seinem Platz. Seine Mitschüler verließen einer nach dem anderen Raum. Max wartete nicht länger. Cosmins Vorlage unter der Bank versteckt, schrieb er weiter am Aufsatz.
Jemand setzte sich neben ihn.
Max blickte auf und traute seinen Augen nicht. Cosmin saß auf dem Nachbarstuhl und schien nach Worten zu suchen. Dann deutete er auf das Blatt auf Max’ Schoß. „Ich habe das geschrieben, weil… ich dir helfen wollte.“
Max fühlte, dass das Eis in seinem Inneren zu schmelzen begann.
„Danke“, sagte er. „Tut mir Leid, dass ich dir gestern an den Kragen gegangen bin.“
„Nee, ich habe mich vielleicht wirklich wie ein Idiot benommen. Aber damals nach Sport, als du mir das Ohr… äh… langgezogen hast, dachte ich…“
„Ohr langgezogen… ?“, echote Max. „Ich… Das war ein Missverständnis, tut mir Leid. Du hast dort so eine komische Narbe. Ich wollte gucken, ob … ob die dort ist.“
Cosmin schien nach Luft zu schnappen. "Woher…?“
Max deutete auf sein zur Hälfte beschriebenes Blatt. „Ich erklär’s dir später. Ich muss jetzt echt weiter abschreiben.“
Cosmin nickte. „Sorry. Aber ich wollte dich auch warnen.“
Max runzelte Stirn. „Warnen? Wovor das denn?“
„Fährst du durch den Stadtpark nach Hause?“
„Klar, wieso?“
„Nimm einen anderen Weg! Dort werden sie dir nachher auflauern.“
„Dann werden sie mich heute von meiner unfreundlichen Seite kennenlernen“, erwiderte Max trocken.
„Sie werden nicht nur zu viert sein. Wie willst du allein mit zehn oder zwölf Leuten fertig werden. Ich könnte ja auch …“
„Nein!“, fuhr Max dazwischen. „Ich will dir nicht aus Versehen die Nase brechen und ich werde wohl ein paar Hackfressen eintreten müssen! Bitte halte dich unbedingt raus, okay? Versprich´s!“
“Okay“, seufzte Cosmin und erhob sich. Blitzschnell griff Max nach seinem Arm.
„Bleib hier! Bitte! Ich… vielleicht habe ich ja eine Frage zu deinem Aufsatz.“
In diesem Moment klappte die Tür und Frau Dr. Meyer trat in den Raum. Die beiden Jungen blickten erschrocken auf.
Auf dem Gesicht der Lehrerin breitete sich fassungsloses Erstaunen aus. Dann huschte ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht. Sie nickte den Jungen kurz zu und verließ den Raum, obwohl sie eigentlich beide hätte aus dem Raum schmeißen müssen.
„Das war knapp“, stieß Max den angehaltenen Atem aus. „Ich glaube, sie mag dich.“
Cosmin zuckte mit der Schulter und warf einen Blick auf sein Handy. „Mach schnell, du hast nur noch zehn Minuten.“

Max hatte ein bisschen gehofft, dass Cosmin nach dem Ende der Deutschstunde auf ihn warten würde, vielleicht auch fragen würde, woher er von dessen Mutter wusste. Normalerweise gehörte Cosmin zu den Bummelanten, die als letztes die Schule verließen, doch heute sprang er mit dem Schrillen der Klingel auf und verschwand wie ein geölter Blitz aus dem Klassenraum. Andererseits verspürte Max eine unbändige Freude darüber, dass das Eis zwischen ihnen gebrochen war. Er sah, dass ihm Chris über die Schulter einen hämischen Blick zuwarf, als er mit Cem, Anton und Richard den Raum verließ. Er nahm sich vor, Chris eine Extraportion zu verpassen, sollten die ihm tatsächlich auflauern.

Cosmin

Hätte Cosmin geahnt, wie wichtig es sein könnte, an diesem Nachmittag einen Hinterhalt am Stadtpark rechtzeitig zu erreichen, wäre er heute morgen mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Aber von der geplante Revanche hatte erst aus dem Getuschel von Chris und dessen Kumpanen in der ersten Pause erfahren. Er wäre beim Kampf zwar keine Hilfe für Max, aber er könnte versuchen, die Polizei zu rufen oder Max’ Unschuld zu beweisen, sollte es wirklich Verletzte geben.
Während er über den zu dieser Zeit von Schülerscharen bevölkerten Marktplatz sprintete, sah er Chris, Cem, Anton und zwei Jungen aus der Parallelklasse auf ihren Rädern in Richtung des Rathauses sausen. Wie erwartet bogen sie vor einem Kaufhaus in die zwischen dem Einkaufszentrum und Hochhäusern gelegene Fußgängerzone ein, die direkt zum Stadtpark führte.
Kurz darauf erreichte Cosmin das Einkaufszentrum. Da er Max nicht über den Weg laufen wollte, wählte Cosmin den Weg durch die Einkaufspassage, deren andere Seite nicht weit vom Stadtpark endete.
Das Herz hämmerte in seiner Brust, aber nicht nur wegen des Sprints. Natürlich hatte er vor der ersten Stunde Max’ erste Reaktion auf das Blatt mit dem Aufsatz beobachtet und als dessen Hand auf das Blatt gekracht war, hatte sich Cosmin gefühlt, als wäre stattdessen seine Magengrube von Max’ Faust getroffen worden. Und nur zwei Stunden später hatten sie die Pause im Physikraum wie alte Freunde verbracht.

Wer bist du, Max? Was weißt du über meine Mutter? Was ist mit deiner Mutter passiert? Wieso kannte deine Mutter mich?

Bohrende Fragen, auf die er vielleicht bald eine Antwort erhalten würde.
Er erreichte einen betonierten Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen eine etwa fünf Meter hohe Wasserfontäne ausspie. Um den Springbrunnen herum waren vielleicht ein Dutzend Bänke gruppiert, auf einigen saßen zumeist ältere Leute, die den warmen Spätsommertag zu genießen schienen, nichts ahnend, welches Drama sich gleich zweihundert Meter weiter im Park abspielen würde. Cosmin nutzte die Deckung eines Gebüschs und spähte zu einer Lichtung, wo sich der geschotterter Radweg verzweigte. Er zählte elf Kerle, einige hockten auf ihren Rädern und andere standen breitbeinig mitten auf dem Weg und schwangen Stöcke oder gar Baseballschläger. Cosmin rutschte das Herz in die Hose. Gegen eine solche Übermacht hatte Max unmöglich eine Chance! Aber vielleicht war Max vernünftig genug, auf einem anderen Weg nach Hause zu fahren.
In diesem Moment erreichte Max den Radweg. Gemächlich radelte er den Schlägern entgegen. Chris und seine Kumpane stiegen von ihren Rädern. Mit zitternden Fingern fischte Cosmin sein Handy aus der Hosentasche und startete die Videoaufnahme.
Max war nun nur noch zehn Meter von den Schlägern entfernt. Er schwang sich vom Rad und ließ es ins Gras fallen. Mit verschränkten Armen wartete er.
Jemand brüllte etwas, vielleicht einen Befehl zum Angriff, dann stürzten sich die Schläger grölend und lauthals schreiend auf Max. Plötzlich machte Max zwei Sätze, hob vom Boden ab und flog mit einem gestreckten Bein den Angreifern entgegen. Zwei der Schläger riss es von den Füßen, ein Dritter ging nach Max’ Fausthieb zu Boden, dann begrub ihn die Übermacht aus boxenden und tretenden Angreifern.
Mehrere der älteren Leute waren von den Bänken aufgesprungen, ein Mann rief etwas in sein Handy.
Cosmin betete, dass er die Polizei alarmiert hatte und die rechtzeitig eintreffen würde.
Noch immer war Max unter der Meute begraben. Kalter Schweiß brach aus Cosmins Stirn. Inzwischen schlugen und traten die Kerle bestimmt schon eine Minute auf Max ein und Cosmin durchfuhr ein jäher Schreck. Max befand sich möglicherweise in Lebensgefahr! Während seine zittrigen Hände versuchten, das Handy in Position zu halten, überlegte er fieberhaft, wie er Max helfen könne. Einen Teil der Meute auf sich selber lenken?
Plötzlich brach der Haufen raufender Jungen wie ein explodierender Vulkankegel auseinander. Max schleuderte einen der Angreifer über seine Schulter, dann schlug sein Fuß in das Gesicht eines anderen ein. Cosmin erkannte, dass es Cem erwischt hatte, der mit blutendem Gesicht zu Boden ging.
Inzwischen krümmten sich fünf oder sechs der Schläger auf dem Schotter. Sirenen heulten in der Ferne auf und ihr Geheul kam rasch näher.
Max hatte weitere zwei Angreifer niedergestreckt, aber Cosmin sah, dass es auch ihn erwischt hatte. Sein Gesicht war blutüberströmt und er stützte kurz die Hände auf den Knien ab, während vier verbliebene Angreifer um ihn herumtanzten. Einer von ihnen hatte zudem noch seinen Baseballschläger und holte zum Schlag aus. Max fing den Knüppel mit dem Fuß ab und rammte dem Kerl die Faust mit solcher Wucht in die Seite, dass Cosmin glaubte, das Brechen der Rippen hören zu können. Der Kerl klappte wie ein Taschenmesser zusammen und wälzte sich nun ebenfalls auf dem Schotter.
Ohrenbetäubendes Sirenengeheul hallte über den Platz und zwei Polizeitransporter donnerten über den Schotter. Cosmin sah, dass zwei der Schläger die Flucht ergriffen, der dritte stützte sich an einem Baumstamm ab und erbrach sich. Das letzte, was Cosmin erkennen konnte war, dass Max völlig erschöpft in die Hocke ging, dann versperrten ihm die Polizeiautos die Sicht. Von der anderen Seite des Radweges brauste ein Rettungswagen heran.
Cosmin beendete die Videoaufnahme.

Max, ich konnte dir bei diesem Kampf nicht helfen. Aber wenn du Ärger mit der Polizei bekommst, kann ich deine Unschuld beweisen.!

Max

Als Max am Abend endlich das Haus seiner Großmutter erreichte, zögerte er an der Haustür. Natürlich hatte er seine Oma angerufen und gesagt, dass es ein kleines Problem an der Schule gab und es spät werden würde.
Sein Shirt war mit Blutflecken übersät, seine linke Augenbraue hatte genäht werden müssen und wieder einmal wölbte sich auf der Wange unter seinem rechten Auge eine grünblaue Beule. Ganz abgesehen von all den Prellungen und Schwellungen, die wahrscheinlich seinen gesamten Körper verzierten. Immerhin hatte er neun von den elf Schlägern außer Gefecht gesetzt.
Er war gespannt, was sein Onkel Leon zu diesem Kampf sagen würde.
Aber zunächst musste er irgendwie seiner Großmutter alles auftischen.
Immerhin hatten die Polizisten auf der Wache recht schnell herausgefunden, dass er nicht der Täter, sondern das Opfer gewesen war. Sie hatten ihn sogar empfohlen, eine Anzeige zu erstatten, aber Max hatte keinen Bock auf den damit verbundenen Ärger.
Er schloss die Tür auf und kaum hatte er den Hausflur betreten, flog auf der anderen Seite des Flures die Wohnzimmertür auf und seine Oma stürzte ihm entgegen. Starr vor Schreck blieb sie vor ihm stehen.
„Was ist denn mit dir passiert?“, rief sie und gleich darauf begann die Abtasterei seiner Beulen und blauen Flecken. Für einen Moment schnürten ihm Erinnerungen an seine Mutter die Kehle zu.
„Ich hab’ nicht angefangen, echt jetzt.“
Die Oma riss ihm das Shirt aus der Hose und schlug die Hand vor den Mund.
„Mein Gott, Maxi. Wollte dich jemand umbringen?“
„Es waren ein paar mehr, aber ich hab´s denen gegeben!“

Schließlich musste sich Max bis auf den Slip entkleidet auf die mit einem Laken bedeckte Couch legen und seine Großmutter begann, alle blauen Flecken mit Salben und Ölen zu verarzten.
Anschließend streifte er sich eine Trainingshose und ein frisches Shirt über und ging zum Zimmer mit den Gemälden seiner Mutter.
„Komm erst einmal was essen, Junge.“
„Gleich. Ich muss nur schnell was erledigen.“
„Was erledigen?“, fragte sie und folgte Max mit gerunzelter Stirn ins Zimmer. Völlig entgeistert verfolgte sie, wie Max sein eigenes Bildnis wieder an seine gewohnte Stelle neben dem Gemälde mit dem Zigeunerjungen hängte.
„Kannst du mir mal erklären, warum du dich erst von dort abhängst und einen Tag später wieder aufhängst?“
„Morgen Omi. Lass uns essen, ich sterbe vor Hunger!“

  1. Wer bin ich?

Max

Max gehörte zu jenen Menschen, die aus dem Bett springen können, sobald sie von einem Wecker aus dem Schlaf gerissen werden. Mehr noch, seit seiner frühen Kindheit tat er es seinem Onkel Leon gleich und startete in den Tag mit mehreren hundert Liegestützen und Dutzenden Klimmzügen, die Fingerkuppen an den Türrahmen gekrallt. Auch dieser Morgen begann mit Liegestützen und Klimmzügen, doch musste Max heute die Zähne zusammen beißen. Nach etwa fünfzig Klimmzügen glitt er vom Türrahmen und warf einen Blick unter das Hemd seines Schlafanzuges. Die Muskelstränge über Bauch und Rippen waren mit Flecken in allen Farben des Regenbogens übersät. Er würde heute beim nachmittäglichen Training kürzer treten müssen.
Beim Zähneputzen grinste ihm aus dem Spiegel ein ziemlich ramponiertes Gesicht an. Die linke Augenbraue war mit Schorf verklebt und seine rechte Wange war ein Gemälde aus kunterbunten Klecksen und Pinselstrichen.
Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal so ausgesehen? Sein letzter Pokalfight lag mehr als ein Jahr zurück. Er hatte ihn trotz der langen Haare gewonnen. Allerdings konnte er danach tagelang nur aus einem Auge gucken.

Wenigstens kann ich heute mit beiden Augen gucken!

Vor der Badtür erwartete ihn bereits seine Großmutter.
„Mein Gott!“, entfuhr es ihr, während sie sein Gesicht und den nackten Oberkörper abtastete. „So kannst du heute nicht zur Schule…“
„Omi! Du klingst jetzt echt wie Mam, klar gehe ich zur Schule.“

Vor allem, um eine ganz bestimmte Person zu treffen.

Aber das behielt er vorläufig für sich.

Als er eine Stunde später auf den Vorplatz der Schule einbog, erblickte er durch das Gewimmel aus ins Schulhaus strömenden Schülern einen Jungen, der mit gerecktem Hals an den Fahrradständern wartete. Kaum hatte er Max entdeckt, stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.

Mam, ich glaube, ich hatte doch Recht mit meiner Geschichte über ihn.

Allerdings erstarb Cosmins Lächeln, als Max sein Rad in den Fahrradständer schob.
„Oh Mann, dein Gesicht…“, japste er erschrocken.
„Du müsstest mal sehen, wie der Rest von mir aussieht“, grinste Max. „Aber hey, mir geht´s gut.“
Für eine Sekunde strich Cosmins Zeigefinger über Max’ ramponierte Wange und Max fühlte etwas wie einen Stromstoß durch seinen Körper fluten. Cosmin schien Max’ leises Zusammenzucken zu bemerken, hastig zog er den Finger zurück.
„Tut das weh?“
Max winkte ab. „Nö, ich bin so was gewöhnt.“
„Ich hätte dich gestern Abend angerufen“, sagte Cosmin, während sie die Treppen zur vierten Etage hinauf stiegen.„Aber ich habe keine Handynummer von dir und weiß auch nicht, wo du wohnst.“
Max ignorierte die neugierigen Blicke anderer Schüler und ihr Getuschel. „Das werden wir ganz schnell ändern“, erwiderte er.
Als sie gleich darauf den Klassenraum betraten, bemerkte Max, dass die Plätze von Anton und Cem leer waren. Soweit er wusste, hatte es Knochen- und Rippenbrüche sowie ausgeschlagene Zähne gegeben, aber er wusste nicht mehr, wem er was ausgeteilt hatte. Er wusste nur, dass es ohne brutales Zutreten und Zuschlagen bei einer solchen Übermacht des Gegners seine eigenen Knochen, Rippen und Zähne gewesen wären, die es erwischt hätte.
Chris verbarg eine Hälfte des Gesichtes hinter seiner rechten Hand, doch Max sah trotzdem, dass rings um dessen rechtes Auge ein Veilchen blühte. Das andere Auge guckte mal wieder so, als wolle es Max erdolchen.
Frau Dr. Meyer betrat den Raum und erstarrte, als die ramponierten Gesichter von Max und Chris sowie die beiden leeren Plätze neben Chris bemerkte. Ihr Blick glitt mehrmals zwischen Max und Chris hin und her, ehe sie mit dem Unterricht begann.
Sie ließ die Schüler eine verzwickte Aufgabe rechnen und schrieb währenddessen etwas ins Klassenbuch. Max sah, dass Cosmin mit seiner Rechnerei bereits fertig war und ihm einen fragenden Blick zuwarf, wobei er auf seinen Mathehefter deutete.
Max hob kurz sein gähnend leeres Blatt an und zuckte mit der Schulter.
Doch jäh wurde die lautlose Unterhaltung beider Jungen von einem Poltern unterbrochen. Die Tür flog auf. Ein stämmiger Mann mit dichtem, schwarzen Vollbart stürmte in den Raum und zog Cem hinter sich her. Cems Oberlippe hatte die Farbe einer reifen Pflaume und war mindestens genauso dick. Max ahnte, dass er gleich Ärger mit Cems Vater haben würde.
„Bei Cem drei Zähne kaputt!“, fuhr der Mann Frau Dr. Meyer an. „Ich wissen will, wer getan hat!“
Max hob kurz die Hand. „Ich gewesen.“
Der Mann fuhr zu Max herum, das Gesicht krebsrot vor Zorn. „Du! Du bezahlen Zahnarzt!“
Cosmin erhob sich und ging zu Cems Vater. „Mein Freund war allein. Cem und die anderen waren zu elft. Ich habe hier ein Video davon.“
Er war auch dort und hat das Video gemacht, um mich notfalls raus zu hauen.
Max fühlte, wie ein Strudel aus Zuneigung, Faszination und Freude seine Brust durchflutete.

Mein Freund

Unterdessen hatte Cems Vater das Handy ergriffen und seine Augen wurden mit jeder Sekunde größer. Frau Dr. Meyer stand nun neben ihm und verfolgte ebenfalls das Handyvideo, offensichtlich um Fassung bemüht.
Das Video endete. Cems Vater stieß den angehaltenen Atem aus. Er reichte Cosmin das Handy und trat an Max’ Bank heran.
„Du ein Mann! Der da…“, mit einem Nicken deutete er hinter sich, „… ein dummes Kind.“
„Bitte Entschuldigung!“, sagte er zu Frau Dr. Meyer und stapfte, Cem am Arm hinter sich her zerrend, aus dem Raum.
Für ein paar Sekunden stand Frau Dr. Meyer stocksteif neben ihrem Lehrertisch. Sie schaute erst Max und dann Cosmin und Chris an. Max nahm an, dass sie über den Grund für die Schlägerei grübelte.
Schließlich seufzte sie und sagte, an die Klasse gewandt: „Rechnet weiter!“

Kaum hatte Frau Dr. Meyer den Raum nach dem Ende der Mathestunde verlassen, sah Max, dass sich Cosmin von seinem Stuhl erhob, seinen Mathehefter in der Hand. Obwohl im Raum das Getuschel und Geraune über die ungleiche Schlägerei und das Handyvideo anschwoll, vernahm Max Chris’ Stimme hinter Cosmins Rücken so deutlich, als hätte der seine Drohung mit einem Megaphon in die Klasse hinausposaunt:
„Dafür wirst du büßen, Tziggi!“
Max fuhr wie von einer Tarantel gestochen vom Stuhl hoch, hechtete über seine Bank. Mit drei Sätzen erreichte er Chris’ Bank, griff in dessen gestriegelte Frisur und stieß Chris’ Kopf auf die Tischplatte. Chris versuchte vergeblich, sich aus Max’ Griff zu befreien.
„Fasst du ihn auch nur an, breche ich dir alle Knochen. Höre ich noch einmal dieses Tziggi, breche ich dir auch die anderen Knochen. Verstanden, Arschgesicht?“
Chris keucht auf.
Max hob Chris’ Kopf leicht an und ließ ihn erneut auf die Tischplatte krachen.
„Verstanden, Arschgesicht?“
„Jaaah“

Der Hofpausenplatz der Schule war eine mit Rasengittersteinen gepflasterte Freifläche zwischen dem Schulgebäude und dem Sportplatz. Wie in jeder Hofpause dienten die Betoneinfassungen der sorgfältig gestutzten Zypressen vor allem Schülern der oberen Klassenstufen als Sitzflächen.
Max hatte sich zwar vom ersten Schultag an die kniehohe Begrenzungsmauer des Kiesbetts unterhalb der Kletterwand mit mehreren Schülern der Parallelklasse geteilt, aber noch nie mit ihnen ein Wort gewechselt.
Zusammen mit Cosmin steuerte er die Mauer an und bemerkte, dass ihm die Jungen aus der Parallelklasse geradezu ehrfürchtige Blicke zuwarfen und zusammen rückten, um auch für Cosmin Platz zu machen. Besonders der Junge mit den blondierten Haarsträhnen und das Bürschlein mit der Hornbrille starrte ihn und Cosmin an, als wären sie Popstars. Offenbar hatten sich die Details der Schlägerei vom Vortag in der ganzen Schule herum gesprochen.
„Du hast das Video gemacht, um mich notfalls raus zu hauen, falls ich Ärger bekomme?“, fragte Max, nachdem sie sich gesetzt hatten, wobei die Frage mehr wie eine Feststellung klang.
Cosmin wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich wusste nicht, wie ich dir sonst helfen konnte.“
„Kann ich das Video haben? Ich würde es gerne meinem großen Bruder schicken.“
„Klar. Du hast einen großen Bruder?“
Max seufzte tief. Er vermisste das gemeinsame Kampftraining mit Leon, ebenso wie das Wetteifern mit ihm in der Kletterhalle.
„Er ist eigentlich mein Onkel. Wir trainieren zusammen, seit ich denken kann. Wäre er nicht gewesen…“ Max verschluckte den Rest. Er wollte sich den Moment nicht mit Gedanken an die Wochen nach dem Tod seiner Mutter verderben.
Cosmin warf Max einen fragenden Blick zu.
„Wo hast du eigentlich bis jetzt gewohnt? Und was du mir vorgestern gesagt hast, als ich… als du sauer auf mich warst.“
„Das alles zu erklären, würde stundenlang dauern.“
Plötzlich poppte eine Idee in seinem Kopf auf. Er boxte Cosmin freundschaftlich in die Seite. „Hast du ein Fahrrad?“
„Ja, warum?“
„Dann kommst du nach der Schule mit zu mir. Ich rufe meine Oma an, sie soll etwas mehr zu essen machen. Dann wirst du auch alles… nun ja… verstehen“
Cosmin wand sich und knetete seine Finger. „Und wenn sie mich nicht mag?“
„Dich nicht mag?“ Max stellte sich das Gesicht seiner Oma vor, wenn er ihr Cosmin vorstellte und konnte plötzlich nicht anders als sich auszuschütten vor Lachen, bis ihm Tränen aus den Augen kullerten.
„Warum lachst du so?“, fragte Cosmin.
Max spannte die Bauchmuskeln, um sein Zwerchfell zu beruhigen und bemerkte, dass ihn auch die anderen Jungen verdutzt anschauten.
„Sorry, ich krieg’ mich jetzt wieder ein. Also Cosmin, eins kann ich dir versprechen. Meine Oma wird dich nicht wieder weglassen wollen. Und jetzt…“, er legte Cosmin seinen Arm um die Schulter, „… gucken wir uns zusammen dein Video an. Ich möchte wissen, welche Techniken ich noch verbessern muss.“

Cosmin

Nach der Hofpause stand Sport auf dem Unterrichtsplan.
Während er zusammen mit Max den Umkleideraum betrat, erinnerte sich Cosmin an Max’ Attacke auf Anton am dritten Schultag.
Inzwischen wusste Cosmin, dass Max damals zum ersten Mal versucht hatte, ihn zu beschützen. War das wirklich schon zwei Wochen her?
Als er sich die Straßenschuhe von den Füßen streifte, verfolgte er durch den Vorhang seiner Haarsträhnen, wie Max das Shirt über den Kopf zog. Für einen Moment schien sein Herzschlag auszusetzen. Max’ gesamter Oberkörper war mit Prellungen übersät. Die Muskelstränge auf dem flachen Bauch und den Rippen schienen die Bewegungen der Arme mit einem eigenen Spiel zu begleiten.
Erneut fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, die Bauchmuskeln zu berühren. Hastig verdrängte er den Gedanken. Max würde ihm wahrscheinlich auf die Finger klopfen oder eine scheuern, sollte er das je versuchen.
Cosmin entging nicht, dass auch die anderen Jungen, Chris eingeschlossen, dieses Muskelspiel verfolgten.
Herr Recke stürmte in den Raum. Mit einem giftigen Seitenblick auf Chris rief er: „Max! Ich habe gehört, du hast es gestern ganz allein mit elf Idioten aufgenommen?“
Max hatte sich inzwischen das Shirt von Kopf und Armen gestreift. „Zehn. Die Flasche da…“, er deutete mit einem Kopfnicken auf Chris, " … die zählt nicht."
Herr Recke ließ einen Blick über Max’ Oberkörper gleiten und boxte ihm spielerisch in den Bauch.
„Was für ein Rassekerl! Und auch noch hart im Nehmen. Ich will nachher unbedingt dieses Video sehen.“
Er wandte sich an Cosmin. „Du bist sein Freund?“
Max antwortete an Cosmins Stelle. „Schon seit über drei Jahren!“
Auch wenn Cosmin nicht begriff, wie Max darauf kam, dass sie seit drei Jahren befreundet wären, waren Max’ Worte für ihn wie ein kostbares Geschenk.
„Dann weißt du ja, dass Max einen Seilpartner für die Kletterhalle braucht. Wenn das Wetter mitspielt, findet für euch beide ab nächste Woche der Sportunterricht draußen an der Kletterwand statt.“
„Ich kann nicht klettern“, maulte Cosmin, kaum dass Herr Recke den Raum verlassen hatte.
„Keine Bange. Ich bring´s dir bei.“

Nach der letzten Stunde liefen die beiden Jungen eine Zeitlang schweigend nebeneinander über den Marktplatz in Richtung des Rathauses. Max schob sein Rad, auf seinen Lippen lag ein Lächeln.
Cosmin fand, dass nicht einmal die verletzte Braue oder die kunterbunte Färbung der leicht geschwollenen Wange der Attraktivität dieses Gesichtes etwas anhaben konnten.

Wieso ausgerechnet ich?

Max war in etwa genauso zugänglich wie ein Granitblock, doch ausgerechnet ihm hatte er sich geöffnet!
Sie hatten das Plattenbauviertel erreicht. Cosmin und sein Vater wohnten im schäbigsten der Blöcke und Cosmin war besorgt, dass Max schockiert sein könnte, wenn er ihre kleine Wohnung zu Gesicht bekam. Vor einer bröckligen Betontreppe, die zu einem trostlosen fünfstöckigen Plattenbau führte, stoppte Cosmin. Die Farbe der Balkonbrüstungen war von den Jahrzehnten abgewaschen worden, stellenweise lugten rostige Bewehrungen aus dem Beton.
Cosmin nickte einem älteren Mann zu, der zwei Stockwerke über dem eigenen Zimmer aus dem Fenster zu ihnen hinunter starrte und räusperte sich. „Vielleicht wartest du hier. Ich bringe schnell meine Sachen nach oben und hole mein Rad. Das dauert keine…“
„Komm schon, mich interessiert es, wie ihr lebt“, fuhr Max dazwischen und schloss sein Rad an.
Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, wobei das Wohnzimmer eine kleine Küche mit Essbereich umfasste. Der übrige Teil des Zimmers erinnerte eher an ein unaufgeräumtes Schlafzimmer.
„Hier schläft mein Vater“, sagte Cosmin entschuldigend und versuchte Max den Blick auf die Berge schmutziger Wäsche zu versperren.

Ich hätte sie längst waschen müssen!

Max machte kehrt und deutete auf eine Tür am anderen Ende des kleinen Flures. „Dort ist dein Zimmer?“
„Hmh“
Cosmins Zimmer hatte eine quadratische Form mit einer Seitenlänge von knapp vier Metern. Auf der Fensterseite stand eine aufklappbare Couch, ordentlich bezogen mit einer Tagesdecke und dekoriert mit ein paar Zierkissen.
Max inspizierte kurz die Bücherschränke und dann Cosmins Schreibtisch mit dem PC, der schon über zehn Jahre auf dem Buckel hatte.
Cosmin versuchte, Max’ Blicke zu deuten.
Max schien ganz und gar nicht schockiert zu sein, eher verwundert.
Dann betrachtete er den Türsturz. Cosmin folgte seinem Blick, konnte aber nichts Interessantes entdecken.
„So ordentlich wie dein´s hat mein Zimmer noch nie ausgesehen, nicht bei meinem Alten in Berlin und nicht hier bei meiner Oma.“
Max wandte sich zu Cosmin um. „Wir müssen ein bisschen was für deine Muckis tun. Du hast hier locker Platz für Liegestütze und da oben…“, er deutete auf den Türsturz, „… bringen wir ein Griffbrett für Klimmzüge an.“
Cosmin war unendlich erleichtert, als sie wenig später auf ihren Rädern saßen und in Richtung Stadtpark fuhren. Max kannte Armut offensichtlich nur vom Hörensagen, doch sie schien für ihn kein Makel zu sein.
Jenseits des Stadtparks erreichten sie eine Straße, die zu beiden Seiten von prächtigen Villen im Jugendstil gesäumt wurde. Vor einem zweigeschossigen Haus mit einem dreistöckigen Türmchen und mehreren Erkern, das mindestens drei Familien beherbergen konnte, stoppte Max.
„Hier wohne ich mit meiner Oma.“
Cosmin fühlte sich, als hätte er eine andere Welt betreten. „Nur ihr zwei?“, fragte er und ließ seinen Blick über die Hausfassade wandern.
Nach dem Besuch einer Plattenbau- Behausung schien Max der hier zur Schau gestellte Reichtum fast schon peinlich zu sein.
„Naja, früher haben ja hier auch mein Opa, meine Mutter und ihr Bruder gelebt.“ Er griff nach Cosmins Arm. „Komm! Meine Oma wartet auf uns.“
Sie schoben die Räder durch einen gepflegten Vorgarten und stellten sie in den Fahrradständern an der Hauswand ab.
Max ging bereits zur zweiflügligen Eingangstür, die für Cosmin mit den zahlreichen Schnitzereien eher wie ein Portal aussah. Er fühlte sich etwas fehl am Platz und seine Hände umklammerten noch das Rad, als wolle er gleich die Flucht ergreifen.
Die Tür schwang auf und eine vornehm gekleidete Frau mit aufgebauschten blonden Haaren, die nicht viel älter als vierzig sein konnte, trat ins Freie.
Das soll Max Oma sein?, fragte er sich und dachte kurz an die verschrumpelte alte Frau in Rumänien - seine eigene Oma. Max hatte ihm erzählt, dass dessen Großmutter immer noch als Steuerberaterin für verschiedene Firmen der Stadt tätig war.
Die Frau umfasste liebevoll Max’ Gesicht. „Meine Güte Junge, du siehst fürchterlich aus. Und?“ Sie schaute neugierig an Max vorbei. „Wo ist denn dein Freund?“
Cosmin löste sich von seinem Fahrrad.
„Äh… ich bin hier“, sagte Cosmin und ergänzte höflich: „Hallo. Mein Name ist Cosmin.“
Die Frau lächelte und ging ihm mit ausgestreckter Hand entgegen, doch plötzlich erstarrte sie mitten in der Bewegung und schaute Cosmin aus ungläubig aufgerissenen Augen an.
Cosmin ließ seine Hand sinken und warf Max einen hilfesuchenden Blick zu, doch der schien die Szene geradezu lustig zu finden.
Cosmin erinnerte sich jäh an den ersten Schultag, als er Max zum ersten Mal begegnet war. In Max’ Augen hatte er dieselbe Fassungslosigkeit gesehen. Hilflos räusperte er sich. „Ich möchte mich entschuldigen, falls ich…“
Die Frau erwachte aus ihrer Erstarrung. „Wofür denn entschuldigen?“, rief sie, trat noch einen Schritt vor und umfasste Cosmins Wangen.
„Wie ist das möglich? Du …?“
„Ich…?“
Sie wandte sich zu Max um. „Er ist es, oder?“
„Er ist es“, erwiderte Max grinsend.
Cosmin blickte zu Max und dann wieder zur Frau vor ihm.
„Wer bin ich?“
„Es ist sehr schön, dich kennenzulernen. Cosmin, was für ein hübscher Name! Ich habe mich immer gefragt, wie du wohl heißen magst.“
Cosmin war von der Freundlichkeit der Frau geradezu überwältigt, auch wenn er kein Wort verstand. Wieso hatte sie sich gefragt, wie er wohl heißen möge? Er war ihr nie begegnet.
Sie schob ihn ins Haus. „Du hast ihm noch nichts gesagt?“, fragte sie Max, der sich mit einem Fuß den Schuh vom anderen Fuß streifte.
„Was hast du mir noch nicht gesagt?“, fragte Cosmin nervös.
Max zuckte mit der Schulter. „So was kann man nicht sagen. Man muss es zeigen.“
Cosmin betrat hinter Max das Wohnzimmer und blickte sich staunend um.
Die hohe weiße Decke war mit Stuck verziert, im hinteren Teil des Raumes führte eine breite, geschwungene Holztreppe ins Obergeschoss. Links der Tür sah er in der von Rundbogenfenstern erhellten halbkreisförmigen Ausbuchtung des Wohnzimmers einen Computerarbeitsplatz. Auf dem Schreibtisch häuften sich irgendwelche Unterlagen. An der Wand rechts thronte ein gemauerter Kamin, daneben hing ein riesiger Flachbildschirm. Die Mitte des Raumes war ausgefüllt mit einem wuchtigen Sofa und drei Sesseln, die so um einen Wohnzimmertisch gruppiert waren, dass man von dort wahlweise dem Feuer im Kamin oder dem Flimmern des Fernsehers zuschauen konnte. Der beigefarbene Teppich darunter schützte nicht nur den Parkettfußboden, er verlieh dem Raum auch zusätzliche Wärme. Aus einer geöffneten Tür neben der Treppe wehte Bratenduft.
Max griff nach Cosmins Arm. „Ich möchte dir das Zimmer mit den Sachen meiner Mam zeigen.“
Cosmin schluckte. Er hatte sich längst zusammengereimt, dass Max’ Mutter nicht mehr lebte.
Beide Jungen betraten den ans Wohnzimmer grenzenden Raum. Max’ Großmutter verharrte an der Türschwelle. Cosmin schaute kurz auf die in der Mitte des Zimmers aufgestellten Bücherschränke, dann fingen die Gemälde an den Wänden seinen Blick ein.
„Das hat alles deine Mam gemalt?“, fragte Cosmin leise.
„Noch viel mehr eigentlich“, erwiderte Max. „Sie hat auch viele ihrer Arbeiten verkauft. Aber nach ihrem… als sie nicht mehr da war, haben wir alles behalten.“
Cosmin betrachtete ein Landschaftsgemälde, dann wanderte sein Blick weiter zu den Porträts. Plötzlich kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Vor seiner Nase hing das Bildnis eines acht- oder neunjährigen Jungen. Die geschwollene Unterlippe hing auf der rechten Seite etwas nach unten, dennoch fand Cosmin das Grinsen des Bengels geradezu bezaubernd. „Das ist wunderschön“, hauchte Cosmin. „Außer das mit der Lippe. Wenigstens ist sie diesmal heil geblieben. Wie ist das passiert?“
„Das war beim Finale in meinem ersten Pokalturnier in Karate. Aber ich habe mir nicht nur die dicke Lippe sondern auch den Pokal geholt.“
Cosmins Blick blieb am Bild hängen, auf dem Max zusammen mit seiner Mutter zu sehen war. „Deine Mam?“
Max nickte und Cosmin war sich sicher, dass in Max’ Augenwinkeln Tränen schimmerten. Cosmins Blick kehrte zu Max’ Mutter zurück. Sie hätte den kleinen Liebling, dem sie das blonde Haar kraulte, niemals verlassen. Für eine Sekunde kehrte die Sehnsucht nach der eigenen Mutter zurück, doch er wischte sie sofort beiseite. Sein Blick rutschte zum nächsten Gemälde. Es zeigte Max im Alter von dreizehn oder vierzehn Jahren. Das Grinsen war etwas breiter, immer noch bezaubernd. Doch im Blick aus den glasklaren blauen Augen schwang bereits ein Hauch von Härte und Abgebrühtheit mit.
Cosmin wollte sich dem nächsten Porträt zuwenden, doch in diesem Moment gefror ihm das Blut in den Adern.
„Wer…?“, entfuhr es ihm.
Er schien plötzlich drei oder vier Jahre jünger zu sein. Seine Mutter war über Nacht verschwunden und hatte den Jungen zurückgelassen, der ihn jetzt wie aus einem Spiegel anschaute.
„Das ist unmöglich!“
Er warf Max und dessen Oma kurze Blicke zu. Beide schaute ihn erwartungsvoll an, schwiegen aber.
Cosmins Nase war nun nur noch wenige Zentimeter von seinem eigenen Gesicht entfernt. Er fand die kleine L- förmige Narbe auf dem rechten Ohrläppchen, von der er nicht einmal mehr wusste, wie sie entstanden war.

Es stimmt also, deshalb also wollte Max mein Ohr sehen!

Anders als bei den anderen Porträts war der Hintergrund bis auf ein paar Pinselstriche weiß, unvollendet. Es fiel Cosmin nicht schwer, den Grund dafür zu erkennen.
„Es war das letzte Bild, das deine Mam gemalt hat, oder?“
Er sah, dass sich in den Augen von Max’ Großmutter Tränen sammelten. Sie wandte sich um und ging ins Wohnzimmer zurück.
„Ich Idiot“, sagte er leise und merkte, dass sich auch seine Augen mit Tränen füllten.
„Das ist okay. Das passiert ihr jedes Mal, wenn sie hier ist.“
„Aber ich habe deine Mam nicht gekannt. Wie konnte sie mich so genau malen?“
„Ich erinnere mich noch so, als wäre es gestern gewesen“, seufzte Max und sein Blick schien in die Vergangenheit zurückzukehren. „Sie hatte auf dem Notebook ein Foto von dir und arbeitete an einem Entwurf, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Das Foto hatte meine Mam von einer Bekannten bekommen. Ich wollte wissen, warum du so traurig bist…“
Cosmin wischte sich eine Träne aus dem Auge.
„Und…?“
„Dann erzählte mir meine Mam, dass deine Mutter dich verlassen hatte. Ich konnte damals nicht begreifen, wie eine Mam so was tun kann. Und ich wollte, dass sie mir auch ein Bild malt, auf dem du glücklich bist.“
Eine Träne kullerte über Cosmins Wange.
Max starrte weiter in seine eigene Vergangenheit.
„Meine Mam hätte mir so ein Bild von dir gemalt. Sie hatte es versprochen. Aber vorher wollte sie von mir eine Geschichte hören, darüber, was ich mache, damit du glücklich bist.“
Cosmin blinzelte sich die Augen frei und betrachtete erneut das Bildnis des dreizehnjährigen Max.
„Und was hast du gemacht?“
Max lachte kurz auf. „Ich wollte dir ein Handy schenken, ein Fahrrad, dich mit zum Klettern mitnehmen, so was eben, aber nichts hat ihr gefallen. Erst als ich ihr erzählte, dass ich dein Freund werden möchte, war sie zufrieden. Sie sagte, das ist eine schöne Geschichte.“
Max’ Blick kehrte in die Gegenwart zurück. „Oh Scheiße, du heulst ja.“
Er nahm Cosmin in die Arme. Cosmin ließ seinen Kopf auf Max’ Schulter sinken und ohne es selber zu merken, schlossen sich seine Arme hinter Max’ Rücken. „Ich habe seit über drei Jahren einen Freund und habe das bis vorgestern nicht bemerkt.“
„Cos-Mi“
Max Atem wehte durch Cosmins Haare hindurch an sein linkes Ohr, das geflüsterte „Cos-Mi“ fühlte sich wie eine zweisilbige Liebkosung an. Cosmin bemerkte, dass er mit seinen Tränen Max’ Shirt durchnässte, aber er war nicht imstande, seine Arme von Max’ Rücken zu lösen.
„Cos-Mi, ich werde dich immer beschützen. Niemand wird es mehr wagen, dir weh zu tun.“
Cosmin spürte das Pochen des Herzens in Max’ Brust und es war, als würde sein eigenes Herz mit noch heftigerem Pochen darauf antworten.
„Maxi. Ich werde aufpassen, dass du in der Schule nie wieder einen leeren Zettel abgibst.“
Max kicherte leise. „Das wäre toll. Weißt du, dass mich bisher noch nie ein gleichaltriger Junge Maxi nennen durfte? Aber wenn du es sagst, gefällt es mir, komisch… Wir sind vielleicht zwei Heulsusen.“
Cosmin löste sich aus der Umarmung und sah, dass auch aus Max’ Augen Tränen tropften.

Ist das derselbe Kerl, der es gestern allein mit elf Schlägern aufgenommen hat?

Max’ Großmutter hatte unterdessen die auf dem Wohnzimmertisch ausgebreiteten Mathebücher und Zettel auf eine Kommode unterhalb des Fernsehschirms verfrachtet und Hähnchen- und Lachsfilets sowie ein halbes Dutzend Schälchen mit verschiedenen Salaten aufgetischt.
Max nahm nur wenige Bissen zu sich, aber Cosmin überwand bald seine Scheu, zumal ihm Max’ Großmutter ständig neue Leckerbissen auf den Teller legte.
„Cosmin, ich würde mich freuen, wenn du öfter zu uns kommst. Was isst du eigentlich am liebsten?“
Max schien Cosmins Verlegenheit zu bemerken und boxte ihm sanft in die Seite.
„Komm schon Cos-Mi, sags!“
Cosmin dachte an das Billigzeug, womit er nach den Einkäufen den Kühlschrank füllte und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Max kam ihm zuvor und griente. „Zigeunerschnitzel in Zigeunersoße.“
Max’ Großmutter warf Max einen verärgerten Blick zu, aber Cosmin grinste zurück. „Nee, Zigeunerschnitzel ohne Zigeunersoße.“
„Ab sofort gibt’s hier jeden Tag Zigeunerschnitzel ohne Zigeunersoße. Weißt du, Cos-Mi…“, sagte Max und Cosmin spürte, dass plötzlich ein Hauch von Trauer in Max’ Stimme zurückkehrte.
„… meine Mam und ich, wir haben echt lange überlegt, wie wir deine Bilder nennen sollen, wenn sie fertig sind. Wir wollten sie schließlich Zigeunerjunge ohne Freund und Zigeunerjunge mit Freund nennen. Aber vor zwei Wochen, da hättest du mir ja fast eine reingehauen, als ich Zigeunerjunge gesagt habe.“
Cosmin sah vor seinem inneren Auge den dreizehnjährigen Max und dessen Mutter zusammen nach einem Namen für das Bild suchen. Er griff nach Max’ Hand. „Maxi, eigentlich gefällt mir jetzt, was du dir mit deiner Mam überlegt hast. Wie wäre es mit Kleiner Zigeunerjunge ohne Freund und Großer Zigeunerjunge mit Freund.“

„Cos-Mi, ich möchte dir den Fitnessraum zeigen“, sagte Max nach dem Mittagessen und zog Cosmin mit sich zur Treppe, die bis zum Dachboden hinauf führte.
„Meine Mam und auch ihr Bruder waren Geräteturner. Aber weil ich öfter in den Ferien hier war, hat mir meine Oma Geräte gekauft und ich habe mir zusammen mit meinem Opa eine Kletterecke gebastelt“, erklärte Max wenig später, während sich Cosmin auf dem Dachboden umschaute, der geräumiger war als die eigene Zweizimmerwohnung im Plattenbau.
Max hatte ihm bereits erzählt, dass dessen Opa vor mehr als zwei Jahren gestorben war. Tageslicht flutete durch mehrere Dachfenster. Die meisten der Geräte wie Barren, Reck, Pferd oder Sprossenwand kannte Cosmin aus der Turnhalle. Andere Geräte wie Laufbänder, Ergotrainer, Kraftstation oder Hantelbank erinnerten eher an ein Fitnessstudio. Sie erreichten den hinteren Teil des Dachbodens, der mit dicken Matten ausgelegt war. Holzplatten verstärkten die Dachschrägen, sie waren übersät mit bunten Klettergriffen. Zur Giebelwand hin war in einer Höhe von etwa zweieinhalb Metern eine Zwischendecke eingezogen worden und mit den daran befestigten Griffen wirkte sie wie ein Modell des Sternenhimmels. Cosmin wanderte unter dem künstlichen Sternenhimmel entlang.
„Sag jetzt nicht, dass man sich daran festhalten kann“, sagte Cosmin und deutete nach oben.
Max trat neben ihn. „Man kann.“
„Zeig´s!“
„Nur wenn du aufpasst, falls ich runter falle.“
Cosmin erinnerte sich an die erste Sportstunde, als Max an der Kletterwand herum gekraxelt war. Wenigstens würde Max hier nicht aus einer solchen Höhe fallen.
„Ich passe auf.“
Max entnahm einem kleinen Kleiderschrank Kletterschuhe und eine halblange Hose.
Kurz darauf schritt Max zur Wand und rieb sich die Hände mit weißem Pulver aus einem kleinen Beutel ein, den er sich um die Hüfte gebunden hatte.
„Cos-Mi, passt du auch wirklich auf?“, fragte Max mit einem Blick über die Schulter.
„Ja, wirklich.“
„Dann stell dich aber auch so, dass du mich auffangen kannst.“
„Mann Maxi, du nervst“, murrte Cosmin und trat einen Schritt näher an Max heran.
Und dann schien es, als würde die Schwerkraft für Max nicht mehr existieren. Mit drei Zügen erreichte er den ersten Griff am künstlichen Himmel und nach weiteren vier oder fünf Zügen hingen auch Max’ Füße an der Decke.
„Oh Mann!“, stieß Cosmin aus. Er streckte die Hände aus, bis er mit den Fingerspitzen Max’ Schulterblätter berührte. Er hatte nicht den Hauch einer Idee, wie sich Max an den knubbligen Griffen festhielt. Doch dann lösten sich Max’ Füße von der Decke. Cosmin machte einen Satz nach hinten.
„Hey!“, rief Cosmin. Um ein Haar wäre ihm Max’ Hintern ins Gesicht geklatscht.
„Immer schön aufpassen Cos-Mi“ tönte Max Gekicher von der Decke. Ein paar Mal noch tanzte der Hintern vor Cosmins Nase, dann schwang Max die Füße wieder zur Decke.
Wie eine vierbeinige Spinne kroch er weiter an der Decke entlang und Cosmin folgte ihm mit erhobenen Armen. Plötzlich rutschten Max’ Finger gleichzeitig von den Griffen. Er landete in Cosmins Armen und zusammen purzelten sie auf die Matte, Arme und Beine ineinander verschlungen. Cosmin stieß Max von sich. „Das hast du mit Absicht gemacht!“, empörte sich Cosmin.
Max sprang auf und reichte Cosmin die Hand, um ihn auf die Füße zu ziehen.
„Na logisch. Du sollst mein Seilpartner werden und ich musste doch raus finden, ob du auf mich aufpasst.“
„Vergiss es, Maxi“, schnaubte Cosmin. „Das werde ich nie können.“
Max tätschelte Cosmins Schulter. „Wir können ja am Anfang was Leichteres zusammen machen.“

Während sich Max wieder umzog, wandte sich Cosmin den an Holzbalken hängenden Boxsäcken zu. Zwei kleinere hatten die Form von Medizinbällen, waren aber unterschiedlich schwer. Daneben hingen vier unterschiedlich große tonnenförmige Säcke von der Decke und bildeten ein Quadrat von vielleicht zwei Metern Seitenlänge. Alle Boxsäcke hatten jedoch eins gemeinsam: ein hässliches Strichmännchen - Gesicht.
„Haben die Gesichter was zu bedeuten?“, fragte Cosmin, als Max an seine Seite trat.
Max’ Gesicht schien sich jäh zu verfinstern. „Mein Alter hat vor ein paar Wochen eine blöde Tussi geheiratet und die hat einen genauso blöden Sohn.“
Er versetzte dem vor ihm hängenden Boxsack einen derart heftigen Tritt, dass der Sack gegen den neben ihm hängenden Boxsack knallte.
„Das ist die beschissene Fresse von meinem Stiefbruder.“

Die Wohnzimmeruhr zeigte bereits halb vier Uhr nachmittags an, als Cosmin und Max von ihrem Ausflug zum Dachboden zurückkehrten.
„Ich muss los!“, keuchte Cosmin erschrocken. In ihrem kleinen Haushalt kümmerte er sich um die Einkäufe, das Essen und die Wäsche, sein Vater hingegen verdiente mit Haupt- und Nebenjob die für den Alltag nötigen Euros.
„Warum das denn?“, fragte Max enttäuscht.
Normalerweise wäre Cosmin lieber im Boden versunken als zuzugeben, was er noch zu erledigen hatte. Aber inzwischen was er sicher, dass er Max alles anvertrauen konnte.
„Ich muss einkaufen und Essen kochen. Sonst kommt mein Vater nach Hause und guckt in leere Töpfe.“
Max’ Großmutter legte ein Buch beiseite und erhob sich vom Sofa. „Cosmin, ich werde dir etwas für deinen Vater einpacken. Das brauchst du dann nur noch aufzuwärmen.“
Bevor Cosmin seine Sprache wieder fand, war sie bereits in der Küche verschwunden.
Cosmin trat etwas näher an den Wohnzimmertisch heran. Wie es schien, hielt Max’ Oma ihren Kopf mit Matheaufgaben fit. Das Buch war ein Mathematiklehrbuch für das Ingenieurstudium. Er überflog die Zettel. „Das ist ja, was wir gerade in Geometrie machen!“
„Meine Oma ist sozusagen auch meine Nachhilfelehrerin.“
Cosmin fuhr zu Max herum. „Jetzt nicht mehr. Ich habe dir auch was versprochen, Maxi. Ab morgen bin ich dein Nachhilfelehrer.“
Max’ Großmutter kehrte mit einem prall gefüllten Beutel zurück.
„Frau äh…“ Cosmin bemerkte plötzlich, dass er nicht einmal wusste, wie er sie anreden konnte.
„Du meine Güte“, sagte sie und drückte Cosmin den Beutel in die Hand. „Ich habe völlig vergessen, mich vorzustellen. Also ich heiße zwar Hoffmann, aber für dich bin ich Tante Lisa.“
„Danke Tante Lisa“, erwiderte Cosmin gerührt. Er zeigte auf die Zettel mit ihren Berechnungen. „Das brauchen Sie nicht mehr machen. Ab morgen bekommt Max die Nachhilfe von mir.“
Offenbar bemerkte sie Cosmins Interesse an dem aufgeschlagenen Lehrbuch. Sie klappte es zu und drückte es ihm in die Hand. „Cosmin, so lange du der Nachhilfelehrer bist, brauche ich das Buch nicht.“

  1. Freunde

Cosmin

Für den nächsten Morgen hatten sich Max und Cosmin am Rathaus verabredet, um die restlichen paar hundert Meter bis zur Schule gemeinsam zurückzulegen.
Cosmin wartete bereits vor der breiten Steintreppe, die zum Eingang des Rathauses hinauf führte, als Max den Treffpunkt erreichte.
Max sprang vom Rad und drückte Cosmin mit einer Hand an sich. Die Umarmung kam für Cosmin völlig unerwartet, zumal ringsum auch viele Schüler ihres Gymnasiums zur Schule trotteten. Doch ehe Cosmin die Umarmung erwidern konnte, hatte Max wieder beide Hände am Lenker seines Fahrrads.
Während sie gemeinsam über den Marktplatz schlenderten, musterte Cosmin Max’ Gesicht. „Wie lange dauert es, bis alles verheilt ist?“
"Ich schätze, das Veilchen hier… ", Max tippte auf die geschwollene Wange, „… das verblüht am Wochenende. Die Fäden am Auge werden erst nächste Woche Freitag gezogen.“
Cosmins Blick glitt über Max’ Augenbraue. Sie war noch immer mit etwas Schorf verkrustet. Er konnte jetzt erkennen, dass sie mit drei Stichen genäht war. Hoffentlich würde keine Narbe zurückbleiben. Und wenn doch? Vielleicht würde sie dieses Gesicht noch hübscher machen als es ohnehin schon war?
Nach der herzlichen Umarmung bei der Begrüßung traute sich Cosmin eine Frage zu stellen, über die er die Hälfte der vergangenen Nacht gegrübelt hatte.
„Maxi?“
„Hm?“
„Wenn nicht diese Narbe an meinem Ohr wäre oder deine Mam mein Foto nie bekommen hätte, wären wir dann auch Freunde geworden?“
Max schien kurz nach einer Antwort zu suchen, dann blieb er stehen und es war, als würde sein Blick Cosmins Wangen streicheln.
„Cos-Mi, ich bin immer noch derselbe wie damals. Ich hätte mich wieder gefragt, warum du nie lachst und hätte mir gewünscht, dass du glücklich bist. Wärst du ein Mädchen, würde ich es Liebe auf den ersten Blick nennen.“
Cosmin fühlte, wie sich ein Knebel von seinem Herzen löste, zugleich blinzelte er sich ein paar Tränen der Rührung aus den Augen.
"Mir geht es genauso. Weißt du Maxi… ", sagte er, als sie ihren Weg zur Schule fortsetzten, „… ich habe bisher immer am liebsten allein gesessen. Aber als du am ersten Tag in die Klasse kamst, habe ich mir sofort gewünscht, du würdest dich neben mich setzen und wir würden Freunde werden.“
Max seufzte. „Das mit dem Sitzplatz ist dumm gelaufen. Keine Ahnung, ob die Meyer es erlauben würde, wenn ich diesen Fehler korrigiere.“

Tatsächlich aber nahm Frau Dr. Meyer in der Mathestunde die Korrektur von sich aus vor. Gleich nach der Begrüßung ließ sie ihren Blick über den Halbkreis aus Schulbänken schweifen. Nach wie vor waren Antons und Cems Plätze frei. Im Video mit der Schlägerei hatte Cosmin erkennen können, dass Max Anton einen Tritt in die Rippen verpasst hatte. Lag der Kerl jetzt mit angeknacksten oder gar gebrochenen Rippen im Krankenhaus?
„Wir werden einige Änderungen an der Sitzordnung vornehmen“, sagte die Lehrerin und Cosmin bemerkte plötzlich, dass ihr Blick auf ihm ruhte.
Cosmin flehte sie mit einem stummen Gebet an:

Lass mich neben Maxi sitzen!

Doch zunächst schien es, als wäre sein Gebet ungehört geblieben.
„Laura und Sophie“, wandte sie sich an zwei Mädchen, die sich eine Bank in der vorderen Reihe teilten. „Ihr tauscht mit Richard und Cem. Und Chris, du und Anton, ihr tauscht mit Lukas und Jacob. Michel!“ Der Junge neben Max reckte den Hals. „Bitte nimm den Platz neben Cosmin.“
Cosmin fühlte sich, als wäre er geohrfeigt worden.
„Und du Cosmin, ich möchte, dass du ab sofort neben Max sitzt. Und du Norman, du setzt dich neben Michel.“
Cosmin gab sich alle Mühe, einen Freudenschrei zu unterdrücken und sah, dass es Max offenbar genauso ging.
In der Hofpause nach der Mathestunde machten es sich Max und Cosmin wieder auf der Mauer unterhalb der Kletterwand bequem. Cosmin bemerkte die verstohlenen Blicke der Jungen aus der Parallelklasse, die ebenfalls auf der Mauer saßen.
Einer der Jungen fiel durch blond gefärbte Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar auf; er starrte ihn an, als hätte Cosmin versucht, ihm die Pausenbrote zu klauen. Überrascht wandte Cosmin den Blick von ihm ab und bemerkte plötzlich, dass der Junge die Hand des schmächtigen Bürschchens neben ihm hielt und zärtlich streichelte. Und es schien, als wäre das den Klassenkameraden ringsum egal.
Cosmin machte es sich neben Max bequem und erinnerte sich wieder an die Frage, die ihm auf der Zunge gelegen hatte. „Maxi, deine Mam…“
Max reichte Cosmin einen seiner Müsliriegel. „Cos-Mi, ich erzähl’s dir irgendwann. Nicht jetzt, ich fange vielleicht wieder an zu flennen und…“, Max nickte unauffällig zu den anderen Jungen auf der Mauer, „… inzwischen habe ich einen Ruf zu verlieren.“
Cosmin fragte sich, wie es sein musste, als Kind den Tod der Mutter zu erleben. Nachdem seine eigene Mutter ihn verlassen hatte, hatte er wenigstens anfangs hoffen können, dass sie zurückkommen würde.
„Kommst du nach der Schule mit zu mir? Ich bin ja jetzt dein Nachhilfelehrer“, wechselte er rasch das Thema.
„Ist es okay für dich, wenn wir damit so zwischen halb und um fünf beginnen? Ich… du weißt schon, nachmittags bin ich immer oben auf dem Dachboden.“
Cosmin verschluckte sich fast am Müsliriegel. „Du trainierst jeden Tag drei Stunden?“
„Nicht ganz drei Stunden. Das klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich bin süchtig danach. Und nachmittags bin ich immer am besten drauf.“
„Dann kommst du eben, wenn du fertig bist. Ich glaube, mein Vater will dich auch kennenlernen.“
Cosmin bemerkte Max’ gerunzelte Stirn.
„Mann Maxi, der beißt schon nicht! Ich habe ihm das Video gezeigt. Er weiß, dass du mir geholfen hast. Und dass ich einen Freund gefunden habe.“

Max

Kurz vor 17 Uhr schob Max sein Rad in den angerosteten Fahrradständer neben der Eingangstreppe des Plattenbaus, in dem Cosmin mit seinem Vater lebte.
Am Nachbareingang lümmelten mehrere Jugendliche, darunter zwei Mädchen, am Treppengeländer und starrten zu Max herüber. Möglicherweise fragten sie sich, was aus Max’ Rucksack ragte. Die Jungen waren dunkelhäutig, vermutlich Araber. Für die beiden blonden Mädchen schienen diese Jungen plötzlich Luft zu sein. Stattdessen bemerkte Max, dass sie ihn mit ihren Blicken abtasteten, angefangen von seinen in einer halblangen Hose gekleideten Beinen weiter zu den nackten Armen bis hin zum Gesicht mit den weithin sichtbaren Spuren der inzwischen zwei Tage zurückliegenden Schlägerei.
Max schenkte den Mädchen ein Lächeln, das sie erwiderten, während den Burschen das Gesicht einfror. Er schnappte sich vom Lenkrad einen Beutel mit einigen von Oma Lisas Leckerbissen. Er hatte vergeblich versucht, ihr diese Essenspende auszureden und hoffte, dass Cosmins Vater ihm den Beutel nicht um die Ohren hauen würde.
Max drückte die Klingel mit dem Namensschild „Munteanu“ und eine Etage höher erwartete ihn Cosmin mit einem entschuldigenden Lächeln an der geöffneten Wohnungstür. Neben ihm stand ein knapp vierzigjähriger schlanker Mann mit einer von der Sonne gebräunten Haut und musterte Max aus schwarzen Augen, die ebenso wie Cosmins Augen zu glühen schienen. Ins dichte schwarze Haar des Mannes mischten sich ein paar graue Strähnen. Sein kantiges Gesicht war mit Bartstoppeln übersät und die Haut vom Wetter und der Arbeit im Freien gegerbt. Max vermutete, dass Cosmin demnach die weichen, fast schon mädchenhaften Züge von seiner Mutter geerbt hatte.
„Du bist Max? Cosmine redet schon seit Tagen nur noch von dir“, sagte der Mann in nahezu akzentfreiem Deutsch. Ohne den Blick von Max’ Gesicht abzuwenden, griff er nach dessen rechter Hand und schüttelte sie zusammen mit Oma Lisas Leckereien.
„Es ist das erste Mal, dass Cosmine jemanden aus seiner Schule zu Besuch hat. Danke, dass du meinem Jungen geholfen hast. Aber ehrlich gesagt habe ich mehr hier erwartet…“, fuhr er fort und deutete bei sich mit beiden Händen den Brustumfang eines Nilpferds an.
„Ja, hallo Herr Munteanu, ich schätze, daran arbeite ich seit siebzehn Jahren vergeblich“, erwiderte Max und reichte Cosmin den Beutel mit Filets und Steaks aus Oma Lisas Küche.
Cosmin zögerte einen Moment.
„Ich konnte es nicht verhindern“, seufzte Max.
Cosmins Vater zog ihn in den Flur, der von einem säuerlichen Essensgeruch erfüllt war. „Ich wünschte, Cosmine könnte nur halb so gut kämpfen wie du.“
„Herr Munteanu, ich wünschte, ich wäre nur halb so schlau wie Cosmine. Ich finde, dass wir uns super ergänzen.“
„Tata, musst du dich nicht um deine Sarmale kümmern?“, fragte Cosmin genervt.
„Oh, die kochen über!“, rief Cosmins Vater und hastete in die Küche.
„Sarmale?“
„So eine Art saure Krautwickel, mit Reis und Hackfleisch gefüllt. Die gibt es oft dann, wenn mein Vater kocht.“
Max rümpfte die Nase und nahm sich vor, rechtzeitig vor dem Abendessen zu verschwinden.
Während Cosmin Oma Lisas Beutel in die Küche brachte, entnahm Max das aus künstlichem Sandstein gefertigte Griffbrett seinem Rucksack und hielt es in Cosmins Zimmer an den Türsturz.
„Okay, das ist nicht wirklich ein Fitnesscenter“, erklärte Max, als sich Cosmin zu ihm gesellte. „Aber du kannst damit ganz normale Klimmzüge machen und an den Griffen trainierst du deine Fingerkraft. Ich garantiere dir, in vier Wochen nimmst du es mit all den Hampelmännern in unserer Klasse auf. Bring mir mal ´ne Bohrmaschine.“

Eine Viertelstunde später hatten beide Jungen das Griffbrett über der Tür befestigt und sogar Cosmins Vater versuchte sich an diesem Trainingsgerät, brach aber nach vier Klimmzügen ab.
Cosmin schaffte elf Klimmzüge und anschließend bat Cosmins Vater Max um eine Vorführung.
Max ließ sich bereits nach zehn Klimmzügen vom Brett gleiten. „Mehr ist nicht drin heute“, entschuldigte er sich. „Ich brauche noch etwas Power für die Matheaufgaben.“
Cosmin schaffte aus der Küche einen Stuhl heran und stellte ihn neben seinen eigenen Stuhl an den Schreibtisch.
„Cos-Mi“, wandte sich Max an Cosmin, als beide am Schreibtisch saßen. „Woher hatte diese Bekannte meiner Mam dein Foto? Hast du deinen Alten gefragt?“
Cosmin blickte von den Zetteln auf, die er auf der Tischplatte ausgebreitet hatte und zuckte mit den Schultern.
„Hab ich. Er hat meiner Mutter Fotos von mir geschickt, nachdem sie abgehauen war. Er dachte, wenn sie mich so… unglücklich sieht, dann kommt sie zurück.“ Cosmin stützte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm und sein Blick verfinsterte sich.
„Aber ich war ihr egal, Maxi. Sie antwortete ihm nicht einmal. Wie die Bekannte deiner Mam an so ein Foto gekommen ist, wusste mein Vater auch nicht.“
Max tätschelte Cosmins Schulter. „Komm, lass uns mit diesen blöden Matheaufgaben beginnen.“

Zunächst erklärte Cosmin jeden Rechenschritt bei der Lösung einer Übungsaufgabe aus der Mathestunde. Wieder einmal bemerkte Max, wie leicht es ihm fiel, diese Rechenschritte zu verstehen, wenn nicht Frau Dr. Meyer oder Oma Lisa sondern Cosmin sie erklärte. Anschließend löste Max eine ähnliche Übungsaufgabe, wobei Cosmin mit Argusaugen Max’ Rechnerei auf dem Zettel überwachte
Dann schob Cosmin ein leeres Blatt auf Max’ Seite des Schreibtisches. „Nun kannst du die erste Hausaufgabe selber rechnen.“
Er stand vom Stuhl auf. „Ich muss mal schauen, was mein Vater in der Küche macht. Wenn er Maisbrei kocht, muss ich anschließend stundenlang den Topf schrubben“, grinste Cosmin und eilte aus dem Zimmer.
Max versuchte sich vorzustellen, was es heute bei den beiden Munteanus zum Abendessen geben würde: Maisbrei mit sauren Krautwickeln. Allein bei dem Gedanken an eine solche Mahlzeit verging ihm der Appetit.
Max begann mit dem Lösen der Hausaufgabe, als plötzlich, vergraben unter einem halben Dutzend Zetteln, Cosmins Handy klingelte. Das Klingeln wollte nicht verstummen, also grub Max das Handy aus der Zettelwirtschaft, um zu sehen, wer so dringend mit Cosmin reden musste.
„Die Mutter“
Max lachte in sich hinein. „Die Mutter“, nicht Mam, Mum, Mama oder Mutti.
Das Klingeln verstummte und Max widmete sich wieder der Hausaufgabe. Doch keine zwei Minuten später klingelte erneut das Handy und wieder erschien „Die Mutter“ auf dem Display.

Vielleicht sollte ich dieser „Die Mutter“ antworten?, fuhr es Max durch den Kopf. Ihr sagen, dass ihre Anrufe ein paar Jahre zu spät kommen und was ich von einer Mutter halte, die sich bei Nacht und Nebel davonschleicht?

Max griff beherzt nach dem Handy, doch gerade als sein Finger die grüne Taste auf dem Display berührte, verstummte das Klingeln.
Cosmin betrat das Zimmer und blieb verblüfft stehen, als er Max mit dem Handy in der Hand sah.
„Oh hey Cos-Mi, sorry“ sagte Max und legte das Handy zurück auf den Schreibtisch. „Die ‚Die Mutter‘ hat dich zweimal angeklingelt und ich wollte ihr gerade sagen, wohin sie sich ihre Anrufe stecken soll.“
Cosmin kicherte erleichtert und setzte sich neben Max. „Warum hast du es ihr nicht gesagt?“
„Ich war leider ´ne Sekunde zu spät dran.“

Einen Tag später, einem Samstag, nahm Max Cosmin zum ersten Mal mit in die Kletterhalle.
Beide Jungen hatten ungefähr dieselbe Schuhgröße, sodass Cosmin ein Paar aus Max’ Vorrat an Kletterschuhen auswählen konnte.
Max’ Cousine Hazel aus Hannover, die öfter einen Teil ihrer Ferien bei Oma Lisa verbrachte, teilte seine Leidenschaft für das Klettern. Sie hatte einen Klettergurt in ihrem Schrank auf Oma Lisas Dachboden deponiert, der auch Cosmin passte.
Ausgestattet mit allem, was für einen Nachmittag in der Kletterhalle nötig war, radelten die Jungen nach dem Mittagsimbiss bei Oma Lisa auf das Gelände der ehemaligen Brauerei. Die meisten der aus Ziegelmauerwerk errichteten mehrstöckigen, etwa zwanzig Meter hohen Industriebauten sahen aus, als würden sie längst vergangenen Zeiten hinterher trauern. Gras wucherte aus den Dachrinnen, aus einigen Mauervorsprüngen wuchsen Bäume. Am als Kletterzentrum genutzten Teil des Gebäudes überdeckte ein haushohes Plakat mit einer Gebirgslandschaft die Trostlosigkeit der Fassade.

Wie Max vermutet hatte, war zu dieser frühen Nachmittagsstunde die Halle nur spärlich besucht.
Vom Erdgeschoss aus starteten an drei Wänden Kletterrouten über die gesamte Höhe des Gebäudes. Nur zwei Kletterer hangelten dort, gesichert von ihren Seilpartnern, an verschiedenen Routen nach oben.
Die Anmeldung befand im mittleren Geschoss. Max ließ sich von dem Mädchen hinter dem Tresen ein Anmeldeformular geben und bemerkte, dass Cosmin den Preisaushang studierte und das Gesicht dabei immer länger wurde.
„Maxi, das kostet mehr als mein Taschengeld für eine Woche“, stöhnte Cosmin.
Max zog Cosmin sanft zum Anmeldetresen. „Cos-Mi, bleib locker. Ich habe dir bereits ein Zwölferticket gekauft.“
Cosmin warf einen Blick über die Schulter zurück zum Preisaushang. „Bist du verrückt?! Das kostet fast einhundert Euro!“
„Ich kriege Rabatt, okay? Und jetzt füllst du den Anmeldewisch hier aus!“
Nach der Anmeldung stiegen beide Jungen die Treppe ins obere Geschoss hinauf. Dort befand sich neben dem Umkleideraum und einer Kletterwand für Kinder zudem ein Bereich mit etwa zehn Meter hohen Wänden, aber dort war auch die Decke mit kunterbunten Klettergriffen übersät.
Cosmin starrte den aus Klettergriffen bestehenden künstlichen Sternenhimmel über ihren Köpfen an.
„Da oben bist du bestimmt auch schon 'rum geklettert, oder? Ich würde gerne sehen, wie du das machst.“
„Das ist das Dach. Ich zeig’s dir beim nächsten Mal. Erst müssen wir das Sichern üben, bevor du das bei so einer Route machst. Wenn ich von diesem Dach runter falle, bin ich Maximatsch.“
Max führte Cosmin zur Kletterwand für Kinder, half ihm beim Anlegen des Gurtes und griff nach einem Seil, dessen beide Stränge von einer Umlenkrolle am oberen Ende der Wand herabhingen. Er erklärte, wie man das Sicherungsgerät handhabt und kletterte ein paar Meter höher. „Okay Cos-Mi, jetzt rutsche ich ab und du hältst mich!“
Max ließ sich nach hinten kippen und hing nach einem kurzen Ruck im Seil.
„Cos-Mi, das war super. Jetzt lass mich runter und dann klettere ich wieder hoch und rutsche ab, aber ohne dich vorzuwarnen.“
Nach einigen solcher Übungen bemerkte Max, dass Cosmin seiner ersten Klettertour entgegen fieberte.
Also verknotete er das Seil an Cosmins Gurt. „Du machst das jetzt mit dem Klettern und Abrutschen wie ich, klar?“
„Alles klar, Maxi.“
Zunächst hatte Max befürchtet, dass Cosmin Angst vor dem Abrutschen oder dem Hängen im Seil haben würde, stattdessen waren seine Bewegungen völlig unverkrampft, beinahe schon elegant. Ebenso wenig hielt er sich beim Ablassen verbissen am Seil fest, vielmehr schien er das Hängen im Seil zu genießen.
Doch kurz bevor er den Boden erreichte, verfinsterte sich sein Blick.
Er deutete zu den Kletterwänden hinter ihren Rücken. „Die lachen über uns.“
Max wandte sich um und sah zwei der Kletterer, die sich zuvor im unteren Geschoss der Halle aufgehalten hatten. Er schätzte beide auf Anfang oder Mitte Zwanzig. Max vermutete, dass sie sich auf die Kletterei an einer Route durch das Dach vorbereiteten. Allerdings schienen sie sich im Moment über Cosmins Kletterübungen köstlich zu amüsieren.

Oder finden sie etwa mein ramponiertes Gesicht lustig?

„Arschgeigen“, presste Max zwischen seinen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
Cosmin packte seine Schulter. „Maxi, du wirst dich doch nicht schlagen, oder?“
Max entspannte sich. „Sehe ich wie ein Schläger aus? Ich zeig dir, was du jetzt klettern könntest“
Er führte Cosmin zu einer Route, nur wenige Schritte von den beiden anderen Kletterern entfernt.
„Das schaffe ich nicht“, protestierte Cosmin, als er an der senkrechten Wand nach oben blickte, an der man zudem zwei Vorsprünge überwinden musste.
„Probier’s wenigstens, ich kann notfalls ein bisschen ziehen“, versuchte Max ihn zu ermutigen und erklärte Cosmin, wie man bestimmte Tritte zur Entlastung der Hände nutzen konnte.
Und während Cosmin sich Stück für Stück nach oben schob und immer wieder Möglichkeiten nutzte, seinen Händen eine Ruhepause zu gönnen, verfolgte Max jede seiner Bewegungen.
Hin und wieder aber glitt sein Blick hinüber zur Nachbarroute. Einer der beiden Kletterer versuchte vielleicht schon zum zehnten Mal, den Übergang von der Wand zur Decke zu meistern und wieder einmal fiel er wie eine reife Frucht von der Decke.
Cosmin erreichte die Umlenkrolle, den obersten Punkt seiner Route. „Maxi!“, tönte sein Jubelruf, „ich hab´s geschafft!“
„Cos-Mi, das war toll“, jubelte auch Max und kaum hatte Cosmin wieder festen Boden unter den Füßen, nahm er ihn für einen Moment in die Arme. „Du bist ein Naturtalent, Cos-Mi. Das war eine Fünf Plus, und du bist nicht einmal ins Seil gefallen.“
Cosmin strahlte, als wäre ihm ein Orden verliehen worden. „Danke Maxi.“
„Norbert, zieh Seil ein!“, ertönte ein Aufschrei an der Decke.
Max und Cosmin blickten auf. Zehn Meter über ihren Köpfen hatte sich der Kletterer zu den nächsten Griffen gehangelt. Doch nun wackelte sein Hintern wie unter Stromstößen. Erst rutschten die gegen zwei Tritte gepressten Füße von der Decke, dann segelte der Rest des Körpers hinterher und nun baumelte der Kletterer drei Meter unterhalb der Decke am Seil.
„Game over“, raunte Max in Cosmins Richtung.
„Was gibts hier zu glotzen? Macht dort weiter!“, schnauzte Norbert Max an, nickte zur Kinderwand und begann seinen Seilpartner abzuseilen.
„Geht’s 'ne Spur freundlicher, Noribert?“, fragte Max, packte seinen Kletterrucksack und machte einen Schritt in Norberts Richtung. „Wir wollen jetzt hier ran!“
Norbert sah plötzlich aus, als hätte er sich an der eigenen Zunge verschluckt. Sein Kumpel war inzwischen auf dem mit Matten ausgelegten Boden gelandet. „Was gibt’s, Norbi?“
„Die … die wollen hier ran, Tommi!“, stammelte Norbert und deutete zur Decke. Sein Kumpel lachte auf. „Lass sie doch, das gibt großes Kino.“
Cosmin packte Max’ Arm. „Maxi, wenn du auch so abrutscht und ich dich nicht halten kann… ?“
„Cos-Mi, gib mir einfach immer genug Seil, aber nie so viel, dass ich unten aufklatsche“, sagte Max und band sich in sein Kletterseil ein.
Wenig später hangelte sich Max an einer Spur aus gelben Griffen nach oben, die kaum Platz für die Fingerspitzen boten und teilweise abschüssig waren. Zunächst hatte er befürchtet, dass Cosmin das Seil entweder zu zaghaft oder zu großzügig ausgeben könne, doch diese Sorge erwies sich als unbegründet.
Schlaues Bürschchen, dieser Cos-Mi. Nicht nur in Mathe!, grinste Max in sich hinein.
Nach nicht einmal einer Minute erreichte er die Stelle, an der Tommy mindestens zehn Mal gescheitert war. Er zog am Seil, um es durch den nächsten Karabinerhaken zu führen und wieder ließ Cosmin im richtigen Moment genug Seil nachlaufen. Nach den nächsten beiden Zügen umklammerten die Finger beider Hände die Griffe, an denen Tommi abgeschmiert war. Zeit, den Jungs mal großes Kino zu bieten!
Max ließ die Beine kontrolliert von der Decke gleiten, bis sie senkrecht nach unten hingen. Cosmin starrte zu ihm hoch, die Augen vor Schreck geweitet. Max zwinkerte ihm lächelnd zu und hoffte, dass sich Cosmin an dieselbe Showeinlage auf Oma Lisas Dachboden erinnerte. Tatsächlich schien sich Cosmin etwas zu entspannen. Tommi und Norbert hingegen glotzten zu ihm hinauf, als wäre ihm ein drittes Bein gewachsen.
„Hey, Mund zu, Leute!“, rief er ihnen zu und überlegte, ihnen mit einer Hand zuzuwinken. Er wusste, dass er sich mehrere Sekunden an einem Griff würde halten können. Allerdings hätte er dann vielleicht keine Kraftreserven mehr für die restlichen drei Meter, zumindest dann nicht, wenn er weiterhin nur die kleinen gelben Griffe nutzen wollte. Also schwang er Hüfte und Beine zurück zur Decke und nach einigen weiteren Zügen führte er das Seil mit dem verbliebenen Rest seiner Kraft durch den letzten Karabiner der Route, froh darüber, dass er auf die einhändige Showeinlage verzichtet hatte.

Hier wäre ich sonst abgeschmiert!

Er nickte Cosmin zu. „Zieh das Seil jetzt straff und lass mich ab!“
Sekunden später landete er sanft auf dem Boden und tätschelte kurz Cosmins Schulter. „Wow, Cos-Mi, das hast du echt toll gemacht.“
Cosmin lachte erleichtert auf. „Ich? Maxi, ich glaube, jetzt bringst du was durcheinander.“
Max löste das Seil vom Gurt, dann schritt er zu Norbert und Tommi, die wie zwei Buddhastatuen auf den Matten hockten und ihn noch immer anstarrten, als käme er vom Mars.
Er klopfte Norbert auf die Schulter. „Ich glaube Norbi- Schätzchen, jetzt bist du dran.“

Die Zeit vergeht

Am Montag der darauffolgenden Woche kehrte Cem mit drei neuen Vorderzähnen in die Schule zurück. Anton hingegen erst eine Woche später.
Max hatte ihm mit dem Tritt tatsächlich mehrere Rippen angeknackst.
Die drei Schläger mieden jeden Blickkontakt mit Max, und da in der Schule Max und Cosmin inzwischen als unzertrennliches Freundespaar galten, erlebte auch Cosmin keine neuen Anfeindungen oder Belästigungen mehr.
Jeden Wochentag verbrachten die beide Jungen etwa zwei Stunden mit dem gemeinsamen Abarbeiten der Hausaufgaben. Da Cosmin sich um den kleinen Haushalt der Munteanus kümmern musste, erledigten sie die Hausaufgaben meistens in Cosmins Zimmer.
Hin und wieder gesellte sich Cosmin nach der Schule auch zu Max’ Training auf dem Dachboden. Dann versuchte Max ihm einige Techniken der Selbstverteidigung beizubringen und manchmal hangelten sie zusammen an den Dachschrägen herum. Cosmin genoss es aber auch, dem Freund bei Turnübungen am Reck oder Barren zuzuschauen. Wenn Max die Boxsäcke mit Tritten und Schlägen traktierte, empfand Cosmin fast schon Mitleid mit dessen unbekanntem Stiefbruder.

Vielleicht zogen sie anfangs unauffällig die Beine zurück, wenn sich die Knie unter der Schulbank oder an Cosmins Schreibtisch berührten. Vielleicht rückten sie anfangs instinktiv ein paar Zentimeter voneinander ab, wenn sich beim gemeinsamen Lernen die Schultern oder Köpfe zu nahe kamen. Doch bald schon war es, als würde bei solch einer Berührung Wärme zusammen mit dem Gefühl von Zuneigung und Geborgenheit von einem der beiden Jungen zum anderen strömen und der andere diese Wärme zurück fließen lassen, wie es etwa bei Zwillingen der Fall ist.
Möglich, dass sich später auch schon kurze Hitzewellen darunter mischten, doch sofern das der Fall war, blieben diese Hitzewellen entweder unbemerkt oder sie wurden so schnell verdrängt wie sie gekommen waren.

Es gab jedoch eine Sache, die nur Cosmin auffiel und die er für sich behielt. Nach wie vor teilten sich Cosmin und Max in den Hofpausen die Mauer unterhalb der Kletterwand mit fünf, manchmal auch sechs Jungen der Parallelklasse.
Ein oder zwei Tage nach Cems Rückkehr bemerkte Cosmin, dass der Junge mit den blondierten Haarsträhnen soweit wie nur möglich von dem schmächtigen Jungen mit der Hornbrille entfernt saß, obwohl sie in den Vorwochen nicht selten Händchen haltend zusammen gesessen hatten. Und nach der Pause trotteten sie getrennt und mit gesenkten Köpfen ins Schulhaus. Cosmin erwischte sich dabei, dass er über das Ende dieser innigen Freundschaft traurig war und dass er zu gern den Grund dafür erfahren hätte. Und die Vorstellung, ihm könnte eines Tages mit Max dasselbe passieren, schnürte ihm regelrecht die Kehle zu.
Doch nach etwas mehr als einer Woche saßen während einer Hofpause beide plötzlich wieder nebeneinander. Cosmin sah, dass sie sich gegenseitig die Hände streichelten. Obwohl er mit keinem der beiden je ein Wort gewechselt hatte, empfand er unbändige Freude darüber, dass die Jungen sich offenbar wieder versöhnt hatten…

  1. Bleib hier über Nacht

Cosmin

Am Freitag vor dem letzten Septemberwochenende kündigte Frau Dr. Meyer für die darauffolgende Woche eine zweistündige Physikklausur an und der Deutschlehrer Herr Schneider schien aus den Schülern der Klasse Schriftsteller machen zu wollen. Er verlangte von allen eine vierseitige Beschreibung des Ausblicks von der Muldebrücke am Stadteingang.
Cosmin hatte Max überzeugen können, nach der Schule den kurzen Abstecher vom Rathaus bis zur Brücke zu machen.
Max lehnte neben seinem Fahrrad am Brückengeländer, während Cosmin Fotos mit seinem Handy schoss.
„Na schön, ich sehe einen Fluss und daneben eine Straße voller Autos, ein Schloss mit Turm und das Rathaus. Die Uhr zeigt halb zwei an. Was soll dieser Schwachsinn, Cos-Mi? Ich sitze das ganze Wochenende zu Hause 'rum, um solchen Stuss zu schreiben? Wir wollten morgen in die Kletterhalle gehen“, schimpfte Max.
Cosmin tätschelte seine Schulter. „Bis du nachher zu mir kommst, bin ich mit meinem Aufsatz fertig. Ich helfe dann bei dir mit. Wenn wir etwas länger machen heute, werden wir auch mit deinem Aufsatz fertig. Und ich möchte dich eigentlich auch zum Abendessen einladen.“
„Hä?“, Max fuhr verblüfft zu Cosmin herum. „Hast du im Lotto gewonnen?“
„Das Lotto spielen überlasse ich meinem Vater. Ich bereite das Essen selber zu. Es soll eine Überraschung für dich werden.“ Cosmin räusperte sich und ergänzte sofort: „Und für meinen Vater.“
Allerdings stellte sich wenig später heraus, dass Cosmins Vater andere Pläne hatte als sich von Cosmin überraschen zu lassen.
Nachdem Cosmin in sein Zimmer zurückgekehrt war, fuhr er den PC hoch, um die auf der Brücke geschossenen Fotos auf den Computer zu übertragen.
Sein Handy klingelte.
Er sah, dass sein Vater anrief. „Tata, wolltest du heute nicht schon zu Hause sein?“
Soweit Cosmin wusste, montierte sein Vater zusammen mit einem Kollegen Sonnenkollektoren in einem Nest irgendwo im Harz und hatte dort auch übernachtet.
„Cosmine, mein Junge, wir hatten Pech mit dem Wetter. Ich kann heute nicht nach Hause kommen. Wir werden erst morgen Nachmittag fertig.“
Cosmin versuchte, nicht allzu erfreut zu klingen.
„Schade Tata, ich habe Maxi zum Abendessen eingeladen und dachte, ich mache mal was Besonderes.“
„Das kannst du doch trotzdem machen und mir was übrig lassen. Macht euch einen schönen Abend, Cosmine.“
„Mach´s gut, Tata.“
Cosmin machte einen Freudensprung an Max’ Griffbrett über dem Türrahmen und schaffte zum ersten Mal 14 Klimmzüge. Es fehlte nur noch einer bis zur Eins!

Gegen um vier war Cosmin mit seinem Aufsatz fertig und und bereitete einige Physikaufgaben vor, die er am Wochenende mit Max rechnen wollte.
Eine halbe Stunde später fühlte er sich, als hätte er Hummeln unter dem Hintern. Er würde nie verstehen, wie jemand tagtäglich mehr als zwei Stunden Boxsäcke traktieren, an Dachschrägen herum hangeln oder am Reck und Barren bis zur Erschöpfung trainieren konnte. Hin und wieder spähte er aus dem Fenster hinaus auf den Gehweg vor dem Block. Inzwischen hatte Regen eingesetzt.
Es klingelte an der Wohnungstür.
Cosmin öffnete. Davor schüttelte sich Max Regentropfen aus den Haaren und grinste. „Cos-Mi, du konntest es kaum erwarten, dass ich komme. Stimmt’s?“
„Du phantasierst!“
„Komm schon, ich habe deine Gardine wackeln sehen“, kicherte Max und streifte sich die Schuhe von den Füßen.
„Da war eine Fliege.“ Cosmins Blick fiel auf Max’ Shirt. „Das ist nass. Zieh das aus, ich gebe dir was Trockenes von mir.“
„Cos-Mi, du hörst dich jetzt an wie meine Oma. Das ist in zehn Minuten wieder trocken. Wo ist dein Alter?“
„Der arbeitet auswärts und kommt heute leider nicht nach Hause.“
In Max’ Gesicht schien die Sonne aufzugehen. „Das ist ja schade.“
„Ja, wirklich schade“, grinste Cosmin und schob Max in sein Zimmer.

Beide Jungen setzten sich an Cosmins Schreibtisch, Cosmin schob zwei beidseitig eng beschriebene Blätter zu Max hinüber. „Lies das. Danach bist du dran mit schreiben.“
Augenblicklich verdüsterte sich Max’ Gesicht. „Ich kann’s kaum erwarten.“
Eigentlich hatte Cosmin vorgehabt, sich das Rezept für die Zubereitung des Abendessens noch einmal auf seinem Handy anzuschauen. Doch dann erschien es ihm interessanter, Max beim Lesen des Aufsatzes zu beobachten, zu sehen, wie dessen Augen den geschrieben Zeilen folgten, mal gelangweilt, oft aber auch erstaunt oder sogar fasziniert.
Nach der letzten Zeile schob Max die beiden Zettel zurück und warf Cosmin einen bewundernden Blick zu. „Ich kapier’s nicht, das alles hast du in den paar Minuten gesehen?“
„Das hättest du auch, wenn du nicht die ganze Zeit gemeckert hättest.“
Max deutete hinter sich. „Ich hab dein Fenster von der Brücke aus gesehen.“
Ein warmes Gefühl flutete durch Cosmins Brust und ließ alle Wörter schmelzen, die ihm auf der Zunge lagen.

Das hast du gesehen, Maxi?

„Cos-Mi, vergiss es!“ Max deute auf Cosmins Aufsatz. „Ich könnte nie so was schreiben!“
„Komm schon Maxi, versuch’s wenigstens.“
„Nö!“
„Du kannst die Fotos nehmen, die ich gemacht habe.“ Cosmin legte seine Hand auf Max entblößten Unterarm. „Und du darfst dir meinen Aufsatz vorher noch mal durchlesen.“
„Wie großzügig.“
Plötzlich hellte sich Max’ Gesicht auf. „Wenn ich mir anschließend was von dir wünschen kann… okay.“
„Waas?!“ Cosmin überlegte fieberhaft, was Max für einen Wunsch haben könne.

Ich werde für dich bestimmt nicht auf dem Tisch tanzen. Oder was Versautes machen. Und mein braunes Zigeunerschwänzchen zeige ich dir auch nicht.

„Hey, ich wünsch’ mir was Lustiges“, ergänzte Max, als hätte er Cosmins Gedanken gelesen.
Cosmin seufzte. „Na gut, was Lustiges, aber nur, wenn wir beide drüber lachen können.“
„Alles klaro, Cos-Mi. Ich wünsche mir, dass wir uns beim Abendbrot gegenseitig füttern.“
Cosmin traute seinen Ohren nicht und als er sich Max’ aufgesperrten und mit Soße beschmierten Mund in Erwartung eines befüllten Löffels vorstellte, schien sein Zwerchfell zu platzen.
„Das ist doch total bescheuert.“, rief er. „Und außerdem ziemlich kindisch.“
„Abgemacht?“, griente Max.
Cosmin wischte sich eine Lachträne aus den Augen.
„Nur wenn du nicht bei mir abschreibst und alle vier Seiten schaffst“, erwiderte er und dachte sofort, zwei Seiten hätten es auch getan. Diese Fütterung wäre bestimmt ein Heidenspaß geworden!
Zu Cosmins Überraschung schnappte sich Max ein leeres Blatt und begann, teilweise abgedeckt von der linken Hand, eine Zeile nach der anderen zu schreiben. Cosmin beugte sich vor, um Max’ Geschriebsel zu lesen, doch Max trat gegen seinen Stuhl. „Cos-Mi, dein Gegucke nervt! Hast du nichts zu tun?“
Kichernd erhob sich Cosmin, warf sich auf sein Sofa und rief auf dem Handy eine Seite mit Kochrezepten auf.
Bevor er sich eine halbe Stunde später auf den Weg in die Küche machte, versuchte er, an Max’ Schulter vorbei einen Blick auf dessen Blatt zu werfen.
„Hey, wolltest du nicht was zu essen machen?“, rief Max und deckte mit den Händen das Blatt ab. Aber so viel hatte Cosmin gesehen: Max arbeitete bereits an der zweiten Seite.
Der will echt gefüttert werden!, grinste Cosmin in sich hinein und huschte aus dem Zimmer.
Die Internetseite mit den Rezepten hatte versprochen, dass die Zubereitung der geplanten Mahlzeit nicht viel länger als eine Stunde dauern würde, tatsächlich benötigte Cosmin fast die doppelte Zeit. Dafür erfüllte der Duft des Gebrutzelten jeden Winkel von Küchenecke und Wohnzimmer und hatte wahrscheinlich durch Türspalt und Schlüsselloch einen Weg in sein Zimmer gefunden. Jedenfalls stand plötzlich Max neben ihm und im letzten Moment wischte Cosmin Max’ Hand vom Pfannendeckel.
„Maxi! Noch fünfzehn Minuten. Verzieh dich!“
„Wow Cos-Mi, das riecht echt lecker“, rief Max und wedelte mit zwei Blättern. „Hier sind die vier Seiten. Ich wollte nur mal gucken, womit ich dich füttern muss.“ Er legte die Blätter auf den Esstisch und und verzog sich aus der Küche.
Während Cosmin den Tisch deckte, überflog er Max’ Aufsatz. Die Sätze waren eher farblos und klangen an manchen Stellen wie zusammenhanglose Aufzählungen und dennoch war Cosmin überrascht, dass Max volle vier Seiten geschafft hatte.
Eine Viertelstunde später saßen sich die beiden Jungen am Esstisch gegenüber. Max schnupperte am Gebratenen, das ebenso wie die Pommes mit dickflüssiger, roter Soße überzogen war. „Was ist das?“
„Womit wird ein großer Zigeunerjunge seinen… äh… besten Freund überraschen, wenn er zum ersten Mal für ihn kocht?“ Eigentlich hatte Cosmin „einzigen Freund“ sagen wollen.
„Zigeunerschnitzel mit Zigeunersoße? Oh Mann Cos-Mi…“ Max griff nach Cosmins Hand. „Tolle Idee!.“
Dann häufte er Pommes, etwas Fleisch und Soße auf seinen Löffel. „Und jetzt mach den Mund auf.“
Cosmin kicherte. „Du aber auch. Hey, weiter aufmachen!“
Obwohl Cosmin den Löffel geradezu überfrachtet hatte, landete beinahe die gesamte Ladung in Max’ Mund. Nur an Teil der Zigeunersoße blieb wie ein schmaler Schnurrbart an der Oberlippe hängen. Cosmin äugte auf den Löffel, der sich seinem Gesicht näherte.
„Hey, da ist meine Nase!“ Max kicherte und senkte den Löffel und schob die Fracht in Cosmins Mund.
Cosmin sah, dass sich Max die Soße von der Lippe leckte. „Wir machen es so, wer zum Schluss das andere Gesicht am wenigsten beschmiert hat, gewinnt. Aber der Löffel muss voll sein“, schlug er vor, kaum dass der Mund wieder leer war.
„Wieso hast du das nicht gleich gesagt“, maulte Max und beide befüllten die Löffel mit der nächsten Ladung.
Wieder war es Cosmins Löffel, der zuerst das Ziel erreichte. Doch auf halben Weg zuckte Max mit dem Kopf und tauchte kurz mit der Nasenspitze in der Soße ab.
„Hey, du schummelst!“, protestierte Cosmin. Und als Max’ Löffel seinen Mund erreichte, zuckte er mit dem Kopf etwas zur Seite. Ein Pommesstück purzelte auf seinen Teller, er fühlte, wie etwas Soße zum Kinn lief und auf sein Shirt tropfte.
Er hoffte, dass die Soße dort keine dauerhaften Flecken hinterlassen würde.
„Du hast jetzt aber mehr geschummelt als ich“, mokierte sich Max. „Jetzt ohne Tricks, okay?“
Das war freilich nicht ganz einfach. Cosmin versuchte ein Lachen zu unterdrücken. Der Anblick von Max’ roter Nase kitzelte sein Zwerchfell. Zwar gelang es ihm, den Kopf halbwegs still zu halten, aber nun zuckte seine Hand und ein Teil der Ladung landete auf Max’ Shirt.
„Oh Mist, ich habe…“
„Bbbbbbb…“, kicherte Max, mit den Pausbacken sah er in etwa so aus wie ein Hamster beim Anlegen von Wintervorräten. Er pflückte ein Stück Zigeunerschnitzel vom Shirt und schob es sich in den Mund.
Nun wurde es für die beiden immer schwieriger, den Mund des anderen treffsicher zu befüllen. Wie auch, wenn sie sich beim Anblick der beschmierten Gesichter vor Lachen kringelten.
Endlich waren die Teller leer, dafür beide Gesichter von einem Ohr zum anderen, von der Nase bis zum Kinn mit Soße beschmiert, von den Shirts ganz zu schweigen.
Max zückte sein Handy. „Selfie!“
Die Jungen legten einen Arm um die Schulter des anderen, mal grinsten sie in die Kamera, mal zogen sie Grimassen, mal berührten sich ihre beschmierten Wangen.
„Cos-Mi, ich glaube, ich habe seit Jahren nicht mehr so viel Fun gehabt“, sagte Max, als sie sich mit Küchentüchern gegenseitig die gröbsten Hinterlassenschaften der Fütterung aus dem Gesicht wischten.
Cosmin fragte sich, ob er jemals so viel gelacht hatte wie bei diesem „Abendessen“.
„Mir geht´s genauso.“

Zurück in Cosmins Zimmer streifte sich Max ein frisches Shirt aus dem Kleiderschrank seines Freundes über und warf einen Blick auf das Handy.
„Oh Scheiße, es ist schon um acht. Komm, ich helfe dir beim Aufräumen in der Küche und hau dann ab!“
„Jetzt schon? Hast du noch was anderes vor heute?“, erwiderte Cosmin enttäuscht. Er hatte gehofft, dass der Abend mit Max nun in die zweite Runde gehen würde, mit Quatschen oder einem Computerspiel, sogar ein gemeinsames Klimmzugtraining mit vollen Bäuchen wäre besser als den Rest des Abends allein in seinem Zimmer zu verbringen. Ein prasselndes Geräusch drang an sein Ohr. Er trat ans Fenster „Guck mal nach draußen.“ Dicke Regentropfen klatschten gegen die Scheibe.
„Oh nee!“, stöhnte Max und schaute nun ebenfalls in den strömenden Regen hinaus. „Was, wenn das so weiter schifft?“
„Du kannst doch bis morgen hier bleiben. Ich bringe dein Rad schnell runter in den Keller…“
Max schielte auf das enge Sofa neben sich. „Ich penne nicht im Bett von deinem Alten.“
„Ich auch nicht“, kicherte Cosmin. „Das Sofa lässt sich ausziehen.“
„…“
„Mann, Maxi!“, schnaubte Cosmin, „Hast du Angst, dass ich in der Nacht über dich herfalle?“
Max fuhr überrascht zu Cosmin herum und versetzte ihm lachend einen Hieb in die Rippen. „Das wäre genauso lustig wie dich zu füttern.“

Die Jungen beschlossen, das Aufräumen der Küche und den Abwasch auf den nächsten Morgen zu verschieben. Sie lümmelten auf dem Sofa, die Handys in der Händen, jeder eine Flasche Bier zu Füßen, und vergnügten sich mit Spielen wie BombSquad oder Doodle Army.
Nachdem Cosmin, der mit Max’ unglaublichen Reflexen nicht mithalten konnte, einmal mehr ein Spiel verloren hatte, legte er das Handy beiseite und musterte das vom Eifer der Gefechte gerötete Gesicht des Freundes. Ihm lagen tausend Fragen auf der Zunge. Und eine davon brannte besonders heiß. Er wusste natürlich, welche Blicke die Mädchen nicht nur aus ihrer Klasse Max hinterher warfen. Noch schien es, als würden solche Blicke von Max wie von einem Eisblock abprallen. Aber eines Tages würde ein Mädchen diesen Eisblock zum Schmelzen bringen. Und dann… ?
Cosmin fühlte, wie dieser Gedanke sich im Hals zu einem Kloß verfestigte. Er wandte seinen Blick ab.
Das ist doch idiotisch! Was für ein Problem habe ich damit? Max wäre nicht mehr ständig mit mir zusammen, beantwortete er die eigene Frage. Ihm fielen die Herbstferien ein, die in zwei Wochen beginnen würden.
„Maxi?“
„Neben dir“
„Was machst du eigentlich in den Herbstferien?“
Max wandte seinen Blick Cosmin zu, freudige Erwartung breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Mein Bruder Leon nimmt sich frei und ich fahre zu ihm nach Berlin. Eine Woche lang werden wir uns gegenseitig die Ärsche versohlen.“
„Das klingt toll!“, erwiderte Cosmin und sandte ein Stoßgebet in den Himmel, dass irgendetwas diesen Plan durchkreuzen würde.
„Na Cos-Mi, noch ein Spiel?“
Cosmin seufzte und griff nach seinem Handy.

Max

Die Uhr an Max’ Handgelenk zeigte gerade mal 22 Uhr an, als die Männchen auf dem Display seines Handy sich in verschwommene Kleckse verwandelten. Max wusste sehr wohl, dass sein vom Training strapazierter Körper sich geradezu nach dem Schlaf sehnte. Das Bier wirkte zudem wie eine Schlaftablette.
„Cos-Mi, ich kann nicht mehr“, sagte Max und unterdrückte ein Gähnen.
Cosmin schien etwas enttäuscht zu sein. Vielleicht hatte er gehofft, dass der erste gemeinsame Abend länger dauern würde?
„Ich mach’ schnell das Bett.“
Sie standen vom Sofa auf, Cosmin zog es auseinander und breitete zwei Decken darauf aus. „Welche Seite willst du?“
„Außen. Falls ich pinkeln muss“, kicherte Max und begann, aus seinen Sachen zu steigen. Cosmin verschwand mit seinem Schlafanzug im Bad.

Ach Cos-Mi, ich hätte dir deinen kleinen Bengel bestimmt nicht weggeguckt!

Bis auf die Unterwäsche entkleidet ließ er sich auf das Sofa fallen, verkroch sich unter der Decke und verschränkte die Hände unter dem Kopf…

„Maxi, schläfst du schon?“
Max riss die Augen auf. Es war dunkel im Zimmer. Durch das Fenster drang der Schein einer Straßenlampe und in ihrem Licht sah er Cosmin neben sich. Cosmin stützte den Kopf auf seinem angewinkelten linken Arm und die schwarzen Augen schienen in der Dunkelheit zu glühen.
„Nö, ich döse nur vor mich hin.“
„Kann ich dich was fragen?“
Max gähnte herzhaft. „Klar.“
„Hattest du schon mal eine Freundin?“
Plötzlich war Max hellwach.

Wir sind jetzt schon fast drei Wochen jeden Tag zusammen, aber darüber haben wir nie geredet. Obwohl Jungs doch meistens nur dieses eine Thema kennen!

„Dir laufen die Mädchen hinterher, stimmt’s?“ bohrte Cosmin weiter.
„Scheint so. Mir geht das manchmal ziemlich auf’n Sack. An meiner alten Schule, da war ich bis zum Frühjahr mit einer zusammen. Über anderthalb Jahre.“
„Und habt ihr…“
„Du meinst gefickt?“
Cosmin schwieg und starrte ihn stattdessen weiter aus glühenden Augen an.
„Nee, die kriegte immer 'ne Krise, wenn ich ihr äh… da zwischen die Beine fassen wollte.“
Cosmins Kichern drang ein sein Ohr.
„Dann hast du noch nie… gefickt?“
„Naja. Mein Bruder… mein Onkel hat mir zum 17.Geburtstag sozusagen ein Wochenende mit einer Frau geschenkt.“
Cosmin schwieg, offenbar begierig, mehr zu erfahren.
„Cos-Mi, ehrlich gesagt, ich glaube, Alice, so hieß die Frau, sie hat mich gefickt.“
Max stützte nun den Kopf auf den angewinkelten rechten Arm und erwiderte Cosmins glühenden Blick. „Was ist mit dir? Du bist so ein süßer Kerl. Dir laufen die Weiber doch bestimmt auch hinterher. Hast du schon mal?“
„Ach… ich glaube hier stehen die Mädchen mehr auf Kerle wie Chris oder Cem. Nee, ich hab noch nie…“ Cosmin seufzte. „Ich hatte hier noch nicht mal eine Freundin. Nur in Rumänien.“
"In Rumänien?
„In dem Dorf, aus dem mein Vater stammt, da werden bei uns … Zigeunern … ich glaube, da wird zugeteilt. Ginge es nach dem Zigeunerboss dort, habe ich sozusagen schon… äh… meine künftige Frau kennengelernt.“
Max richtete sich kerzengerade auf. „Du lässt dir doch keine Frau zuteilen, oder?“
„Hey, leg dich wieder hin! Natürlich nicht!“, schnaubte Cosmin und kicherte plötzlich. „Die sieht aber hübsch aus und… naja, wir waren letzten Sommer ein bisschen zusammen und ich durfte auch mal die Brust anfassen. Ihr Vater, ein Onkel von mir, hätte mich am liebsten als Schwiegersohn, glaube ich.“
Max verschränkte wieder die Hände hinter dem Kopf und starrte grübelnd zur Zimmerdecke. Er versuchte sich Cosmin mit einer Freundin vorzustellen und fühlte einen leisen Stich im Herzen.

Ich wäre doch nicht etwa eifersüchtig? Das ist doch bescheuert! Vielleicht habe ich einfach nur Schiss, dass wir dann nicht mehr so viel Zeit füreinander haben?

Er beschloss, das Thema zu wechseln.
„Cos-Mi, wie war es, als deine Mutter abgehauen ist?“
Max bemerkte, dass das Glühen in Cosmins Augen erlosch, als würde etwas den Blick verschleiern.
„Sie war sehr jung, als sie mich bekommen hat. Ich glaube, mein Vater war ihre erste richtige Liebe. Vor meiner Geburt ist sie mit ihm durchgebrannt. Ihre Eltern habe ich nie kennengelernt. Vielleicht hat sie irgendwann gemerkt, dass sie mit ihrem Aussehen etwas besseres haben kann als das hier…“ Cosmin wischte kurz mit der Linken durch die Luft.
Max versuchte sich Cosmins Mutter vorzustellen. Vor seinem inneren Auge materialisierte sich eine dunkelhäutige Schönheit, die mit Blicken aus ihren glühenden schwarzen Augen Männerherzen in Brand setzen konnte.
„Jedenfalls kam sie eines Tages nicht mehr nach Hause. Ich weiß nicht wie viele Tage ich gehofft hatte, dass sie vor der Tür steht oder mich wenigstens mal zurückruft. Später erklärte mir mein Vater, dass sie sich einen reichen Sack - aus München glaub’ ich - geangelt hat.“
„Was für eine Scheiße“, sagte Max leise. „Du hast sie seit dem nicht mehr gesehen?“
Cosmin machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nach einem Jahr hat sie mich zum ersten Mal angerufen und wollte mich sehen. Nur mal sehen, Maxi. Aber ich wollte sie nicht mehr. Einmal kam sie zur Schule, wollte für ein paar Tage mit mir irgend wohin verreisen. Aber ich habe ihr gesagt, sie soll die Reise mit ihrem Macker machen.“
Max starrte an die Zimmerdecke und fragte sich, wer von ihnen eigentlich mehr Pech mit der Mutter gehabt hatte.
„Maxi“
„Hm?“
„Woran ist deine Mam gestorben?“
Max wandte sich Cosmin zu und stützte den Kopf wieder auf seiner Rechten ab.
„Die bessere Frage wäre, wie ist sie gestorben. Glaub’ mir, Cos-Mi, die Geschichte ist echt beschissen, du willst sie lieber nicht hören.“
Cosmins Zeigefinger zeichnete eine Linie auf Max rechten Unterarm.
„Doch, das will ich.“
„Ich hab sie bisher nur zweimal erzählt. Meiner Oma Lisa und meinem… Onkel. Sie wollte meinen Alten verlassen und hier her zurück. Zu ihren Eltern. Damals lebte mein Großvater noch. Aber ich wollte nicht mit, ich wollte in Berlin bleiben, in meiner Schule, bei Leon, der Clique, die ich damals hatte. Cos-Mi, sie musste mich ins Auto schleifen! Sie hatte einen Van, wegen ihrer Gemälde und so. Statt mich neben sie zu setzen, habe ich mich auf die Rückbank…“
„Oh nee Maxi, du warst dabei?“
„Cos-Mi, meine Mam hat die ganze Zeit geweint und ich Vollidiot habe zur selben Zeit meinen Kumpels geschrieben, wie sehr ich meinen Alten und meine Alte hasse. Es war schon Mitte April. Aber hier hatte es geschneit. Und es war dunkel, als wir von der Autobahn runter sind. Der Scheiß - Matsch war gefroren. Mam hätte nie so schnell fahren dürfen. Sie verlor die Kontrolle und wir sind in einen Baum gekracht. Ich kam zu mir, als sie mich aus dieser Scheißkarre rausholten. Ich sah, wie welche von der Feuerwehr vorn das Auto aufschnitten, um auch meine Mam rauszuholen. Und die Scheibe war voller Blut. Das ist das letzte, was ich von ihr gesehen habe.“
„Ich Idiot. Ich hätte dich nicht fragen sollen“, schluchzte Cosmin und streichelte Max’ Arm. „Es tut mir Leid, Maxi.“
„Schon gut. Ich hatte nur ein Schleudertrauma und eine Gehirnerschütterung. Und ein paar Schrammen. Cos-Mi, hätte ich vorn gesessen, ich hätte mit aufpassen können, hätte gesagt, dass sie langsamer fahren soll.“
„Aber vielleicht wärst du jetzt auch tot.“
„In den Wochen danach habe ich mir das sogar gewünscht. Leon hat mich damals wieder zusammen geflickt.“
Max sah, dass sich Cosmin mit dem Handrücken über das Gesicht wischte.
„Komm, wir erzählen uns was anderes. Sonst fange ich auch an zu flennen.“ Er ließ den Kopf zurück auf die verschränkten Hände sinken. „Stimmt es, dass es in Rumänien Vampire gibt?“
„Was ist das denn für eine blöde Frage? Na gut, weil du´s bist. Also es gab einen rumänischen Fürsten, sein Name war Vlad der Pfähler“, begann Cosmin und erzählte etwas über diesen Vlad. „Aber natürlich war er kein… Maxi?“
„…“
„Schläfst du?“

Cosmin

Cosmin rückte etwas näher an Max’ Gesicht heran. Noch immer hatte Max die Hände unter dem Kopf verschränkt, seine Haare bedeckten das halbe Kopfkissen. Im schwachen Lichtschein der Straßenlampe sah Cosmin, dass es unter Max geschlossenen Augen glitzerte.
Cosmins Augen durchwanderten jeden Zentimeter des Gesichtes unter ihm, sie wischten die Tränenreste von den Wangen, folgten dem Nasenrücken und zeichneten den halb geöffneten Mund nach.

Maxi, ich wünschte, wir wären uns schon vor 3 Jahren begegnet.

Cosmins Kopf senkte sich noch etwas tiefer und für einen Moment, kaum länger als ein Wimpernschlag, berührten seine Lippen die Stirn des Freundes. Dann sank er zurück auf seine Seite des Bettes.

Max

Tageslicht kitzelte Max’ Augen.
Im Zeitlupentempo klärte sich sein Blick. Cosmin hatte ihm den Rücken zugekehrt, das zottelige schwarze Haar breitete sich hinter seinem Kopf auf dem Kissen aus, andere Strähnen verhüllten seine Stirn. Einen Teil des braunen Nackens ließ die Mähne jedoch unverhüllt und Cosmins linkes Ohr lugte zwischen den Zotteln hervor.
Max stützte sich auf den rechten Arm und ließ seine Augen vom mit feinen schwarzen Härchen überzogenen Nacken zu Cosmins Ohr weiter wandern.
Meine Mam hatte echt ein Blick für Details, dachte er, als er die kleine Narbe auf dem Ohrläppchen betrachte.

Aber ja, wir wären auch dann Freunde geworden, wenn du dieses Mal nicht gehabt hättest

Max’ Augen folgten dem Profil des Gesichtes, bis sie die zarten Flaumhaare an Cosmins Kinn erreichten.
„Zu Weihnachten kriegst du von mir einen Rasierer“, flüsterte Max und sein Blick kehrte zu Cosmins Ohrläppchen zurück. Er fragte sich, wie Cosmin zu diesem Mal gekommen sein könnte und beugte sich noch etwas tiefer.
Plötzlich führ Cosmin herum und Max machte einen Satz zurück.
„Ertappt!“, kicherte Cosmin.
„Quatsch“, erwiderte Max, obwohl er sich doch ein bisschen ertappt fühlte.
Cosmin stieg über Max hinweg und sprang vom Bett, ohne Max aus den Augen zu lassen. „Und das mit dem Rasierer habe ich gehört!“
„Schreib das auf deinen Wunschzettel. Ach, und beeil dich, ich muss auch pinkeln. Und hast du ne Zahnbürste für mich?“
„Zahnbürste? Zu Weihnachten?“, grinste Cosmin, als er mit seinen Sachen auf dem Arm aus dem Zimmer huschte.
„Blödmann!“
Wenig später kehrte Cosmin aus dem Bad zurück. „Tut mir Leid Maxi, eine neue Zahnbürste bekommst du wirklich erst zu Weihnachten. Ekelst du dich vor mir?“
„Jede Minute!“
„Dann nimm nicht die blaue Zahnbürste. Das ist meine.“

  1. Er ist leider schon vergeben

Max

Der Feiertag am 3. Oktober fiel in diesem Jahr auf einen Freitag. Am Montag erfuhr Max, dass seine ein Jahr jüngere Cousine Hazel und sein elf Jahre alter Cousin Cal das lange Wochenende ebenfalls bei Oma Lisa verbringen würden.
Onkel Tobi, der Bruder seiner Mutter, hatte in den USA studiert und dort Tante Clara geheiratet. Für Max war es unbegreiflich, dass Onkel Tobi und Tante Clara das sonnige Kalifornien verlassen hatten und nach Hannover gezogen waren. Max freute sich besonders auf Hazel, deren Name wie Häsl klang. Sie teilten die Leidenschaft fürs Klettern. Außerdem war sie eine ausgezeichnete Turnerin und sie besuchte in Hannover eine Sportschule. Von Cousin Cal wusste Max nicht allzu viel. Nur dass man ihm die amerikanischen Wurzeln schon am harten Akzent anhörte.
Die Wettervorhersage für den Samstag des langen Wochenendes war vielversprechend. Und so hatte Oma Lisa bereits am Montag vier Tagestickets für den Vergnügungspark Belantis bei Leipzig reserviert, wobei sie das vierte Ticket nicht für sich selber, sondern für Cosmin gekauft hatte.

Am Donnerstag erreichten Max und seine Großmutter kurz vor 18 Uhr den Bahnsteig, auf dem der Zug mit Hazel und Cal eintreffen würde.
„Noch 10 Minuten“, seufzte sie und schaute einen Moment später erneut auf die Bahnhofsuhr über ihren Köpfen, als würde das die Dauer einer Minute verkürzen. „Maxi, ich glaube, Cal wollte vor allem wegen dir mitkommen…“
Max hörte auch, was sie unausgesprochen ließ: … und ertrage ihn, auch wenn er sich wie eine Klette an dich dran hängt.
„Keine Sorge, er kann mir so oft er will in den Hintern treten und ich werde ihm deswegen nicht die Knochen brechen.“
Endlich verkündete der Lautsprecher die Ankunft des Zuges, der kurz darauf mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof einfuhr.
Max erspähte im Gewimmel aus Menschen mit Koffern und Rucksäcken Hazel und Cal, als beide aus dem benachbarten Waggon stiegen. Cals Kleidung war mit Sternenbannern übersät. Wie eine amerikanische Fahne auf zwei Beinen lief er ihnen entgegen und zerrte seine große Schwester hinter sich her.
„Grandma, Mäxy, we’re here!“
Während er der Oma in die Arme fiel, begrüßten sich Max und Hazel mit einer herzlichen Umarmung.
„Wow, du siehst cool aus, Hazel!“, sagte Max betrachtete staunend ihr zu Dreadlocken geflochtenes, dunkelblondes Haar. Die Frisur passte zudem zu fernen mexikanischen Wurzeln, die sie von ihrer Mutter Clara geerbt hatte. Hazels Augen hingegen strahlten genauso blau wie seine eigenen.
„Maxi, schau dich an! Ich will lieber nicht wissen, wie viele Mädchen nachts von dir träumen“, erwiderte sie lachend das Kompliment.
„Go away Hazel, ich bin dran“, rief Cal, schob Hazel beiseite und beäugte Max’ Gesicht. „Ich dachte, du musstest im Gesicht genäht werden. Man sieht ja gar nichts“, schnaubte er.
„Hi Cal, ich freu mich auch, dich zu sehen!“, erwiderte Max, schob ihm das Sternenbanner- Basecap in den Nacken und kraulte kurz das Stoppelhaar seines Cousins.
„Mäxy, stimmt es, dass du drei Leute auf einmal weggekickt hast? Ich lerne jetzt auch Karate, ich war sogar schon bei ein paar Wettkämpfen dabei“, sprudelte es aus dem Jungen heraus, wobei Max einige von Cals Wörtern wegen des amerikanischen Akzents erraten musste.
„Und jetzt bist du der Mann, den ich schlagen muss?“, grinste Max. Ohne jede Vorwarnung hebelte er Cal mit dem rechten Bein von den Füßen, fing ihn auf und einen Augenblick später zappelte Cal auf Max’ ausgestreckten Armen.
Max zwinkerte seiner Oma zu, die für einen Moment in Hazels Umarmung erstarrte. „Wir üben nur, Omi.“
„Wow, war das great. Mäxy, zeig mir das nochmal!“
Max lachte und stellte Cal wieder auf die eigenen Füße.
„Klar! Morgen, da haben wir den ganzen Tag Zeit!“

Cal zuliebe hatte Oma Lisa ein amerikanisches Abendessen zubereitet. Auf verschiedenen Tellern häuften sich frittierte Hähnchenstücken, Rippchen und Rindersteaks sowie mit Hackfleisch gefüllte Burritos. Während des Essens erzählte der Junge von seinem Jahr an einer Schule in Palm Springs, wo Tante Claras Eltern lebten. Normalerweise hätte Max lieber die Flucht ergriffen, als sich die Schulgeschichten anderer Leute anzuhören, doch lauschte er jetzt interessiert Cals Erzählungen.
Am Abend schauten sich Oma Lisa und ihre drei Enkelkinder zusammen auf dem Fernseher Fotos an. Hazel und Cal hatten sie während einer fünfwöchigen Rundreise im Wohnwagen von Tante Claras Eltern durch den Südwesten der USA geschossen. Einige der Gegenden kannte Max bereits. Nach dem Tod seiner Mutter hatte Onkel Leon mit ihm die Wochen der Sommerferien in verschiedenen Klettergebieten von Kalifornien bis Utah verbracht, um ihn wieder aufzurichten.

„Weißt du was mir aufgefallen ist, Maxi?“, fragte Hazel nach dem Fotoabend. Cal und Oma Lisa hatten sich bereits schlafen gelegt. Max und Hazel waren im Wohnzimmer zurückgeblieben und saßen zusammen auf der Couch. Max hielt eine Flasche Radler in der Hand, Hazel nippte an einem Orangensaft.
„Sag jetzt bloß nicht, dass ich gewachsen bin“, grinste Max.
Hazels Augen wanderten von Max’ Hüften bis zum Scheitel, als wolle sie tatsächlich die Körperlänge abschätzen und musterten dann sein Gesicht.
„Du lachst.“
„Ich lache?“
„Okay, im Moment guckst du nur. Aber ich habe dich nie wieder lachen sehen, seit dem du… naja… kein Kind mehr bist. Du bist wunderschön, wenn du gut drauf bist.“
Max benötigte ein paar Sekunden, ehe er Hazels Sätze verdaut hatte, dann lachte er und deutete zur Treppe ins Obergeschoss. „War das jetzt ´ne Liebeserklärung? Lass das bloß nicht unsere Omi hören.“
Nun lachte auch Hazel und kniff ihm in die Wange. „Dummkopf!“
Sie lehnte sich auf der Couch zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Es läuft jetzt gut mit dir und … ?“
„Du meinst Caroline? Nee, wir haben Schluss gemacht, weil äh…“ Max grinste in sich hinein. Anders als Cosmin konnte er Hazel natürlich nicht erzählen, dass Caroline sich schon zickig gehabt hatte, wenn sich seine Hände dieser Stelle zwischen ihren Beinen auch nur genähert hatten. „… ich bin jetzt hier und so.“
„Dann hast du hier eine neue…“
„Hazel, verhörst du mich etwa?“
Hazel strich Max eine Locke aus dem Gesicht. „Ich versuche nur, schlau aus meinem Lieblingscousin zu werden. Gehen wir morgen Nachmittag in die Kletterhalle?“
„Machen wir! Und Cal nehmen wir mit!“

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen konnte es Cal kaum erwarten, sich von Max Kampftechniken zeigen zu lassen.
Also stiegen Max, Cal und Hazel hinauf zum Dachboden.
Dort stürzte sich Cal sofort auf den größten der von den Balken herabhängenden Boxsäcke und versetzte ihm einen Tritt mit dem Ergebnis, dass er selber auf dem Hosenboden landete.
„Was ist da drin?“, maulte er, während ihm Max auf die Füße half.
„Sand. Ganz frisch aus einer Wüste Kaliforniens. Also jetzt mit etwas Anlauf, Schwung aus einer Drehung holen, Bein richtig anwinkeln und auf die blöde Fresse da zielen…“
Max nahm Anlauf und ließ den rechten Fuß gegen den Boxsack krachen, sodass der mit dem Boden gegen den zwei Meter entfernten Nachbarsack klatschte.
„Oh my God, Mäxy, wie machst du das?“
„Ich bring´s dir bei“, versprach Max und streichelte Cals Stoppelhaar.
„Cool. Mäxy, wozu hast du überall diese Gesichter drauf gemalt?“
„Mein Feind. Wenn ich diese Fresse sehe, trete ich doppelt so stark zu.“
„Cool!“
Hazel zog hörbar Luft durch die Nase. „Maxi macht nur Spaß!“
Max biss die Zähne zusammen und wandte sich zu Hazel um. „Hazel, diese Fresse gehört meinem Stiefbruder und sollte ich ihn in Berlin je bei mir im Zimmer erwischen…“ Offenbar war sein Blick alles andere als spaßig, ein leiser Schreck schien Hazel durch die Glieder zu fahren.
„Hey, ich bin ja nicht in Berlin“, beruhigte Max seine Cousine. „Und jetzt, kleiner Americano, üben wir, wie man doppelt so schwere Gegner flachlegt.“
Eine Zeitlang schaute Hazel zu, wie sich die beiden gegenseitig zu Boden warfen und den Boxsäcken Schläge oder Tritte verpassten. Danach streifte sie sich ihre Kletterschuhe über und hangelte an den Dachschrägen entlang.
Gegen 10 Uhr erschien Oma Lisa auf dem Dachboden, um Hazel abzuholen. Beide planten einen Besuch in einem vor kurzem eröffneten Museum.
Sie schaute lächelnd zu, wie sich Max einmal mehr von Cal von den Füßen holen ließ, dann verließ sie zusammen mit Hazel den Dachboden.

Wie schon am Vorabend verbrachten Max und Hazel den Rest des Abends zusammen auf der Couch im Wohnzimmer. Cal waren nach dem Kampftraining am Vormittag und den drei Stunden in der Kletterhalle schon kurz nach dem Abendessen die Augen zugefallen. Später hatte sich auch ihre Oma von ihnen verabschiedet. Max vermutete, dass sie beiden die Möglichkeit geben wollte, völlig ungezwungen miteinander zu reden.
„Danke Maxi, dass du so lieb zu Cal bist. Er hatte in den letzten Tagen viel von dir und deinen Kampfkünsten geschwärmt. Ich war etwas besorgt, er könne dich nerven. Nun ist er auch vom Klettern begeistert.“ Dann tat sie, als wäre sie sauer. „Wegen dir werde ich Cal ab jetzt auch bei uns in Hannover mit in die Halle nehmen müssen.“
Max öffnete eine Flasche Radler. „Ich mag den kleinen Americano. Ich wünschte, wir könnten uns öfter sehen.“
„Wir werden in den Weihnachtsferien mit unseren Eltern für ein paar Tage zu euch kommen. Du wirst doch auch hier sein, oder?“
„Ich glaub schon. Nur Silvester wäre ich gern in Berlin bei Leon.“
„Leon ist der jüngere Bruder deines Vaters?“
„Hm, mein großer Bruder sozusagen.“
„Und mit deinem Vater redest du gar nicht mehr?“
Max nahm einen Zug aus der Flasche. „Er ruft mich einmal in der Woche an und dann reden wir fünf Minuten miteinander. Aber ich kann nicht nach Hause, jetzt wo diese… diese Tussi bei ihm ist. Wäre die nicht gewesen…“
Hazel streichelte seinen Arm. „Schon gut. Wie hast du dich hier eingelebt?“, versuchte sie das Thema zu wechseln.
„Naja, wie ihr wisst, musste ich schon ein paar Mal austeilen und auch einstecken. Aber ich habe auch einen Freund gefunden, der mir bei den Hausaufgaben und so hilft.“
„Der morgen mit uns nach Leipzig fährt?“
„Hmmh.“
„Omi hat meinen Eltern erzählt, dass du ihn gegen ein paar üble Schläger verteidigt hast.“
Max winkte ab. „Das waren alles nur Flaschen.“
Plötzlich sprang Max auf. „Ich will dir was zeigen.“
Er zog Hazel mit sich ins Gemäldezimmer seiner Mutter und deutete auf Cosmins Porträt.
Hazel blickte Max mit gerunzelter Stirn an. „Maxi, ich kenne diese Geschichte und weiß, dass du noch ein anderes Bild vom Zigeunerjungen wolltest.“
„Ja, aber könntest du dir ihn in meinem Alter vorstellen? Und zwar mit einem lachenden Gesicht?“
„Du kannst komische Fragen stellen. Ich glaube, dieser Junge würde dann genauso toll aussehen wie du.“

Es war halb neun am nächsten Morgen, als Max, Hazel und Cal zu Oma Lisa in ihren nagelneuen VW Tiguan kletterten. Cal durfte in seinem Kindersitz neben der Oma Platz nehmen, Max und Hazel teilten sich die Rückbank und ließen die Mitte für den noch fehlenden Passagier frei.
Max hatte Cosmin eingeschärft, ganz locker zu bleiben und auf der Fahrt nach Leipzig auch mal einen Ton zu sagen. Am Mittwoch hatten sie nach dem Rechnen einiger Physikaufgaben sogar geübt, wie Cosmin bei der ersten Begegnung mit Hazel und Cal einen guten Eindruck hinterlassen könne und sich mit lustigen Rollenspielen dazu vergnügt.
„Sieht fast wie ein Slum aus hier“, sagte Cal, als sie das Plattenbauviertel erreichten.
„Cal, Maxis Freund hört so was bestimmt nicht gern“, ermahnte ihn Oma Lisa.
„Omi, hier wohnt er!“, rief Max. Er hatte die vor dem Hauseingang des Plattenbaus wartende Gestalt bereits entdeckt und sprang aus dem VW, kaum dass das Auto angehalten hatte.
„Alles klaro, Cos-Mi?“, fragte Max nach einer kurzen Umarmung.
Cosmin grinste schief und Max fragte sich, wie wohl ein solch bezauberndes Lächeln auf Hazel wirken würde.
„Keine Sorge, Maxi. Ich werde dich nicht blamieren.“
Max schob Cosmin ins Auto und sah, dass Hazel seinen Freund mit Augen regelrecht zu verschlingen schien.
„Du bist der Zig… der Junge auf dem Gemälde“, rief sie erstaunt.
„Hallo Hazel“, erwiderte Cosmin und reichte ihr die Hand. „Auf dem Gemälde, das ist der kleine Zigeunerjunge ohne Freund. Ich bin der große Zigeunerjunge mit Freund“, ergänzte er und tätschelte Max’ Knie, der nun ebenfalls auf der Rückbank saß.
„Guten Morgen Tante Lisa und danke, dass Sie mich mitnehmen“, wandte sich Cosmin an Oma Lisa.
Sie beugte sich zurück. „Schön, dich zu sehen, Cosmin.“
„Hey, und du bist der Americano?“
Cal, der einmal mehr wie ein auf einem Kindersitz festgeschnalltes Sternenbanner aussah, musterte Cosmin aus aufgerissenen Augen.
„Bist du ein Shoshone?“
„Äh… Shoshone?“
„Ein Shoshone ist ein amerikanischer Indianer“, erklärte Hazel.
Cosmin schüttelte lachend den Kopf . „Wir stammen von den anderen Indians ab, glaub’ ich.“
Oma Lisa startete das Auto.
„Mein Freund Hawk ist Shoshone. Er sieht so ein bisschen aus wie du. Er ist der Junge von unseren Nachbarn in Palm Springs“, plapperte Cal, während sie stadtauswärts fuhren. Noch immer verrenkte er sich im Kindersitz und starrte Cosmin aus großen Augen an. „Er hat mir Football und auch Karate beigebracht. Aber Mäxy ist ein noch besserer Fighter als Hawk.“
Cosmin grinste Max an. „Mäxy, hm?“
Max zuckte mit den Schultern. Er war erleichtert, dass Cosmin die Begrüßung so reibungslos meisterte.
War Cosmin derselbe Junge, der sich noch vor ein paar Wochen vor Blickkontakten mit anderen Leuten gescheut und kaum ein Wort geredet hatte?
Inzwischen fragte Hazel seinem Freund Löcher in den Bauch und der Blick aus ihren Augen erinnerte Max an die Blicke, die ihm oft genug von Mädchen hinterher geworfen wurden.
Max wischte einen Anflug idiotischer Eifersucht beiseite wie eine lästige Fliege. Sollten sich die beiden ineinander verknallen, würde sich für Max nichts ändern. Hazel wäre weit weg und er würde weiterhin viel Zeit mit Cosmin verbringen können.
„… wo in Rumänien kommt dein Vater her?“, drang Hazels nächste Frage an Max’ Ohr.
„Vom Ar… äh Hintern der Welt. Ich kann es dir auf Google- Maps zeigen.“
Max fühlte sich abgemeldet, er lehnte sich gegen die Nackenstütze, schloss die Augen und…
„Oh mein Gott, seid ihr das?!“, rief Hazel. Max äugte in Cosmins Richtung und war augenblicklich hellwach, als sein Blick auf dessen Handy fiel. Vom Display lachten ihn zwei bis über beide Ohren mit Zigeunersoße beschmierte Gesichter an und es schien, als hätte die Soße zudem beide Gesichter miteinander verklebt.
Cosmin sah plötzlich aus, als wäre er beim Ladendiebstahl ertappt worden. Max hingegen fühlte einen Strudel aus Zuneigung und Freundschaft, der seine Brust durchflutete.

Ausgerechnet dieses Foto verwendet Cosmin als Hintergrundbild auf seinem Handy?

„Cos-Mi hat vor einer Woche 'ne Wette verloren“, antwortete Max rasch an Cosmins Stelle. „Darum haben wir uns gegenseitig gefüttert und das Foto davon muss Cos-Mi jetzt zwei Wochen lang als Hintergrundbild verwenden.“
„Oh Mann, ist das süß!“, lachte Hazel.
„Zeig mal!“, rief Cal und verrenkte sich im Kindersitz, um nach Cosmins Handy zu grapschen und Max sah im Rückspiegel, dass seine Oma lächelnd den Kopf schüttelte.
Cosmin schaute Max an und seine Lippen formten ein einziges Wort. „Danke.“

Kurz nach zehn erreichten sie den Parkplatz des Vergnügungsparks, auf dem sich ein Auto an das andere reihte. An den Eingängen zum Park hatten sich bereits lange Schlangen gebildet.
Oma Lisa wandte sich in ihrem Sitz zu Max um.
„Maxi, hast du die Buchungsbestätigung auf dem Handy griffbereit?“
„Klar. Hab sie auch an Hazel weitergeleitet.“
„Das Geld für Taxi und Essen?“
„Omi…!“
„Und ich soll euch heute Nachmittag wirklich nicht von hier abholen?“
Hazel streichelte den Arm der Großmutter. „Wir haben alles im Griff, Omi.“

Am Eingang für Besucher mit Reservierungen betrug die Wartezeit kaum zehn Minuten. Dahinter bot sich ein Blick auf die in eine Seenlandschaft eingebetteten Attraktionen. Der Zug auf der Achterbahn sauste durch zahlreiche Schleifen und ein vielleicht zwanzig Meter hohes Looping, mehrere Türme reckten sich in die Höhe, an einem stürzte eine mit kreischenden Passagieren besetzte Gondel in die Tiefe, an einem anderen drehte sich ein Karussell. Ein Schloss und eine Burg verwandelten den Park in ein kleines Märchenland. Max’ Blick glitt zu einer Pyramide. An einer ihrer Seiten schoss ein Boot auf einer Wasserrutsche in den Teich am Fuße der Pyramide.
Hazel studierte indes die Informationstafel und wandte sich anschließend an Max und Cosmin.
"Ihr wollt sicher Action. Cal ist noch zu jung für die meisten dieser Attraktionen. Ich werde mit Cal… "
„No way!“, protestierte Cal sofort. „Ich will mit Mäxy bleiben!“
Max zögerte nur einen Moment und antwortete Cal mit dem gereckten Daumen.
„Hazel, ich werde gut auf den Häuptling aufpassen“, versicherte Max und legte Cosmin einen Arm um die Schulter. „Cos-Mi, du passt gut auf meine einzige Cousine auf, okay?“, raunte er ihm ins Ohr.
Es entging Max nicht, dass Hazel nicht gerade unglücklich über diese Aufteilung war, während Cosmin vergeblich nach Worten zu suchen schien und schließlich nur nickte.
Cal war von der Achterbahn derart begeistert, dass sie sich mindestens zehn Mal in die Warteschlange vor dieser Attraktion anstellten. Bei den ersten Fahrten saßen auch Hazel und Cosmin mit im Wagen und Max bemerkte, dass sich beide offensichtlich gut verstanden.
Später schossen Max und Cal ein paar Mal mit dem Boot die Wasserrutsche an der Pyramide hinunter, stürzten in einer Gondel in die Tiefe oder sausten in einer anderen Gondel durch die Luft.
Hin und wieder sahen sie Hazel und Cosmin an einer benachbarten Attraktion und dann fing Max des öfteren Cosmins Blicke auf. Mal lachte Cosmin oder reckte den Daumen. Dann vermutete Max, dass Cosmin bei der Eroberung von Hazels Herz gute Fortschritte gemacht hatte. Manchmal freilich schaute Cosmin auch ziemlich ratlos zu Max hinüber. Dann grinste Max in sich hinein und nahm an, dass sich Hazels Herz wohl doch nicht so einfach erobern ließ. Inzwischen hatte Max hunderte Gründe dafür gefunden, warum es auch für ihn toll wäre, sollten sich Hazel und Cosmin ineinander verknallen.
Am frühen Nachmittag gönnten sich Max und Cal von Oma Lisas Essengeld in einem der Esstempel eine Pizza und anschließend erbettelte Cal noch ein halbes Dutzend weiterer Rennen auf der Achterbahn.
Gegen 17 Uhr schlenderten sie in Richtung des Haupteingangs. Max sah trotz der hin und her wimmelnden Leute, dass Hazel und Cosmin dort bereits warteten. Er hatte angenommen, beide beim Händchen halten zu erwischen. Doch stattdessen schienen sie sich nur zu unterhalten. Cosmin reckte mehrmals den Hals und schaute in ihre Richtung. Max hob Cal auf seine Schulter und nun wurden sie auch von Hazel und Cosmin entdeckt.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle nahm Hazel ihren Bruder an die Hand, aus dem Sätze heraussprudelten wie Wasserfontänen aus einem Feuerwehrschlauch.
Cosmin trottete neben Max, gähnte und lächelte dann entschuldigend. „Was für ein Tag. Danke Maxi. Aber ich habe gut auf deine einzige Cousine aufgepasst.“
„Und?“
Cosmin runzelte die Stirn. „Was und?“

Cos-Mi, entweder du bist gerade ein genialer Schauspieler oder schwer von Begriff!

Es war umständlicher als Max angenommen hatte, um vom Vergnügungspark zum Leipziger Hauptbahnhof zu gelangen. Sie erreichten einen Zug, der gegen 20 Uhr in Dessau ankommen würde.
Max huschte als erster in den Zug und erwischte sich gegenüberliegende Bänke mit je zwei Sitzplätzen und einem kleinen Tisch dazwischen.
Max rutschte auf den Fensterplatz und beobachtete Cosmin, der gefolgt von Cal und Hazel den Waggon betrat. Ohne Zögern ließ sich Cosmin auf den Platz neben Max fallen.
Hazel und Cal setzten sich gegenüber.
Als der Zug anrollte, kramte Cal sein Handy aus der Hosentasche. „Hazel, ich habe dir noch nicht die Videos gezeigt, die Mäxy für mich auf der Achterbahn gemacht hat!“
Hazel blickte Max überrascht an. „Du hast Videos auf der Achterbahn gemacht?“
„Null Problemo, Cal hat mich festgehalten.“
Cal kicherte. „Genau!“
Unterdessen rutschte Cosmin mehr und mehr gegen Max’ rechte Seite und sein Kopf sank auf Max’ Schulter.
„Hey Cos-Mi, alles klar bei dir?“
„Hm?“ Cosmin hob kurz den Kopf. „Sorry. Ich schlafe in letzter Zeit nicht so gut und bin vielleicht müde von der…“
Die letzten Worte lösten sich in Luft auf und Cosmins Kopf sank erneut gegen Max’ Schulter.
Max ließ sich im Sitz zurück sinken, um es Cosmin etwas bequemer zu machen und sah, dass Hazel ihm lächelnd dabei zusah.
„Hazel, was gibt’s da zu lachen?“
„Ihr beiden seid echt süß.“

Wie schon an den vorangegangenen Abenden blieben auch an diesem Abend Max und Hazel allein auf der Couch im Wohnzimmer zurück.
„Schade, dass ihr morgen wieder nach Hause fahrt“, seufzte Max und füllte zwei Gläser mit Mineralwasser.
Hazel nahm einen Schluck aus ihrem Glas. „Cal wird dich vermissen, Maxi. Ich fand es sehr lieb von dir, dass du heute mit ihm den Tag verbracht hast.“
„Der Tag mit ihm war viel zu kurz. Und du? Ich hätte gedacht, dass du und Cos-Mi vielleicht, na du weißt schon, ihr euch…“
Hazel streichelte lachend Max’ Wange. „Es war total nett, mit Cosmin zu plaudern. Aber nein - keine Chance, dieser süße Kerl ist bereits vergeben.“
„Unsinn! Das hätte er mir bestimmt erzählt.“
„Maxi, vielleicht erzählt er dir nicht alles.“

  1. Sturköpfe

Max

Wie inzwischen an jedem Schultag trafen sich Max und Cosmin auch am Montag nach dem langen Wochenende an der Eingangstreppe zum Rathaus. Anders als sonst war nur, dass sie beide gleichzeitig fast zehn Minuten früher als üblich ihren Treffpunkt erreichten. Max grübelte noch immer darüber nach, an wen Cosmin vergeben sein könnte. Er hatte sich nicht getraut, Hazel zu fragen, was genau sie darüber wusste. Vermutlich hätte sie geglaubt, er sei eifersüchtig.
War an der Geschichte mit dieser zugeteilten Braut in Rumänien vielleicht mehr dran als das, was Cosmin ihm erzählt hatte? Und war es der Wunsch, ganz schnell Antworten auf brennende Fragen zu bekommen, der Max schneller als nötig auf den Schulweg gezogen hatte?
Max umarmte Cosmin wie jeden Morgen mit einer Hand, während die andere das Fahrrad hielt und es schien, als würde Cosmin die Umarmung fester als sonst erwidern.
Sie schlenderten gemeinsam über den Marktplatz in Richtung Schule, aber all die schön zurecht gelegten Worte, mit denen Max das Gespräch in die gewünschte Richtung hatte lenken wollen, waren ihm auf Nimmerwiedersehen entwischt.
„Und, was hast du schönes getrieben gestern?“, fragte er stattdessen.
Cosmin starrte zu einigen Jungen aus der Parallelklasse, die ein paar Schritte vor ihnen scherzend und lachend zur Schule trotteten und deren gute Laune nicht so richtig zum trüben Montagmorgen zu passen schien.
Cosmin seufzte tief. „Vormittags habe ich schönes Essen gekocht. Und nachmittags habe ich mir schöne Integrale im Mathebuch deiner Oma angeschaut. Naja abends musste ich dann eine halbe Stunde schön mit ähm…“
Spätestens nach den schönen Integralen wäre Max’ Interesse an Cosmins gestrigem Tagesablauf eingeschlafen, doch der verschluckte Rest des Satzes ließ ihn aufhorchen.
„Eine halbe Stunde schön mit was?“
Cosmin sah plötzlich aus, als wäre er mit heruntergelassenen Hosen erwischt worden. „Langweilig, echt Maxi. Du hattest wenigsten nochmal Spaß mit Cal und Hazel. Ich darf gar nicht an die nächste Woche denken.“
Max nahm sich vor, spätestens in der ersten Hofpause auf die verdächtige halbe Stunde zurückzukommen. „Nächste Woche? Cos-Mi, Herbstferien, eine Woche lang keine Schule.“
„Ich kann es kaum erwarten, Maxi. Vormittags mal wieder schönes Essen kochen, nachmittags ein schönes Mathebuch lesen und abends mit meinem Vater schön fernsehen. Und du bist nächste Woche bei deinem Onkelbruder.“
Endlich begriff Max, was Cosmin bedrückte. Abgesehen vom zurückliegenden Wochenende hatten sie in den letzten Wochen jeden Tag zumindest ein paar Stunden gemeinsam verbracht. Cosmin würde eine ganze Woche lang allein in seiner Bude rumhängen.
„Cos-Mi, ich wünschte, du könntest auch ein paar Tage nach Berlin kommen. Ich würde gerne mit dir in der Stadt ´rum ziehen, dir meine alte Schule zeigen oder wo ich gewohnt habe, bis diese Tussi bei uns eingezogen ist. Und abends könnten wir meine alten Kumpels treffen.“
Ein Lächeln huschte über Cosmins Gesicht. „Klingt interessanter als Essen kochen und Mathebücher lesen.“
Max hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Er ahnte bereits, was Leon von einer solchen Idee halten würde.
„Cos-Mi, sollte das nicht klappen, werden wir einfach mal zusammen ein Wochenende nach Berlin fahren, okay? Ich kenne ein paar Hostels, wo man schon ab sechzehn einchecken kann.“
Inzwischen hatten sie den Vorplatz der Schule mit den Fahrradständern erreicht.
„Das mit dem Wochenende in Berlin klingt auch gut“, erwiderte Cosmin, während Max sein Rad in den Fahrradständer schob. Dann fügte er leise hinzu : „Naja, vielleicht kommt ja bei deinem Onkel was dazwischen und du musst auch hier bleiben.“

Cosmin

Nachdem sie sich in der ersten Hofpause auf ihre gewohnten Plätze an der Kletterwand gesetzt hatten, nahm Max eine Art Sandwich aus seiner Brotdose und reichte sie Cosmin.
„Maxi, ich habe selber…“
„Riech’ dran!“
Der Geruch wehte bereits durch Cosmins Nase und das Wasser lief ihm im Mund schneller zusammen, als er es hinunter schlucken konnte.
„Wow, was ist das?“
„Burritos, was mexikanisches. Cal ist verrückt danach und meine Oma hat gestern den ganzen Vormittag nichts anderes gemacht als diese Dinger zu backen. Ich hab hier für jeden zwei, einer mit Chicken, der andere mit Lachs. Aber wenn du nicht willst…“
„Meine Leberwurstschnitte hebe ich mir für später auf“, grinste Cosmin und langte zu.
Während beide an den Burritos knabberten, glitt Cosmins Blick hinüber zu den Jungen der Parallelklasse, die es sich auch auf der Mauer gemütlich gemacht hatten. Sie redeten laut und manchmal alle gleichzeitig und lachten hin und wieder. Cosmin verstand immerhin so viel, dass sich ihr Gespräch um einen Film drehte. Der Junge mit den blondierten Haaren und der Junge mit der Hornbrille hockten dicht beeinander, allerdings ohne heimlich Händchen zu halten. Zu gern hätte Cosmin gewusst, was sie alles anstellten, wenn sie alleine miteinander waren.

Verband die beiden eine innige Freundschaft oder waren sie gar schwul? Wo war die Grenze? Bei einem Kuss auf den Mund?

Cosmin erinnerte sich an die Nacht mit Max. Er hatte Max’ Stirn nur flüchtig mit den Lippen berührt aus Sorge, Max könne jäh aufwachen. Aber angenommen, Max hätte ganz fest geschlafen. Wäre dann aus der flüchtigen Berührung ein Kuss geworden? Wie hätte Max reagiert? Ihn hochkant aus dem Bett geworfen?
Es ist nur dieses schöne Gesicht, das mich anzieht, fegte Cosmin unerwünschte Gedanken beiseite. Außerdem war am nächsten Morgen vielleicht auch Max nahe dran gewesen, ihn mit den Lippen am Ohr zu berühren.
Gerade als er den Blick von dem seltsamen Pärchen abwenden wollte, schaute der Junge mit der Hornbrille zu ihm herüber, runzelte die Stirn und legte den Arm um die Hüfte des anderen Jungen. Dieser schenkte seinem Freund ein kurzes Lächeln, legte nun seinerseits den Arm um die Schulter des Jungen mit der Hornbrille, zog ihn etwas an sich heran und wandte sich wieder den anderen zu.
Der Junge mit der Hornbrille grinste Cosmin an, als wolle er sagen, du hast deinen eigenen Freund, dann endete das stumme Zwiegespräch.
„… nichts passiert. Wieso?“, drang Max’ Stimme an Cosmins Ohr.
„Hm…?“
Max rammte Cosmin sanft mit dem Ellenbogen. „Cos-Mi, hörst du mir überhaupt zu?“
„Ah, sorry Maxi, ich habe über das Rezept für diese Burrito - Dinger nachgedacht, was sagtest du gerade?“
„Ich sagte, ich kapiere nicht, wieso es zwischen dir und Hazel nicht geknallt hat. Gefällt sie dir nicht?“, schnaubte Max.
Für einen Moment war Cosmin sprachlos. „Hey! Willst auch du mich verkuppeln?“
Tatsächlich war ihm nicht entgangen, dass er gute Chancen bei diesem hübschen Mädchen gehabt hätte. Aber bevor er überhaupt an eine Beziehung zu einem Mädchen nachdenken könnte, musste das Problem mit der ihm offenbar schon fest zugeteilten Braut gelöst werden.
„Maxi, im Moment bin ich nicht so gut drauf, was Mädchen betrifft.“
Cosmin bemerkte, dass Max noch mehr Fragen auf der Zunge lagen. Und eine davon wollte er offenbar genau jetzt los werden.
„Was musstest du denn nun gestern Abend eine halbe Stunde lang tun?“
„Kann ich noch so einen Burrito kriegen?“
„Klar, der hier ist mit Lachs“, sagte Max und reichte Cosmin den in eine Serviette gewickelten Burrito. „Aber danach rückst du raus mit der Sprache!“
Cosmin nagte bewusst langsam an dem Leckerbissen und hoffte, dass die Pause schneller enden würde als der Burrito in seiner Hand.
Seine Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Abend. In Porumbita, dem Geburtsort seines Vaters, hatte die halbe Verwandtschaft Camelias sechzehnten Geburtstag gefeiert. Damit war sie nun nach Ansicht ebendieser Verwandtschaft im heiratsfähigen Alter. Onkel Radu, Camelias Vater, hatte den künftigen Bräutigam und den künftigen Schwiegervater der Braut bei der Geburtstagsparty über Videochat dabei haben wollen.
Bei der Gelegenheit hatte Onkel Radu die frohe Botschaft verkündet, dass er mit Camelia in den Weihnachts- oder Winterferien zu Besuch kommen würde, um mit Cosmins Vater die Details der Hochzeitsvorbereitungen zu besprechen.
Und anschließend hatte Cosmin gute Miene zum bösen Spiel machen müssen und eine halbe Stunde mit Camelia geplaudert. Oder besser, er hatte eine viertel Stunde versucht, ihr zuzuhören und eine weitere Viertelstunde benötigt, ihren Monolog zu beenden.
Camelia hatte freudestrahlend erzählt, dass sie online Deutsch lernt und was sie alles für ihn machen wird, wenn sie endlich verheiratet sind, angefangen vom Kochen bis hin zum Kinder kriegen.
Cosmin kaute jeden Bissen, als wolle er den Burrito schon im Mund verdauen.
Ich kann das unmöglich Max erzählen. Er wird denken, ich bin bescheuert, überlegte Cosmin.

Und ich Idiot habe ihr im Sommer auch noch Hoffnungen gemacht.

Natürlich würde er nicht mit achtzehn heiraten, schon gar nicht auf Bestellung.
Max warf einen Blick auf sein Handy. „Cos-Mi, es klingelt gleich. Dann beichtest du eben in der nächsten Hofpause!“

Schließlich entschloss sich Cosmin, aus der Sache mit Camelia kein Geheimnis zu machen. Zum einen kannte Max ihn inzwischen so gut, dass er ihm keine Märchen auftischen konnte. Zum anderen hatte Max vielleicht eine Idee, wie man aus einer solchen Sache raus kam.
Nach dem sie es sich in der zweiten Hofpause auf ihrem Stammplatz bequem gemacht hatten, fischte Cosmin seine selbst geschmierte Leberwurstschnitte aus der Brotdose.
„Gib mir das Teil“, sagte Max, schnappte die Schnitte aus Cosmins Hand und hielt ihm den letzten Burrito hin. „Hey, nimm schon, ich brauch mal was anderes.“
Cosmin brachte vor Rührung kaum ein „Danke“ über die Lippen. Während er sich die Lachsfüllung auf der Zunge zergehen ließ, bemerkte er zwei stumme Beobachter neben sich auf der Mauer.

Wahrscheinlich fragt ihr euch jetzt, was wir beide miteinander so treiben, wenn wir alleine sind , grinste Cosmin in sich hinein. Wir machen zusammen Hausaufgaben und füttern uns gegenseitig.

Cosmin hatte inzwischen den Burrito regelrecht verschlungen. Er wandte sich zu Max um. Wie es schien, hatte Max den Mund voller Leberwurstschnitte und Probleme, das Ganze hinunter zu schlucken.
Cosmin wartete, bis keine Gefahr mehr bestand, dass Max daran erstickte.
„Maxi, wenn mir nicht bald was einfällt, bin ich nächsten Sommer ein verheirateter Mann.“
Aus Max’ Gesicht wich jegliche Farbe. „Willst du mich verarschen, Cos-Mi?!“
„Schön wär’s“, erwiderte Cosmin und erzählte Max in knappen Sätzen, wie er sich zu einem Heiratsantrag auf seiner Vorverlobung hatte drängen lassen und berichtete vom Videochat mit Onkel Radu und Camelia. Schließlich fischte er den Verlobungsring aus seiner Hosentasche und reichte Max den Ring.
„Das ist echt abgefahren!“ , schnaubte Max und betrachtete den Ring in seiner Hand. Dann gab er ihn Cosmin zurück. „Ich hätte nicht gedacht, dass dein Alter so rückständig ist. Ich meine, mein Alter ist so ziemlich das Letzte, aber das…“
„Ich glaube, Onkel Radu ist so was wie ein … äh Zigeunerkönig in dem Dorf und mein Vater hat ziemlich Respekt vor dem, aber er würde mich nicht zwingen, hoffe ich jedenfalls.“
Max zerwurstelte sein Haar. " Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit Onkel Radu reden? Oder mit dieser Kirsche. Wie heißt die nochmal?"
„Camelia.“
Max murmelte etwas in sich hinein und Cosmin verstand nur soviel, dass Hazel mit einer Vermutung daneben gelegen habe und er wohl doch nicht vergeben sei.
Max legte seine Hand auf Cosmins Knie. „Cos-Mi, wir verduften zusammen, wenn die euch besuchen. Die kann sich hier einen anderen zum Kinder kriegen angeln.“
„Gute Idee!“, kicherte Cosmin und legte einen Arm um Max’ Schulter.
Und falls die stillen Beobachter auf der Mauer gerade zuschauten, fügte er in Gedanken hinzu:

Ja, ich habe meinen eigenen Freund!

Max

Seit einigen Tagen konzentrierte sich Max beim Training vor allem auf das Schlagen und Treten der der Boxsäcke. In der Ferienwoche würde er mit seinem Onkel Leon endlich wieder einen Sparringspartner für die Kampfsport- Übungen haben. Allein bei diesem Gedanken schien ein Tsunami aus Adrenalin durch seine Adern zu schießen. Leon würde ihn nicht schonen, aber das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ich werde dir in der nächsten Woche das Fliegen aus dem Ring beibringen, Onkelchen!

Nach dem Training warf Max einen Blick auf sein Handy und sah, dass jemand mit einer unbekannten Nummer dreimal und sein Vater einmal versucht hatten, ihn während der Trainingsstunden anzurufen.
Er nahm sich vor, seinen Vater abends zurück zu rufen. An den jemand mit der unbekannten Nummer verschwendete er keinen Gedanken. Schon wenig später sollte sich während der Nachhilfestunde in Cosmins Zimmer zeigen, dass es umgekehrt ganz anders aussah.
Da am nächsten Tag eine Chemieklausur bevor stand, wiederholte Cosmin mit Max einige Übungen aus dem Chemieunterricht. Max begriff nicht, wie Cosmin sich merken konnte, welche Atome es besonders gerne miteinander trieben und wie viele Elektronen sie dabei austauschten.
Einmal mehr waren ihre Köpfe nur noch Millimeter voneinander entfernt, als auf dem Schreibtisch Cosmins Handy klingelte. „Die Mutter“ erschien auf dem Display.
Max sah Cosmin fragend an. „Soll ich?“
Cosmin winkte ab. „Die ruft jetzt bestimmt schon zum zehnten Mal an. Sie kann sich gerne noch ein bisschen die Finger wund tippen.“
Das Klingeln verstummte, doch nur Sekunden später bimmelte Max’ Handy.
Max kramte das Handy aus seiner Jackentasche.
Wieder nervte der unbekannte Anrufer.
Cosmin reckte neugierig den Hals. „Und…?“
„Werbung, schätze ich“, sagte Max und schob das Handy zurück in die Tasche.
„Schade, ich hatte gehofft, dass dein Onkel anruft.“
„Wieso das denn?“, fragte Max verblüfft.
„Um dir zu sagen, dass etwas dazwischen gekommen ist und du in den Ferien hier bleiben musst“, erwiderte Cosmin einem schiefen Grinsen.
Max rammte Cosmin mit der Schulter. „Das habe ich nicht gehört.“
Er wandte sich wieder der Übung zu, doch noch ehe er sie abschließen konnte, meldete sich erneut sein Handy, diesmal mit einer WhatsApp - Nachricht.
„Hey Cos-Mi, bist du Hellseher?“, rief Max, als er die Nachricht öffnete. Es störte ihn nicht, dass Cosmin mitlas.

„Hi mein kleiner Champion, hab Freitag Nachmittag einen Termin und kann dich nicht in Dessau abholen. Nimm einen Zug, der ca. 18 Uhr am Hauptbahnhof ankommt. Ich kann es kaum erwarten dich zu sehen und dir in den Hintern zu treten.“

„Naja, so viel ist ja nicht dazwischen gekommen“, maulte Cosmin. „Wieso fährst du überhaupt zu ihm, wenn er dir in den Hintern treten will?“
„Um ihm auch in den Hintern zu treten“, grinste Max zurück und griff nach Cosmins Hand.
„Cos-Mi, in den nächsten Ferien bleibe ich hier, okay?“
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Okay, und vergiss nicht, wir wollen zusammen Berlin…“ Das Klingeln seines Handys verschluckte den Rest des Satzes.
Max griff sich an die Stirn. Schon wieder diese „Die Mutter“!
Er war drauf und dran, Cosmin das Handy aus der Hand zu reißen, doch diesmal nahm Cosmin das Gespräch an.
„Ruf später an, es stört jetzt! Ich mache Nachhilfe mit meinem Freund!“, schnauzte Cosmin das Handy an und fügte nach einer kurzen Pause hinzu. „Ja, du hast richtig gehört… ich habe einen Freund. Einen echten Freund, stell dir das mal vor!“
Er legte auf.
„Wow Cos-Mi, das hat gesessen. Besser hätte ich das auch nicht hingekriegt. So, und jetzt lass uns diese blöde Aufgabe hier…“
Sein Handy klingelte.
„Jetzt reicht’s!“, stieß Max aus und schnappte sich das Handy aus der Jackentasche. Wieder meldete sich der Anrufer mit der unbekannten Nummer.
„Was soll der Scheiß?!“, rief Max in sein Handy.
„Maximilian?“
Max erbleichte und starrte das Handy an, als könne es jeden Moment zubeißen. „Was willst du von mir?“, fuhr er seine Stiefmutter an und sprang vom Stuhl auf.
„Maximilian, bitte hör mir zu.“
„Spuck’s aus!“, sagte Max genervt und ließ sich auf Cosmins Sofa fallen. Diese Stimme war das Letzte, was er im Moment hören wollte.
„Du bist in der nächsten Woche in Berlin und dein Vater vermisst dich mehr, als du wahrscheinlich denkst. Er will, dass du für ein paar Tage auch zu ihm nach Hause kommst.“
„Nicht so lange du dort bist!“
Max hörte einen tiefen Seufzer.
„Ich wünschte, du würdest mich nicht so hassen. Du bist genauso stur und bockig wie mein Sohn.“
„Verschone mich mit deinem Sohn, klar? War das jetzt alles?“
„Nein. Ich möchte gern mit meinem Sohn in den Ferien einige Tage verreisen. Ich werde also nicht zu Hause sein…“
Max lachte freudlos. „Darf man fragen, wohin die Reise geht?“
„Ich weiß es noch nicht. Mein Sohn soll sich was aussuchen.“ Max knirschte mit den Zähnen.

Und mein Alter wird mit Freuden eure Zeche zahlen.

Allerdings musste er zugeben, dass er sich etwas nach seinem Zimmer zurück sehnte. Und sei es nur für ein oder zwei Nächte.
„Mir wäre es lieber, du würdest mit diesem Sohn für immer verschwinden. Ich rede heute Abend selber mit meinem Vater.“
Und tschüss!, sagte seine innere Stimme und ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.
Erst jetzt bemerkte er, dass jemand sein Haar zerzauste. Cosmin hatte sich neben ihn gesetzt und starrte ihn aus großen schwarzen Augen an.
„Das war deine Stiefmutter, oder? Was wollte sie?“
„Ich glaube, sie versucht mir in den Arsch zu kriechen.“ Er erhob sich vom Sofa und zog Cosmin mit auf die Füße. „Lass uns endlich mit dieser blöden Aufgabe fertig werden.“

Nach dem gemeinsamen Abendessen mit Oma Lisa verzog sich Max auf sein Zimmer, um seinen Vater anzurufen. Oma Lisa war nicht besonders gut auf Max’ Vater zu sprechen. Vermutlich hatte auch sie ihm die Seitensprünge in der Ehe mit Max’ Mutter, ihrer Tochter, bis heute nicht verziehen.
Max streckte sich auf der Couch aus und wählte die Nummer seines Vaters.
„Maximilian, wir müssen reden!“, drang die Stimme seines Vaters aus dem Handy. Kein „Hallo“ oder „Wie geht´s?“.
„Danke, mir geht´s ganz gut soweit“, beantwortete Max die nicht gestellte Frage.
"Schön, das zu hören, erwiderte sein Vater. „Ich möchte, dass du dir nächste Woche einen Abend Zeit für mich nimmst.“
Max verdrehte die Augen. Normalerweise geriet er spätestens nach zehn Minuten mit seinem Vater aneinander. „Vater, ich werde am Dienstag oder Mittwoch zu Hause übernachten. Ich möchte ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen. Dann können wir den ganzen Abend reden, uns an Mam erinnern, alte Fotos mit ihr anschauen und…“
„Werd endlich erwachsen und schau nach vorne, Junge!“, schnitt ihm sein Vater das Wort ab und fuhr etwas leiser fort: „Ich wünschte, du würdest nicht nur für eine Nacht nach Hause kommen, mein Sohn.“

Mein Sohn? Wann hat er das zum letzten Mal gesagt?

Max spürte, dass diesem Satz ein ganz bestimmtes Wörtchen folgen würde: „Aber?“
„Du müsstest versuchen, mit meiner Frau klarzukommen.“
Max versteifte sich. „Wozu? Die verschwindet doch nächste Woche mit… deinem Stiefsohn.“
„Nun, wie es aussieht, ist der Sohn meiner Frau genauso ein Sturkopf wie du. Statt sich mit seiner Mutter mal was von der Welt anzuschauen, will der Bengel die Woche lieber in diesem Verschlag verbringen, den er wahrscheinlich Wohnung nennt.“
Max konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Scheint so, als hätte sich die Tussi eine Abfuhr geholt. Für einen Moment war ihm dieser Sohn fast schon sympathisch. Aber auch nur fast. Und nur für einen kurzen Moment. Würde sein Vater auch die Wohnung von Cosmin und dessen Vater als Verschlag bezeichnen?
„Vergiss es. Wenn die da ist, komme ich nicht!“
„Herrgott nochmal!“, brauste sein Vater auf. „Du sollst ihr nicht die Füße küssen. Es reicht, wenn du dein Mundwerk im Zaum hältst.“
„Die soll verschwinden!“, presste Max zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Nun gut. Wir müssen über diese Villa in Charlottenburg reden. Der Kredit ist ausgelaufen und ich habe mir erlaubt, den mickrigen Restbetrag von gut einhundert Tausendern für dich auf den Tisch zu legen, wofür ich nicht einmal das D in Danke von dir erwarte.“
Max zuckte mit der Schulter. Das Haus, oder besser die Bruchbude, war mehr als drei- oder viermal so groß wie die Villa der Großmutter und von einem verwilderten Grundstück umgeben. Das Haus war von seinen Eltern auf ihn überschrieben worden, als er noch in Windeln gesteckt hatte.
Aber erst ab seinem achtzehnten. Geburtstag würde er sich darum kümmern müssen.
„Danke. Aber ich wüsste nicht, wie ich dir diese hundert Tausender zurück zahlen soll.“
„Maximilian“, seufzte sein Vater. „Manchmal geben Väter ihren Söhnen etwas, das sie nicht zurück haben wollen. Na gut, etwas mehr Verständnis für mich und meine Frau wäre nicht schlecht.“

Dafür macht er hunderttausend locker?

„Danke Vater. Aber wieso müssen über das Haus reden?“
„Ich habe ein sehr gutes Angebot bekommen. Lass uns nächste Woche zusammen irgendwo essen gehen. Falls du einem Verkauf zustimmst, müssen wir überlegen, was du mit dem Geld für das Haus anstellen kannst.“

Cosmin

Während Max von einem möglichen Geldregen erfuhr, der bald schon seine Taschen füllen würde, räumte Cosmin die Küche auf, verstaute Geschirr in der Spülmaschine, schmierte für den nächsten Tag einige Butterbrote und verteilte die Schnitten auf die eigene Brotdose und die seines Vaters.
Sein Vater hatte es sich mit einer Bierflasche in der Hand auf der Couch bequem gemacht und verfolgte aus weit aufgerissenen Augen eine Realityshow im Fernsehen.
Zurück in seinem Zimmer ließ sich Cosmin auf sein Sofa fallen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte die Decke an. Doch er sah nicht die Decke, sondern dachte an die einzige Begegnung mit seiner Mutter, nach dem sie ihn verlassen hatte.

Ist das wirklich schon eineinhalb Jahre her?

Sie hatte am letzten Tag vor den Winterferien vor seiner alten Schule in Wurzen, einer Kleinstadt bei Leipzig, auf ihn gewartet. Nicht, um ihn zu sich zu holen, sondern um mit ihm ein paar Ferientage in teuren Hotels zu verbringen.
Cosmin hatte sie regelrecht von sich gestoßen. Eine Zeit lang schien es, als hätte sie begriffen, dass ihr Platz in seinem Herzen zu Eis erstarrt war.
Doch vor einigen Wochen hatte sie erneut begonnen, ihn mit Anrufen zu nerven.

Gut, dass sie nicht weiß, dass wir vor einem Jahr aus Wurzen weggezogen sind. Würde sie sonst am Freitag vor der Schule auf mich warten?

Sie hatte allen Ernstes geglaubt, er würde die kommenden Herbstferien mit ihr verbringen. Offenbar schwamm sie im Geld ihres jetzigen Mannes. Er hätte sich das Reiseziel aussuchen können, egal ob London, Paris oder gar New York.
Soweit Cosmin wusste, war seine Mutter jetzt auch Stiefmutter. Und so hatte er geraten, die Reise mit ihrem jetzigen Kind zu machen und ihn in Ruhe zu lassen.
Das Bild seiner Mutter verschwamm vor Cosmins Augen. Es gab nur einen Menschen, mit dem er verreisen würde, und sei es bis ans Ende der Welt. Doch dummerweise würde er mit seinem Geld im Moment nur bis in die nächste Kreisstadt kommen.

  1. Ein missglückter Kuss und seine Folgen

Cosmin

Wie unverhofft sich ein Abgrund auftun kann, sollten Cosmin und Max am Nachmittag des nächsten Tages erfahren.
Frau Dr. Meyer hatte in der Mathestunde für den kommenden Freitag, also dem letzten Schultag vor den Herbstferien, eine zweistündige Geometrieklausur angekündigt und sich vom vielstimmigen Gestöhne und Gemurre der Schüler nicht beeindrucken lassen.
Während sich Max nach Schulschluss an seinen Boxsäcken abrackerte und an Dachschrägen herum hangelte, suchte Cosmin nach Übungsaufgaben für die Klausurvorbereitung. Und wie an Schultagen üblich, steckte beide Jungen am späten Nachmittag in Cosmins Zimmer die Köpfe zusammen und während Max über der ersten dieser Übungsaufgaben brütete, überwachte Cosmin mit Argusaugen dessen Berechnungen. Als er zum vielleicht zehnten Mal bei der Aufgabe einen Rechenfehler aufspürte, warf Max das Handtuch.
„Was soll dieser ganze Schwachsinn, Cos-Mi! Ich bin zu doof für so was“, maulte er und strich sich die Haare aus der Stirn.
„Quatsch!“ Cosmin legte einen Arm um Max’ Schulter. „Das sind Schusselfehler. Du musst nur ein bisschen aufpassen.“ Max’ weiches Haar kitzelte seine Hand. Cosmin betrachtete die gerunzelte Stirn. Ein paar der blonden Haarsträhnen hingen Max noch immer im Gesicht. Cosmins Augen folgten dem Verlauf der Nase hinunter zu den Lippen.

Wie viele Mädchen hatten sich wohl schon in dieses Gesicht verliebt?

Max schaute auf, so als hätte er Cosmins forschenden Blick gespürt.
„Was…?“
Nun waren es Max’ Augen, die über Cosmins Gesicht wanderten, vom Kinn zum Mund und weiter zur Nase, so als würden sie zum ersten Mal jedes winzige Detail in sich aufnehmen.
Plötzlich trafen sich ihre Augen.
Cosmin fühlte einen Zauber, der ihn diese strahlend blauen Augen hinein saugte. Ohne dass es ihm bewusst wurde, begann seine rechte Hand, Max’ Schulter näher an sich heran zu ziehen. Aber auch Max schien unter dem selben Bann zu stehen. Seine Rechte krallte sich in Cosmins linken Oberarm.
Cosmins Augen lösten sich von den Augen des Freundes und zeichneten nun erneut die Linien seiner Lippen nach, die nur noch wenige Zentimeter von den eigenen Lippen entfernt waren. Cosmin verspürte ein geradezu erschreckendes Verlangen, die eigenen Lippen mit diesen Lippen zu verschmelzen, das Dröhnen seines Herzschlages trieb Hitzewellen durch seinen Körper.

Was ist bloß los mit mir?

Die Erinnerung an die Küsse mit Camelia blitzte in ihm auf. Hatte er auch bei ihr diesen unheimlichen Sog verspürt? Brennende Gier und heiße Scham durchfluteten Cosmins Gedanken und gerade als Max’ Lippen seine eigenen berührten, siegte die Scham und er wandte den Kopf zur Seite. Cosmin spürte Max’ Lippen für einige Augenblicke auf seiner Wange.
Doch dann löste sich Max aus Cosmins Umarmung, seine Augen geweitet, als wäre er jäh aus einer Hypnose gerissen worden.
„Oh Scheiße Cos-Mi, sorry!“, rief er, sprang auf, zerrte seinen Stuhl von Cosmin weg. Einen halben Meter weiter fiel er auf den Stuhl.
„Es tut mir Leid. Ich … was ist bloß los mit mir?“
Er stützte die Ellenbogen auf Cosmins Schreibtisch und ließ den Kopf auf seine Hände sinken.
Cosmin näherte sich vorsichtig und senkte seine Hand auf Max’ weiches Haar.
Mir geht es genauso wie dir, Maxi!, ertönte die lautlose Antwort in seinem Kopf.
„Was für eine Scheiße!“, fluchte Max und fast unhörbar fügte er hinzu: „Cos-Mi, ich… ich weiß nicht, es ist so, als hätte ich mich in dich verknallt…“
„Maxi“ Cosmin griff unter Max’ Achseln und zog ihn auf die Füße. Dann umfasste er mit beiden Händen Max’ bleiches Gesicht. Derselbe Junge, der es vor ein paar Wochen allein mit elf Schlägern aufgenommen hatte, war zu einem Häufchen Elend zusammen gesunken. Cosmins Herz krampfte zusammen bei diesem Anblick. Erneut fühlte er, wie in seinem Inneren Verlangen und Scham, Herz und Verstand miteinander rangen. Das Verlangen überwältigte Cosmin. Er küsste Max herabhängende Mundwinkel.
Doch er spürte sofort, dass der Zauber, der sie beide eben noch gefangen hatte, erloschen war.
Max löste sich sanft aus Cosmins Armen und sank wieder auf seinen Stuhl.
„Du musst das nicht tun, Cos-Mi.“ Max vergrub das Gesicht in den Händen.
Cosmin wiederholte in Gedanken einmal und noch einmal, was Max gesagt hatte. Als er endlich begriff war es, als hätte ihm Max Eiswasser ins Gesicht gekippt.
Scham, Enttäuschung und Empörung brodelten in seiner Brust und brachen aus ihm heraus.
„Du glaubst echt, ich knutsche einen Kerl, damit er … was weiß ich… mir Idioten vom Hals hält?“, fauchte er Max an.
„Sorry, so hatte ich das nicht gemeint.“ Max war wie unter Schlägen in sich zusammen gesunken.
In Cosmin regte sich erneut der Wunsch, den Freund in die Arme zu nehmen, doch er wischte das beiseite.
„Und was soll ich jetzt tun? Mir noch eine Nase wachsen lassen? Oder fressen, bis ich aussehe wie dieser Jabba aus Star Wars?“
Cosmin trat ans Fenster, aber sein von Wuttränen verschleierter Blick blieb an der Gardine hängen.
„Cos-Mi, ich wollte dein Freund sein, aber doch nicht… so was… vielleicht wäre es für uns das Beste, wenn ich wieder nach Berlin zurück gehe“ drang Max’ Stimme, immer noch kaum hörbar, an sein Ohr.
Im selben Moment fuhr Cosmin herum. Sein Zorn war wie weggeblasen. Angst davor, noch einmal verlassen zu werden, schlug über ihm zusammen.
„Maxi!“
In drei Sätzen war er bei Max, zerrte ihn aus dem Stuhl und zwang ihn mit beiden Händen zum Blickkontakt.
„Maxi, wenn du in mich… wenn du mich nur ein bisschen gern hast, bleib hier! Bleib bei mir!“
Cosmin presste Max’ Gesicht gegen das eigene, hielt ihn fest als könne sich Max in Luft auflösen.
Max straffte sich in Cosmins Armen. Er nahm nun Cosmins Gesicht in seine Hände und wischte ihm eine Träne von der Wange.
„Cos-Mi, ich habe dich nicht nur ein bisschen gern. Wenn ich bleibe, versprich mir was!“
Alles was du willst!, rief Cosmins innere Stimme.
„Was?“, fragte er.
„Du bist mein bester Freund, Cos-Mi. Tu nie was, das du nicht tun willst.“
Cosmin küsste erneut Max’ Mundwinkel. „Das wollte ich jetzt tun.“
Er unterdrückte ein Schluchzen. „Maxi“, sagte er leise. „Ich mag dich auch.“ Dann versuchte er, seine Lippen zu einem Lächeln zu verbiegen.
" Naja, ich würde mich nicht für dich schminken oder mir Mädchensachen anziehen."
Ein verzagtes Lächeln stahl sich in Max’ Gesicht. „Ist auch besser so. Du wärst wahrscheinlich das hübscheste Mädel in der Klasse.“ Max löste sich sanft aus Cosmins Armen. „Dein Alter ist bestimmt nicht so begeistert, wenn er uns beim Knutschen erwischt.“
Cosmin seufzte leise und deutete auf die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Zettel. „Das glaub’ ich auch. Komm, wir wollten eigentlich diese Matheaufgaben rechnen.“

Wie wochentags während der Schulzeit üblich zog Cosmin auch an diesem Abend gegen halb zehn sein Sofa auseinander und verkroch sich unter der Bettdecke, um im Schein einer kleinen Wandleuchte in einem Buch weiter zu lesen.
Doch am Ende eines gelesenen Satzes wusste er schon nicht mehr, was am Anfang gestanden hatte.
Die Erinnerung an die Küsse schob jedes gelesene Wort umgehend beiseite.

Habe ich das wirklich getan? Bin ich nun schwul?

Hatte etwas Wildes in ihm in jenem Moment die Kontrolle über seinen Verstand übernommen, das er zuvor immer wieder hatte zurückdrängen können, wenn es hervorzubrechen suchte? Merkwürdigerweise empfand er keine Scham, eher ein Erschrecken.
Was wäre passiert, hätte sein Vater in jenem Moment das Zimmer betreten?
Der Abschied nach der gemeinsamen Erledigung der Hausaufgaben war beinahe kühl gewesen, ein kurzes Schulterklopfen und ein genuscheltes „Bis morgen!“
Aber das lag sicher daran, dass nur wenige Schritte entfernt sein Vater im Wohnzimmer ferngesehen hatte.

Oder etwa nicht?

Cosmin sah wieder den Schrecken und die Scham in Max’ Augen. War ihm vielleicht erst bei jenem missglückten Kuss klar geworden, dass er für ihn mehr als nur Freundschaft empfand?
Maxi kämpft dagegen an!, fuhr es Cosmin durch den Kopf.
Max hatte sich nicht gegen Cosmins Zärtlichkeiten gewehrt, sie aber auch nicht richtig erwidert. Erneut griff Eiseskälte nach Cosmins Herz. Was, wenn Max keinen anderen Ausweg sah, als wirklich zurück nach Berlin zu fliehen? Oder wenn er nach den Herbstferien nicht zurück kommt? Cosmins Hirn schien plötzlich albtraumhafte Visionen wie am Fließband zu produzieren. Er sah sich morgen früh am Rathaus vergeblich auf Max warten, dann sah er sich selber allein an der Schulbank sitzen und was Cosmin am meisten schockierte: Max reagierte nicht mehr auf seine Anrufe.
Cosmin griff sich sein Handy, das auf dem Nachtschränkchen neben seinem Bett lag, öffnete WhatsApp und wählte den Videochat mit Max.
Keine Antwort.

Ist Max vielleicht schon auf dem Weg nach Berlin?

Inzwischen hielt es Cosmin nicht mehr im Bett aus. Er tigerte mehrere Runden ziellos durch sein Zimmer, ehe er sich mit dem Handy wieder aufs Bett setzte. Mit zittrigen Fingern und angehaltenem Atem wählte er noch einmal den Videochat.
Max’ Gesicht erschien auf dem Display.
„Cos-Mi, hey, alles okay bei dir?“
Cosmin stieß zusammen mit dem angehaltenen Atem all die albtraumhaften Visionen und quälenden Gedanken aus seinem Kopf. „Alles okay, Maxi.“

Max

Anders als üblich klopfte es noch einmal an der Zimmertür, als Max sich abends auf seinem Bett ausstreckte. Oma Lisa steckte den Kopf durch den Türspalt. „Kann ich kurz rein kommen?“
„Klar!“
Sie setzte sich zu Max aufs Bett und ließ ihre Hand auf seiner Wange ruhen. „Was ist los, Maxi? Du hast eine neue Freundin, oder?“
Knapp daneben! Ein leiser Schreck durchzuckte Max. War er so leicht zu durchschauen?
„Omi, komm schon…“
„Oder ist es das Mädchen aus Berlin?“

Na, das war daneben!

„Omi, echt jetzt…“
Oma Lisa bohrte unbeirrt weiter. „Es ist deine Freundin aus Berlin und nun…“
„Omi, es sind nur meine Zensuren, die mich etwas runter ziehen!“, fuhr ihr Max ins Wort.
Sein Telefon klingelte. Als er sah, dass Cosmin versuchte, ihn mit einem Videoanruf zu erreichen, setzte für einen Moment sein Herzschlag aus.
„Maxi, du bist kein Kind mehr. Sie kann an den Wochenenden gern zu uns kommen“, sagte sie und erhob sich.
„Danke Omi. Ich werd dran denken, wenn´s soweit ist.“

Max schnappte das Handy, kaum dass seine Großmutter das Zimmer verlassen hatte, doch sein Finger verharrte wenige Millimeter über der Rückruftaste.
Noch immer lastete die Erinnerung an jenen Moment, als Cosmin sich abgewendet hatte, wie ein Zentnersack prall gefüllt mit Scham auf seinem Gemüt.

Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen!

Hier rannten ihm mehr Mädchen hinterher, als er Finger an den Händen hatte. Er hätte sich eine davon angeln und so die Kurve kriegen können. Stattdessen hatte er Cosmins Nähe genossen, seine Umarmungen, die Berührungen, so harmlos sie auch gewesen sein mögen.

Könnte ich wirklich zurück nach Berlin flüchten und Cosmin hier zurück lassen?

Würde es helfen, einfach etwas mehr Abstand zu halten, wenn er mit Cosmin zusammen war?

Mam, ich wollte sein Freund sein, aber doch nicht sein…

Das erneute Klingeln des Handys riss ihn aus diesen Gedanken.
Cosmin erschien auf dem Display.
„Cos-Mi, hey, alles okay bei dir?“, fragte Max und bemerkte, dass Cosmin aussah, als hätte ihn die Frage von einem Abgrund zurück gerissen.
„Alles okay, Maxi“, erwiderte Cosmin und schien nun nach Worten zu suchen. „Ich äh… wollte mal schauen, ob bei dir alles okay ist.“
Max seufzte. „Cos-Mi, ich habe dir vorhin erzählt, dass ich mich in einen Kerl verknallt habe. Was glaubst du, wie es mir geht, hm?“
Cosmin senkte kurz den Blick, doch gleich darauf zogen seine glühenden Augen Max in ihren Bann.
„Maxi, in den Hofpausen sitzen doch ein paar Jungs aus der 12A mit uns auf der Mauer an der Kletterwand. Einer von denen hat blond gefärbte Haarsträhnen, weißt du, wen ich meine?“
Max begriff nicht, wieso Cosmin plötzlich auf einen Kerl zu sprechen kam, mit dem sie noch nie ein Wort geredet hatten. „Hm, glaub’ schon.“
„Er sitzt immer mit einem Jungen zusammen, der so eine komische Brille hat.“
Auch an den dunkelhaarigen, schmächtigen Wuschelkopf mit der Hornbrille erinnerte sich Max. „Und was genau haben beide mit mir zu tun?“
„Ich habe schon ein paar Mal gesehen, dass sie sich unauffällig an den Händen halten, wenn sie neben uns sitzen.“
„Echt?“ Max war wie vom Donner gerührt. „Und die anderen merken das nicht?“
Ein Lächeln huschte über Cosmins Gesicht. „Ich glaube, es ist ihnen egal. Maxi, wir sind nicht… das einzige Paar an der Schule.“
Max traute seinen Ohren nicht. Hatte er das jetzt richtig verstanden?

Wir sind nicht das einzige Paar.
Cos-Mi, meinst du das im Ernst oder hältst du mir jetzt eine Möhre hin?

Cosmins Gesicht war inzwischen so nah am Handy, dass seine Augen leicht schielten.

Meine Güte, will mich Cos-Mi hypnotisieren?

„Maxi?“
Max zuckte leicht zusammen. „Hm?“
„Versprich mir, dass du nach den Herbstferien zurück kommst.“

Cosmin

Am darauffolgenden Tag nahm Cosmin sofort eine subtile Veränderung in Max’ Verhalten wahr, ohne dass er hätte sagen können, worin genau diese Veränderung bestand.
Max wartete bereits am Rathaus, als Cosmin den Treffpunkt erreichte.
Wie immer drückte Max ihn kurz mit einem Arm an sich, während er mit der anderen Hand sein Rad hielt.
Anders als sonst war freilich, dass Max in beiden Hofpausen die anderen Jungen auf der Mauer an der Kletterwand beobachtete und sich dabei für zwei der Jungen ganz besonders zu interessieren schien.
Nach der letzten Unterrichtsstunde des Tages schlenderten Cosmin und Max gemeinsam zurück zum Rathaus.
Cosmin tätschelte kurz Max’ Schulter. „Dann bis nachher!“, sagte er und wollte sich umwenden, doch Max schnappte nach seinem Arm.
„Warte! Ich… ich kann heute nicht zu dir kommen!“
Cosmin fühlte sich, als hätte ihm Max den Boden unter den Füßen weggezogen.
„Wieso das denn?“, fragte er schwach. Wieder tasteten sich eisige Finger der Angst durch seinen Bauch. „Du bist also doch sauer auf mich?“
„Quatsch!“, stieß Max schließlich hervor und wich Cosmins Blicken aus. „Ich habe meiner Oma versprochen, im Garten zu helfen. Wegen der Herbstferien und so…“

Was für ein Schwachsinn! Du bist ein noch mieserer Lügner als ich, erwiderte Cosmin in Gedanken. Was haben die Herbstferien mit dem Garten deiner Oma zu tun?!

„Und die Geometrieklausur am Freitag…?“, versuchte er Max umzustimmen.
„Wir whatsappen, Cos-Mi! du schickst mir die Aufgaben und ich dir meine Lösungen.“

Den Nachmittag verbrachte Cosmin in seinem Zimmer am Schreibtisch und versuchte vergeblich, sich in Oma Lisas Mathebuch für Ingenieure zu vertiefen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen und Integralzeichen verwandelten sich in Würmer, die sich in sein Hirn bohrten.

Was treibst du wirklich, Maxi? Unkraut rupfen für die Herbstferien, was Dämlicheres ist dir nicht eingefallen?

Immer wieder blickte er auf sein Handy in der Hoffnung, dass Max sich vielleicht doch noch zu einer Nachhilfestunde ankündigen würde.
Schließlich hielt es Cosmin nicht mehr aus und wählte auf dem Handy Max’ Nummer.
Nichts!
Die Würmer aus dem Mathebuch bohrten inzwischen so tief, dass es in Cosmins Kopf hämmerte.
Eine Viertelstunde später versuchte er es erneut Max anzuklingeln.
Wieder nichts!
Die Minuten und Viertelstunden verstrichen und inzwischen war es höchste Zeit für ihn, sich um das Abendessen zu kümmern. Sein Vater konnte jeden Augenblick hier sein.
Endlich erwischte er Max am anderen Ende der Leitung.
„Cos-Mi, hey. Was ist los?“, hallte Max’ Stimme aus dem Handy.
Cosmin runzelte die Stirn. Wo auch immer sich Max gerade aufhalten mochte, ein Garten war es jedenfalls nicht.
„Äh… ich wollte nur wissen, wann wir whatsappen. Ich meine wegen Geometrie und so…“, stammelte Cosmin und lauschte den Geräuschen, die an sein Ohr drangen.
Hallende Geräusche, das Echo eines Plätscherns, ferne Rufe, der gedämpfte Pfiff aus einer Trillerpfeife? Max befand sich offensichtlich in einer Turnhalle. Nein eher in einer Schwimmhalle.
Max’ Antwort ging in Cosmins Grübelei unter.
Trainierte Max jetzt auch noch in der Schwimmhalle? Und wenn ja, wieso machte er daraus ein Geheimnis?

Max

Die abendliche Nachhilfe per WhatsApp war völlig für die Katze gewesen. Max hatte keine von Cosmins Erklärungen verstanden und fragte sich, wozu er überhaupt wissen musste, ob und wo sich Geraden schnitten oder irgendwas durchstießen.
Wieso kapierte er so was nur, wenn sie ihre Köpfe zusammensteckten oder er Cosmins Fingern dabei zusah, wie sie an seinen Lösungswegen herum radierten?

„Musst du heute wieder im Garten arbeiten?“, fragte Cosmin , als Max sich tags darauf am Rathaus von ihm verabschieden wollte.
Max verfluchte sich innerlich für die völlig bekloppte Ausrede. Cosmin hatte ihn vermutlich längst durchschaut. Eigentlich hatten gestern die zwei Stunden in der Schwimmhalle ausgereicht, die Frage zu beantworten, die ihm wie glühendes Eisen auf der Seele brannte:

Bin ich anders 'rum gedreht? Stehe ich auf Kerle?

Ehe Max antworten konnte, winkte Cosmin ab. „Vergiss es! Gartenarbeit geht vor. Wir whatsappen dann eben wieder.“
Er wandte sich ohne Abschiedsgruß um und trottete davon.
Max starrte ihm hinterher, bis Cosmin etwa hundert Meter weiter hinter einer Ecke des Rathauses verschwand.

Scheiße! Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich nicht zur Nachhilfe kommen kann, weil ich mir stundenlang halbnackte Kerle angucke um raus zu finden, ob mich das anmacht.

Er verwarf den Gedanken sofort wieder.

Cosmin würde mich für total bescheuert halten.

Ein paar Stunden später hockte Max wieder auf einer Bank am Beckenrand der Stadtschwimmhalle. Er hatte zuvor lustlos einige Runden im Becken gedreht, um nicht als Spanner aufzufallen. Noch steckte ihm das nachmittägliche Training in den Knochen. Mehr als zwei Stunden hatte er sich an den Geräten ausgepowert und am Boxsack den unbekannten Stiefbruder mindestens hundert Mal zerschmettert oder Leon in hohem Bogen aus dem Ring fliegen lassen. Inzwischen war ihm klar, dass er hier seine Zeit verplemperte. Bei keinem der im Becken planschenden oder am Beckenrand herum lungernden Männer oder Jungen verspürte er auch nur den Hauch eines Kribbelns im Bauch. Was auch immer ihn zu Cosmin hinzog, es war etwas, das bei anderen Männern oder Jungen nicht vorhanden war. Mit Erleichterung stellte er fest, dass er sich eher für die Dinge interessierte, die einige der anwesenden Mädchen unter ihren Badeanzügen versteckten.
Zumal er mehrere verstohlene Blicke einfing.

Aber wenn ich die Wahl hätte zwischen einer von euch und Cos-Mi…

Plötzlich ließ sich ein etwa ein oder zwei Jahre jüngerer Bursche neben ihn auf die Bank fallen und boxte ihm kumpelhaft in die Seite. „Alles klar bei dir Mann? Du hängst hier so alleine herum.“
Max war drauf und dran, den Bengel in hohem Bogen ins Becken zu befördern, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Der Kerl will mich abschleppen!
„Hm, ich gucke nur…“
„Schon fündig geworden?“, fragte der Junge grinsend und sein anzüglicher Blick glitt von Max’ Badekappe bis hinunter zu den Zehenspitzen.
Max empfand beinahe so etwas wie Bewunderung für den Bengel. Auf Verdacht jemanden so anquatschen - ich hätte das nicht drauf!
Max seufzte tief. „Weißt du was mein Problem ist?“
Das Grinsen des Burschen wurde noch etwas breiter. „Ich glaub’ schon.“
„Du liegst bestimmt daneben! Ich stehe nämlich auf Damen ab 75.“ Max glitt von der Bank und deutete auf das Becken. „Siehst du hier so ein Schätzchen?“
Das Grinsen im Gesicht des Jungen gefror. Statt einer Antwort klappte ihm die Kinnlade herunter.
„Tut mir Leid, Kumpel! Du solltest dich abkühlen gehen“, sagte Max, klappte mit der Fingerspitze das Kinn des Jungen zurück zum Oberkiefer und wandte sich zum Gehen.

Cosmin

Cosmin schlug an diesem Nachmittag Punkt fünf Oma Lisas Mathebuch zu. Er hatte für Max’ alltägliches Fitnesstraining mindestens zweieinhalb Stunden veranschlagt. Ungefähr jetzt würde also Max mit seiner „Gartenarbeit“ in einer Schwimmhalle beginnen.
So idiotisch sich Cosmin bei dem Gedanken fühlte, Max nachzustellen - Angst und Neugier trieben ihn aus dem Haus.
In Dessau gab es zwei Schwimmhallen. Cosmin vermutete, dass Max in der modernen Stadtschwimmhalle Unkraut jätete, weil die alte Schwimmhalle etwas weiter von Oma Lisas Haus entfernt war. Und tatsächlich musste Cosmin an den Fahrradständern vor dem eingeschossigen Neubau der Schwimmhalle nicht lange suchen, bis er fündig wurde. Max gärtnerte also in dieser Halle! Dummerweise gestatteten die getönten Scheiben der Halle Cosmin keinen Blick ins Innere der Halle.
Was versuchte Max hier vor ihm zu verbergen? Dass er lieber im Schwimmbecken Runden drehte als sich über Matheaufgaben den Kopf zu zerbrechen?
Er betrat das Foyer. Die Schwimmbecken befanden sich hinter einer raumhohen Glaswand. Cosmin reckte den Hals und erspähte an die vierzig bis fünfzig Leute in der Halle. Aber von der Eingangstür aus war es schwierig, eine bestimmte Person ausfindig zu machen. Zumal die Köpfe der Leute in den beiden Schwimmbecken fast alle unter denselben Badekappen steckten. Cosmin steuerte den Anmeldetresen an. Die junge Frau dahinter musterte ihn interessiert.
" Hallo, darf ich mal gucken, ob ein Freund hier ist?", fragte er, deutete auf die Glaswand und half bei seiner Bitte mit einem Rehaugenblick nach.
Tatsächlich schien die Frau unter einem solchen Blick dahin zu schmelzen.
„Na, gestattet ist das eigentlich nicht. Du müsstest mindestens die fünf Euro für eine Stunde bezahlen. Na los, aber nicht länger als fünf Minuten.“
Cosmin huschte zur Glaswand und prallte an ihr zurück.
Keine zehn Meter von ihm entfernt hockte Max auf einer Bank und starrte auf ein paar Männer am Beckenrand. Dann glitt sein Blick weiter.
Cosmin versuchte diesem Blick zu folgen, der nun auf einem vielleicht dreißig Jahre alten Typen ruhte.
Plötzlich durchfuhr Cosmin ein Verdacht:

Sucht sich Max hier einen Kerl für eine schnelle Nummer?

Ein Junge setze sich neben Max. Cosmin stockte der Atem.
Bitte nicht!, flehte er Max lautlos an.
Der Bengel schien Max mit lüsternen Blicken regelrecht zu verschlingen. Vor Cosmins innerem Auge jagte ein grässliches Bild das andere. Max in den Armen dieses aufdringlichen Burschen. Der Bursche in Max’ Armen, Küsse, die kein Ende finden wollten. Ein Gefühl, das Cosmin bislang nur vom Hörensagen kannte, presste seinen Brustkorb zusammen - Eifersucht. Doch dann versteinerte das Gesicht des Jungen. Cosmin stieß den angehaltenen Atem aus. Der Bengel war abgeblitzt! Max flutschte von der Bank, klappte den aufgesperrten Mund des Burschen zu und wandte sich zum Foyer um.
Wieselflink flüchtete Cosmin zur Ausgangstür.
„Hey…!“, rief ihm die Frau vom Tresen hinterher, doch Cosmin stoppte erst, als er sein Fahrrad erreicht hatte.
Keine zehn Minuten später trat Max ins Freie und blieb wie angewurzelt stehen, als er Cosmin erblickte.
Cosmin räusperte sich. „Deine Oma hat hier auch einen Garten?“
Max schien eine Weile mit sich zu ringen, dann straffte sich seine Schulter.
„Okay Cos-Mi, Schluss mit dem schwachsinnigen Garten! Das mit uns… Scheiße, ich wollte herausfinden, ob es mich anmacht, Kerle in Badehosen zu sehen, ob ich äh… schwul bin.“
Cosmin schluckte einen Kloß im Hals hinunter, spürte aber auch, dass das Eis in seinem Bauch schmolz.
Max hatte nicht nach einer schnellen Nummer gesucht, sondern nach der Antwort auf eine Frage, die er sich selber ebenfalls gestellt hatte.
„Und… was hast du ´raus gefunden?“
„Wäre mir hier einer der Kerle an die Wäsche gegangen, hätte ich ihn kastriert.“
Max wollte sein Rad aus dem Fahrradständer heben, doch Cosmin griff nach seiner Schulter und zog ihn an sich. „Ich werd´s mir merken.“
Cosmin spürte, dass sich Max für einen Moment versteifte, ehe er die Umarmung erwiderte.
„Blödmann!“, grinste Max.
Plötzlich löste sich Max aus der Umarmung. „Cos-Mi, ich glaube, die beiden Kirschen sind aus unserer Schule.“
Cosmin warf einen Blick über die Schulter. Zwei Mädchen aus der Neunten oder Zehnten standen am Eingang zur Schwimmhalle und starrten aus Stielaugen zu ihnen herüber.
„Die denken jetzt vielleicht, dass wir schwul sind“, zischte Max ihm zu.
„Vielleicht auch nicht“, zischte Cosmin zurück. „Wir haben ja hier nicht 'rum geknutscht.“

Bevor ich für zwei oder drei Wochen pausiere, hier noch ein paar weitere Kapitel. Scheint so, als würde die Selbstfindung der beiden Jungs Fortschritte machen…

  1. Ist der vielleicht schwul?

Cosmin

Am nächsten Morgen schüttete es wie aus Gießkannen.
Die meisten der zur Schule strömenden Mädchen und Jungen versteckten sich unter Regenschirmen. Cosmin trug eine Regenjacke aus dem Schrank seines Vaters, die sicher schon Dutzende Baustellen gesehen hatte.
Das Wetter passt wie die Faust aufs Auge, fand Cosmin, während er mit Max inmitten der Schülerscharen über den Marktplatz trottete.
Wahrscheinlich würde er ab morgen neun volle Tage allein hier herum hängen. Er hatte nur wenig Hoffnung, dass es ihm Max’ Onkelbruder erlauben würde, Max in Berlin zu besuchen.

Warum hat mich das Alleinsein bisher nicht gestört?

Er wandte sich zu Max um. Unter der Kapuze des Regencapes lugten blonde Haarsträhnen hervor und klebten Max an der Stirn. Regentropfen bildeten kleine Rinnsale, die ihm von Kinn und Nase tropften. Max schien mit seinen Gedanken entweder bereits in Berlin oder noch bei seiner Selbstfindung in der Schwimmhalle zu sein.
„Maxi!“
Max’ Blick kehrte in das Hier und Jetzt zurück.
„Hm?“
„Du kannst es kaum erwarten, oder?“
Ein Lächeln wischte die Schatten aus Max’ Gesicht. „Ich habe Leon seit fast zwei Monaten nicht gesehen. Ich glaube, so lange waren wir noch nie getrennt.“
Cosmin spürte einen leisen Stich in der Brust. War er jetzt sogar schon auf Max’ Onkel eifersüchtig? Der Mann war für Max vermutlich zugleich Bruder, Vater und seit drei Jahren auch Mutter gewesen!
„Wann fährt heute Nachmittag dein Zug?“
„Kurz nach vier. Du willst zum Bahnhof kommen?“
Cosmin entging nicht, dass Max’ Augen plötzlich aufleuchteten.
Er seufzte. „Ich habe eh nichts Besseres zu tun.“
„Cos-Mi, komm doch nach der Schule mit zu mir und wir latschen zusammen zum Bahnhof.“
Nun stahl sich auch auf Cosmins Lippen ein Lächeln. „Das klingt noch besser.“
Die Matheklausur in den letzten beiden Unterrichtsstunden des Tages lief besser, als Cosmin zunächst nach Max’ Ausflügen in die Stadtschwimmhalle befürchtet hatte.
Nach der Stunde saßen beide Jungen noch einige Minuten zusammen im Klausurraum und die meisten der Lösungen, an die sich Max erinnerte, schienen halbwegs richtig zu sein.
„Ohne dich hätte ich in Mathe keine Chance, Cos-Mi“, sagte Max, als sie wenig später durch die Eingangstür ins Freie traten.
Die Regenwolken hatten sich verzogen, hinter dem Rathausturm lugte die Herbstsonne hervor. Vom Pflaster des Vorplatzes mit den inzwischen beinahe völlig verwaisten Fahrradständern kräuselten Dampfwolken himmelwärts.
„Ach was, so viel haben wir gar nicht geübt zusammen.“ Cosmin stupste Max mit dem Ellenbogen. „Komm schon. Du hattest in der Schwimmhalle dein Mathebuch dabei, oder?“
„Ja, aber wegen der vielen hübschen Kerle dort habe ich kaum rein geguckt“, grinste Max.
Sie hatten die Fahrradständer erreicht.
„Gehen wir erst zu dir und holen dein Rad“, sagte er, doch plötzlich erstarrte er mitten in der Bewegung.

Max

„Tsss… Tsss…“
Jäh spannte Max jeden Muskel seines durchtrainierten Körpers an, verharrte auf der Stelle, blendete alle Straßengeräusche und das Stimmengewirr auf dem Vorplatz aus. Zugleich huschte ein Grinsen über seine Lippen.
Onkelchen! Lass dir mal was Neues einfallen!, zischte unhörbar er und mit einer blitzartigen Drehung fing er die Faust ab, die einen Sekundenbruchteil später in sein Schulterblatt gekracht wäre. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Cosmin einen Satz zur Seite machte und völlig entgeistert den Angreifer anstarrte. Und er sah das in diesem Moment ungedeckte Gesicht des Angreifers. Kurze Hocke und schon flog sein linker Fuß dem Kinn des anderen entgegen, als würde für ihn die Schwerkraft eine Pause machen. Doch offenbar hatte der Angreifer mit diesem Tritt gerechnet. Noch ehe Max’ Fuß gegen das Kinn des Mannes klatschte, packte der Angreifer den Fuß, schnappte sich Max’ anderes Bein und riss den Jungen von den Füßen.
Statt auf dem Pflaster landete Max in den Armen des Mannes, ehe der ihn wieder auf die eigenen Füße stellte.
Wohl im letzten Moment, denn nun erwachten nicht nur die Schüler auf dem Vorplatz aus ihrer Erstarrung. Auch einer der Lehrer hatte offenbar vorgehabt, ins Geschehen einzugreifen und blieb nun unschlüssig stehen.
„Salve Champion!“, rief der Mann lachend, und zauste Max’ Haare. „Ich hatte echt Schiss, du würdest dir jetzt ohne unser Training eine Klatsche einfangen!“
„Hi Onkelchen. Ich wollte gerade dasselbe sagen“, griente Max und wandte sich an Cosmin, dessen Blick zwischen Max und dem Mann hin und her huschte, mit dicken Fragezeichen in den Augen.
„Okay. Also Cos-Mi, das hier ist mein Onkel Leon aus Berlin. Wie es scheint, können wir uns den Weg zum Bahnhof sparen. Ach ja, Bruderherz! Das hier ist mein Freund und Banknachbar Cosmin.“
Erst jetzt schien Leon Cosmin zu bemerken. Ein Schatten dimmte das Stahlen in seinem Gesicht und nun waren es Leons Augen, in denen dicke Fragezeichen auftauchten.
„Ein Freund…?“, echote er und es klang, als würde er das Wort ‚Freund‘ buchstabieren. „Sagtest du nicht, die Jungs in deiner Klasse sind alles Arschgesichter?“
Max warf Cosmin einen entschuldigenden Blick zu. „Ich hatte vergessen, die Ausnahme zu erwähnen.“
Leon schien Cosmin einige Sekunden lang mit den Augen zu sezieren und Max bemerkte, dass Cosmin in diesem Moment lieber am anderen Ende der Welt gewesen wäre.
„Hey Onkelchen! Ich dachte, du hast noch einen Termin heute“, versuchte Max, Cosmins Sezierung zu beenden.
Das Strahlen kehrte in Leons Gesicht zurück, als er sich wieder Max zuwandte. „Abgesagt, Champion! Du bist wichtiger! Ich bin jetzt eine Woche lang nur für dich da. Ich werde dich schleifen, bis du auf Knien um Gnade winselst“, kicherte er. „Und weißt du, was das Beste ist?“
„Äh, was? Wir sitzen beim Pferderennen ganz vorne?“
„Nein, die Logenplätze für das Pferderennen sind nur das Zweitbeste…“
Mit dem Pferderennen war ein Kampfsport - Turnier gemeint, das in acht Tagen stattfinden sollte. Man konnte bei solchen Turnieren auf einen Favoriten setzen und jede Menge Geld gewinnen oder eben auch verlieren.
„Äh was ist dann das Beste?"
„Du kannst dich nicht nur bei unserem Training austoben, sondern auch in den Nächten. Ich hab’ dir eine Kleine besorgt!“
Max blieben die Worte im Halse stecken. Er bemerkte, dass Cosmin neben ihm das Weiteratmen vergaß und regelrecht vereiste.
Verdammt, ich würde jetzt genauso da stehen wie du, Cos-Mi!, war sich Max sicher.
„Vergiss das mit dem Austoben, Onkelchen. Ich… ich habe hier jemanden gefunden.“
Fast unhörbar, doch für Max so laut wie das Läuten von Kirchenglocken, schien Cosmins Atmung wieder einzusetzen.
„Ich hau dann mal ab“, sagte Cosmin. Ein unsicheres Lächeln taute sein eben noch vereistes Gesicht auf, bevor er sich umwandte und davon eilte.
„Komischer Kerl“, sagte Leon mit einem Blick über die Schulter.
Max schwieg lieber.
Leon deutete auf die Fahrradständer. „Dein Rad bekomme ich nicht in meine Karre. Ich hole dich in einer Stunde bei einer Großmutter ab.“

Leons Karre war ein Porsche 911 Carrera.
Etwa fünfzehn Minuten benötigte Leon von Oma Lisas Haus bis zur Autobahn und fragte Max zur nicht vorhandenen Freundin Löcher in den Bauch. Vor allem konnte er es kaum erwarten, von ihr auch ein paar Fotos zu sehen. Während Max sich alle Mühe gab, seinem Onkel halbwegs glaubhafte Märchen über eine Julia aufzutischen, überlegte er fieberhaft, wie er an Fotos von diesem Mädchen gelangen könnte, das nur in seiner Fantasie existierte. Natürlich besaß er noch Dutzende Fotos von Caroline auf seinem Handy, aber Leon kannte die Exfreundin.
Während sie auf die Autobahn auffuhren, blitzte in Max’ Kopf die rettende Idee auf:
Hazel!
Auch von ihr befanden sich zahlreiche und sogar brandaktuelle Fotos auf seinem Handy und Leon kannte Max’ Cousine allenfalls vom Hörensagen. Und als Leon auch über die intimeren Sachen, insbesondere das „seit wann“ und „wie oft“ informiert werden wollte, leistete Max im Stillen Abbitte bei Hazel und umschiffte bei seinen Antworten die Einzelheiten wie Klippen in der Brandung.
„Onkelchen, mein Alter will mit mir über dieses komische Haus reden“, warf Max ein, als ihm Leons Fragen zu Hazel etwas zu heikel wurden.
Leon seufzte. „Maxi, dein … äh… Alter ist zufällig mein großer Bruder. Er war für mich das, was ich für dich bin. Komm schon, Champion, er rackert sich auch für dich ab.“
Er tätschelte Max’ Knie. „Ich bin auch nicht glücklich, dass er dieses süße Püppchen gleich geheiratet hat. Einmal die Woche hätte…“
Leon verschluckte den Rest. „Du bist noch nicht mal achtzehn und hast praktisch schon die Taschen voller Kohle. Morgen Abend kommt dein Vater zu mir, um mit dir zu reden. Am Montag schaust du dir mit uns das Haus an. Du hast dann etwa zwei Wochen Zeit, dich zu entscheiden, ob du es behalten oder verkaufen willst.“
„Wie viel würde ich für die Bruchbude bekommen?“
Leon lachte kurz auf und spreizte die Finger seiner rechten Hand. „Bruchbude ist gut… sehr viele Tausender. Und das, was dein Vater bisher an Mieten eingesammelt hat. Mehr möchte ich jetzt nicht verraten.“
Max strich sich die Haare aus der Stirn. Er wusste nicht einmal mehr genau, wo genau sich das Haus befand und war erstaunt, dass jemand diese alte Hütte kaufen wollte. Zudem hatte er nicht den Hauch einer Idee, was er mit diesem Batzen Geld anstellen könnte.
„Onkelchen, von Häusern und so habe ich keine Ahnung“, erwiderte er leise.
Leon nickte. „Auch daran werden wir arbeiten, kleiner Champ. Ich möchte, dass du in ein paar Jahren im Büro neben mir sitzt.“ Er warf einen Blick auf den Bordcomputer.
„In einer halben Stunde sind wir bei mir in meinem Häuschen. Ich kann es kaum erwarten, dir endlich mal wieder den Hintern zu versohlen.“

Leons Häuschen war eine eingeschossige Villa mit ausgebautem Dachgeschoss und insgesamt sechs Zimmern in einer Siedlung aus neu erbauten Villen am westlichen Stadtrand von Berlin. Es lag an einer ruhigen Seitenstraße.
So wie bei allen Häusern der Nachbarschaft grenzte ein gepflegter Vorgarten an Leons Villa.
„Ich habe eine Überraschung, Champ“, sagte Leon, als er mit Max das Wohnzimmer betrat. Er deutete auf die hintere, über einen Wintergarten zum Garten hinaus führende Wand, die vollständig verglast war.
Max traute seinen Augen nicht. Hinter dem Pool waren sämtliche Beete und Hecken verschwunden, stattdessen erhob sich dort ein etwa fünf Meter hoher künstlicher Kletterfelsen mit einem Durchmesser von vier bis fünf Metern. Ein Kiesbett umgab den mit bunten Griffen gespickten Felsen und garantierte bei einem Sturz eine weiche Landung. Koniferen säumten den Garten und boten zugleich einen Sichtschutz.
„Oh Mann Bruderherz, was für ein geiler Brocken. Wow, darf ich?“
Leon lachte. „Nun ja, innen ist der Brocken hohl. Aber du kannst dich dort auch nachts austoben, das Schmuckstück lässt sich nicht nur beleuchten, es leuchtet auch selber. Bring deine Sachen hoch auf dein Zimmer. Wir sehen uns im Keller. Dort zeigst du mir, was du noch drauf hast.“

Im Zimmer, das er bewohnte, wenn er bei seinem Onkel zu Besuch war, erlebte Max die nächste Überraschung. An Stelle der Eckcouch füllte jetzt ein riesiges Himmelbett fast die Hälfte des Raumes aus, an der darüber liegenden Zimmerdecke klebte ein riesiger Spiegel. Ebenfalls verspiegelt waren die neuen Kleiderschränke zu beiden Seiten des Bettes.
Max warf seinen Rucksack auf das Bett. Immerhin hatte Leon nicht auch die beiden gemütlichen Sessel und den kleinen Tisch unterhalb des Panoramafensters mit Blick auf die Straße entsorgt.
Leon hatte bereits begonnen, einen der Boxsäcke mit Tritten und Schlägen zu traktieren, als Max wenig später den Trainingsraum seines Onkels betrat.
„Onkelchen, danke für das neue Bett und die Spiegel.“
Leon wischte sich mit einem Handtuch Schweiß von der Stirn. „Ich dachte ja, wenn du schon mal hier bist, willst du dich auch ein bisschen mit einem Täubchen vergnügen…“
„… und mir selber beim vögeln zugucken?“, grinste Max.
Leon zwinkerte Max zu. „Probier’s aus, wenn du beim nächsten Mal diese süße Kleine mitbringst.“ Dann griff er nach einem Paar Boxhandschuhen und warf sie Max zu. „Und jetzt zeig mir, wie du diese elf Tölpel fertig gemacht hast.“
Max hätte fast daneben gegriffen und leistete einmal mehr Abbitte bei Hazel.
Beinahe zwei Stunden schlugen und traten Max und sein Onkel im Boxring des Fitnesskellers aufeinander ein, probierten neue Finten, Tricks und Abwehrtechniken aus. In den Kampfpausen erzählte Leon von seinen Monaten in Bratislava. Max sehnte sich danach, mit jemanden über das zu reden, was ihm mit Cosmin passiert war und endlich jemandem sein Herz auszuschütten. Aber gegenüber Leon mied er dieses Thema wie der Teufel das Weihwasser und wagte es nicht, Cosmin auch nur zu erwähnen. Dennoch hätte er sich am liebsten noch weitere zwei Stunden mit Leon geschlagen, aber sein Onkel vertröstete ihn auf den nächsten Tag. Er erwartete mal wieder eine Freundin, mit der er sich offenbar in der Nacht austoben wollte.
Zum Abendessen bestellte Leon Pizza und als später die junge Frau eintraf, verzog sich Max in den Garten und genoss die Hangelei an Leons Kletterfelsen, der nicht nur im Licht der Halogenfluter, sondern auch unzähliger in der Wand eingelassener LED Lämpchen erstrahlte.
Es war fast 23 Uhr, als sich Max völlig erschöpft und mit seinem Smartphone in der Hand auf das riesige Bett fallen ließ.
Cosmin hatte dreimal versucht, ihn per Videochat zu erreichen.

Kann ich dich noch anbimmeln oder pennst du schon?

Max drückte die Rückruftaste. Gleich darauf materialisierte sich Cosmins Gesicht auf dem Display und Max schien es, als würde seine Körpertemperatur für einen Augenblick 40 Grad überspringen.
„Hey!“ Cosmins Gesicht kam noch näher, als wolle es aus dem Display ausbrechen. „Ist das ein Spiegel über dir?“
„Ja, damit man sich selber dabei zugucken kann“, grinste Max.
Nun grinste auch Cosmin. " Und? Guckst du dir dabei zu?"
„Cos-Mi, ich bin allein im Bett“, erwiderte Max und ließ das Handy herum kreisen, sodass sich Cosmin Bett und Zimmer anschauen konnte.
„Oh Mann, in das Bett passen doch mindestens vier Leute rein. Sag schon Maxi, guckst du dir selber dabei zu?“, kicherte Cosmin.
Max traute seinen Ohren nicht.

Will er das jetzt wirklich von mir wissen?

Und plötzlich schlängelte sich eine weitere Frage durch seine Hirnwindungen.

Mit wem treibst du es in deiner Phantasie?

„Cos-Mi, ich mache immer vorher das Licht aus.“
„Wozu dann all diese Spiegel?“, fragte Cosmin. Sein Grinsen verblasste.
„Maxi?“
„Hm?“
„Dein Onkel mag mich nicht besonders?“
Max seufzte. " Cos-Mi, ich habe gar nicht von dir erzählt. Ich glaube, Leon würde sofort merken, dass ich… ich meine, dass mit mir irgendwas nicht stimmt."
Cosmin starrte Max aus glühenden Augen an.
„Hör auf, mich zu hypnotisieren“, maulte Max.
„Ich hypnotisiere dich doch gar nicht.“ Cosmins Gesicht entfernte sich etwas und jetzt erkannte Max, dass Cosmin im Bett lag, den Kopf auf eine Hand gestützt. „Ich wäre gern mit dir in Berlin, ich meine die Stadt angucken und so.“
„Cos-Mi, wir machen das.“ Max griff nach einer Idee, die ihm bereits seit einiger Zeit im Kopf herum geisterte. „In drei Wochen ist der Freitag ein Feiertag. Wir hätten drei Tage Zeit. Wenn du möchtest, suche ich ein Hostel, wo wir einchecken können.“
Cosmin strahlte. „Ich möchte, Maxi. Ich könnte mir von meinem Vater bestimmt etwas Geld borgen und…“
„Nicht nötig!“, fuhr ihm Max ins Wort. „Ich habe mir ein bisschen was gespart.“
"Aber… "
„Cos-Mi, du machst jeden Tag zwei Stunden Nachhilfe mit mir. Weißt du eigentlich, wie viel mich so eine Nachhilfe kosten würde?“
Max gähnte und ließ seinen Kopf in das Kissen sinken.
„Maxi?“
„Hm?“ Er versuchte sich auf Cosmins Gesicht zu konzentrieren, das vor seinen Augen langsam zu verschwimmen begann.
„Ich würde mir gerne… schläfst du etwa?“
"Nö… "

„Hhhh- Tschiiii !!!“
Max fuhr vom Kissen hoch. Die Leselampe beleuchtete das riesige Bett. Er blickte um sich und schaute sogar unter dem Bett nach. Nach wie vor war er allein in im Zimmer.
Wer zum Teufel hatte hier geniest? Er selber?
Sein Blick fiel auf das Handy. Das Display leuchtete schwach. Er schnappte sich das Handy. Der durch das Fenster dringende Lichtschein in Cosmins Zimmer reichte aus, dass Max Cosmin erkennen konnte. Cosmin wälzte sich auf seiner Liege herum und wandte ihm nun das Gesicht zu. Der Videochat lief noch und die Uhr zeigte bereits 4:30 an.
Wieso hatte Cosmin den Videochat nicht beendet? Max schaute zur verspiegelten Decke und sein Spiegelbild schaute von dort zu ihm herunter.
„Cos-Mi ist ein Spanner!“, rief er seinem Spiegelbild zu.
„Maxi, das habe ich gehört“, ertönte Cosmins verschlafene Stimme aus dem Handy.
Max sah, dass Cosmin ein Auge geöffnet hatte. „Du redest im Schlaf und ich habe nur ein bisschen zugehört.“
„Quatsch!“
Cosmin öffnete auch das andere Auge. „Du hast im Traum deiner Mam versprochen, dir die Haare wieder wachsen zu lassen. Und dann wäre da noch eine Karla.“
"Das ist… " Max war sicher, dass er Cosmin nie etwas von seiner Kurzhaarfrisur oder von Karla erzählt hatte. Er war mit dreizehn in sie verknallt gewesen, aber nach dem Tod seiner Mutter war auch seine erste Liebe zerbrochen.
„Also, wer ist Karla?“
„Das ist echt krass, ich habe bestimmt schon zwei Jahre nicht mehr an sie gedacht und sie interessiert mich auch nicht mehr. Nacht Cos-Mi!“
Max wollte den Videochat beenden.
„Nicht!“ Cosmin fuhr im Bett hoch. „Lass es an, vielleicht erzählst du ja noch mehr.“
„Von wegen, du willst mir heimlich zugucken“, grinste Max und stöpselte das Ladekabel ins Handy. Trotz des Lichtes der kleinen Leselampe über seinem Kopf dauerte es nur ein paar Minuten, bis sein leises Schnarchen aus dem riesigen Himmelbett ertönte.

Als Max am Morgen erwachte, stachen ihm die Strahlen der Herbstsonne in die Augen. Sie fluteten durch das Panoramafenster an der gegenüberliegenden Wand ins Zimmer. Verblüfft stellte er fest, dass die Leselampe ausgeschaltet war. Ein leiser Schreck durchzuckte ihn beim Blick auf sein Handy. Auch der Videochat lief nicht mehr.
Leon! Wahrscheinlich hatte er den Lichtschein bemerkt und im Zimmer nach dem Rechten gesehen.

„Moin Kleiner Bruder“, empfing ihn Onkel Leon kurz darauf an einem Tresen, der im Wohnzimmer den Wohnbereich von der Küchenzeile trennte. Er nippte an einem Kaffee und vor ihm lag ein Tablet.
Auf der Marmorplatte des Tresens standen Schälchen voll gefüllt mit verschiedenen Cerealien, außerdem Joghurtbecher und Saftflaschen.
„Moin Onkelchen“, erwiderte Max den Gruß und ließ sich neben seinem Onkel auf einen Barhocker fallen.
„Kaffee?“
Max nickte und Leon befüllte einen Becher aus einem Automaten. „Wo ist deine Freundin?“, fragte Max.
Leon reichte Max den Becher und grinste. „Hab sie nach Hause geschickt. Wir haben viel vor heute.“
Dann schwand das Grinsen aus Leons Gesicht.
„Maxi, sei vorsichtig mit deinem Zigeunerfreund.“
"Ähm… "
„Ihr habt am Abend gechattet?“
Max fühlte, dass er bis zu den Ohrenspitzen errötete. „Wir haben ein bisschen über unsere Täubchen geplaudert.“
„Du bist eingepennt und der Bengel hat den Videochat nicht beendet. Ich hatte das Licht bei dir im Zimmer gesehen und nachgeschaut. Maxi, ich bin sicher, der Kerl hat dich im Spiegel beobachtet, bevor ich ihn ausgeknipst habe. Ist der vielleicht schwul?“
„Nö! Er hat 'ne Freundin.“ Was ja nicht mal gelogen war, fand Max.
Um Onkel Leon zu beruhigen, ergänzte er: „Ich glaube, ich muss ihn mir mal vorknöpfen.“
"Und zwar so was von… " Das Grinsen kehrte in Leons Gesicht zurück.
„Womit fangen wir an? Zehn Kilometer joggen oder wer mehr einarmige Klimmzüge schafft?“

  1. Millionär mit 17

Max

„Ich habe dir hier Informationsmaterial mitgebracht und möchte, dass du die Herbstferien auch dafür nutzt, es durchzulesen.“
Max hätte diesen Abend lieber mit seinen Kumpels Nicholas und Oskar oder am Kletterfelsen in Leons Garten verbracht. Es kostete ihn einige Mühe, nicht auf die Glaswand des Wohnzimmers zu starren und das verlockende Funkeln und Blinken des Felsens in allen Farben des Regenbogens zu betrachten.
Nach einem „Freut mich, dich zu sehen, Maximilian“ an der Wohnzimmertür hatte ihm sein Vater ein halbes Dutzend Broschüren auf den Wohnzimmertisch geknallt. Keine Frage danach, wie es für ihn in Dessau lief, ob er mit dem Leben bei seiner Großmutter oder in der neuen Schule zurecht kam. Leon hatte sich mit seiner neuesten Freundin in eine Discothek verzogen, vielleicht um dem Vater – Sohn - Zoff nicht beiwohnen zu müssen.
„Wie geht’s meinem Stiefbruder? Wann krallt er sich mein Zimmer?“, fragte Max.
Anders als es sich Max erhofft hatte, ließ sich sein Vater nicht provozieren.
„Du erfährst es als erster. Kommen wir zur Sache. Unser Unternehmen ist auf einem guten Weg…“, begann er und langweilte Max eine halbe Stunde lang damit, wie er zusammen mit Leon Geld scheffelte.
„Und was genau hat das jetzt mit mir zu tun?“, fragte Max, als der Redefluss seines Vaters endlich versiegte.
„Da auch du Anteile an der Firma besitzt, wäre es an der Zeit zu überlegen, wie du dich einbringst.“
Max deutete ein Gähnen an. „Bietest du mir einen Ferienjob an?“
„Vielleicht sollte ich das wirklich machen und dir mal für eine Woche die Verwaltung deines Hauses überlassen“, sagte sein Vater und deutete auf die Broschüren. „Wir benötigen schon in naher Zukunft jemanden, der genau das hier studiert hat - Immobilienmanagement. Du würdest in Berlin studieren und alle Praktika in deiner eigenen Firma absolvieren.“
„Vater, legt ihr jetzt schon fest, was ich studieren werde?“, fragte Max genervt. „Fast so toll wie bei meinem Schulfreund, wo die Verwandtschaft jetzt schon bestimmt hat, wen er heiraten soll.“
„Ich will doch hoffen, dass du in der Lage bist, selber eine Frau zu finden.“
Für ein paar Augenblicke schien Max’ Herzschlag auszusetzen. Er sah sich plötzlich wieder in der Schwimmhalle auf der Bank sitzen, um halbnackte Kerle anzustarren.

Wenn du wüsstest…

„Ich muss mir erst mal die Fusseln vom Mund spülen.“ Sein Vater erhob sich und holte zwei Flaschen Radler aus Leons Getränkevorräten. Er reichte Max eine der Flaschen und prostete ihm zu.
„Maximilian, vor etwas mehr als zehn Jahren hatte ich auch bei Leon Sorge, dass sein Horizont nicht weiter reicht als bis zum nächsten Kletterfelsen oder der nächsten Kampfsportarena. Und jetzt? Jetzt ziehen wir Projekte durch, an die ich mich früher nie ran getraut hätte. Nicht mal unsere Eltern hätten so etwas durchgezogen. Ich weiß, dass mein kleiner Bruder dein großes Vorbild ist. Versuche ihm auch in dieser Hinsicht etwas nachzueifern.“
„Hat er das da studiert?“, fragte Max und nickte zu den Broschüren, die vor ihm auf dem Wohnzimmertisch lagen.
„Unter anderem. Wir sehen uns übermorgen Nachmittag an deinem Haus. Dann bekommst du mal einen echten Einblick in unsere Arbeit und lernst sie vielleicht sogar zu schätzen?“
Sein Vater stemmte sich von der Couch und schaute zur Glaswand, hinter der Leons Kletterfelsen in der Dunkelheit blinkte. „Ich nehme an, du hast jetzt noch was vor. Wir reden am Montag weiter.“

Während sich Leon am Montag mit seinem Porsche durch den nachmittäglichen Berufsverkehr schlängelte, versuchte Max auf dem Beifahrersitz eine halbwegs schmerzfreie Position für seinen Hintern zu finden. Leon hatte es am Vormittag gleich zweimal geschafft, ihn mit einem unsanften Tritt ins Hinterteil aus dem Ring zu befördern. Immerhin war es Max im Gegenzug gelungen, seinem bestimmt zehn Kilo schwereren Onkel die Tritte mit einem Schulterwurf zu vergelten. Seine Gedanken rotierten jedoch schon um die Frage, was er mit ein paar Hundert Tausendern anstellen sollte. Für ihn stand fest, dass er die Bruchbude abstoßen würde. Vermutlich sah sie noch heruntergekommener aus als der Plattenbau, in dem Cosmin mit seinem Vater wohnte.
Leon bog in eine Seitenstraße ein und ließ den Stau endlich hinter sich. Zu beiden Seiten wurde die Straße von parkähnlichen Grundstücken gesäumt. Vor einem schmiedeeisernen Tor stoppte er, bis sich die Torflügel geöffnet hatten. Dahinter führte eine breite Zufahrt zum Parkplatz vor einer vierstöckigen Villa. Die Linden links und rechts der Zufahrt hatten wahrscheinlich schon die Kaiserzeit erlebt, ihre ausladenden Kronen bildeten über der Zufahrt ein kunterbuntes Blätterdach.
Auf dem Parkplatz erblickte Max neben einigen anderen Luxuskarossen auch den Audi seines Vaters.
„Was wollen wir hier?“, fragte Max, als Leon neben dem Wagen seines Vaters einparkte. Sein Blick wanderte über die Fassade des Hauses. Über dem Eingang glänzten zwei Reihen verglaster Balkone in der Herbstsonne. Auf dem Ziegeldach darüber thronte ein kleines mit Schiefer gedecktes Türmchen. Zu beiden Seiten der Balkone wölbten sich Erker aus der Hausfassade.
„Champ, ich suche schnell deinen Vater. Schau dich erst mal ein bisschen draußen um, okay?“
Max zuckte mit der Schulter und schlenderte auf der Zufahrt zurück bis zu einem Pfad, der zwischen zwei knorrigen Linden zu einem kleinen Goldfischteich führte und ihn umrundete. Er ließ sich auf eine Parkbank sinken, die im Schatten eines Haselnussbaums zum Verweilen einlud. Allerdings erhob er sich sofort wieder und schaute dem Spiel der Fische wegen der blauen Flecke auf dem Hintern lieber im Stehen zu.
Ein mit einer Heckenschere bewaffneter schnauzbärtiger Mann im Arbeitsoverall trat aus dem Gebüsch neben der Parkbank.
„Was machst’n du hier? Wie bist’n hier reingekommen? Verschwinde, sonst kriegste wegen Hausfriedensbruch eins auf’n Deckel, verstanden?“
Max lächelte den vielleicht vierzigjährigen Mann an, als wäre er gerade gelobt worden und warf einen Blick auf sein Handy. „Sie haben Recht. Es ist halb vier durch.“
Der Mann lief krebsrot an und riss die Heckenschere wie einen Tennisschläger in die Höhe. Max spannte die Muskeln, um dem Kerl notfalls die Heckenschere abzunehmen.
„Ich werde dir gleich halb vier durch…“
„Herr Müller, gibt es ein Problem?“, rief Leon und trat an den Teich heran.
„Dieser Bengel ist…“
„… der Eigentümer dieses Grundstückes und mithin einer Ihrer Arbeitgeber“, beendete Leon den Satz.
Max blieben ebenso wie dem Typen mit der Heckenschere die Worte im Halse stecken, doch fand er sie schneller wieder als der Hausmeister:
„Sobald Sie die nächste Lohnerhöhung von mir wünschen, werden wir uns weiter über die Uhrzeit unterhalten, Herr Müller.“
Herr Müller schien plötzlich kleiner als seine Heckenschere zu werden. „Ich… Herr Weller… ich wusste ja nicht…“
Max machte auf dem Absatz kehrt und spazierte mit seinem Onkel zurück zum Haus. Staunend, geradezu ehrfürchtig richtete sich sein Blick auf die Fassade des Hauses. „Dieses Wahnsinnsteil gehört echt mir?“
Leon legte ein Arm um Max’ Schulter, während sie das Haus betraten.
„Dir ganz allein!“
Im Treppenhaus wanden sich mit Marmorplatten belegte Treppenstufen um einen gläsernen Fahrstuhlschacht. Vor der offenen Wohnungstür der Erdgeschosswohnung auf der rechten Seite unterhielt sich Max’ Vater mit einem korpulenten Mann, dessen Doppelkinn mit Schweißtröpfchen übersät war.
„Maximilian, das ist Herr Golle.“ Er deutete auf die gegenüberliegende Wohnungstür. „Herr Golle ist Immobilienmakler und hat hier sein Büro. Herr Golle, der junge Mann ist mein Sohn Maximilian.“
„Maximilan, wie schön Sie kennenzulernen. Und was für ein strammer Bursche“, sagte Herr Golle und schüttelte Max’ Rechte gleich mit beiden Patschhänden.
„Freut mich auch Herr Golle“, erwiderte Max und gab sich Mühe, den Namen „Golle“ halbwegs ernst auszusprechen.„Sie sind aber auch ein strammer Bursche.“
Max’ Vater runzelte verärgert die Stirn, doch Herr Golle tat, als hätte er die spitze Bemerkung überhört und folgte Leon in die Wohnung. Max wischte sich die von Herrn Golles Schweißhänden benetzte Rechte an seiner Hose ab und betrat hinter seinem Vater die Wohnung.
„Anders als bei den darüber liegenden Wohnungen haben wir hier wegen des Eingangsbereiches nur drei Zimmer und natürlich keinen Balkon. Dafür gibt es nach hinten raus eine Terrasse“, wandte sich Herr Golle an Max, als wolle er ihm die Wohnung zu einem völlig überzogenen Mietpreis andrehen.
Max spähte kurz in ein Zimmer, das mit Aktenschränken und mehreren Computerarbeitsplätzen als Büro genutzt wurde. Die Tür daneben führte in ein Schlafzimmer und der hintere Teil der Wohnung bestand aus einem Wohnzimmer mit angrenzendem Koch- und Essbereich. Eine Eckcouch aus schwarzem Leder und drei wuchtige Ledersessel waren um einen runden Tisch gruppiert, auf dem mehrere Aktenordner herum lagen. Zudem standen auf dem Tisch vier große Kaffeebecher.
„Wohnt hier niemand?“, fragte Max seinen Vater.
Herr Golle antwortete an dessen Stelle: „Das jetzige Mietverhältnis endet zum Monatsende. Maximilian, sollten Sie sich zu einem Verkauf entschließen, würde sich der neue Eigentümer um die Entsorgung der Möbel und um eine Neuvermietung kümmern.“
Max’ Blick huschte über die Möbel im Wohnzimmer, die entsorgt werden sollten. Cosmin und dessen Vater wagten von solchen Möbeln wahrscheinlich nicht mal zu träumen.
Sie nahmen am Tisch Platz und während Herr Golle über die Vorteile eines Verkaufs zum jetzigen Zeitpunkt an den von ihm vermittelten Kaufinteressenten dozierte, fragte sich Max, wie es sein Vater und Leon geschafft hatten, die Bruchbude in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Er blickte durch die Terrassentür auf den rückseitigen Teil des Grundstücks. Hinter mehreren, von Hecken umrandeten Blumenbeeten begrenzte eine von Efeu überwucherte, mehr als mannshohe Mauer das Grundstück.

Ich könnte mir hier auch einen kleinen Kletterfelsen hin bauen lassen.

„…die sechseinhalb Riesen sind natürlich nur ein Angebot, aber ich bin sicher, dass mein Interessent angesichts der Größe des Grundstückes auch etwas mehr auf den Tisch legen würde“, drang Herrn Golles Stimme an sein Ohr und Max bemerkte, dass ihm die drei Männer am Tisch fragende Blicke zuwarfen.
Max schnaubte. Wollte ihn dieser Golle verarschen? 650.000 Euro für ein Haus wie dieses hier und das mitten in Berlin?
„Ich glaube, Herr Golle, Ihr Interessent wird sich für seine Riesen einen anderen Tisch suchen müssen.“
Leon grinste in sich hinein und Max bemerkte, dass sein Vater ihn überrascht anschaute. Herr Golle indes schnappte kurz nach Luft. „Nun, was wäre denn Ihre Vorstellung, Herr Maximilian? Sieben Millionen?“
Nun war es Max, der nach Luft schnappte. Herr Golle deutete Max’ verblüfftes Gesicht offensichtlich falsch. " Herr Maximilian, ich fürchte, sehr viel mehr als sieben Millionen werden Sie für Ihr Haus nicht erzielen, auch wenn ich Ihnen natürlich Recht gebe, dass es eigentlich viel mehr wert ist."

Sieben Millionen?

Max versuchte eine Vorstellung davon zu bekommen, was solch ein Batzen Geld bedeutete. Selbst wenn er noch hundert Jahre leben würde, wären das siebzigtausend Euro im Jahr. Wozu dann überhaupt studieren oder arbeiten? Andererseits saß er gerade in einer Wohnung, die ihm gehörte, blickte in einen Garten, der ihm ebenfalls gehörte.
„Du hast gesagt, ich habe zwei Wochen Zeit, um mich zu entscheiden“, wandte sich Max an seinen Vater.
„Gut, dass du darüber nachdenken möchtest, Maximilian“, erwiderte sein Vater und tauschte mit Leon vielsagende Blicke, während Herr Golle offenbar vergeblich versuchte, seinen Mund zu einem Lächeln zu verbiegen.

Auf der Rückfahrt grübelte Max über Vor- und Nachteile eines Hausverkaufs nach und versuchte wie schon auf der Hinfahrt, für sein Hinterteil eine halbwegs schmerzfreie Position im Sportsitz von Leons Porsche zu finden. Leon hingegen war vollauf damit beschäftigt, auf Straßen auszuweichen, die nicht mit Autoschlangen vollgestopft waren.

„Leg dich auf die Couch, den Hintern nach oben und zieh die Hosen runter!“, forderte er Max auf, nach dem sie es endlich bis zu ihm nach Hause geschafft hatten.
Max setzte sich aufs Sofa und zog hörbar Luft durch die Nase. „Was soll das? Willst du mir einen Einlauf verpassen?“
Leon kramte aus einem der Küchenschränke eine Cremetube und hockte sich damit neben Max.
„Nun mach schon. Maxi, als ich ein Junge war, habe dich x - mal gewindelt.“
„Da hat’s mich nicht gestört, dir meinen Arsch hinzuhalten“, murrte Max, legte sich dann aber doch auf den Bauch und entblößte die obere Hälfte seiner Pobacken. Leon griff in den Slip und entblößte auch die untere Hälfte.
„Oh je Maxi, du musst im Ring auch auf deinen Hintern aufpassen. Das sieht gar nicht gut aus“, sagte Leon und begann die schmerzenden Stellen mit kühlender Salbe einzureiben und vorsichtig zu massieren. „Vielleicht sollten wir morgen eine Pause einlegen.“
„Nö, eben hast du gesagt, ich muss lernen, auch auf meinen Hintern aufzupassen“, erwiderte Max rasch, ließ sein Gesicht auf die verschränkten Arme sinken und schloss die Augen.
„Onkelchen?“
„Hier!“
„Wie viel haben meine Eltern für dieses Haus bezahlt?“
Leon hielt kurz mit der Massage inne und Max fühlte, dass er eine neue Portion kühlender Salbe auf die Pobacken rieb. „Sie kauften das Haus für eine Million auf einer Zwangsversteigerung zu einer Zeit, als der Markt praktisch am Boden lag. Deine Mutter steckte Geld aus dem Verkauf ihrer Gemälde in das Dach und dein Vater beglich vor ein paar Wochen die Restschuld bei der Bank. Ich würde sagen, nach heutigem Geldwert haben deine Eltern alles in allem etwas über anderthalb Millionen aus der eigenen Tasche bezahlt.“
„Und daraus haben sie echt sieben Millionen gemacht?“, fragte Max.
„So sieht’s aus, Champ. Sie hatten sicher auch Glück und einen guten Riecher, aber es war vor allem dein Vater, der die Sache so gut gemanagt hat.“
Max deutete mit einem Daumen auf den Stapel Broschüren, der noch immer auf dem Wohnzimmertisch lag. „Und so was lernt man bei diesem Studium?“
„Zumindest lernst du die Theorie. Die Praxis bekommst du von mir“, antworte Leon. Er klatschte seine flache Hand auf Max’ Hintern und zog ihm den Slip über die Pobacken. „Fertig! Ich bestelle uns was Chinesisches. Ist es ein Problem für dich, wenn du danach allein…“
„Geh dich austoben, Onkelchen“, grinste Max.
Ich kann es kaum erwarten, das Gesicht einer bestimmten Person zu sehen, und wenn es nur im Videochat ist, fügte er in Gedanken hinzu, doch das behielt das lieber für sich.
Stattdessen äußerte er eine Frage, die sich während der Pomassage in seinem Kopf ausgebreitet hatte: „Leon, falls ich hier in Berlin studiere, wäre es nicht besser, wenn ich das Haus behalte und mir selber die Wohnung da unten nehme?“
Leon warf Max einen langen Blick zu, dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Ich könnte mich mit deiner Idee anfreunden.“
Nach dem chinesischen Abendessen verfolgte Max vom Panoramafenster seines Zimmers aus, wie Leon in seinem Porsche davon brauste und sauste die Treppe zurück ins Wohnzimmer. Leon war weit genug weg und würde nicht erfahren, mit wem Max jetzt schwatzen wollte.
Er machte es sich auf der Couch bequem und schnappte sich sein Handy. Wie es schien, hatte Cosmin auf Max’ Anruf gewartet.
Cosmins Gesicht erschien auf dem Display des Handys. Max sah, dass auch Cosmin es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte.
„Ist dein Onkel nicht zu Hause?“, fragte Cosmin und sein Gesicht rückte noch etwas näher. Max’ Blick erforschte jede Linie, jeden Winkel dieses Gesichtes.

Er weiß genau, was mit mir passiert, wenn er mich so anguckt!

„Cos-Mi, du versuchst es schon wieder!“
„Was versuche ich?“
„Du versuchst mich zu hypnotisieren!“
Cosmins Lippen verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. „Klappt aber nicht. Sonst wärst du schon wieder hier, Maxi. Bist du allein dort?“
„Ja, aber er kommt bestimmt in der Nacht zurück“, seufzte Max. Auch er hätte nichts dagegen gehabt, den Videochat über Nacht laufen zu lassen.
„Und… wie war dein Tag, Cos-Mi?“
Das Grinsen schwand von Cosmins Lippen. „Wenn ich dir das jetzt erzähle, pennst du wieder ein. Erzähl mir lieber, was du getrieben hast.“
Max überlegte kurz, Cosmin vom Haus zu erzählen, zumal es plötzlich in seinen Zukunftsplänen auftauchte. Aber er entschloss sich, das Thema vorläufig unter den Tisch zu kehren. Er befürchtete, dass er mit der Erwähnung seines unverhofften Reichtums eine unsichtbare Mauer zwischen sich und Cosmin errichten würde.
Cosmin schien sein Zögern zu bemerken. „Du überlegst dir gerade was“, maulte er.
„Quatsch!“, schnaubte Max. „Leon hat mir heute so sehr in den Hintern getreten, dass ich nicht mehr richtig sitzen kann. Vorhin hat er mir die blauen Flecke dort eingecremt und massiert.“
„Echt? Dein Onkel hat dir den Hintern massiert?“, kicherte Cosmin. „Das hätte ich mir gerne angeguckt. Zeig mal…“
Die Türklingel bimmelte.
„Erwartest du jemanden?“, fragte Cosmin mürrisch.
Max schüttelte den Kopf. „Erst übermorgen, da kommen zwei Kumpels aus meiner alten Klasse. Vielleicht haben die sich im Tag geirrt. Cos-Mi, ich ruf dich zurück!“
Max beendete hastig den Videochat und trottete durch den Korridor zur Eingangstür.
Er öffnete die Tür und hätte sie am liebsten wieder zugeknallt.
„Ich habe von Oskar erfahren, dass du hier bist, Maxi. Kann ich rein kommen?“
Max ließ seinen Blick über Ex- Freundin Caroline wandern. Sie trug trotz der abendlichen Frische die Jacke in der Hand und wahrscheinlich genau so, wie sie es sich erhofft hatte, verfing sich sein Blick im Ausschnitt ihres engen, ärmellosen Shirts.
„Caro, was für eine Überraschung!“, brummte Max. „Hatten wir nicht irgendwie Schluss gemacht?“
„Du hattest Schluss gemacht, Maxi“, hauchte sie und zauberte ein Lächeln auf ihre dezent geschminkten Lippen. „Und inzwischen verstehe ich auch deine Gründe.“
Sie huschte an Max vorbei, hing ihre Jacke an einen Haken der Flurgarderobe und setzte sich auf die Couch.
Max kehrte ins Wohnzimmer zurück. „Willst du was zu trinken oder so?“
„Ein Wasser vielleicht?“
Max stellte eine Flasche Mineralwasser und ein halbvolles Glas auf den Wohnzimmertisch und setzte sich neben Caroline auf die Couch.
Sie betrachtete ein paar Augenblicke lang das Funkeln des Kletterfelsens im Garten und gab Max so die Gelegenheit, mit den Augen ungestört Busen und die sich unter dem Stoff des Shirts abzeichnenden Brustwarzen abzutasten.
Caroline wandte sich zu Max um. „Was ist das da draußen?“
„Der Kletterfelsen meines Onkels. Wie geht’s dir so?“, fragte Max und versuchte, halbwegs interessiert zu klingen. Caroline schlug ein Bein über das andere und berührte wie zufällig mit ihrem Knie Max linkes Bein.
"Du weißt vielleicht noch gar nicht, dass Oskar jetzt mit meiner Freundin Lilly zusammen ist… ", begann sie und erzählte wer noch mit wem ging oder Schluss gemacht hatte.
Max’ Blick huschte indes mehrmals zu seinem Handy auf dem Wohnzimmertisch.

Statt mit ihm zu plaudern, sein Gesicht zu sehen, höre ich mir diesen Schwachsinn an!

Hin und wieder gab Max ein „Sag bloß!“ oder „Krass!“ von sich und stellte sich vor, wie es wäre, würde jetzt Cosmin an Carolines Stelle sitzen.
Würde wieder dieser unheimliche Zauber an ihm ziehen, bis sich ihre Lippen berührten?

Fühlt es sich für ihn genauso an wie für mich?

Caroline strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Finger glitten über seine Wange, schoben sich unter die Haare in seinem Nacken. „Maxi, lass es uns noch einmal versuchen“, hauchte sie und ihre zarten Lippen verformten sich zu einer herzförmigen Einladung.
Vielleicht war es Neugier, noch einmal die Berührung durch ihre Lippen zu erleben, zu sehen, ob sie dieselben Schauer durch seinen Bauch trieben wie Cosmins Lippen. Vielleicht war es auch nur eine flüchtige Regung, etwas noch einmal zu tun, was er zuvor in ihrer anderthalbjährigen Beziehung tausende Male getan hatte - ihre Lippen fanden zueinander. Beinahe instinktiv glitt seine Zunge in ihren Mund. Doch anders als bei den anderen tausenden Küssen regte sich der kleine Max zwischen seinen Beinen nur kurz und schien sich enttäuscht wieder schlafen zu legen.
Carolines Lippen lösten sich von seinem Mund, glitten zu seinem Ohr. „Lass uns nach oben gehen“, flüsterte sie ihm zu. Ihre Stimme versprach die Erfüllung von Wünschen, die er nicht mehr verspürte.
„Caro! Da gibt’s ein kleines Problem.“
Carolines linke Hand fiel von Max’ Nacken, aus ihrem eben noch von der Hitze des Kusses gerötetem Gesicht wich die Farbe.
Ihre Lippen bebten. „Du hast dort eine andere!“
Max zuckte mit der Schulter. „Mit uns war Schluss, schon vergessen?“
„Ich nehme an, die ist mit dir auch sofort ins Bett gestiegen“, fauchte sie.
Max verdrehte die Augen. „Vergiss es, wir haben jetzt erst angefangen, uns zu duzen.“
Er tätschelte ihre Schulter. „Komm, ich bring dich nach Hause.“
Sie wischte seine Hand beiseite und fuhr vom Sofa hoch. „Bemüh’ dich nicht, Max. Ich nehme ein Taxi!“
Sie rauschte aus dem Wohnzimmer und gleich darauf hörte Max das Knallen der Eingangstür.
Max wählte erneut den Videochat mit Cosmin, sobald das Knallen der Wohnungstür hinter Caroline verhallt war und ein paar Sekunden später tasteten zwei glühende schwarze Augen sein Gesicht ab.
„Sie ist schon wieder weg?“, fragte Cosmin und Max fiel vor Schreck fast das Handy aus der Hand.
„Sie ist. Woher zum Geier weißt du, dass meine Ex hier war, Cos-Mi? Hat sie für dich 'ne Nachricht hinterlassen?“
Cosmin kicherte leise. „Sie hat. Auf deinem Mund, Maxi. Die Lippen sind röter als vorher. Die hat sie beschminkt?“ Das Lächeln schwand aus Cosmins Gesicht. „Maxi, ich kann verstehen, dass sie dich zurück haben will.“
Und fast so, als sei es nur für die eigenen Ohren bestimmt, fügte er hinzu: „Sie wird nie wieder so einen finden wie dich.“
Max streckte sich auf dem Sofa aus. "Sie war so anders drauf als früher. Ich glaube, sie wollte mit mir… "
„Und du wolltest etwa nicht?“ Max bemerkte das Lauern in Cosmins Stimme und seufzte.
„Cos-Mi, wie du weißt, habe ich im Moment so komische Probleme.“
Cosmins Blick schien kurz etwas zu suchen, das sich in einer fernen Galaxis zu befinden schien und kehrte zu Max zurück.
„Maxi?“
„Hm?“
„Musst du bis Sonntag in Berlin bleiben?“
„Ich glaub schon. Im U- Boot, das war mal ein Theater und ist jetzt so eine Art privater Hinterhof- Boxring, findet ein Pferderennen statt und Leon hat Tickets für uns besorgt. Die kriegt man nicht für unter hundert Euro.“
Cosmins Augen wurden noch etwas größer als sie ohnehin schon waren. „Ein Pferderennen im Boxring für hundert Euro?“
„Natürlich nicht mit richtigen Pferden“, erwiderte Max. „Acht Leute werden gegeneinander antreten, jeder gegen jeden. Mit drei von denen hatte ich schon in Turnieren gekämpft, aber es gibt auch Typen, die ich nicht kenne. Und danach folgen die Finalrunden. Auf Insider- Kanälen werden die Kämpfe im Videostream übertragen und man kann auf seinen Favoriten setzen, so wie beim Pferderennen. Manche machen ein Vermögen mit den Wetten. Und andere chrashen es.“
„Ist denn so was legal?“, fragte Cosmin verblüfft.
„Dein Vater versucht im Lotto auf die richtigen Zahlen zu setzen“, schnaubte Max. „Wir setzen auf echte Kerle.“
„Du setzt auch?“
„Cos-Mi, du hörst dich jetzt schon wieder an wie meine Oma. Klar setze ich auch. Hundert Euro vielleicht. Mal sehen, wie viel mir Leon spendiert. Wäre ich einer von den acht Leuten, würde ich auf mich selber setzen. Aber man darf erst ab achtzehn ran.“
Max’ Augen wanderten über das Gesicht auf dem Display seines Handys. Ihm lagen so viele Fragen auf der Zunge.

Was fühlst du jetzt, in diesem Moment, während du mal wieder versucht, mich deinen Augen zu hypnotisieren?

Aber inzwischen wusste Max, dass Cosmin das Thema Gefühle gekonnt umschiffte. „Lass uns von was anderem quatschen, Cos-Mi. Aber beende lieber den Chat, bevor du einpennst.“
Tatsächlich vermochte Max später nicht zu sagen, wie lange er sich anschließend mit Cosmin noch über Erlebnisse aus der Kindheit oder über dessen Verwandtschaft in Rumänien unterhalten hatte. Leon traf mit seiner Freundin erst lange nach Mitternacht ein und holte ihn aus einem Traum, in dem Caroline versucht hatte, ihn im Bett zur Heirat zu überreden…

  1. Auf das richtige Pferd setzen

Max

Die Ferienwoche verging für Max wie im Flug. Die Abende am Dienstag und Donnerstag verbrachte er im Budokeller, in dem er Martial Arts bis zu seiner Flucht aus Berlin trainiert hatte und wo er von seinen früheren Mitstreitern, Kontrahenten und den Trainern mit offenen Armen begrüßt wurde. Zu seiner Überraschung kannte offenbar jeder im Club Cosmins Video von der Schägerei im Dessauer Stadtpark und nicht nur die Jüngsten schauten zu ihm auf, als hätte er dabei zugleich einen Europapokal geholt.

Am Mittwoch holte ihn sein Kumpel Nicholas mit einem Suzuki Swift ab, den er zum 18. Geburtstag von seinen Eltern bekommen hatte. Am Abend zogen sie zusammen mit Oskar durch mehrere Gartenkneipen in der Nähe des Spreeufers. Nicholas spendierte dabei Bier und Pizza, als wäre er ebenfalls über Nacht Millionär geworden.

Am Freitag nahm sich Leon auch am Abend Zeit für Max und sie hakten in der Magic Mountain Kletterhalle eine Neunerroute nach der anderen ab. Bei einer der beiden Zehnerrouten in der Halle warf der Onkel allerdings das Handtuch, während Max diese Routen durchstieg, ohne ins Seil zu rutschen .

Am Samstagmorgen beklagte sich Cosmin in einer Nachricht darüber, dass die Ferien kein Ende nehmen wollten. Max hingegen verstand nicht, wieso die Zeit in Berlin offenbar viel schneller als in Dessau verstrich.
Er schickte Cosmin in seiner Antwort auch einen Link zum Videostream für das „Pferderennen“ am Abend. Für den Zugang zum Videostream hatte er stolze zwanzig Euro zahlen müssen, was er Cosmin jedoch verschwieg.
Das im Osten Berlins gelegene „U-Boot“ war ein zweigeschossiger Betonklotz, der sich in eine Aneinanderreihung von Mietskasernen zwängte und das seine Glanzzeiten als Theater bereits mehr als vier Jahrzehnte hinter sich hatte.
Soweit Max wusste, gehörte es Arabern oder Türken. Sie vermieteten Saal, Bühne und andere Räumlichkeiten auch für private Feiern und für Veranstaltungen.
Der Boxring befand sich auf der ehemaligen Theaterbühne. Im Saal bildeten Sitzreihen aus grünen Plastikstühlen die aufsteigenden Ränge und die Stühle waren in etwa so bequem wie Bänke im Wartesaal eines Bahnhofs. Hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Zuschauer drängten sich auf den Rängen, als Max und Leon von einem Türsteher zu ihren Plätzen in der Sitzreihe vor dem Ring geführt wurden. Außerdem drückte er ihnen die Wettzettel mit den Namen und Nummern der Wettkämpfer sowie Informationen zu den Teilnehmern des Turniers in die Hand. Mehrere an schwenkbaren Gestellen befestigte Kameras richteten ihre Linsen auf den Ring und auf die Stühle mit den Wettkämpfern; das Licht mehrerer Halogenstrahler überflutete die Bühne.
Auf den Stühlen neben dem Ring saßen bereits sechs der acht Wettkämpfer und einer der beiden Ringrichter. Der andere Ringrichter war Max’ ehemaliger Martial Arts Trainer Hardy, einer von Leons besten Freunden. Er redete mit einem schlacksigen jungen Mann, der an einem Computerterminal saß. Kaum hatte Hardy Leon und Max erblickt, unterbrach er das Gespräch, stieg von der Bühne und umarmte erst Leon und dann auch Max.
„Wir werden heute ein paar hochkarätige Männer im Ring sehen“, verriet er. „Dummerweise weiß man deshalb aber schon vorher, wer wahrscheinlich das Rennen machen wird.“
Hardy nickte zum Computerterminal. „Sorry Leute, ich muss noch ein paar Sachen klären. Man sieht sich!“
Leon stieß Max mit dem Ellenbogen in die Seite. „Ihm haben wir die Logenplätze zu verdanken.“ Er tippte auf seinen Wettzettel. „Für das, was wir hier im Raum setzen, wird Cash verlangt und es gilt alles oder nichts. Online kann man auch einen Tipp abgeben, und zwar für die ersten beiden Plätze, bezahlt aber in Kryptowährungen.“ Leon musste fast schon schreien, um das dröhnende Stimmengewirr im Saal zu übertönen. „Hast du eine Idee, wer das Rennen machen wird, Champ?“
Max hatte bereits damit begonnen, die Teilnehmer zu mustern. Die jüngsten waren nur ein oder zwei Jahre älter als er selber, der älteste hatte die vierzig wohl schon hinter sich und würde vermutlich nach dem zweiten Kampf ausscheiden. Mit dreien von ihnen hatte er bereits im Ring gestanden.
„Noch nicht, Onkelchen.“
Max’ Blick ruhte eine Zeitlang auf Steve, einen neunzehn Jahre alten, kahl rasierten Hühnen und er erinnerte sich an jenen Pokalfight vor mehr als drei Jahren, den Steve nur mit einem miesen Griff in Max’ lange Haare gewonnen hatte. Ein Jahr später hatte Max ihn hingegen schon in der dritten Runde aus dem Ring geworfen. Ihm fiel ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Schwarzer auf, etwa 1,90 Meter groß und muskulös. Der Mann mit der Startnummer drei wischte in aller Seelenruhe auf seinem Handy herum, als würde er auf einen Bus warten.
Der wäre mein Tipp für das Finale. Vielleicht auch noch ein Mann mit einem runden Babygesicht, der einfach nur „Das O“ genannt wurde.
Der siebente Wettkämpfer betrat die Bühne aus einem der dahinter liegenden Räume. Er hockte sich umständlich auf den Stuhl, der für die Nummer fünf reserviert war. Max runzelte die Stirn. Der Bursche, offenbar ein Chinese oder Japaner, sah so gelenkig aus, dass er vermutlich einen Handstand auf der Stuhllehne hinlegen konnte und tat so, als wäre er zu blöde sich auf einen Stuhl zu setzen. Max las auf seinem Wettzettel den Namen und das Alter dieses Mannes: „Yuanfeng Tang, Alter 21“ und er erfuhr zudem, dass der Chinese seit Ende September an einer Berliner Hochschule studierte.
Plötzlich hob sich Tangs Blick und er starrte Max aus zusammengekniffenen Augen an.
Gleich darauf angelte Tang ein Handy aus seiner Jackentasche und sein Blick glitt mehrmals zwischen dem Handy und Max hin und her.
Das Handy verschwand wieder in der Jackentasche, doch aus Tangs geschlitzten Augen schossen noch ein paar Blitze in Max’ Richtung.
Er weiß, wer ich bin!, fuhr es Max durch den Kopf. Und er würde mich am liebsten sofort zu sich in den Ring zerren!
Max nickte Tang einen lockeren Gruß zu und wandte sich an Leon. „Ich setze auf die Fünf’. Im Finale schlägt die Fünf die Drei!“
„Unsinn, dieser Tang sieht aus, als hätte er bereits die Hosen voll“, rief Leon Max zu.
Max bemerkte, dass Tang jetzt mit hängenden Schultern einen Kontrahenten nach dem anderen musterte und ein Gesicht zog, als würde er auf eine Tracht Prügel warten.
„Der Kerl blufft!“, rief Max zurück und fügte in Gedanken hinzu: Kein Mensch kennt ihn hier. Er hat auf sich selbst gesetzt und weiß, dass er gute Chancen hat. Und weil er jetzt einen auf Schlappschwanz macht, wird kein anderer auf ihn setzen und er wird mit einer Traumquote absahnen!
Leon wischte auf seinem Handy herum. „Dieser Tang ist ein völlig unbeschriebenes Blatt. Nichts zu finden über ihn.“
„Onkelchen, vertrau mir!“, erwiderte Max und erzählte Leon davon, wie Tang ihn angestarrt hatte.
„Das ist wirklich verdächtig“, sagte Leon und rieb sich die Bartstoppeln an seinem Kinn. „Wenn er es auf dich abgesehen hat, hat er nicht die Hosen voll, der Kerl will Kasse machen.“
Der achte Wettkämpfer traf ein und kurz darauf trat der Wettkampfleiter, ein muskulöser Typ mit Pferdeschwanz an das Mikrophon. Zunächst stellte er sich selber als Tony und dann noch einmal die Wettkämpfer vor. Der Schwarze mit der Nummer drei hieß Johannes, war aus dem Osten Berlins und hatte sich zuvor schon zweimal den Landesmeistertitel in Sachsen geholt. Von Tang erfuhren die Zuschauer nur, was bereits auf den Wettzetteln stand.
Anschließend erklärte Tony den Ablauf des Wettkampfes. In diesem Turnier hieß es zwar jeder gegen jeden, doch wer zwei Kämpfe verloren hatte, schied aus. Daraus ergab sich eine Vorrunde mit acht Kämpfen, eine zweite Runde mit drei und eine dritte Runde mit zwei oder drei Kämpfen, bis endlich feststand, wer es ins Finale schaffen würde.
„Ihr könnt jetzt auf Euren Favoriten setzen, Leute. Aus den Einsätzen berechnet Kalle die Quoten am PC und schreibt sie vorn an die Tafel. Wie immer, alles oder nichts und Barzahlung. Den Link für die online - Wetten findet ihr auf den Tickets und Wettzetteln.“
Tony gab ein paar Männern mit roten Armbinden, auf denen „Staff“ zu lesen war, ein Zeichen. Die Helfer nahmen an einem langgezogenen Tisch im hinteren Teil der Bühne Platz, um dort die Einsätze einzusammeln.
Trotz der Schlangen, die sich bald schon am Tisch bildeten, konnte Max erkennen, dass einige Zuschauer dicke Geldbündel über den Tisch schoben.
Leon hatte ihm einen Hunderter spendiert und Max legte zwei Fünfziger drauf, als einer der Helfer seinen Einsatz kassierte. Leon setzte ebenfalls zweihundert Euro auf Tang und riskierte online zehn Bitcents, indem er auf die Finalpaarung Johannes gegen Tang mit Tang als Sieger wettete.
"Champ, zehn Bitcents hört sich an wie ein Flaschenpfand“, erklärte Leon, als sie wieder auf ihren Logenplätzen saßen. „Aber die haben zur Zeit einen Wert von mehr als zehntausend Euro. Hast du dich geirrt, streiche ich dir für die nächsten Jahre das Weihnachtsgeld“, zischte Leon in Max’ Ohr.
Die ersten Wettkämpfer schoben sich den Zahnschutz in den Mund und streiften Boxhandschuhe über, die die Finger unbedeckt ließen.
Kurz nach 15 Uhr schlug Tony zum ersten Mal den Ring- Gong. Im ersten Kampf der Vorrunde standen sich die Kämpfer mit den Startnummern 1 und 2 gegenüber. Max hatte Thomas, den Jungen mit der Nummer 1 bereits zweimal im Ring matt gesetzt. Der Kampf dauerte volle vier Runden und am Ende besiegte Thomas den bulligen Typen mit der Nummer 2 knapp nach Punkten.
Interessanter war der nächste Kampf. Johannes, der schwarze Wettkämpfer aus dem Osten und in den Wettquoten der Top- Favorit, trat gegen den Oldy Erik an, der seine besten Tage als Martial Arts Kämpfer offenbar bereits hinter sich hatte. Schon in der zweiten Runde beförderte Johannes den armen Kerl mit einem Trommelfeuer aus Tritten und knallharten Hieben aus dem Ring. Max entging nicht, dass auch Tang Johannes nicht aus den Augen ließ. Vermutete Tang ebenfalls, dass er im Finale auf Johannes treffen würde?
Im darauf folgenden Kampf trat Tang gegen Steve an. Die Wetten waren abgeschlossen. Tang war als krasser Außenseiter mit einer Quote von 1 : 17 ins Rennen gegangen und wurde nur von Erik getoppt, dem mit 1 : 252 praktisch niemand den Sieg zutraute. Steve galt mit einer Quote von 1 : 9 als Favorit des Kampfes. Doch Tang schlenderte fast schon gelangweilt in seine Ecke des Rings, so als sei sein Sieg nur einen Fingerschnipps entfernt. Max nahm an, dass die ersten Zuschauer bereits ahnten, dass Tang sie mit seiner Schauspielerei verarscht hatte.
Doch anders als es Max erwartet hatte, ließ sich Tang Zeit und schien mit Steve zu spielen, so wie ein Kater mit der Maus vor dem finalen Hieb.
Der Hieb kam in der vierten und somit in der letzten Runde. Tang tanzte eine Pirouette und bei jeder Drehung fand sein Fuß bei Steve eine ungedeckte Stelle. Nach der letzten Drehung packt er Steve und warf ihn aus dem Ring. Einige Zuschauer johlten, andere klatschten. Aber viele Zuschauer verfolgten stocksteif, wie der Ringrichter Tang zum Sieger erklärte.
Im vierten Kampf trat „Das O“, der Mann mit dem runden Babygesicht an. Das „O“ mit der Startnummer 7 war alles andere als gemütlich und hatte vor drei Jahren die Landesmeisterschaft gewonnen. Die Quoten sahen das O hinter Johannes als zweiten Kandidaten für das Finale.
Das O war auch Wrestler und machte kurzen Prozess mit seinem Gegner Nils aus Max’ ehemaligen Budokeller. Nach ein paar wohlgezielten Schlägen und Tritten begrub es Nils einfach unter sich.
Im zweiten Durchgang der Vorrunde erlebte das O jedoch eine böse Überraschung, als es in seinem zweiten Kampf auch Tang niederwalzen wollte. Der Chinese wich geschickt den Pranken des O aus und als es in der dritten Runde mit einem seiner baumstammdicken Beine zutrat, säbelte ihm Tang das andere Bein unter dem Hintern weg. Das O landete mit dem Gesicht auf der Matte und Tang landete auf dem O, riss den rechten Arm des O bis zu dessen Schulter und wartete beinahe schon fröhlich, bis der Ringrichter das O ausgezählt hatte.
Auch Max’ Finalfavorit Johannes hatte mit seinem Gegner Thomas keine Probleme und gewann den Kampf klar nach Punkten.
Wie Max vermutet hatte, schied Oldy Erik nach zwei verlorenen Kämpfen aus. Außerdem erwischte es Nils aus Max’ ehemaligen Budokeller. Er wurde von Max’ altem Widersacher Steve aus dem Rennen geworfen.

Kurz vor halb sechs wurden die Paarungen für die nächste Runde ausgelost. Tang würde gegen Thomas kämpfen und Max war sicher, dass Tang dem armen Kerl aus dem Ring prügeln würde.
Johannes musste gegen Finn, den bulligen Typen mit der Nummer 2 antreten. Max nahm an, dass Finn nur noch im Rennen war, weil er in der Vorrunde mit Oldy Erik ein leichtes Spiel gehabt hatte.
Im dritten Kampf der Runde würden Steve und das O aufeinander treffen.
Wie es Max erwartet hatte, drosch und trat Tang so lange auf Thomas ein, bis der sich kurz vor dem Ende der zweiten Runde mit blutenden Lippen scheinbar freiwillig über die Seile des Rings kippen ließ.
Johannes hingegen schien Kräfte für das Finale zu sparen. Er überließ Finn die Initiative, der sich vergeblich an Johannes’ Deckung abarbeitete. Nach mehreren gut gezielten Faustschlägen ging Finn in den letzten beiden Runden ein paar Mal zu Boden, was Johannes den Sieg nach Punkten einbrachte.
Den kürzesten Prozess jedoch machte das O mit Steve schon in der ersten Runde. Während Steve um das O herum tanzte, knallte ihm plötzlich O’s Faust auf den Schädel. Steve glotzte einige Sekunden blöde in eine auf ihn gerichtete Kamera und kippte dann um wie ein vom Blitz gefällter Baum.
Somit waren nach der ersten Finalrunde nur noch Tang und Johannes mit drei Siegen sowie das O mit zwei Siegen und einer Niederlage im Rennen.
Tony hielt nun drei identische Umschläge in die Höhe. „Es gibt drei Möglichkeiten für den nächsten Kampf, Leute. Unser Computerfreak Kalle spielt jetzt Zufallsgenerator und wird uns sagen, wer als Nächstes im Ring steht.“
Kalle erhob sich von seinem Computerterminal und trottete zu Tony, wo er zwei der Umschläge zog und sie öffnete.
„Drei gegen fünf“, fiepste er mit der Stimme eines Kleinkindes ins Mikrophon und hastete mit hochrotem Kopf zurück zu seinen Computern.
„Das wäre dann dein Tipp fürs Finale Maxi“, raunte Leon Max ins Ohr. „Falls dieser Tang blufft, wird er sich bei diesem Kampf von Johannes die Löffel lang ziehen lassen, damit bei den online- Wetten vor dem Finale gegen ihn gewettet wird.“
Max nickte zustimmend. „Schlau eingefädelt. Beim nächsten Pferderennen würde der nur die Siegerprämie kassieren, weil alle auf ihn setzen.“
Der Ring Gong ertönte und nun gingen Tang und Johannes eher halbherzig aufeinander los. Beide würden auch nach diesem Kampf im Rennen bleiben. Tang scheiterte mit seinen Boxhieben und Tritten immer wieder an Johanns Deckung, während ihn Johannes’ Schläge mehrmals taumeln ließen. Nur in der dritten Runde gelang es Tang, Johannes gegen die Seile zu drängen. Doch gleich darauf konterte Johannes mit einer Serie wuchtiger Schläge, die Tang nur mühevoll parierte. Nach der vierten Runde kürte der Ringrichter Johannes zum klaren Sieger nach Punkten und die meisten Zuschauer jubelten oder klatschten, einige pfiffen.
„Tja Maxi“, seufzte Leon, nach dem der Jubel sich gelegt hatte. „Ich schätze mal, wenn Tang jetzt nicht geblufft hat, wirst du dir in den nächsten zehn Jahren dein Weihnachtsgeld woanders holen müssen. Für mich sah das nicht wie ein Schauspiel aus. Und dieser Johannes ist nicht mal ins Schwitzen gekommen.“
„Tang aber auch nicht, Onkelchen“, entgegnete Max und beobachtete den Chinesen, der etwas in sein Handy tippte. Tang schaute plötzlich auf und für ein paar Sekunden kreuzten sich ihre Blicke. Ein spöttisches Grinsen huschte über Tangs eben noch verkniffenes Gesicht. Gleich darauf verschwand es wieder und Tang zog einen Flunsch, als hätte man ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen.
„Er blufft schon wieder“, zischte Max seinem Onkel zu. „Tang wird Johannes im Finale grillen.“
Tony trat ans Mikrophon. „Halbe Stunde Pause Leute, draußen gibt’s einen Dönerstand. Vorher aber…“, er hielt zwei Umschläge in die Höhe, „… will unser O wissen, wen es zusammen falten darf, Tang oder Johannes. Kalle, wenn ich also bitten darf…“
„Nummer sieben gegen Nummer fünf“, wisperte Kalle ins Mikrophon, nachdem es ihm endlich gelungen war, den Umschlag zu öffnen.
Erneut brandete Jubel auf. Sollte es dem O gelingen, Tang dieses Mal zusammen zu falten, ergab sich für das Finale eine Paarung, mit der vermutlich die Hälfte des Publikums gerechnet hatte.
Max und Leon verzichteten in der Pause darauf, sich auf dem spärlich beleuchteten Hinterhof des Theaters in die Schlange am Dönerstand einzureihen. Sie knabberten an Müsliriegeln aus Leons Proviantbeutel und unterhielten sich einige Minuten mit Hardy. Dabei erfuhren sie, dass Hardy ebenfalls auf Johannes gesetzt hatte.
Es verging fast eine Stunde, ehe Tony den Ring Gong für den vorletzten Kampf des Abends schlug.
Drei Runden lang erinnerte der Kampf an eine Art „Hasch mich!“ - Spiel. Das O versuchte Tang zu rammen, zu packen, ihm wie schon zuvor bei Steve die Faust auf den Kopf zu knallen. Immer wieder entwischte ihm Tang, aber die Tritte und Schläge, mit denen der Chinese konterte, wirkten kraftlos.
Inzwischen fragte sich Max, ob er mit seiner Einschätzung Tangs vielleicht doch daneben gelegen hatte. Nach der dritten Runde lag das O nach Punkten in Führung und falls sich Tang in der vierten Runde nicht aufraffte, wären nicht nur die zweihundert Euro futsch, sondern auch Leons Bitcents.
Die vierte Runde begann, wie die dritte geendet hatte und Leons Gesicht wurde mit jeder Sekunde länger. Kurz vor dem Ende der vierten Runde stolperte Tang über die eigenen Füße und das O packte ihn am Kragen. Max stöhnte erschrocken auf und sah Tang bereits aus dem Ring fliegen. Doch plötzlich schnellte Tangs Kopf in O’s Schritt. Das O jaulte auf und noch ehe er zusammen sackte, hatte sich Tang vom O gelöst. Aus der Hocke flog sein rechter Fuß nach oben und klatschte gegen das runde Babygesicht des O. Tang wuchtete seine Faust in die Rippen des O und als das O in sich zusammen fiel wie ein löchriger Ballon, knallte ihm Tangs Knie gegen das Kinn.
Beide Ringrichter zerrten Tang vom O weg, das nun auf der Matte alle Viere von sich streckte, sein Gesicht war mit Blut beschmiert. Vier Helfer stiegen in den Ring, hievten das O auf eine Trage und brachten ihn in einen anderen Raum.
Das Publikum buhte und pfiff, als der Ringrichter Tang trotz des unfairen Kopfstoßes in den Schritt des O zum Sieger erklärte.
„Leute beruhigt Euch, das O kommt wieder auf die Beine“, rief Tony ins Mikrophon. „Das Finale steht. Es startet in dreißig Minuten, gönnen wir Tang eine Pause.“ Das Publikum sah das etwas anders und beantwortete Tonys Ankündigung mit einem neuerlichen Pfeifkonzert.
„Der Kerl wird mir immer sympathischer“, sagte Leon, nach dem das Pfeifkonzert abgeebbt war und ein großer Teil der Zuschauer sich draußen die Beine vertrat. Johannes hatte hinter dem Ring mit Aufwärmübungen begonnen, während Tang mit Stäbchen Nudeln aus einer Brotdose fischte und sie sich in den Mund stopfte.
„Hätte ich nicht auf ihn gewettet, würde ich Johannes die Daumen drücken“, murmelte Max und sah auf dem Handy, dass ihm Cosmin eine WhatsApp- Nachricht geschrieben hatte.
„Maxi, ich finde deinen Sport brutal. Ich hoffe, du wirst niemals gegen diesen Chinesen kämpfen. Vergiss nicht, morgen zurück zu kommen.“
Mit dem „nicht vergessen, zurück zu kommen“ beendete Cosmin inzwischen beinahe jede Nachricht.
Du könntest mir auch mal schreiben, warum ich das nicht vergessen soll, seufzte Max.
„Keine Sorge, Cosmi“ schrieb Max und ließ offen, worüber sich Cosmin keine Sorgen zu machen brauchte.
„Deine Süße?“, fragte Leon und nickte zu Max’ Handy. Max fühlte, wie ihm Gluthitze bis in die Ohrenspitzen schoss und schob hastig das Handy in die Hosentasche.
„Äh ja, die will mich morgen… äh vom Bahnhof abholen… sozusagen.“
Tony erlöste Max davon, sich erneut Geschichten über Julia auszudenken.
„So Leute“, rief er ins Mikrophon. „Tausend Mäuse Preisgeld haben sich unsere beiden Helden bereits verdient, weitere viertausend warten auf den Sieger des letzten Kampfes unseres heutigen schönen Abends. Nach dem Kampf können alle Leute, die auf den Sieger gesetzt hatten, bei Kalle ihre Kohle abholen. Und nun Ring frei für Johannes und Tang!“
Johannes und Tang stiegen zusammen mit den Kampfrichtern in den Ring.
Tony wandte sich an beide Finalisten, bat um einen spannenden und fairen Kampf und schlug den Ring Gong.
Zunächst schien jeder der beiden die erste Attacke des anderen abzuwarten. Max begriff nicht, wieso Tang sein Gesicht dabei ohne Deckung ließ, was zum wohl gezielten Fausthieb geradezu einlud. Plötzlich schoss Johanns rechte Faust vor. Doch Tang reagierte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und Präzision. Er packte die vorschnellende Faust, riss sie über seinen geduckten Oberkörper. Johannes konnte den Schwung nicht mehr stoppen, segelte über Tangs Rücken und schlug mit dem Gesicht nach oben auf der Matte auf. Tangs Knie krachte ihm ins ungedeckte Gesicht. Tang holte zum finalen Schlag aus, doch der Ringrichter riss ihn zurück und begann Johannes auszuzählen. Johannes wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, aus der Blut tropfte und erhob sich schwankend.
Kaum hatte der Ringrichter ein Zeichen für die Fortsetzung des Kampfes gegeben, hob Tang ab und rammte seinen rechten Fuß in Johannes’ ungedeckte Seite. Johannes klappte zusammen und hielt sich mit beiden Händen die Rippen. Tang trat erbarmungslos zu, sein rechter Fuß schlug in Johannes Gesicht ein. Johannes wurde von der Wucht des Treffers kurzzeitig aufgerichtet und kippte im Zeitlupentempo nach hinten um. Vermutlich hätte sich Tang auf ihn gestürzt, doch erneut hielten ihn die Ringrichter zurück. Hardy verzichtete darauf, Johannes auszuzählen. Johannes lag stöhnend auf dem Rücken, Blut strömte aus seiner Nase, die vermutlich gebrochen war.
Für ein paar Sekunden herrschte eine Stille im Kellergewölbe, als hätten alle Anwesenden den Atem angehalten. Zum zweiten Mal musste ein Wettkämpfer mit der Trage aus dem Ring geholt werden und zum zweiten Mal war es Tang, der dafür gesorgt hatte.
Als der Ringrichter Tang zum Sieger erklärte, ertönte auf den Rängen ein tosendes Pfeifkonzert.
Tang verneigte sich grinsend und schlenderte gemächlich zum Umkleideraum.
Max bemerkte, dass Leon ihm fassungslos und fasziniert zugleich hinterher starrte. Tang hatte den zweifachen sächsischen Meister praktisch schon in der ersten Minute regelrecht zerlegt.

Würde der mit mir würde dasselbe machen? Hätte ich gegen den überhaupt eine Chance?

Tony trat ans Mikrophon, bedankte sich bei den Wettkämpfern, wünschte dem O und Johannes gute Besserung und versprach, dass es im Frühjahr das nächste „Pferderennen“ geben würde. Abschließend bat er alle, die auf Tang gesetzt hatten, sich den Wettgewinn abzuholen.
Außer Max und Leon begab sich nur eine junge Chinesin, möglicherweise Tangs Freundin, an Kalles Tisch.
Kalle drückte erst Leon und dann Max einen Umschlag mit 3400€ in die Hand.
„Freut mich, du auch gewonnen.“
Max fuhr herum und blickte geradewegs in Tangs grinsendes Gesicht. Der Chinese hielt ein Handy in der Hand, auf dem ein Video lief. Ein Blick genügte, und Max sah sich selber, wie er im Dessauer Stadtpark die elf Idioten erledigt.
„Du dort mit Waschlappen gekämpft.“ Plötzlich schoss Tangs Rechte vor und packte Max’ Shirt. „Du auch kämpfen mit echte Männer?“
Max griff sich Tangs Hand, seine Finger schlossen sich wie Schraubzwingen um die Hand des Chinesen und zwangen sie loszulassen.
„Hey, was soll das?“, fuhr Leon Tang an und griff nach dessen ausgestreckten Arm.
„Darf man fragen, was hier los ist?“, mischte sich jetzt auch Tony ein und hinter ihm baute sich Hardy auf.
„Ich Max gefragt habe, ob er sich traut, gegen mich zu kämpfen“, sagte Tang lächelnd und tätschelte nun Max’ Shirt an der Stelle, die er sich zuvor geschnappt hatte.
„Vergiss es, Max ist erst siebzehn“, schnappte Leon. Doch wie es schien, freundete sich Tony bereits mit diesem Gedanken an.
„Wie ich hörte, bist du im Moment kein Berliner, Max“, sagte er und striegelte sein Kinn. „Aber bei dir könnten wir eine Ausnahme machen, weil… eigentlich bist du ja Berliner. Wann wirst du denn achtzehn?“
Max zuckte mit der Schulter. „Am 29. Mai. Ich schätze, da laufen gerade meine Abiprüfungen.“
„Nun, wir könnten mit dem nächsten Event warten, bis die Prüfungen vorbei sind“, schlug Tony vor.
„Was soll der Scheiß!“, brauste Leon auf. „Maxi hat während der Prüfungen keine Zeit, sich auf einen Kampf vorzubereiten.“
„Ich geahnt habe, Max ein Feigling, zu feige, mit richtige Männern zu kämpfen“, seufzte Tang und wandte sich zum Gehen, doch nun war es Max der ihn zurück hielt.
„Okay Tang, du willst Kleinholz aus mir machen. Aber ich werde die Axt sein! Wir seh’n uns hier, wenn ich achtzehn bin!“
Tang grinste verschlagen, Leon erstarrte und Tony klatschte erfreut in die Hände. „Abgemacht! Maxi und Tang zusammen im Wettbewerb, das wird ein Renner, Leute!“

„Maxi, bist du völlig durchgeknallt?“, schimpfte Leon, als sie etwas später in Leons Porsche stiegen. „Der Kerl macht Hackfleisch aus dir!“
Max ließ sich in den Beifahrersitz sinken. „Nö! Mich zerhackt der nicht!“, sagte Max. Allerdings spulte sich in seinem Kopf immer wieder die Szene ab, in der Tang einen zweifachen Landesmeister innerhalb von Sekunden zerlegt hatte.
Leon stützte die Ellenbogen auf dem Lenkrad und zerwurstelte sich die Haare. „Verdammt, ich habe heute Abend einen halben Bitcoin gewonnen, das sind im Moment mehr als fünfzigtausend Mäuse, die unter anderem locker für deine erste Karre reichen werden. Aber hätte ich gewusst…“
Max legte seinen linken Arm um Leons Schulter. „Themawechsel Onkelchen. Ich habe Hunger. Lass uns etwas Geld ausgeben.“

  1. Du bist wunderschön

Max

In der Nacht fielen Albträume mit Tang in der Hauptrolle gleich reihenweise über Max her. Mal konnte Max im Ring die Glieder nicht rühren, weil sie aus Blei zu bestehen schienen und mal schlug Tang Cosmin zusammen, bis er auf einer Liege aus dem Ring geholt werden musste.
Max erwachte am Vormittag, als hätte er die halbe Nacht damit zugebracht, Tangs Tritte und Hiebe abzuwehren.
„Ich hab was raus gefunden, Champ“, begrüßte ihn Leon, der an seiner Küchentheke hockte und auf einem Tablet herum wischte. Er schob Max einen Kaffeepott auf den Platz neben sich zu und deutete auf das Tablet. „Tang hat sich vor zwei Wochen in deinem ehemaligen Budokeller angemeldet. So ist er wahrscheinlich darauf gestoßen, dass du bald schon ein Favorit für die Landesmeisterschaft sein könntest.“
Max griff sich eine Schale mit Müsli. „Hab den Kerl dort nicht gesehen“, murmelte er. „Onkel, ich habe noch mindestens acht Monate Zeit, bis der mir wieder an den Kragen geht.“
Leon fluchte leise. „Hast du nicht, Maxi. Wenn du gegen den auch nur den Hauch einer Chance haben willst, brauchst du einen völlig neuen Trainingsplan. Reaktion und Präzision, erst dann die Kraft. Nach dem Frühstück arbeiten wir einen Übungsplan aus. Du wirst einen Sparringspartner brauchen, der keine Memme ist.“ Und dann fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: „… und nicht schwul.“
Vor dem Training mit Leon rief Max seine Großmutter an und bat sie, ihn vom Zug abzuholen, der kurz nach 17 Uhr in Dessau eintreffen würde. Anschließend telefonierte er mit seinem Vater und sagte ihm, dass er noch etwas Bedenkzeit benötigte. Obwohl für ihn so gut wie feststand, dass sich Herrn Golles Kaufinteressent ein anderes Obdach für seine Millionen würde suchen müssen.
Cosmin hatte ihn einmal mehr daran erinnert, das Zurückkommen nicht zu vergessen, weil er ja morgen zur Schule müsse. Max seufzte tief, bevor er eine Antwort tippte. Konnte Cosmin nicht endlich mal etwas Nettes schreiben?

Ich will ja gar nicht lesen, dass du Sehnsucht nach mir hast oder mich vermisst. Aber so was wie: „Ich freue mich, dich morgen wiederzusehen“ würde ich schon gerne mal lesen.

„Ich freue mich auch, dich morgen früh zu sehen, Cosmi“, tippte Max schließlich als Antwort.

„Ich werde dich vermissen.“
Anders als etwa Cosmin hatte Leon kein Problem damit, Max solche Worte ins Ohr zu flüstern.
Leon drückte Max an sich, als der Zug nach Dessau in den Bahnhof Charlottenburg einfuhr.
„Ich dich auch, Onkelchen. Danke für alles. Auch dafür…“, erwiderte Max und tippte auf eine Tasche seiner Jacke, die von einem Umschlag voller Geldscheine ausgebeult war.
Leon winkte ab. „Hätte ich gewusst, dass uns dort dieser Chinese über den Weg läuft… halte dich an den Trainingsplan, Champ. Wir sehen uns zu Weihnachten.“
„Alles klar, Leon“, versprach Max und fand, dass gar nichts klar war. Es gab da noch jemanden, mit dem er gerne die Weihnachtsferien verbringen würde…
Max huschte in den Waggon, winkte Leon ein letztes Mal zu und setzte sich einem ungefähr gleichaltrigen Mädchen gegenüber, das auf einem Handy herum wischte und ihn zunächst nicht einmal zu bemerken schien.
Er verstaute seinen Rucksack im Gepäckfach und legte Leons Proviantbeutel auf den Nachbarsitz.
„Hi, ich bin Max“, grüßte er das Mädchen, nach dem er es sich bequem gemacht hatte. Das Mädel überlegte offenbar ein paar Sekunden, ob Max einen Blick oder eine Erwiderung wert war und schaute dann doch auf. Die Augen des Mädchens Augen weiteten sich vor Überraschung und es sortierte blitzschnell die Gesichtszüge zu einem erfreuten Lächeln um.
„Oh hallo Max, ich hatte dich gar nicht bemerkt. Ich bin Annalena, aber meine Freunde nennen mich Lena.“
„Freut mich, Lena“, sagte Max und lächelte zurück. „Wohin geht deine Reise? Auch nach Dessau?“
Annalena strahlte. „Du auch? Welche Schule? Ich habe dich noch nie gesehen.“
„Ich wohne erst seit zwei Monaten dort. Meine Schule ist dieses Gymnasium im Stadtzentrum.“
„Das ist echt schade“, seufzte Annalena. „Ich gehe in Süd aufs Gymnasium. Aber ich wohne nicht weit vom Stadtzentrum.“

Aha, und gleich erfahre ich nicht nur wo genau, sondern auch noch deine Handynummer.

„Weißt Du, wo der alte Wasserturm ist?“
„Ähm… Sekunde“, erwiderte Max und stellte auf seinem Handy den Wecker. „Du meinst den alten… äh Wasserturm?“
"Ja genau. Wenn du vom Dessau- Center auf der Hauptstraße Richtung… "
Max gähnte hinter vorgehaltener Hand. Drei Stunden Kampftraining mit Leon steckten ihm in den Knochen und nun breitete sich wohlige Müdigkeit in seinen Gliedern aus. Das gleichmäßige Rattern des Zuges tat sein übriges…
Max hatte die Weckzeit so eingestellt, dass er spätestens eine Viertelstunde vor der Ankunft in Dessau geweckt werden würde.

Und tatsächlich war es die Trillerpfeife des Handyweckers, die ihn aus dem Schlaf riss. Max benötigte einige Sekunden, ehe sich sein Blick klärte.
Das Mädchen auf dem gegenüberliegenden Sitz hatte offenbar jegliches Interesse an ihm verloren. Es schaute kurz und betont gelangweilt zu ihm auf, verdrehte die Augen und widmete sich wieder dem Handy.
Hast wohl mehr von mir erwartet, Schätzchen?, griente er in sich hinein und fischte sein Handy aus der Jacke. Es zeigte drei neue Nachrichten. Max hoffte, dass wenigstens eine von Cosmin sein würde, aber zwei waren von Leon und eine von Caroline. Seine Ex schien nicht aufgeben zu wollen und hoffte auf eine neue Chance in den Weihnachtsferien.
Cosmins einzige Nachricht heute war die von 10:14 mit der Erinnerung daran, das Zurückkommen nicht zu vergessen.

Du hättest wenigstens fragen können, mit welchem Zug ich komme oder ob ich schon im Zug sitze!

Max kramte zwei Äpfel aus Leons Proviantbeutel und tippte ein paar Zeilen an Leon, während er mit den Äpfeln den knurrenden Magen zum Schweigen brachte.
Er überlegte, auch Cosmin zu schreiben, ließ es aber bleiben.

Ich habe dir geschrieben, dass ich es nicht erwarten kann, dich morgen früh zu sehen. Jetzt bist du dran!

Eine Lautsprecheransage kündigte die Ankunft in Dessau an. Max erhob sich und schnappte sich seinen Rucksack. „Es war echt schön mit dir zu plaudern Lena, lass uns das bald mal wieder machen.“ Er zwinkerte dem Mädchen zu, das offenbar vergeblich nach Worten für eine Erwiderung suchte.
Wenig später sprang Max als einer der ersten aus dem Zug und schaute sich auf dem Bahnsteig nach seiner Großmutter um.
Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Vor der Treppe zur Unterführung wartete ein schlanker Bursche, ein Teil der schwarzen Mähne lugte aus der Kapuze seines weißen Shirts. Das Gesicht dieses Jungen würde jeden Märchenprinzen aus Tausendundeiner Nacht vor Neid erblassen lassen und sein Lächeln ließ Max’ Atem stocken.

Wie habe ich es bloß mehr als eine Woche ohne diesen Kerl ausgehalten?

„Cos-Mi!“
Max sprintete dem Freund entgegen und nun stürmte auch Cosmin los.
Ohne auf die Leute auf dem Bahnsteig zu achten, riss Max Cosmin an sich, spürte, wie sich dessen Arme hinter seinem Rücken schlossen. Er kraulte die unter der Kapuze versteckte Mähne, presste Cosmins Wange an die eigene, als wolle er beide Gesichter miteinander verschmelzen.
„Cos-Mi, ich… ich hab dich wie verrückt vermisst.“
Er umfasste Cosmins Gesicht mit beiden Händen. Cosmin leuchtende Augen huschten über Max’ Gesicht und plötzlich spürte Max für ein paar Augenblicke heiße Lippen auf seiner Wange.
„Maxi, das war die längste Woche meines Lebens“, hauchte ihm Cosmin ins Ohr.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Max, dass sie von mehreren Leute angestarrt wurden. Und natürlich schritt just in diesem Moment auch Reisebekanntschaft Lena an ihm vorbei und schoss mit ihren Augen eine Salve Giftpfeile auf ihn und Cosmin ab. Max zwinkerte ihr noch einmal zu und wandte sich wieder Cosmin zu.
Er fuhr mit dem Zeigefinger über Cosmins Lippen und ließ sich von den schwarzen Augen bezaubern, ehe er sich vorsichtig aus Cosmins Armen löste.
„Cos-Mi, ich glaube, die Leute hier denken, wir sind schwul.“
Cosmin strich mit den Fingern über Max Wangen. „Vielleicht hätte ich mir doch Mädchensachen anziehen und mich schminken sollen“, kicherte Cosmin und setzte die Musterung von Max’ Gesicht fort. „Kein Veilchen? Hast du noch alle Zähne?“
„Zähl nach!“, erwiderte Max und entblößte sein blendend weißes Gebiss.
Dann griff er Cosmins Arm und zog Cosmin mit sich zur Treppe. „Meine Oma wartet. Und… woher wusstest du eigentlich, mit welchem Zug ich komme?“
„Deine Oma kommt nicht. Ich war heute Mittag bei ihr. Hab ihr gesagt, dass ich das mit dem Abholen übernehmen würde. Ist es okay für dich, dass wir bis zu euch laufen müssen?“
Max legte seinen Arm um Cosmins Schulter. „Nur, wenn du danach noch bei uns bleibst.“

Cosmin

Cosmin hatte sein Rad an den Fahrradständern vor dem Bahnhofsgebäude geparkt. Vor ihnen lag ein etwa zwanzigminütiger Fußweg bis zum Haus von Max’ Großmutter.
Noch immer fühlte Cosmin das wilde Pochen von Max’ Herzen, das er gespürt hatte, als sie sich auf dem Bahnsteig in den Armen gelegen hatten. Ihm lag so viel auf der Zunge, dass er nicht so richtig wusste, womit er anfangen sollte. Immer wieder verfing sich sein Blick in Max’ Gesicht und in den strahlend blauen Augen, die seinen Blick erwiderten.
Cosmin hatte gestern Abend den Videostream des sogenannten „Pferderennens“ bis zum Ende verfolgt, besonders weil nach dem Finale auch Max des öfteren in den Fokus der Kameras geraten war. Ihm war nicht entgangen, dass sich der Sieger des Pferderennens, dieser brutale Chinese, Max geschnappt hatte.
„Maxi, was wollte Tang von dir?“, fragte er endlich, während sie ohne Eile durch die Parkanlage in der Nähe des Bahnhofes schlenderten.
„Du hast das gesehen?“, fragte Max verblüfft.
„Hmh“, machte Cosmin und nickte. „Ich dachte schon, er will sich mit dir schlagen.“
Max zuckte mit der Schulter. „Du dachtest richtig, Cos-Mi. Er hatte sogar dein Video vom Stadtpark und glaubt, ich wäre zu feige, mit echten Kerlen zu kämpfen“, seufzte Max und erzählte davon, dass Tang ihn bereits von Anfang an auf dem Kieker gehabt hatte.
„Hast du denn gegen den eine Chance?“, fragte Cosmin leise. Bei dem Gedanken, dass Max irgendwann auch blutüberströmt auf einer Liege aus dem Ring transportiert werden könnte, schien ihm das Herz in die Hose zu rutschen.
„Ich schätze, im Moment würde der Kleinholz aus mir machen. Mein Onkel will, dass ich mir hier einen Sparringspartner suche, der mir hilft, meine Reaktionsschnelligkeit zu trainieren.“
Cosmin wusste natürlich, dass Max’ Freundeskreis in Dessau aus einer einzigen Person bestand. Ohne zu zögern fragte er: „Was muss ich als Sparringspartner tun?“
Max grinste. „Du versuchst, mir die Fresse einzuschlagen.“
„Und wenn ich dich dabei doch mal treffe?“
„Dann weiß ich, dass Tang Kleinholz aus mir machen wird.“

Max’ Großmutter hatte die Jungen offenbar bereits von ihrem Schreibtisch aus kommen sehen und erwartete beide an der Haustür. Sie drückte Max an sich und wie schon zuvor Cosmin suchte sie sein Gesicht nach Veilchen oder Schwellungen ab. Dann zog sie Cosmin in den Hausflur.
„Cosmin, Du bleibst doch hoffentlich zum Abendessen?“
"Äh vielen Dank Tante Lisa, aber ich… "
„… finde die Idee gut!“, beendete Max die Antwort für Cosmin. „Klar bleibt Cosmin! Wir sind bis dahin bei mir oben im Zimmer.“
Nach einem kurzen Besuch im Zimmer mit den Sachen seiner Mutter stieg er zusammen mit Cosmin die Treppe hinauf ins Obergeschoss.
In seinem Zimmer stellte Max den Rucksack am Kleiderschrank ab, warf einen prall gefüllten Briefumschlag auf seinen Schreibtisch und ließ sich neben Cosmin aufs Sofa fallen.
Cosmins Blick strich über Max’ Gesicht und einmal mehr fand Cosmin, dass wenn es Engel gäbe, sie so ein Gesicht haben würden. Eine Weile hielten ihn die blauen Augen gefangen, sein Blick tauchte geradezu in ihnen ein.
„Cos-Mi, du hypnotisierst mich schon wieder“, beschwerte sich Max.
„Ich glaube, du hypnotisierst mich, Maxi!“ Cosmin sah, dass Max’ eine Hand die andere umklammerte. Auch Cosmin wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen.
„Maxi?“
„Hier neben dir!“
„Hast du was in Berlin gefunden, wo wir in zwei Wochen übernachten können?“
Max seufzte. „Eigentlich schon, hab sogar für drei Nächte ein sogenanntes De – Luxe - Zimmer für uns in einem Hostel in der Nähe des Hauptbahnhofs gebucht.“
Cosmin wappnete sich innerlich für eine Enttäuschung. „Aber… ?“
„Wir brauchen die Einwilligung der Eltern. Bei deinem Alten gibt’s sicher kein Problem. Aber wenn ich meinem Alten erzähle, dass ich mit meinem Freund im Hostel übernachten will, weiß es eine Stunde später auch Leon.“
Cosmin runzelte die Stirn. „Ist der nicht in Bratislava?“
„Ja klar. Aber der denkt, dass du… , dass wir… du weißt schon“, stammelte Max. Cosmins linke Hand befreite sich aus der Umklammerung durch die rechte Hand, legte sich um Max’ Hüfte und zog sie zu sich heran. „Ich verstehe nicht, wie der auf solche Gedanken kommt.“
Max rechter Arm fand Cosmins Schulter. „Ich auch nicht.“
„Maxi, erzähle deinem Vater, dass du mit einer Freundin im Hostel übernachten willst.“
Max strahlte. „Verdammt, so mach ich’s!“
Cosmin räusperte sich. Eine Sache gab es, die ihm Kopfzerbrechen bereitete und er überlegte, wie er sie in Worte kleiden konnte.
„Maxi?“
„Hm?“
„Wenn wir in Berlin sind… ich will nicht… naja, dass du alles allein bezahlst.“
Max lachte auf. „Das ist deine größte Sorge, Cos-Mi?“ Er nickte zum Schreibtisch, auf dem der Umschlag mit seinem Wettgewinn lag. „Wir verpulvern die Kohle, die Tang gestern für mich verdient hat.“
Es klopfte an der Tür und blitzschnell verschwand Cosmins Hand von Max’ Hüfte und Max’ Hand von Cosmins Schulter. Beide Jungen saßen plötzlich einen halben Meter voneinander entfernt.
„Was’n los?“, rief Max.
Seine Großmutter steckte ihren Kopf durch die Tür. „Kommt runter Jungs, das Abendessen wartet.“

Schon am Montag wollten beide Jungen mit dem gemeinsamen Kampfsporttraining auf dem Dachboden im Haus von Max’ Großmutter beginnen.
Obwohl ihm sicher auch Oma Lisa ein Mittagessen angeboten hätte, wärmte sich Cosmin nach der Schule lieber zu Hause ein paar Mici genannte Hackröllchen und etwas Maisbrei auf, ehe er zum Training radelte. Er wollte sich nicht wie ein armer Schlucker fühlen, der sich von Max’ Großmutter durchfüttern ließ.
Nach dem sie sich umgezogen hatten, drückte Max Cosmin ein Paar Boxhandschuhe in die Hand. „Wir wärmen uns erst mal etwas auf.“ Er deutete auf einen der größeren Boxsäcke. „Ungefähr zwei Minuten locker hier drauf hau’n. Ziele auf die Nase von dem Arschgesicht.“
Und während Cosmin die Nase des Max so verhassten Stiefbruders bearbeitete, schlug und trat Max gegen die Nasen auf den anderen drei Boxsäcken.
Nach der Aufwärmübung führte Max Cosmin zu den Kletterwänden, wo der Fußboden mit dickeren Matten gepolstert war und baute sich vor ihm auf. „Jetzt zielst du auf meine Nase, Cos-Mi. Ich versuche deinen Schlag abzuwehren und dich an den Boden zu nageln. So lernst du gleich ein paar Wurftechniken. Alles klar?“
„Alles klar, Maxi“, sagte Cosmin, holte zum Schlag aus und versuchte auszublenden, dass er auf ein Gesicht zielte, das er lieber an sich gedrückt hätte. Seine Faust klatschte in Max’ Gesicht.
„Oh Mann, Maxi!“, rief Cosmin erschrocken. Mit den beiden in Boxhandschuhen steckenden Händen, die immerhin die Finger frei ließen, umfasste Cosmin Max’ Gesicht. „Jetzt habe ich dir wehgetan, oder?“
Max rollte mit den Augen. „Cos-Mi, wäre ich Chris oder Anton, würde ich mich kaputt lachen. Du sollst mich schlagen, nicht streicheln!“
Er verzog sein Gesicht zu einer hämischen Grimasse. „Los Tziggi, zeig mir dein Zigeunerschwänzchen!“
Wumms!
Max jaulte auf, mit der Rechten umklammerte er die Nase.
„Maxi!“ Cosmin mochte es selber kaum glauben, welche Wucht er in den Schlag gesteckt hatte. Er zog Max’ Hand von der Nase, ein dünner Blutfaden kroch aus dem rechten Nasenloch zur Oberlippe.
Ihm stockte der Atem. „Ist die Nase… gebrochen?“
Max grinste plötzlich, zog Cosmin an sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Das war Klasse, Cos-Mi!“ Max wischte mit dem Handrücken eine Hälfte des Blutttropfens von seiner Lippe und mit dem Zeigefinger die andere Hälfte von Cosmins Wange.
„Und jetzt mit noch mehr Bumms. Den holst du aus der Schulter. So hier!“ Max demonstrierte die Schlagtechnik mit seinen Fäusten am Boxsack und baute sich wieder vor Cosmin auf.
„Los jetzt Tziggi, schreib den Aufsatz für mich oder…“
Wumms!
Doch dieses Mal ging der Schlag ins Leere und Cosmin wäre fast über die eigenen Füße gestolpert. Stattdessen stolperte er über Max’ ausgestrecktes Bein. Er plumpste auf die Matte, wobei Max mit den Händen Cosmins Nacken und Rücken stützte und so Cosmin vor einer unsanften Bruchlandung bewahrte.
Max half ihm auf die Füße. „Bist du okay, Cos-Mi?“
Nun war es Cosmin, der die Augen verdrehte. „Maxi, ich bin kein Baby“, maulte er. „Zeig mir, wie man das macht.“
„Okay, nun schlägst du egal wohin und ich versuche auszuweichen und dich flachzulegen“, erklärte Max. „Danach wiederholen wir das im Zeitlupentempo und dann versuchst du den Wurf.“
Eine Stunde lang trainierten sie zunächst die Abwehr von Schlägen, später auch von Tritten. Mehrfach segelte Cosmin dabei über Max’ Schulter, wobei Max jedes Mal dafür sorgte, dass Cosmin nicht auf dem Kopf landete oder hart auf den Matten aufschlug.
„Cos-Mi, du stellst dich schon ganz gut an“, sagte Max, als sie sich eine Pause gönnten und sich auf eine Holzbank neben dem Kleiderschrank hockten.
Er wischte sich mit einem Zipfel des T-Shirts Schweiß von der Stirn und Cosmins Blick verfing sich einmal mehr auf Max’ Bauchmuskeln.
Cosmin seufzte leise. Ihm war es zwar gelungen, Max zu Fall zu bringen, aber eben nur, weil Max das auch zugelassen hatte. Von einem Schulterwurf war er freilich noch meilenweit entfernt. Allerdings plagten ihn ganz andere Sorgen. „Maxi, wird dir das hier helfen, gegen den Chinesen zu gewinnen?“
Max starrte gedankenverloren auf die Boxsäcke. „Wir haben noch mehr als ein halbes Jahr Zeit, Cos-Mi. Wenn wir zwei- oder dreimal in der Woche trainieren… Du wirst besser mit Schlägen und Tritten. Dann wird es schwieriger für mich, sie abzufangen und meine Reaktionsschnelligkeit verbessert sich.“
Cosmin entging nicht, dass Max die Frage eigentlich nicht beantwortet hatte.
„Mir wäre es lieber, du würdest gar nicht erst gegen ihn kämpfen. Du könntest doch sagen, dass…“
„Niemals!“, fuhr ihm Max ins Wort. „Ich könnte mich nirgendwo mehr blicken lassen.“
„Ich… Maxi, ich mache mir ein bisschen Sorgen“, sagte Cosmin leise. „Was, wenn er so zuschlägt, dass du anschließend im Koma liegst?“
Max griente und stieß Cosmin in die Seite. „Ich hoffe doch, dass du dann an meinem Bett sitzt und mir hilfst, wieder aufzuwachen.“
Cosmin schaffte es nicht, die düsteren Gedanken aus seinem Kopf zu drängen. „Klar würde ich an deinem Bett sitzen. Aber was, wenn du aufwachst und nicht mehr weißt, wer ich bin…“
Max’ Blick strich über Cosmins Gesicht, seine Finger spielten mit den schwarzen Zotteln in Cosmins Nacken. „Cos-Mi, dann… was würde wohl mit mir passieren, wenn ich dich sehe?“
Cosmin ließ die Frage lieber unbeantwortet.
„Hast du bemerkt, dass heute in den Hofpausen der Junge mit den blonden Haarsträhnen gefehlt hat?“, wechselte er rasch das Thema.
Max’ Finger lösten sich aus Cosmins Nacken. „Nö, wieso?“
„Maxi, guckst du nicht mal ein bisschen zu den anderen?“
Max zuckte mit der Schulter. „Es reicht mir, wenn ich dich angucken kann.“
Cosmin schnaubte, als wäre er verärgert. „Der Kleinere der beiden, der Junge mit der komischen Brille, der sah heute ziemlich traurig aus. Ich hoffe, dass bei den beiden alles okay ist.“
Max blickte Cosmin mit gerunzelter Stirn an. " Hey, du guckst in den Hofpausen nach anderen Jungs?"
Cosmin kicherte leise. „Maxi, ich stehe nicht auf Jungs. Eigentlich.“ Er erhob sich und zog Max auf die Füße. „Los! Weiter geht’s. Wir müssen auch noch Hausaufgaben machen heute.“

Am Donnerstag in der ersten Hofpause bewies Max allerdings, dass er hin und wieder auch mal schaute, was andere Leute so trieben. Schon auf dem Weg zur Mauer unterhalb der Kletterwand bemerkte Cosmin, dass der Junge mit den blondierten Haarsträhnen wieder bei seinen Klassenkameraden saß und einen Arm wie selbstverständlich um die Schulter seines schmächtigen Freundes gelegt hatte. Cosmin fing einen flüchtigen Blick des Jungen mit der Hornbrille auf, der ihm „alles gut!“ zu sagen schien.
Nach dem er es sich mit Max ebenfalls auf der Mauer gemütlich gemacht hatte, reichte ihm Max ein Stück Pizza. „Hat meine Oma gemacht. Auch für dich, Cos-Mi.“
Der Duft der Pizza erstickte die Widerrede, die Cosmin auf der Zunge lag und während sie die mit Lachs und anderen Leckerbissen belegte Pizza knabberten, lauschte Cosmin, worüber sich die Jungen der Parallelklasse unterhielten. Einiges ging im Krakeelen der jüngeren Schüler auf dem Pausenhof unter. Aber immerhin erfuhr Cosmin so viel, dass Simon, so hieß der Junge mit den blondierten Strähnen, eine Grippe hinter sich und deshalb in der Schule gefehlt hatte.
Max hielt ihm noch einmal die mit weiteren Pizzastücken befüllte Brotdose hin. „Möchtest du noch?“
„Ich heb’ mir meinen Teil lieber für die nächste Pause auf“, erwiderte Cosmin und versuchte, ein paar Wortfetzen von dem zu erhaschen, was sich die Jungen der Parallelklasse erzählten.
Max stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen. „Hör auf, dir Sorgen wegen der beiden Typen zu machen, Cos-Mi. Alles bestens bei denen. Der Große lag in den Ferien mit einer Grippe flach, okay?“
„Du hast echt gelauscht?“, zischelte Cosmin in Max’ Ohr.
„Klar!“, zischelte Max zurück. „Ich würde gerne mal wissen, was die beiden so… äh, naja… Du weißt schon.“
Cosmin wusste natürlich. Auch er hätte gern gewusst, was die beiden Jungen so trieben, wenn sie alleine waren. Das Schrillen der Pausenklingel bewahrte ihn davor, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Max

Einmal mehr überraschte an diesem Tag der Deutschlehrer Herr Schneider die Klasse mit einer unerfreulichen Hausaufgabe. Bis zum nächsten Tag verlangte er einen zweiseitigen Aufsatz darüber, was auf einem Bahnsteig abläuft, wenn eine dreißigminütige Verspätung des Zuges angekündigt wird. Max hatte seinen Aufsatz fertig, gleich nach dem Herr Meyer das Thema verkündet hatte. Allerdings umfasste sein Aufsatz nur drei Wörter, von denen eines zudem anstößig war:
„So eine Scheiße.“
Nach der Schule rackerte sich Max zwei Stunden an den Geräten und Kletterwänden ab und hoffte, dass ihm Cosmin später beim Schreiben des Aufsatzes etwas stärker als üblich unter die Arme greifen würde. Max hätte Cosmin gerne auch beim Krafttraining dabei gehabt. Aber er wusste, dass Cosmin lieber die Nase in Mathebücher steckte statt sie über eine Reckstange zu schieben. Ohnehin sah Leons Trainingsplan nur zwei bis dreimal in der Woche ein Reaktionstraining mit Sparringpartner vor.

Allerdings lag Max mit der Vermutung, dass Cosmin nicht besonders viel für ein Krafttraining übrig hat, etwas daneben. Als ihm Cosmin am späten Nachmittag die Wohnungstür öffnete, strahlte er, als hätte sein Vater nun endlich die ersehnte Million im Lotto gewonnen.
„Maxi, ich hab’s endlich geschafft!“, rief er und zog Max mit sich in die Wohnung. Zugleich schien er die Frage, zu hören, die Max noch gar nicht gestellt hatte. „Nee, mein Vater ist noch nicht da“, kicherte Cosmin und packte das Griffbrett über seiner Zimmertür.
„Zähl mit!“, forderte er Max auf und zog sich mit einer Leichtigkeit nach oben, die auch Max verblüffte. Erst nach sechzehn Klimmzügen erlahmten Cosmins Arme und nach dem zwanzigsten Klimmzug ließ er sich kraftlos vom Griffbrett fallen.
„Wow, Cos-Mi, zwanzig Klimmzüge!“ Max erinnerte sich an die Leistungskontrolle in der ersten Sportstunde. Damals hatte Cosmin mit Ach und Krach elf Klimmzüge geschafft.
„Ich habe vorhin zum ersten Mal zwanzig geschafft“, keuchte Cosmin. Da Cosmins Vater noch nicht zu Hause war, wagte es Max, Cosmin kurz an sich zu drücken. Dann strich er mit den Fingern über Cosmins rechten Oberarm. „Man sieht auch, dass du Muckis davon bekommst.“
Cosmin tätschelte Max’ rechten Oberarm. „Ich hab’ mir das bei jemanden abgeguckt.“
Er deutete auf seinen Schreibtisch. „Ich hab für deinen Aufsatz schon die Stichpunkte aufgeschrieben. Dann bist du schneller damit fertig.“
Max setzte sich an den Schreibtisch und begann zunächst Cosmins Aufsatz durchzulesen. Cosmin setzte sich daneben, stützte den Kopf auf einen Arm und Max bemerkte, dass Cosmin ihn aus glühenden Augen anstarrte.
„Cos-Mi!“
„Hm?“
„Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mich so anguckst.“
„Soll ich mich woanders hinsetzen?“, fragte Cosmin, ohne seinen Blick abzuwenden.
Max griff nach Cosmins Arm. „Nö, bleib hier bei mir!“
Dank Cosmins Vorarbeit schaffte es Max, den Aufsatz in einer Stunde zu schreiben.
„Was für’n Schwachsinn!“, rief Max, als er nach dem letzten Satz den Stift beiseite legte. „Ich brauch 'ne Pause!“
Er erhob sich und ließ sich auf Cosmins Sofa fallen. Cosmin spähte derweil aus dem Fenster.
„Wann kommt dein Alter?“
„Sie arbeiten zur Zeit in einem Nest bei Halle, normalerweise müsste er bald hier sein.“ Cosmin öffnete die Zimmertür einen Spalt und ließ sich neben Max aufs Sofa fallen. „Wir haben noch die Mathe - Hausaufgaben…“, seufzte er.
Max winkte ab. „Die machen wir, wenn dein Alter hier ist.“ Sein Blick strich über Cosmins Gesicht, verfing sich in den filzigen schwarzen Zotteln, die Cosmin auf die Schulter fielen. Die Luft schien plötzlich mit knisternder Elektrizität geladen zu sein. Cosmin erwiderte Max’ Blick, auch er spürte offenbar die in der Luft liegende Spannung.
Max fragte sich, ob sich die beiden Kerle aus der Parallelklasse auch so komisch anstellten, wenn sie zusammen auf einer Couch saßen.

Sind wir dieselben, die sich vor vier Tagen mitten auf einem Bahnsteig und vor hundert Leuten in den Armen gelegen haben?

Die Umarmung war so heftig gewesen, dass Max sogar Cosmins wild pochendes Herz gespürt hatte. Und jetzt saßen sie sich wie Ölgötzen gegenüber und wagten es nicht, den anderen auch nur anzutippen?
Plötzlich fühlte Max Cosmins Finger, die ihm über die Wange strichen und jäh löste sich die Anspannung. „Cos-Mi, gleich fange ich an zu schnurren.“
Cosmin kicherte leise. „Los schnurre, mein Maxi - Kätzchen!“ Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er zog Max etwas dichter zu sich heran und Max spürte Cosmins heißen Atem an seinem Ohr. Und kaum hörbar hauchte ihm dieser Atem etwas ins Ohr:
„Du bist wunderschön, Maxi.“
Max stockte der Atem.

Hat er das jetzt wirklich gesagt?

Max’ rechte Hand glitt in Cosmins Nacken. „Cos-Mi, guckst du hin und wieder mal in den Spiegel? Wenn ich wunderschön bin, was bist du dann?“
„Nur ein bisschen äh… wunderschön vielleicht?“, erwiderte Cosmin und umfasste nun ebenfalls Max’ Nacken.
Max’ linke Hand streichelte Cosmins Wange. „Du bist für mich der wunderschönste Mensch, Cos-Mi.“
Die Lippen beider Jungen fanden zueinander, doch ehe sie miteinander verschmelzen konnten, klappte draußen im Flur die Wohnungstür.
Cosmin sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und saß im nächsten Augenblick brav mit einem Stift in der Hand an seinem Schreibtisch.
Und für den Bruchteil eines Wimpernschlages hatte Max einen Blick auf die Beule in der Jogginghose erhascht, die Cosmin nun unter der Tischplatte versteckte. Max riskierte einen Blick in den eigenen Schoß. Die engen Jeans verbargen halbwegs die Erregung darunter. Sicherheitshalber zückte er das Handy und tat so, als würde die Welt um ihn herum nicht existieren.

  1. Nächtliche Handarbeiten

Max

Die Tür schwang auf und Cosmins Vater schaute ins Zimmer. „Nanu? Macht ihr heute keine Hausaufgaben?“
Cosmin nickte seinem Vater einen Gruß zu und rutschte noch etwas dichter an den Schreibtisch heran.
„Hallo Herr Munteanu, Cosmin kontrolliert gerade meinen Aufsatz und wollte nicht, dass ich ihn dabei störe“, erklärte Max.
„Ah, verstehe“, erwiderte Cosmins Vater und zuckte mit der Schulter. „Cosmine, ich muss dich kurz sprechen.“
„Tata, das kannst du mir auch hier sagen“, schnaubte Cosmin und Max vermutete, dass die verräterische Beule in Cosmins Jogginghose sich hartnäckig weigerte, endlich zu verschwinden.
Cosmins Vater seufzte. „Es geht schneller, wenn ich auf rumänisch rede, du kannst es danach gerne übersetzen.“
Und nun folgte ein für Max vollkommen unverständlicher Wortschwall, gelegentlich unterbrochen von Cosmins Erwiderungen. Doch Max spürte, dass sich Cosmin bemühte, halbwegs betroffen auszusehen.
„Und?“, fragte Max, nachdem Cosmins Vater die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte und setzte sich neben Cosmin an den Schreibtisch.
„Seine Mutter macht es vielleicht nicht mehr lange. Deshalb will er Weihnachten bei ihr in Rumänien verbringen.“
„Scheiß, tut mir Leid, Cos-Mi.“ Und fast schon ängstlich fügte Max hinzu: „Du sollst auch mit?“
Cosmin schüttelte den Kopf. „Ich kenne sie ja kaum. Nee, ich bleibe hier.“
Max versuchte seine Freude darüber halbwegs im Zaum zu halten. „Wir feiern Weihnachten zusammen, Cos-Mi. Bei meiner Oma oder hier…“
Oder in meiner eigenen Wohnung in Berlin, ergänzte er in Gedanken.
Cosmin lächelte und legte eine Hand auf Max’ Arm. „Da wäre noch was, Maxi.“
„Und was?“
„Er will Überstunden machen, um Geld für das Ticket zu verdienen. Deshalb kommt er morgen Mittag nur kurz nach Hause und haut dann wieder ab. In ein Nest irgendwo im Harz.“
Max’ Herz schien einen Purzelbaum zu schlagen. „Ich bestelle uns Pizza zum Abendbrot!“, rief er sofort.
„Nee, wir kaufen die Zutaten und machen sie zusammen!“, schlug Cosmin vor.
„Ich kann’s kaum erwarten, dich endlich mal wieder zu füttern, Cos-Mi!“ Max musste sich beherrschen, um Cosmin im Überschwang nicht an sich zu reißen.
„Maxi?“
„Hier!“
„Ekelst du dich immer noch vor mir?“
Max hob bedauernd die Hände. „Cos-Mi, es wird mit jedem Tag schlimmer.“
Cosmin grinste. „Dann musst du dir morgen eine eigene Zahnbürste mitbringen.“

Cosmin

Bei seiner Übersetzung hatte Cosmin eine Sache weggelassen, die ihm nach wie vor Kopfzerbrechen bereitete. Den Kopf auf eine Hand gestützt schaute er zwar Max beim Rechnen der Mathe- Hausaufgaben zu, doch mit den Gedanken kehrte er zu dem zurück, was ihm sein Vater gesagt hatte. Der hätte Cosmin durchaus mit nach Rumänien genommen und hatte vermutet, dass es Cosmin kaum erwarten könne, Camelia wiederzusehen.
Cosmin hatte sich mit einer kleinen Notlüge herausgewunden und den Beginn der Weihnachtsferien auf den vorletzten Tag vor Heiligabend verschoben, an dem alle Flüge ausgebucht sein würden. Er sah bereits seinen Vater und Onkel Radu in Porumbita bei selbst gebranntem Pflaumenschnaps und Wein zusammen sitzen und Hochzeitspläne für den nächsten Sommer schmieden. Obwohl Cosmin seinem Vater einmal mehr gesagt hatte, dass er mit dem Heiraten lieber noch warten wolle.
Cosmins Gedanken wanderten noch etwas weiter zurück und er sah sich mit Camelia im dichten Gras des Donauufers liegen. Bei den Küssen und Streicheleien hatte er zweifellos nicht nur ein Kribbeln im Bauch gespürt, sondern auch eine Versteifung in der Hose. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass die Kribbelei im Bauch und die Versteifung in der Hose so heftig gewesen waren wie eben auf der Couch. Er fragte sich, ob bei Max in der Hose dasselbe passiert war.

Ich sollte mir enge Jeans anziehen, wenn ich mit ihm zusammen bin, dann fällt es nicht so auf.

„Hey! Träumst du, Cos-Mi?“
Cosmins Gedanken kehrten zu den Matheaufgaben zurück und er sah, dass Max ihm die Lösungen auf seine Seite des Schreibtisches geschoben hatte.
„Äh nee“, sagte Cosmin und griff sich Max’ Mathehefter. „Ich habe nur überlegt, welche Zutaten wir morgen für unsere Pizza brauchen.“

Max

Nach dem gemeinsamen Training auf Oma Lisas Dachboden begaben sich beide Jungen am nächsten Tag auf eine kleine Einkaufstour. Max wollte im Sportgeschäft des Einkaufszentrums am Rathaus ein zweites Paar Boxhandschuhe kaufen. Bislang hatte er die Würfe mit bloßen Händen geübt. Im Ring würde er den Gegner jedoch mit behandschuhten Händen packen müssen. Zudem stellte sich Cosmin beim Zuschlagen geschickter an als es Max erwartet hatte und deshalb beschloss er, vorsichtshalber auch je einen Gesichtsschutz für sich und für Cosmin sowie Zahnschützer zu besorgen.
Cosmin hingegen hatte die Zutaten für ihr Abendessen auf seinem Einkaufszettel. Allerdings waren sie während des Schultages von den Lehrern mit Hausaufgaben überhäuft worden. Um Zeit zu sparen, wollten sich die beiden am Abend mit überbackenen Toastscheiben statt mit selbstgemachter Pizza begnügen.

Cosmin

Beladen mit mehreren prall gefüllten Einkaufstüten betraten sie gegen 17 Uhr die Wohnung der Munteanus. Cosmin spähte zunächst ins Wohnzimmer. Wie immer war das Sofa ausgezogen und auf der zerwühlten Bettdecke häuften sich Sachen, die entweder in den Kleiderschrank oder aber in den Korb für Schmutzwäsche gehört hätten.
Auf dem Tisch im Essbereich lag ein Zwanzig-Euro-Schein und daneben ein Zettel. „Mach Dir einen schönen Abend, Cosmine.“

Genau das habe ich vor, Tata!

„Und?“, fragte Max, als Cosmin in den Korridor zurückkehrte.
„Wir haben die Bude bis morgen nur für uns“, grinste Cosmin und zog Max mit sich in sein Zimmer. Dort allerdings schlug Max die Richtung zum Sofa ein, während Cosmin versuchte, Max zum Schreibtisch zu ziehen.
„Maxi! Schon vergessen? Wir wollten erst die Hausaufgaben machen!“
„Nö, die vergessen wir einfach“, schlug Max vor und rührte sich nicht von der Stelle.
„Okay, was verlangst du dieses Mal? Ich bin ja mit dem Füttern einverstanden“, fragte Cosmin und zog weiter an Max’ Arm.
Max zauberte ein schiefes Lächeln auf seine Lippen. „Du musst mich danach sauber machen.“
„Vergiss es!“, protestierte Cosmin. „Ich weiß genau, dass du dich dann überall mit Ketchup vollschmierst!“
„Okay, Cosmi. Nur meinen Mund.“
Nun huschte ein Lächeln auch über Cosmins Gesicht. Er würde es kaum erwarten können, Max’ vollgeschmierte Schnute zu säubern. „Gerne mache ich so was eigentlich nicht, Maxi. Aber weil du sonst kein schlechter Kerl bist, werd’ ich’s machen.“
Kichernd und immer noch Max’ Arm von Cosmins Hand umklammert, ließen sich beide auf die Stühle an Cosmins Schreibtisch fallen.

Max

Max hatte erwartet, dass Cosmin bei sich im Zimmer zunächst aus den engen Jeans steigen und wie gewohnt in bequeme Jogginghosen schlüpfen würde. Doch nun saßen sie bereits seit mehr als zwei Stunden an den Hausaufgabe, immer öfter knurrte einer der beiden Mägen und Cosmin machte keinerlei Anstalten, die Hosen zu wechseln.
Max grinste in sich hinein.

Er will nicht, dass ich es sehe, wenn er einen Steifen hat.

Cosmin erhob sich. „Maxi, den Rest schaffst du alleine. Ich fange schon mal an, unser Abendbrot vorzubereiten.“
Als Max endlich auch die letzte Matheaufgabe so gelöst hatte, dass sein Ergebnis mit Cosmins Ergebnis übereinstimmte, wehte bereits der Geruch nach gebackenen Käsescheiben aus der Küche heran.
Max folgte den Duftschwaden in die Küche. Cosmin hatte inzwischen den Tisch im Essbereich des Wohnzimmers gedeckt und legte nun auf der Schlafcouch seines Vaters Hosen und Hemden zusammen, um sie in den Kleiderschrank zu räumen.

Wie verschieden wir sind!

Max würde die Klamotten seines Vaters nicht mal mit dem kleinen Finger anrühren, geschweige denn sie zusammenlegen.
Als Cosmin bemerkte, dass Max ihn beobachtete, schien er im Boden versinken zu wollen.
„Kann ich dir helfen, Cos-Mi?“
Cosmin hatte wahrscheinlich befürchtet, Max könne sich über diese Art von Hausarbeit lustig machen und atmete erleichtert aus. „Hätte ich gewusst, dass du mir helfen willst, hättest du seine Socken und Schlüpfer in die Waschmaschine stecken können. Guck’ mal, was die Toastbrote machen!“
Max lugte in den Backofen. Der Käse auf den mit Lachsschinken und Salami belegten Toastscheiben hatte bereits begonnen, sich braun zu färben.
Er zog das Blech aus dem Ofen, verteilte die Toastscheiben auf die Teller und öffnete zwei Flaschen Radler.
Cosmin brachte einen Packen Schmutzwäsche ins Bad und hockte sich anschließend auf den Stuhl neben Max.
„Hey, du schummelst schon wieder!“, rief er, als er sah, dass Max seine erste Toastscheibe mit Ketchup überhäufte.
„Okay, okay, wenn du willst, mach ich dir dafür deinen Mund sauber“, erwiderte Max und reichte Cosmin die Ketchupflasche, der nun ebenfalls Ketchup auf sein Toastbrot häufte.
Allerdings erreichten beide Scheiben ihr Ziel, ohne allzu große Spuren in den Gesichtern zu hinterlassen. Es war nicht besonders appetitlich aus Flaschen zu trinken, deren Hälse mit Ketchup beschmiert sind.
Erst die jeweils letzte Scheibe hinterließ mit Ketchup beschmierte Lippen in beiden Gesichtern.
Cosmins Blick heftete sich auf die Lippen des Freundes. Max fischte eine Serviette aus einer auf dem Tisch liegenden Verpackung und reichte sie Cosmin.
„Du bist dran Cos-Mi!“
Cosmin ignorierte die Serviette. „Maxi, wie würden das dieser Simon aus der anderen Zwölften und sein Freund jetzt machen?“
Für ein paar Augenblicke setzte Max’ Atmung aus und sein Herz schien plötzlich im Hals zu schlagen.
„Ich … ähm… ich glaube nicht, dass die 'ne Serviette nehmen würden.“
Cosmin verzog seine mit Ketchup beschmierten Lippen zu einem Grinsen, das Max erneut den Atem raubte. „Möchtest du, dass ich die Serviette nehme?“
Max’ Hand schob sich unter die schwarzen Zotteln, die Cosmins Nacken bedeckten.
„Vergiss die Serviette!“
Max spürte, dass Cosmins Finger die Haare auf seinem Hinterkopf zausten und heißer Atem über sein Gesicht strich. Und dann verschwand seine Oberlippe zwischen Cosmins Lippen.
Stromstöße jagten durch seinen Körper. Mit der Zungenspitze liebkoste er Cosmins Mundwinkel und befreite sie vom Ketchup. Nun kitzelte Cosmins Zungenspitze erst Max’ Mundwinkel und dann begannen beide Zungen miteinander zu spielen, jagten oder streichelten einander und umschlangen sich, als wollten sie sich verknoten.
Max verspürte das geradezu unheimliche Verlangen, Cosmins Zunge in den eigenen Mund zu saugen.
Doch Cosmin japste plötzlich, als hätte er vergessen zu atmen und löste sich schwer atmend von Max.
„Das war jetzt ziemlich schwul, oder?“, keuchte er und zog ein Gesicht, als wäre er beim Popeln erwischt worden.
Max kraulte die Mähne in Cosmins Nacken. Er hatte vielleicht schon mit einem halben Dutzend Mädchen herum geknutscht, aber nie hatten dabei Stromstöße wie eben seine Nervenbahnen erschüttert. „Cos-Mi, wo hast du so küssen gelernt?“
Die Scham in Cosmins Gesicht wich einem unsicheren Lächeln. „Das wollte ich dich auch gerade fragen.“
„Ich hab’s eben erst gelernt. Hier mit dir“, sagte Max. „Komm, wir sind jetzt sauber. Gehen wir zu dir ins Zimmer.“
Max schnappte zwei weitere Bierflaschen aus einer der Einkaufstüten und verließ mit Cosmin im Schlepptau die Küche.
Anders als es Max zunächst befürchtet hatte, hocken sie anschließend nicht wie Buddhastatuen nebeneinander. Einer legte den Arm um die Schulter des anderen und mehrere Minuten saßen sie schweigend nebeneinander, die Köpfe aneinander gelehnt.
Max war nicht nur einmal verknallt gewesen. Aber egal an wen er auch dachte, ob an Karla, Jenny oder auch an Caroline, nie hatte er sich zu einem dieser Mädchen so hingezogen gefühlt wie zu dem Menschen, der gerade neben ihm saß.

Irgendwann wird sich das nicht mehr verheimlichen lassen.

Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was Leon dazu sagen würde. Oder seine alten Kumpels in Berlin.
Sein Blick glitt nach links und erst jetzt bemerkte er, dass Cosmin ihn aus den Augenwinkeln anstarrte. „Woran denkst du gerade, Maxi?“, fragte Cosmin leise.
„An jemanden, an den ich ständig denke. Und frag jetzt bloß nicht, wer dieser jemand ist!“
Cosmin kicherte leise. „Komisch, bei mir ist das auch so.“
Ein paar Minuten verstrichen. Hin und wieder nippten sie an ihrem Bier.
„Maxi?“, brach Cosmin das Schweigen.
„Immer für dich da!“, erwiderte Max.
„Werden wir auch nächstes Jahr zusammen sein? Was willst du studieren?“
Max hatte inzwischen recht konkrete Vorstellungen und seinem Vater gesagt, dass er sein Haus behalten wolle. In den Plänen für das nächste Jahr spielte die frei werdende Wohnung im Erdgeschoss eine nicht unerhebliche Rolle. Doch zunächst antwortete er mit einer Gegenfrage: „Hast du schon einen Plan, Cos-Mi?“
Cosmins Augen leuchteten auf. „Ich möchte Architektur studieren. Das geht hier an der Hochschule. Maxi, wenn du hier was für dich findest… wir könnten uns zusammen eine Wohnung mieten und die Kosten teilen.“
Dass Cosmin Architektur studieren wollte, war natürlich keine Überraschung für Max.
„Cos-Mi, ich will eigentlich in Berlin studieren“, sagte Max und fügte schnell hinzu: „Dort an der Hochschule kannst du auch Architektur studieren.“
Cosmins Schultern sanken herab. „Maxi, Berlin kann ich mir nicht leisten.“
"Cos-Mi, ich habe dort so ein altes Haus mit einer Wohnung, die frei wird. Wir könnten zusammen… "
Cosmin löste sich ein Stück weit von Max und starrte ihn an, als wäre ihm ein drittes Ohr gewachsen. „Du hast ein eigenes Haus… in Berlin?“
Max winkte ab. „Naja, es ist ziemlich alt sozusagen. Wir müssten keine Miete zahlen. Aber wenn du unbedingt willst, teilen wir uns die Kosten für die Heizung und so.“
„Ich… ich muss erst drüber nachdenken“, erwiderte Cosmin ausweichend.
„Wieso hast du so eine enge Beziehung zu deinem Onkel, Maxi?“, wechselte er nach einer Weile das Thema.
Max zuckte mit der Schulter. „Er wollte nicht mit, als seine Eltern, also meine Großeltern, nach Costa Rica ausgewandert sind“, sagte er und erzählte davon, wie Leon nach dem Wegzug der Eltern bei seinem Vater geblieben war und so zugleich zu Max’ großem Bruder wurde. „Ich hab die Großeltern danach nur noch einmal gesehen, da war ich zwölf und die wollten mich die ganze Zeit erziehen. Erzähle mir von deinen Eltern, Cos-Mi. Wieso kam dein Alter hier her? Wie war deine Mutter so?“
Nun berichtete Cosmin davon, dass sein Vater schon als Junge das ärmliche Leben im hintersten Winkel Rumäniens satt gehabt hatte und Max fragte sich, wie Cosmins Vater als siebzehnjähriger Bengel wohl ausgesehen hatte. Er sah windschiefe, aus roten Ziegeln errichtete Hütten ohne Elektrizität und mit Böden aus festgestampfter Erde und eine Sonne, die hinter endlosen Maisfeldern versinkt…

Irgendwann ging die Sonne wieder auf, doch es war gar nicht die Sonne, in die Max blinzelte, sondern die Lampe in Cosmins Zimmer.
Max bemerkte, dass er mit dem Kopf auf Cosmins Schulter gesunken war, Cosmins Finger spielten an seinem rechten Ohr.
Er richtete sich auf. „Oh Scheiße, bin ich eingepennt?“
„Über eine Stunde, war wohl doch nicht so interessant, was ich erzählt habe“, antwortete Cosmin.
„Tut mir Leid, Cos-Mi“, seufzte Max.
„Muss es nicht! Ich hab dir beim Schnurren zugehört“, grinste Cosmin. „Und was du so erzählt hast.“
Max runzelte die Stirn. „Was habe ich erzählt?“
"Du willst nicht, dass ich die Trulla aus dem Dorf in Rumänien heirate, weil… äh… "
„Weil was… ?“
Cosmin räusperte sich. „… weil… du hast gesagt, weil ich zu dir gehöre.“
„Hm, habe ich noch mehr erzählt?“
Cosmin nickte. „Du hast gesagt, dass du mich… äh… liebst.“
Max versuchte halbwegs gelassen auszusehen. „Klingt nicht so, als würde ich im Schlaf lügen.“
Ein bisschen hoffte er darauf, dass Cosmin ihm verraten würde, was er von diesem unfreiwilligen Geständnis hielt.
Stattdessen zog Cosmin Max auf die Füße. „Komm Schlafmütze, ich mach uns das Bett.“
Nach einer Katzenwäsche schlüpfte Max, nur noch mit Slip und Unterhemd bekleidet unter die Bettdecke. Mit den Blicken folgte er Cosmin, der wie schon beim letzten Mal mit dem Schlafanzug auf dem Arm ins Bad huschte, ohne zuvor auch nur ein einziges Kleidungsstück abzulegen.
Er hat immer noch Schiss, dass ich ihm was weggucke, seufzte Max, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und schloss die Augen.

Cosmin

Er schläft schon wieder!

Cosmin schluckte seine Enttäuschung hinunter wie eine bittere Pille, als er sich auf seiner Seite des Bettes unter der Decke verkroch. Den Kopf auf seine linke Hand gestützt, beugte er sich so, dass er Max’ Gesichtszüge im Licht der Leselampe in all ihren Details studieren konnte.
Cosmin dachte an das zurück, was Max bei dem Schläfchen an seiner Schulter ausgeplaudert hatte.
„Cos-Mi wird dich nicht heiraten, er gehört zu mir.“

Ach Maxi, wir wissen ja noch nicht mal, wie es nach der Schule weiter geht.

Klar war es verlockend, mit Max zusammen in Berlin zu wohnen und zu studieren. Aber was, wenn ihre Beziehung in die Brüche ging?
„Cos-Mi, ich hab dich lieb.“

Was, wenn er sich in jemand anderen verknallt oder merkt, dass es mit Mädchen doch mehr Spaß macht?

Aber Max hatte auch etwas gesagt, das Cosmin Kopfzerbrechen bereitete: „Cos-Mi, ich will mit dir …“. Aber was? Das folgende Wort hatte Max genuschelt und es klang wie „flüsgen“. Küssen? Oder etwa … Ficken?
In seiner Fantasie hatten sie sich bereits zig Mal nackt und ineinander verschlungen gegenseitig befriedigt. Doch manches, was er zu den Sexpraktiken zwischen Männern auf einschlägigen Internetseiten gefunden hatte, fand Cosmin irgendwie abstoßend.

Ich habe Schiss davor. Was ist, wenn wir merken, dass es nicht so ist, wie wir es uns ausgemalt haben? Zerbricht dann alles?

Die Knutscherei nach dem Essen war allerdings jenseits all seiner Erwartungen gewesen.

Hätte ich nicht aufgehört, wären wir im Bett gelandet…

Cosmin beugte sich noch etwas tiefer, angezogen von Max’ Lippen, auf denen der Hauch eines Lächelns lag.
Plötzlich schoss eine Hand nach oben, griff in Cosmins Nacken. Max schlug die Augen auf. „Hab dich erwischt!“
„Du schläfst gar nicht…?“
Max grinste und kraulte Cosmins Nacken. „Ich hab auf deinen Gute - Nacht - Kuss gewartet!“
Cosmins linke Hand schob sich unter das weiche Haar in Max’ Nacken, die Finger der rechten Hand strichen Haarsträhnen aus Max’ Stirn und zum zweiten Mal an diesem Abend fanden die Lippen beider Jungen zueinander. Zunächst setzten die Zungen der beiden ihr zuvor so abrupt abgebrochenes Spiel fort. Doch anders als beim ersten Mal schlängelten sich beide Zungen etwas tiefer in den Mund des anderen und erforschten sich gegenseitig in ihrer ganzen Länge. Cosmin spürte, dass Max’ rechte Hand unter seine Schlafanzugjacke glitt und sie dann begann, seinen Rücken zu streicheln. Heiße Schauer aus prickelnder Elektrizität jagten von der Hand hinunter zu seinen Lenden. Cosmin stöhnte leise unter dem Ansturm aus Elektrizität, seine rechte Hand tauchte unter Max’ Bettdecke ab und endlich wagte er, was er in seiner Fantasie bereits dutzende Male getan hatte. Er erforschte Max’ muskulösen Bauch, mit den Fingern zeichnete er die Muskelstränge nach.
Die Zungen tanzten immer wilder umeinander, die Atmung wurde mit jedem Reigen heftiger.
Cosmin bemerkte aus den Augenwinkeln die Wölbung der Bettdecke in der Höhe von Max’ Schoß und er spürte, wie sich die eigene Erektion aus der Schlafanzughose zu befreien suchte.
Max’ Hand hatte inzwischen einen Weg von Cosmins Rücken zum Bauch gefunden und glitt Zentimeter um Zentimeter tiefer.
Cosmins Zunge erstarrte und nur einen Augenblick später verharrte die Hand auf Cosmins Bauch auf ihrem Weg nach unten und zog sich dann beinahe verschämt zurück.
Die Zungen fuhren mit ihrem Spiel fort, doch es schien, als wären ihre Batterien nun so gut wie entladen.
„Cos-Mi, ich glaub, ich kann nicht mehr. Solche Gute - Nacht- Küsse bin ich nicht gewohnt“, japste Max, küsste Cosmins Mundwinkel und ließ den Kopf auf das Kissen zurück sinken.
„Nacht Maxi“, sagte Cosmin leise und zog sich auf seine Seite der Couch zurück.

Ich hab ihn jetzt vergrault!

Dabei war es so gewesen, als hätte seine eigene Erektion Max’ Fingern entgegengefiebert. Nun schien sie wie zum Trotz nicht abklingen zu wollen.
Cosmin sah, dass Max ihm in den Rücken zugekehrt hatte. Er schaltete das Leselicht aus. Seine rechte Hand glitt unter Max’ Bettdecke und legte sich auf dessen Hüfte. Ohne sich umzuwenden, griff Max nach Cosmins Hand.
Cosmin atmete erleichtert auf, als sich Max’ Finger um seine Hand schlossen…

Ein schwacher Lichtschein der Straßenlampe vor dem Block, der durch das Fenster drang, verdrängte die Dunkelheit der Nacht bis in die hintersten Zimmerecken. Und so sah Cosmin, dass Max ihm immer noch den Rücken zukehrte, als er mitten in der Nacht aus einem Traum erwachte. Auch wenn sich die Traumbilder rasch verflüchtigten, erinnerte ihn sein steifes Glied daran, wovon er geträumt hatte.
Ein leises Rascheln ließ ihn aufhorchen. Cosmin hob seinen Kopf aus dem Kissen und lauschte. Es raschelte unter Max’ Bettdecke und er sah, dass die Bettdecke ausgerechnet dort zitterte, wo sie Max’ Schoß bedeckte.

Was treibt er da?

Gleich darauf begriff Cosmin, was da unter der Bettdecke raschelte.

Ich glaub’s nicht! Maxi rubbelt sein Ding in meinem Bett?

Cosmin richtete sich vorsichtig noch etwas mehr auf und vernahm nun auch ein leises Schniefen und Hecheln, das sich ins Geraschel mischte. Er versuchte sich vorzustellen, was gerade unter Max’ Bettdecke ablief und nun war es das eigene Glied, das zum Hammerstiel mutierte.
Max’ leises Schniefen wurde heftiger. In seiner inzwischen immer üppiger blühenden Fantasie sah sich Cosmin Max’ Hand beiseite schieben, um ihm die Rubbelei abzunehmen. Er konnte Max’ Glied regelrecht fühlen in seiner rechten Hand. Doch es war nicht Max’ Glied, das von seiner rechten Hand umschlossen wurde, sondern das eigene.
Ein von Max’ Kissen gedämpftes Stöhnen drang an Cosmins Ohr.

Gleich ist es bei ihm soweit!

Cosmins Gedanken kreisten jäh um die Frage, wie Max das Problem mit dem Ergebnis seiner Handarbeit lösen würde.
Lässt er es einfach in den Slip fließen. Oder gar aufs Laken? Oder hat er ein Taschentuch? Und plötzlich fiel Cosmin ein, dass er möglicherweise gleich vor dem selben Problem stehen würde. Zumal es so schien, als hätte sich seine rechte Hand selbständig gemacht. Er zwang seine rechte Hand loszulassen und kramte in der Tasche seiner Schlafanzugjacke. Er wurde zum Glück fündig und positionierte das Papiertaschentuch mit der Linken so, dass die Schlafanzughose sauber bleiben würde.
Erneut ertönte ein vom Kissen gedämpftes Keuchen und gleich darauf kehrte Ruhe unter Max’ Bettdecke ein.
Cosmin sog lautlos Luft durch die Nasenlöcher, allerdings noch roch es nicht nach dem, was sich auf Max’ Seite des Bettes irgendwohin ergossen hatte.
Plötzlich drehte sich Max um und im letzten Augenblick sank Cosmins Kopf zurück aufs Kissen. Im durchs Fenster dringenden Lichtschein sah Cosmin Max’ entspannte, ja geradezu zufriedene Gesichtszüge, während er selber sein Glied festhielt, das ihm verzweifelt „Weiter machen!“ zuzurufen schien.
Mehrere Minuten oder gar Viertelstunden versuchte Cosmin wieder einzuschlafen, aber die Erregung in seiner Schlafanzughose ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Schließlich blieb ihm nichts weiter übrig, als sich ins Bad zu schleichen und auf dem Klo die begonnene Arbeit zu beenden.

  1. Etwas über die Sorgen eines Vorverlobten

Cosmin

Die Herbstsonne lugte bereits ins Zimmer, als Cosmin sich am Morgen aus einem Traum flüchtete, in dem sein Vater Max nackt an Cosmins Schreibtisch erwischte. Als ob sich Max nackt an einen Schreibtisch setzen würde.
Er wälzte sich auf die andere Seite, um einen Blick auf Max zu werfen, doch die andere Hälfte des Bettes war leer. Cosmin vermutete, dass Max auf dem Klo saß. Beim Anblick der Bettdecke sah er sie in der Erinnerung wieder in Höhe von Max’ Schoß wackeln.
Cosmin lauschte zur Zimmertür und als er nichts hörte, schlug er Max’ Bettdecke zurück und untersuchte das Laken darunter auf verräterische Spuren, die Max’ nächtliche Handarbeit hinterlassen haben könnte. Das Laken war genauso blütenweiß wie am Abend zuvor.
Inzwischen kam sich Cosmin etwas komisch vor.

Max hat so was ja nicht zum ersten Mal gemacht. Er weiß, wohin damit.

Cosmins Blase meldete sich mit dem Wunsch, mal wieder entleert zu werden. Also schlüpfte aus dem Bett und trottete in den Korridor bis zur Badtür. Er klopfte an der Tür.
„Maxi, ich muss pinkeln!“
Keine Reaktion.
„Maxi?“
Nichts.
Cosmin öffnete die Tür. Das Bad war frei, aber Cosmin vergaß für den Moment seine Blase.
Wo war Max?
„Maxi?“
Keine Antwort
Ein leiser Schrecken durchzuckte Cosmin. War Max abgehauen? War er vielleicht doch sauer?
Cosmin schlurfte niedergeschlagen ins Wohnzimmer und erlebte eine Überraschung. Das Geschirr des Abendessens stapelte sich in der Spüle, stattdessen war der Tisch mit Frühstücksgeschirr gedeckt. Er fand einen Zettel auf dem Tisch.
„Cosmi, ich habe mir deinen Schlüssel ausgeborgt und hole uns was zum Frühstück.“
Cosmin lächelte gerührt.

Von wegen Max ist sauer. Er ist nicht nur der schönste, er ist auch der liebste Kerl auf dieser Welt. Zumindest für mich!

Erneut erinnerte ihn seine Blase, dass sie geleert werden wollte.
Nach der Morgentoilette stieg Cosmin zunächst wie gewohnt in eine bequeme Jogginghose. Doch gleich darauf fiel ihm ein, wie schnell sein Glied inzwischen selbst auf flüchtige Küsse oder zärtliche Berührungen reagierte. Und so tauschte er die Jogginghose mit engen Jeans, die eine Erektion zumindest halbwegs verbargen.
Als er anschließend begann, das benutzte Geschirr in den Geschirrspüler einzusortieren hörte er, dass die Wohnungstür geöffnet wurde und gleich darauf trat Max in die Küche, eine prall gefüllte Einkaufstüte in der Hand und ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Er hauchte Cosmin einen Kuss auf den Mund.
„Wer ist hier die Schlafmütze, hm? Es ist halb zehn und du schmeckst noch nach Zahnpasta!“
„Ich hab dir die halbe Nacht zugeguckt beim Schlafen, weil ich selber nicht schlafen konnte“, erwiderte Cosmin.
Entweder bemerkte Max die Anspielung auf seine nächtlichen Aktivitäten nicht oder er überhörte sie geflissentlich. Er häufte frische Bäckerbrötchen auf die Teller, stellte Konfitürengläschen, Saftflaschen und Joghurtbecher auf den Tisch.
„Was hab’ ich ausgeplaudert?“, fragte er und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die noch immer so dicht wie am Abend zuvor nebeneinander standen. Cosmin füllte zwei Tassen mit dampfenden Kaffee. Dann setzte er sich auf den anderen Stuhl.
„Du sagtest so etwas wie ‚Ich will dich‘, aber hast nicht gesagt, wen du willst“, mogelte Cosmin, denn Max hatte nach der erfolgreichen Verrichtung geschlafen wie ein Murmeltier.
Max zuckte mit der Schulter. „Hm, keine Ahnung, wen ich will.“ Seine Hand glitt unter die Zotteln in Cosmins Nacken. Ihr schien ein warmer Schauer zu entströmen, der erst an Cosmins Wirbelsäule hinunter rieselte und sich von dort zu seinem Bauch ausbreitete.
Cosmin umfasste Max’ Schultern und zum zweiten Mal an diesem Morgen fanden die Lippen der Jungen zueinander. Doch jetzt rieben sich auch ihre Zungen aneinander und erforschten sich gegenseitig. Vielleicht war es der Duft nach frischen Brötchen oder auch das Knurren aus einem der beiden Mägen, vielleicht brauchten die Zungen einfach eine Pause, nach Minuten lösten sich beide Jungen voneinander.
Cosmin war heilfroh, dass seine engen Jeans halbwegs verbargen, was er in Jogginghosen zur Schau gestellt hätte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich auch in Max’ Jeans etwas geregt und ihr eine Ausbuchtung verpasst hatte.
Während sie sich mit Konfitüre bestrichene Brötchenhälften schmecken ließen, erzählte Max, welche Routen er am Nachmittag zusammen mit Cosmin in der Kletterhalle durchsteigen wollte.
Cosmin hörte allerdings nur mit einem Ohr zu. Immer wieder drängte sich ihm dieselbe Frage auf:

Wie wird es nach der Schule weiter gehen?

Er dachte an die neuntägige Trennung in den Herbstferien zurück.

Ich habe am Ende die Stunden bis zum Wiedersehen gezählt!

„Maxi, ich wünschte, so würde jeder Tag beginnen“, sagte Cosmin, nach dem sein Bauch bis zum Bersten mit den knusprigen Brötchen gefüllt war.
Max griff nach Cosmins Hand. „Cos-Mi, komm nächstes Jahr mit mir nach Berlin. Ich verspreche dir, so wird dann jeder Tag für uns beginnen.“
„Wer weiß, vielleicht ist dir einfach noch nicht die Richtige über den Weg gelaufen und dann bin ich… im Weg“, sagte Cosmin leise und fügte in Gedanken hinzu:

Was wird dann in Berlin aus mir?

Die Vorstellung, Max könne eines Tages in einer gemeinsamen Wohnung frisch verliebt mit einem Mädchen aufkreuzen, schnürte ihm die Kehle zu.
Max küsste Cosmins Mundwinkel. „Ich hab längst die Richtige gefunden, nur dass sie keine Titten aber dafür einen … äh … Pimmel hat. Und sie ist ein er.“
Cosmin schwieg.
„Raus mit der Sprache, wovor hast du Schiss?“
Nach einer Weile räusperte sich Cosmin und versuchte, seine Bedenken in Worte zu kleiden.
„Was ist, wenn du dich von mir trennst? Ich könnte mir mit meinem Geld allein niemals…“
„Cos-Mi! Vergiss das!“, wischte Max Cosmins Bedenken beiseite. „Ich trenne mich nicht von dir!“
Er tätschelte Cosmins Hand, sein Blick verfing sich in Cosmins Augen und etwas leiser fuhr er fort: „Mir fällt absolut nichts ein, weswegen ich mich von dir trennen sollte. Ich könnte es auch nicht mehr. Wenn wir uns also trennen würden, dann weil du Schluss machst.“
Cosmin seufzte leise.

Ich bin süchtig nach diesem Kerl und könnte gar nicht Schluss machen!

„Hör auf, von Schluss machen zu reden, Maxi. Außerdem haben wir noch mehr als ein halbes Jahr Zeit.“
„Cos-Mi, ich zeige dir nächstes Wochenende die Wohnung und wir können uns auch die Hochschule angucken“, schlug Max vor. „Ich bin sicher, es wird dir in Berlin gefallen.“
Beim Gedanken an das kommende lange Wochenende in Berlin schien das Herz aus Cosmins Brust hüpfen zu wollen. Allerdings musste er vorher noch seinem Vater eine Erlaubnis abringen, die sie beim Check- in benötigten. Würde er es verdächtig finden, dass zwei Jungen in ein und dem selben Zimmer übernachten wollten?
„Hast du schon von deinem Vater diese komische Erlaubnis für das Hostel?“
Max verdrehte die Augen. „Das schon, aber er möchte meine Freundin, also dich kennen lernen und hat uns am Freitag zum Abendessen ins Restaurant des Fernsehturms eingeladen. Kleiner geht’s nicht bei ihm.“
„Wow! Klingt gut! Meinst du wir kriegen das hin mit Schminke und Mädchensachen?“, kicherte Cosmin.
"Ich glaube, so würdest du jede Miss- Wahl gewinnen, Cos-Mi. Nee, wir erfinden 'ne Ausrede. Ich sage ihm… ", Max kratzte sich die Mähne und deutete auf Cosmins Schoß, „… dass du deine Tage hast und nicht gut drauf bist.“
„Ja, ich hab mich immer so zickig, wenn ich meine Tage habe“, kicherte Cosmin.
Max lächelte schwach.
Vielleicht denkt er jetzt, dass ich ziemlich oft meine Tage habe?, überlegte Cosmin.
„Und du, hast du mit deinem Alten gequatscht?“, fragte Max.
„Ich mach das heute Abend. Hoffentlich findet er das nicht … komisch mit uns.“

„Ihr habt für drei Nächte ein Zimmer in Berlin? Hat das etwa nur so etwas wie ein Ehebett?“, fragte sein Vater, nach dem ihm Cosmin beim Abendessen von seinen Plänen für das nächste Wochenende erzählt hatte. Allerdings schaute Cosmin seinem Vater beim Essen nur zu. Er selber hatte zuvor das Haus von Max’ Großmutter erst nach einem üppigen Abendessen verlassen dürfen.
„Tata, das wäre doch kein Problem!“
Sein Vater runzelte die Stirn. „Also ich weiß nicht, ich finde es komisch, wenn zwei Männer in einem Bett schlafen. Es soll sogar welche geben, die…“ Er verschluckte angewidert den Rest des Satzes.
Cosmin versuchte, sein Erschrecken so gut wie möglich zu verbergen. Das klang nach hinterwäldlerischem Porumbita- Denken. Damit wäre geklärt, dass Maxi nicht mit ihm hier übernachten konnte, wenn sein Vater anwesend war. Zudem würden sie ihre Beziehung vor ihm verheimlichen müssen.

Und das für alle Zeiten?

„Wenn es dich beruhigt, Max hat ein Zimmer mit zwei Einzelbetten gebucht“, mogelte Cosmin. Er war sicher, dass Max ein Zimmer mit einem Doppelbett gebucht hatte.
„Der junge Mann weiß, was sich gehört!“ Cosmins Vater spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Bier hinunter und schmierte sich eine weitere Schnitte.
"Hast du denn genug Geld, Cosmine? Du weißt, viel könnte ich dir nicht geben, weil ich doch zu Weihnachten… "
„Tata!“, fuhr ihm Cosmin ins Wort. „Maxi hat bei einem Boxturnier ein paar Tausend Euro beim Wetten gewonnen und er besitzt ein eigenes Haus in Berlin. Er hat das Zimmer bezahlt.“
Sein Vater klappte den mit Leberwurstschnitte gefüllten Mund auf und erst nach ein paar Sekunden wieder zu. „Ich sollte Max meine Lottoscheine ausfüllen lassen! Wie kommt der Junge zu einem Haus in Berlin?“, schien er zu sich selber zu sagen und warf Cosmin einen forschenden Blick zu.
„Ihr verbringt sehr viel Zeit miteinander. Hat Max keine Freundin? So reich wie der ist und so wie der aussieht, müsste der doch an jedem Finger eine haben.“
Cosmins Herzschlag schien für einen Moment auszusetzen.

Ahnt er, dass etwas zwischen mir und Maxi was läuft?

„Max hat seit zwei Jahren in Berlin eine feste Freundin. Wir treffen sie dort“, schwindelte er, um jeglichen Verdacht schon im Keim zu ersticken.
„Aber ihr trefft nur seine Freundin, oder? Du Cosmine bist ja schon mit Camelia verlobt.“
Cosmin gab sich alle Mühe, nicht aus der Haut zu fahren. „Wir sind nicht wirklich verlobt, Tata. Das im Sommer war nur so was wie eine Vorverlobung. Aber keine Sorge, ich werde mir dort keine Freundin suchen!“ Zumindest das war nicht gelogen.
„Na gut. Also was muss ich unterschreiben?“
Cosmin atmete leise auf. Er nickte zum Couchtisch neben dem Sofa seines Vaters. „Ich hab’ s dir schon ausgedruckt. Außerdem muss ich Fotos von deinem Personalausweis machen.“

Wenig später verzog er sich mit der Einverständniserklärung des Vaters in der Hand und den Personalausweisfotos auf dem Handy in sein Zimmer und startete lustlos den Computer. Er fragte sich, wie das Pärchen aus der Parallelklasse diesen Abend verbrachte. Sitzen die jetzt auch jeder für sich im Zimmer am Computer oder unternehmen die was zusammen? Nach den drei Stunden in der Kletterhalle und dem Kampfsporttraining auf Oma Lisas Dachboden hätte er am liebsten auch den Rest des Tages mit Max verbracht.
Freilich gab es mit Max ein kleines Problem. Ein Grinsen huschte über Cosmins Gesicht, als er an den gestrigen Abend und Max’ Schläfchen an seiner Schulter zurückdachte. Ab abends um neun oder spätestens um zehn musste für Max irgendwo in der Nähe eine Schlafmöglichkeit bereit stehen. Er öffnete auf dem PC ein Rechenprogramm und vertiefte sich in Oma Lisas Mathebuch für Ingenieure, um die Übungsaufgaben am Ende des aktuellen Kapitels abzuarbeiten.
Doch kaum hatte er die erste Aufgabe beendet, betrat sein Vater das Zimmer. Er hielt das Handy vor seine Nase und drehte es in Cosmins Richtung. „Wie ich es dir sagte, Radu! Mein Junge sitzt am Schreibtisch und lernt.“
Er wandte sich an Cosmin und reichte ihm das Handy. „Onkel Radu. Sag Hallo zu ihm, Cosmine!“
Cosmin nahm mit einem leisen Seufzer das Handy. Auf dem Display grinste ihm Porumbitas Romaboss entgegen, die Enden des gewaltigen Schnurrbartes schienen von innen über das Display zu wischen.
„Was für ein prächtiger Junge, Florine. Dein Sohn wird von Tag zu Tag hübscher. Kein Wunder, dass mein Töchterchen so vernarrt ist in ihn“, rief er Cosmins Vater zu und wandte sich an Cosmin. „Wie geht es dir, Cosmine?“
Bei Onkel Radus Anblick schmolz jegliche Courage wie Schnee in der Sommersonne, endlich einen reinen Tisch zu machen und ihm hier und jetzt die Flausen von einer Hochzeit im kommenden Sommer auszutreiben.
„Äh… gut, glaube ich. Hallo Onkel Radu, wie geht es Ihnen?“
„Viel gutbezahlte Arbeit, Junge! Ich werde mir bald ein zweites Schnellboot zulegen müssen…“
Onkel Radu unterbrach sich kurz, vielleicht weil er von Cosmin etwas wie Erstaunen oder Bewunderung erwartete. Bei den Gedanken an all die armen Schlucker, die Onkel Radu mit der Schleuserei ausnahm, verspürte Cosmin jedoch einfach nur Ärger. Er verbarg die Verärgerung hinter einem ausdruckslosen Gesicht.
Onkel Radu zuckte mit der Schulter und fuhr fort: „Ich habe es dir ja bei eurer Verlobung versprochen: Ich werde dafür sorgen, dass ihr nach der Hochzeit eine ordentliche Bleibe kaufen könnt.“
„Eine Vorverlobung, Onkel Radu“, widersprach Cosmin schwach. „Weil Camelia erst fünfzehn war.“
Ein Schatten huschte über Onkel Radus Gesicht, aber der Schatten wich rasch einem Augenzwinkern. „Komm schon Cosmine, ihr könnt es doch gar nicht mehr erwarten, zusammen im Bett zu liegen und mich mal wieder zum Großvater zu machen.“
Cosmin hätte das Handy am liebsten wie eine heiße Pellkartoffel fallen lassen.
Onkel Radu schien Cosmins Unbehagen nicht zu bemerken. „Und du kannst Weihnachten nicht kommen, Cosmine?“
„Nein, die Schule geht bis einen Tag vor Heiligabend“, verschob Cosmin den Ferienbeginn um einen weiteren Tag nach hinten. „Alle Flüge sind ausgebucht und wenn ich unentschuldigt in der Schule fehle, werde ich nicht zu den Abschlussprüfungen zugelassen.“
Onkel Radu schaute kurz zur Seite. „Verdammt, da hörst du es, mein Töchterchen, du musst dich bis zum Februar gedulden.“
Das Töchterchen drängte sich in den Sichtbereich der Handykamera. „Cosmi!“, rief sie und griff nach Onkel Radus Handy. Der grinste in die Kamera. „Ich lasse euch zwei Süßen lieber allein jetzt und rede danach mit deinem Vater weiter“, sagte er und verschwand vom Display.
„Cosmi, bitte… komm Weihnachten mit hier her. Ich will dich wiedersehen.“

Schon wieder dieses "Ich will dich… " ?

„Camelia, das geht nicht wegen der Schule“, wand sich Cosmin und ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern. Sie ist hübscher als jedes Mädchen in meiner Klasse, hübscher sogar als die meisten, nein - alle Mädchen an der Schule, stellte Cosmin einmal mehr fest. Aber es war, als würde er ihre Schönheit wahrnehmen, ohne sich selber davon betroffen zu fühlen, etwa so, wie man die Schönheit der Hauptdarstellerin in einem Film wahrnimmt.
Camelia versuchte offenbar, Cosmin mit dem Blick aus ihren tintenschwarzen Augen zu fesseln. „Vielleicht darf ich ja im Februar länger bei dir bleiben, Cosmi“, hauchte sie und rückte mit ihren zum Kussmund verbogenen Lippen noch etwas dichter an Cosmin heran, als hätte hätte sie die 1500 Kilometer vergessen, die sie von ihm trennten.
„Ich habe nur eine Woche Ferien und während der Schule ganz wenig Zeit“, wand Cosmin ein. Wie es schien, überhörte Camelia den Wink mit dem Zaunpfahl, denn sie fuhr unbeeindruckt von Cosmins Einwand fort: „Wenn ich bei dir bleibe, lerne ich auch viel besser Deutsch als bei diesem online- Kurs im Internet. Ein bisschen deutsch kann ich schon, willst du mal hören?“
„Ja, lass mal hören“, heuchelte Cosmin Interesse.
„Ich sehne mir … dich“, radebrechte sie auf deutsch und Cosmin heuchelte nun auch Bewunderung.
„Toll, Camelia!“ Er tat so, als würde ihm ein Schrecken in die Glieder fahren. „Oh je, Camelia, der Akku ist gleich leer“, log er. „Wir müssen Schluss machen. Dein Vater will ja auch noch mit meinem Vater reden. War schön, dich zu sehen“, log er ein weiteres Mal, winkte Camelia zu und brachte das Handy ohne einen weiteren Blick auf das Display zu seinem Vater ins Wohnzimmer.

Zurück in seinem Zimmer warf sich Cosmin auf das Sofa und stöhnte leise. Das Lösen der Matheaufgaben konnte er für den Moment vergessen. Vielmehr marterte er sich das Hirn, wie er sich aus der Sache mit Camelia herauswinden konnte. Gab es in diesem Porumbita keinen Kerl, mit dem sie Onkel Radu zum Großvater machen konnte? Hatte Alin aufgegeben?
Er fischte das Handy aus der Hosentasche seiner Jogginghose, öffnete den Chat mit Max auf WhatsApp und tippte.
„Schläfst du schon?“
Beinahe promt erschien Max’ Antwort:
„Wollte gerade anfangen von jemanden zu träumen.“
Für einen Augenblick glätteten sich die Sorgenfalten auf Cosmins Stirn, ein Lächeln kräuselte seine Lippen. „Ich musste gerade mit meinem Onkel und seiner Tochter chatten. Sie wollen in den Winterferien herkommen und ich weiß nicht, wie ich sie loswerde.“
Eine Weile passierte nichts. Dann erschien der Hinweis „Maxi schreibt…“ und endlich poppte Max’ Antwort auf: „Warum sagst du nicht einfach, die soll sich einen Kerl in ihrem Dorf suchen?“
Cosmin seufzte. Weil ich… dazu zu feige bin?
„Maxi, dieser Radu ist sowas wie der König dort. Ich trau mich nicht.“
Wieder dauerte es eine Minute, ehe Max antwortete.
„Ich hab dann meine eigene Wohnung in Berlin und ich versteck dich dort“, schrieb er und fügte ein grinsendes Smiley an.
Cosmin antwortete mit demselben Smiley und begann Tage zu zählen.

Noch fünf Tage, bis wir zusammen in Berlin sind.

Und für drei Tage würde er die Sorgen mit einem Möchtegern- Schwiegervater und einer ungebetenen Braut vergessen können. Dass er diese Tage mit ganz anderen Sorgen verbringen würde, konnte Cosmin an diesem Abend noch nicht einmal erahnen.

Am Donnerstag erwischten beide Jungen in letzter Minute einen Zug, der kurz nach 15 Uhr bis zum Berliner Hauptbahnhof fuhr. Für Cosmin war es die erste Reise überhaupt, die er ohne Eltern unternahm. Er besaß nicht mal einen geeigneten Rucksack und so hatte er sich Max’ Kletterrucksack ausgeliehen und einige Sachen zum Wechseln, Handtücher, einen Schlafanzug und ein Buch hineingestopft.
Trotz des bevorstehenden verlängerten Wochenendes waren nur wenige Reisende in den Zug gestiegen und so saßen sich Max und Cosmin auf Zweierbänken mit einem Tischchen in der Mitte gegenüber.
Cosmin beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Max den Reiseproviant inspizierte, den seine Großmutter für sie beide in einem Beutel verstaut hatte. Er sah in seiner Erinnerung Max am Beginn des ersten Schultages den Klassenraum betreten. Max’ Anblick hatte ihm schon damals den Atem stocken lassen. Aber er war in jenem Moment sicher gewesen, dass Max ihn nicht einmal bemerken würde.

Und jetzt verreisen wir gemeinsam für drei Tage nach Berlin.

Max reichte Cosmin ein mit Hähnchenfleisch, Salat und gebackenem Käse gefülltes Baguette. Cosmin schluckte das Wasser hinunter, das ihm beim Duft des Baguettes im Mund zusammen gelaufen war und nahm sich vor, Oma Lisa um das Rezept dafür zu bitten.
Während sie sich das Baguette schmecken ließen und der Zug in Richtung Berlin ratterte, eilten Cosmins Gedanken dem Zug voraus und erreichten das gebuchte Zimmer des Hostels. Sein Herzschlag ratterte beinahe genauso laut wie der Zug auf den Schienen.

Wir werden drei Nächte in einem Bett schlafen.

Würde es zum Sex kommen? Und wenn ja, würde er sich für einen oder gar für beide als Enttäuschung entpuppen? Max hatte immerhin schon Erfahrungen mit Frauen. Könnte an einer Enttäuschung die Freundschaft zerbrechen?

Ich habe immer noch Schiss davor, dass es danach nicht mehr so ist wie jetzt.

Cosmin beschloss, seine Sorge mit Max zu teilen.
Nach dem der letzte Bissen im Bauch gelandet war, blickte er sich kurz um. Er sah keinen unerwünschten Lauscher. Also beugte er sich zu Max vor und räusperte sich.
„Maxi?“, flüsterte er.
„Dir gegenüber.“
Cosmin räusperte sich abermals.

Wie kleidete man diese Sorge in Worte?

„Wenn wir in der Nacht… äh… also im Bett sind…“
Weiter kam Cosmin nicht. Max runzelte zunächst die Stirn, dann lachte er auf. Er griff nach Cosmins Nacken, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und zischte dann in Cosmins Ohr. „Schon vergessen, Cos-Mi? Du hast deine Tage, okay? Wir fahren nach Berlin, weil ich dir die Stadt zeigen will und nicht meinen Pimmel.“
Max lehnte sich in seinem Sitz zurück und Cosmin spürte, dass sich zumindest vorläufig dieses Thema für Max erledigt hatte.

Max

Was freilich keineswegs der Fall war.
Max schloss zwar die Augen, aber anders als bei seiner letzten Zugfahrt war an Schlaf nicht zu denken. Sein Herz ratterte schneller als die Räder des Zuges auf den Schienen. Er konnte Cosmins Angst regelrecht mit den Händen greifen, auch wenn er sie nicht verstand. Ihm war nicht entgangen, wie heftig der Bengel in Cosmins Hose auf Küsse oder zärtliche Berührungen reagierte. Max hielt es für unwahrscheinlich, dass sie am Wochenende Sex haben würden.

Irgendwie sind wir beide viel zu verklemmt.

Allerdings hatte er vorab gegoogelt, wie der Sex zwischen Männern funktionierte. Die wohl wichtigste Vorkehrung konnten sie sich sparen. Sie waren beide mehr oder weniger jungfräulich und brauchten sich wegen Aids oder irgendwelcher Geschlechtskrankheiten keine Sorgen machen. Und für den unwahrscheinlichen Fall hatte er ein Fläschchen Badeöl aus dem Badschrank seiner Großmutter mitgehen lassen.
Max tat so, als schliefe er und genoss es, wie sich ihre Knie berührten oder sich die Füße auf dem Boden aneinander rieben. Unter seinen halb geschlossenen Lidern sah er, dass ihn Cosmin aus glühenden Augen anstarrte.

Fast so, als wäre Cos-Mi das Raubtier und ich seine Beute.

Doch nach einigen Minuten erlosch das Glühen in Cosmins Augen, und schließlich schlossen sie sich. Nun war es Max, der mit den Augen die schlanke Gestalt ihm gegenüber verschlang.

Gucke ich jetzt wie das Raubtier und Cos-Mi ist meine Beute?

Zunächst unmerklich, doch bald schon unübersehbar verbeulte sich die Jeans, wo sie Cosmins Schoß bedeckte.
Max hätte zu gern gewusst, welcher Film in Cosmins Kopf gerade lief.

„Ihre Fahrscheine bitte!“, tönte es vom anderen Ende des Waggons.
Max löste behutsam sein Bein aus der Umklammerung durch Cosmins Beine, griff nach der eigenen Jacke und bedeckte damit Cosmins Schoß.
Der Schaffner trat an die Sitzplätze der Jungen heran. Während er den Fahrschein scannte, den Max ihm hinhielt, schlug Cosmin die Augen auf und starrte verwirrt auf die Jacke auf seinem Schoß. Er hob sie an und ließ sie sofort wieder fallen.
„Ich dachte, es muss nicht jeder wissen, wovon du gerade träumst“, zischte Max ihm zu, nachdem sich der Schaffner den Mitreisenden auf den Nachbarplätzen zugewandt hatte.
„Sehr aufmerksam von dir. Und wovon habe ich gerade geträumt?“, zischte Cosmin zurück. Max zuckte mit der Schulter. „Ich nehme an, du hast mal wieder Matheaufgaben gelöst.“