Bleib bei mir
Vorbemerkung
Die Handlung
Der siebzehnjährige Max aus Berlin bezwingt dank des langjährigen Trainings mit seinem Onkel Leon nicht nur extrem schwierige Kletterrouten sondern auch die meisten Kampfsportler, mit denen er im Ring aufeinander trifft. Fast scheint es, als gäbe es nichts, wovor Max davon laufen würde.
Doch dann erfährt er, dass sein Vater wieder heiraten wird. Die künftige Stiefmutter ist dieselbe Frau, der Max eine Mitschuld am Unfalltod seiner Mutter gibt. Zudem möchte der Vater, dass Max auch den Sohn dieser Frau kennenlernt. Um dem verhassten Stiefbruder nicht zu begegnen, ergreift Max kurz vor dem Ende der Sommerferien die Flucht und findet bei seiner Großmutter Lisa in Dessau ein neues Zuhause. Dass er nun das zwölfte Schuljahr und die Abiturprüfungen an einer anderen Schule und in einer fremden Stadt schaffen muss, ist für ihn das kleinere Übel.
In seiner neuen Klasse begegnet er Cosmin, einem Jungen, der aus für Max völlig unbegreiflichen Gründen auch auf dem letzten Porträt seiner Mutter abgebildet ist. Sehr schnell bemerkt Max, dass Cosmin zwar in allen Fächern mit Bestnoten glänzt, aber von einigen Mitschülern wegen seines Aussehens als Zigeuner gehänselt wird und er für sie auch die Hausaufgaben erledigen muss.
Zwischen Max und Cosmin entwickelt sich eine Freundschaft, bei der bald schon Gefühle mitmischen, die Freunde normalerweise füreinander nicht empfinden.
Eines Tages erfährt Max, dass der geliebte Freund zugleich der verhasste Stiefbruder ist.
Wird daran die Liebe zerbrechen?
Hochladen der Kapitel
Ich stelle zunächst sechs Kapitel online. In ihnen erfahrt ihr sozusagen die Vorgeschichte.
Anschließend versuche ich, in jeder Woche mindestens drei weitere Kapitel hochzuladen. Vor dem Hochladen möchte ich sie selber noch einmal lesen und gegebenenfalls Fehler korrigieren, obwohl ich die Geschichte bereits zweimal vom Prolog bis zum Ende gelesen habe.
Bitte beachtet, dass diese Geschichte nur von mir an anderer Stelle gepostet werden darf.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen.
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Prolog
„Wie soll ich dich nennen, wenn ich mit dir fertig bin? Kleiner Zigeuner? Zigeunerjunge? Romajunge oder einfach nur Junge mit Tränen in den Augen?“
Die knapp vierzigjährige Frau betrachtete kritisch die Bleistiftskizze auf ihrem Arbeitstisch und zog dann das Notebook zu sich heran. Vom Bildschirm des Notebooks erwiderte das Gesicht eines dreizehn - oder vierzehnjährigen, braunhäutigen Jungen ihren Blick. Sie studierte die winzigen Tränen, die sich in den Augenwinkeln versteckten und versuchte die Gefühle des Jungen im Moment der Aufnahme zu analysieren. Traurigkeit und Trauer, aber sie bemerkte auch Trotz und… Zorn? Hinter der Frau klappte leise die Tür.
„Mam, ich bin zurück!“
Die Frau fuhr herum und sprang vom Stuhl auf. „Mein Gott Maxi, was ist denn mit dir passiert?!“ Die Wange unter dem rechten Auge ihres Sohnes war geschwollen und grünblau gefärbt.
„Nichts weiter, ich habe nicht aufgepasst und mein Bruder Leon hat seine Chance genutzt.“
„Maxi! Leon ist nicht dein Bruder, er ist dein Onkel! Ich will nicht, dass er mit dir so…“ „Mam! Wir trainieren nur. Außerdem habe ich ihm mit meinem Fuß einen Kinnhaken verpasst!“
„Einen Kinnhaken? Mit dem Fuß?“
„Klar, so hier!“
Blitzschnell schoss Max’ rechter Fuß nach oben, bis er über seinem Kopf landete. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich dabei mit dem Knie nicht selber einen Nasenstüber verpasste oder auf dem Hosenboden landete.
„Trotzdem will ich nicht…“
„Mam!“ Max stampfte mit dem Fuß auf, der sich eben noch über seinem Kopf befunden hatte. „Ich werde in zwei Wochen keinen Cup gewinnen, wenn wir uns beim Training nur streicheln“
Max’ Mutter betastete vorsichtig die Schwellung, doch plötzlich tauchte Max unter ihrer Hand ab und huschte zum Arbeitstisch.
„Wer ist das?“, fragte er. Er wischte mit der Hand den Vorhang aus strohblonden Haaren aus dem Gesicht und deutete auf das Notebook.
„Ich weiß es nicht. Eine Bekannte hat mir das Foto gezeigt und ich wusste sofort, dass ich diesen Jungen porträtieren möchte. Sie will nur einen meiner Entwürfe.“
Max beugte sich über das Notebook und studierte das Gesicht des fremden Jungen. „Er ist ungefähr so alt wie ich. Warum guckt er so traurig?“
Max’ Mutter seufzte. „Seine Mutter hat ihn und ihren Mann verlassen. Mehr wollte mir die Bekannte nicht verraten.“
Max wandte sich zu seiner Mutter um und seine strahlend blauen Augen schienen sich für einen Moment einzutrüben.
„Ich würde auch so gucken wie der Junge da, wenn du mich verlässt.“
„Was redest du da, Schatz!“ Sie strich Max’ langes Haare zur Schulter und umfasste zärtlich sein hübsches Gesicht. „Ich könnte dich nie verlassen. Du würdest mir schon nach einer Sekunde fehlen.“
Max wand sich aus ihrem Griff und nickte zu einer Wand, die mit dutzenden Gemälden seiner Mutter dekoriert waren. Einige davon zeigten ihn als Baby, Vorschulkind oder als Grundschüler, auf anderen Gemälden hatte seine Mutter fremde Menschen jeden Alters porträtiert.
„Wirst du von ihm ein Gemälde malen?“
„Ich schätze schon, so ein Motiv bekomme ich nicht alle Tage.“
„Dann möchte ich, dass du von ihm auch ein Gemälde malst, auf dem er… sich über irgendwas freut.“
"Maxi, das ist schwierig. Ich würde Wochen nur für Entwürfe benötigen und… "
„Mam, bitte.“
„Na gut. Aber nur, wenn du mir eine wirklich schöne Geschichte davon erzählst, worüber er sich freut.“
Es dauerte fast zwei Wochen und tausende Pinselstriche, ehe sie mit dem Gesicht des Jungen auf dem in der Staffelei eingespannten, noch unfertigen Gemälde endlich zufrieden war. Mehrere ihrer vorherigen Versuche waren im Abfalleimer gelandet. Mal hatte sie den unterschwelligen Zorn des Jungen nicht aufs Papier bringen können, ein anderes Mal fehlte das Glühen in den schwarzen Augen oder der Trotz auf den geschwungenen Lippen. Max hatte sich dabei als penibler Kritiker erwiesen, aber im Gegenzug hatte sie auch keine seiner Geschichten akzeptiert. Gerade als sie an der zotteligen, schwarzen Mähne des Jungen arbeiten wollte, klappte die Tür und Max trat ins Zimmer.
„Max…!“, rief sie fassungslos und legte den Pinsel beiseite. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?!“
Das schulterlange, weiche Haar war verschwunden; nun bedeckten Stoppeln, kaum länger als ein Daumennagel, seinen Scheitel und die Seiten waren kahl rasiert. Zudem zierte eine Beule von der Größe einer Pflaume seine Stirn, die er sich bei einem Kampfsport- Pokalturnier am Wochenende zugezogen hatte und die sich nun nicht mehr unter den Haaren verstecken ließ.
„Mam, ich habe im Finale verloren, weil mir der Schwachkopf in die Haare greifen konnte“, erklärte Max und schritt zur Staffelei mit dem unfertigen Gemälde.
Seine Mutter versuchte unterdessen, irgendwie mit seiner neuen Frisur klarzukommen. „Hey, das sieht ja toll aus!“, jubelte Max. „Weißt du was? Ich habe mir heute eine neue Geschichte ausgedacht.“
„Und? Was willst du ihm denn dieses Mal schenken, damit er sich darüber freut? Eine Playstation hatten wir, glaube ich, noch nicht.“
„Der Junge hat jetzt einen Freund.“
„Ach… und wer ist dieser Freund?“
„Ich! Ich mag ihn. Ich wünschte, er wäre in meiner Klasse. Wir würden zusammen an einer Schulbank sitzen, zusammen Hausaufgaben machen, zusammen trainieren und so was.“
„Oh Maxi!“ Sie drückte ihren Sohn an sich und strich über die Stoppeln auf seinem Kopf. „Die Geschichte ist zwar sehr kurz, aber wunderschön. Ich werde es versuchen, aber du musst mir eins versprechen…“
„Was?“
„Lass wieder deine Haare wachsen.“
„Nö!“ -
Max – drei Jahre später
„Welli, hast du schon eine Idee, was ihr in den Ferien treiben werdet?“, lallte Max’ Kumpel Oskar, ein vierschrötiger Kerl mit ausrasiertem Stiernacken. In der Schule teilte sich Max mit ihm die Schulbank; zudem trainierte Oskar seit zwei Jahren im selben Budokeller wie Max, einem Martial Arts Kampfsportclub am westlichen Stadtrand Berlins. Allerdings musste Oskar dort meistens die Rolle des Sparringpartners spielen.
Max grinste und zog Caroline noch etwas enger an sich.
Das werde ich dir ganz bestimmt auf die Nase binden, Oski!
In diesem Jahr fiel der 1. Mai auf einen Donnerstag und Oskars Eltern nutzten das lange Wochenende für einen Kurzurlaub irgendwo an der polnischen Ostseeküste; Oskar hingegen nutzte die sturmfreie Bude, um mit den Kumpels aus der Klasse bei einem Umtrunk in den Mai und in die bevorstehenden Frühjahrsferien hinein zu feiern.
Zusammen mit Caroline hatte es sich Max neben Oskar auf der Couch des Wohnzimmers bequem gemacht. Auf den Sesseln rings um den mit Bier- und Weinflaschen beladenen Wohnzimmertisch lümmelten sich Nicholas, Charles und Murat. Zudem hatte Charles ein vollbusiges Mädchen auf seinem Schoß sitzen, das sich wie ein zu groß geratenes Kätzchen an ihn schmiegte.
„Nächste Woche ist mein Onkel in Berlin. Ich schätze, wir werden uns im Ring gegenseitig die Ärsche versohlen und gucken, ob’s ein paar neue Kletterwege im Magic Mountain gibt“, sagte Max und bemerkte, dass sich Caroline in seiner Umarmung versteifte. „Und ich werde viel mit Caro 'rum hängen natürlich“, ergänzte er rasch und glitt mit den Fingern unter einen Träger ihres ärmellosen T-Shirts. Ein nervöses Lächeln huschte über Carolins hübsches Gesicht.
Vielleicht ist sie bloß etwas verspannt, weil wir heute Nacht zum ersten Mal…
„Ich werde die Woche mit Paula im Bett verbringen, nicht wahr Paulinchen?“, platzte Charles lauthals in Max’ Gedanken an die bevorstehende Nacht.
Das Paulinchen verzog ihre kirschrot geschminkten Lippen zu einem frivolen Lächeln und hauchte Charles einen Kuss auf das mit einem Stoppelbart überzogene Kinn. Oskar und Murat fanden das offenbar witzig, während sich Nicholas’ Lachen ziemlich gezwungen anhörte, vielleicht weil ihm die eigene Freundin vor ein paar Tagen davon gelaufen war. Und das, obwohl er sich tagtäglich herausputzte wie ein Pfau und sein gestyltes Haar von all der Pomade glänzte.
Charles’ Protzerei nervte Max, er verdrehte nur die Augen. Und er fand, dass der Kerl mal wieder einen Tritt in den Hintern brauchte!
Bevor Max vor nunmehr fast drei Jahren in seine neue Klasse gekommen war, hatte sich Charles dort als Klassenboss aufgespielt. Charles war nicht nur zwei Jahre älter als viele seiner Klassenkollegen, er hatte auch die Statur eines Profiboxers, sah aus als wäre er einer Reklame für Fitnessdrinks entstiegen und redete meistens mit französischem Akzent; sein Vater war ein aus Frankreich stammender Algerier. Und so wie Max es hasste, wenn ihn ein gleichaltriger Junge „Maxi“ nannte, hasste Charles es, wenn jemand „Charly“ zu ihm sagte.
„Charly“, seufzte Max und zauberte so etwas wie Mitleid in sein Gesicht. „Die ganze Zeit im Bett bleiben? Kein Wunder, dass deine Muckis nicht halten, was sie mit ihren Beulen versprechen.“
Charles’ überhebliches Grinsen vereiste zu einer Grimasse. Das Kichern der anderen verstummte. Das Mädchen auf Charles’ Schoß schien auf eine schlagkräftige Reaktion ihres Helden zu warten.
Auch Max wartete. Sein Blick richtete sich wie eine Speerspitze auf Charles und seine Gedanken kehrten zurück zur ersten Schulwoche in der neuen Klasse. Schon am zweiten oder dritten Schultag hatte Charles mit Murats Hilfe versucht, ihm eine Lektion zu erteilen und klarzustellen, wer in der Klasse das Sagen hat. Max hatte keine fünf Sekunden benötigt, Charles am Boden fest zu nageln und ihn so vor den Augen der Klasse zu entthronen.
Vielleicht erinnerte sich auch Charles an seine schmachvolle Entthronung vor knapp drei Jahren. Er zuckte mit der Schulter und verbog seine Lippen zu einem Grinsen, was ihm jedoch nicht so richtig zu gelingen schien. „Paulinchen im Bett zu haben ist Krafttraining vom Feinsten, Max.“
Max lag eine weitere Spitze auf der Zunge, doch er schluckte sie hinunter. Es genügte ihm, dass Charles es nicht gewagt hatte, ihn „Maxi“ zu nennen. Jeder in der Klasse wusste, dass er ausrastete, wenn ihn einer der Jungen so nannte und dass jeder eine Backpfeife riskierte, der es trotzdem wagte. Zudem steckte ihm das nachmittägliche Krafttraining in den Knochen. Es war langsam Zeit, mit Caroline aufzubrechen. Er hatte noch einiges vor heute Abend und er konnte es kaum erwarten, damit zu beginnen. Offenbar ging es Caroline genauso. Sie deutete auf die Zeitanzeige ihres Handys. „Maxi, es ist schon ziemlich spät.“
Max nickte und schenkte Charles ein Lächeln. „Dann viel Spaß beim Krafttraining, Charly. Bin echt gespannt auf die erste Sportstunde nach den Ferien. Oski…“, er wandte sich zu Oskar um. „Caro und ich verduften.“
Er zog Caroline auf die Beine. Nicholas erhob sich ebenfalls und schwankte leicht. „Teilen wir uns das Taxi rein, Welli?“
Nicholas wohnte in der selben Straße wie Max. Aber Max vermutete, dass Nicholas auch besorgt war, Charles könne seinen Ärger an ihm auslassen. Immerhin war Nicholas einer von Max’ besten Kumpels. „Klar, die Kohle für’s Taxi geht dann durch drei.“
Das Haus der Familie Weller befand sich im Berliner Bezirk Schöneberg an einer Chaussee, die von einer Aneinanderreihung drei- und viergeschossiger Wohn- und Geschäftshäuser gesäumt wurde. Der Familie gehörten zwei nebeneinander liegende Häuser. Eines beherbergte im Erdgeschoss das Büro der Firma für Projektentwicklung und Immobilienmanagement von Max’ Vater und dessen Bruder Leon sowie die Wohnung der Wellers in den drei oberen Etagen. Zudem war dieses Haus eines der wenigen in diesem Straßenzug, das über eine Toreinfahrt zum Hinterhof mit einem kleinen Garten und privaten Parkplätzen verfügte. Das Erdgeschoss des anderen Hauses wurde von einer Fastfoodkette genutzt und die darüber liegenden Wohnungen waren allesamt vermietet.
Max’ Großeltern, die Eltern seines Vaters und seines Onkels Leon, hatten diese und weitere Häuser ebenso wie die Firma ihren Söhnen hinterlassen, bevor sie nach Costa Rica ausgewandert waren.
Als Max zusammen mit Caroline die Wohnung betrat, erlebte er die erste böse Überraschung. Im Flur roch es nach teurem Parfüm. An einem der Haken hing eine Damenjacke, der dieser Duft entströmte. Max verzog angewidert das Gesicht, während Caroline das Blouson betastete, als wäre es zerbrechlich.
„Wem gehört das? Der Freundin von deinem Vater?“, fragte sie und nutzte den benachbarten Kleiderhaken, um daran die eigene Jacke aufzuhängen.
„Die Tussi dürfte gar nicht hier sein. Sie kommt nur zu meinem Alten, wenn ich nicht da bin“, wetterte Max und öffnete die Wohnzimmertür. Sein Vater, ein attraktiver vierzigjähriger Mann, saß mit einer jungen Frau auf der Couch. Auf dem Wohnzimmertisch stand eine Flasche Champagner. Die Frau stellte ihr Glas auf dem Tisch ab. Sie sah wie fünfundzwanzig aus und es schien Max, als würde sie einfach nicht älter werden, seit dem sie vor drei Jahren - nur wenige Wochen nach dem Unfalltod seiner Mutter- ungebeten in sein Leben hinein geplatzt war. So ungern es sich Max eingestand, diese Person sah nicht nur gut aus, sie würde vermutlich jeden Schönheitswettbewerb gewinnen. Löckchen kräuselten ihr pechschwarzes Haar und rahmten ein gebräuntes Gesicht ein, das selbst im Winter seine Farbe behielt. Vermutlich lag das daran, dass irgend einer ihrer Vorfahren aus Afrika stammte.
„Guten Abend Maximilian“, begrüßte sie ihn und nickte Caroline einen Gruß zu. Sein Vater hingegen blickte erst Max und dann Caroline mit gerunzelter Stirn an.
Caroline blieb hinter Max an der Tür stehen und gab ein schüchternes „Guten Abend“ von sich.
Max ignorierte den Gruß der Frau.
„Vater, was will die hier?“, blaffte er seinen Vater an.
„Guten Abend Caroline, guten Abend Maximilian“, erwiderte Max’ Vater steif und deute auf die junge Frau neben ihm. „Vielleicht solltest du wenigstens dann Manieren zeigen, wenn deine Freundin dabei ist. Außerdem hat die ‚die‘ auch einen Namen und heißt Frau Zimmermann.“
Die Frau tätschelte Herrn Wellers Arm. „Schon gut Alex. Ich kann Maximilians Verhalten verstehen. Außerdem ist mein Sohn mindestens genauso stur.“
Max schnaubte und wandte sich zu Caroline um. „Komm, wir verziehen uns in mein…“
„Einen Moment Maximilian!“, schnitt ihm sein Vater das Wort ab. „Caroline, ich möchte kurz mit meinem Sohn reden.“
Caroline nickte und huschte zur Treppe, die zu den Schlaf- und Gästezimmern hinauf führte.
„Wieso muss Caro verschwinden und die darf hier sitzen bleiben, wenn du mit mir reden willst?“, maulte Max und ließ sich in einen Sessel fallen.
„Ganz einfach, Maximilian. Weil das, was ich dir sagen will, auch Frau Zimmermann betrifft.“
„Bianca. Lass das mit Frau Zimmermann, Alex“, sagte die Frau und umklammerte Herrn Wellers Arm, als müsse sie sich an ihm festhalten.
Max’ Vater hingegen schien sich an seinem Sektglas festzuhalten. Er hob den Blick und sah Max fest in die Augen. „Nun gut. Maximilian, Bianca und ich, wir werden im Juli heiraten.“
„Nein!“ Max fuhr vom Sessel auf.
„Bleib sitzen!“, herrschte ihn sein Vater an. „Ich bin noch nicht fertig!“
Max sank kraftlos in den Sessel zurück. Seine Gedanken kehrten an den schrecklichen Tag vor drei Jahren zurück, an dem seine Mutter vom Seitensprung ihres Mannes erfahren hatte. Sie hatte überstürzt ihre Siebensachen zusammen gepackt, um ihn zu verlassen. Doch auf der Fahrt zu ihren Eltern nach Dessau krachte sie mit dem Auto in einen Baum. Und jetzt holte Max’ Vater die Frau ins Haus, wegen der seine Mutter in den Tod gerast war?
„Wir werden keine Hochzeitsfeier ausrichten, du kannst dir also deine Absage sparen. Wir heiraten auf einer Kreuzfahrt.“
„Vater!“ Max Hände krallten sich in die Sessellehne. „Wenn du die ins Haus holst, haue ich ab! Außerdem, die ist bestimmt fünfzehn Jahre jünger als du. Oh Mann, sie könnte deine Tochter sein.“
„Ich bin dreiundreißig, Maximilian. Im übrigen ist mein Sohn ungefähr in deinem Alter. Ich werde mir Mühe geben und hoffe…“
Für einen Moment war Max zu perplex, als dass er ihren Worten hätte folgen können. Die Frau war jünger gewesen als er, als ihr Sohn geboren wurde!
„Sag bloß, ihr Sohn soll auch hier einziehen?“, wandte er sich an seinen Vater.
„Er lebt bei seinem Vater in Wurzen, das ist eine Kleinstadt bei Leipzig“, antwortete die Frau an Stelle seines Vaters. „Vielleicht…“
„Bianca, das besprechen wir mit Maximilian nach unserer Hochzeit“, sagte Max’ Vater und tätschelte ihre Hand, die immer noch seinen Arm umklammerte.
Max erhob sich und ballte die Fäuste. „Ich würde diesem Sohn raten, sich niemals hier blicken zu lassen“, presste er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte er aus dem Wohnzimmer.
„Und? Was wollte dein Vater?“, fragte Caroline, nach dem sich Max in seinem Zimmer zu ihr auf die Schlafcouch gesetzt hatte.
„Ich schätze, ich werde mir bald 'ne andere Bleibe suchen müssen“, sagte Max, legte einen Arm um Carolines Schulter und zog sie zu sich heran.
„Wie meinst du das?“ Sie fuhr mit ihren Fingern durch sein weiches, schulterlanges Haar und kämmte ein paar der blonden Strähnen aus seinem Gesicht.
Statt einer Antwort ließ Max den Blick durch sein geräumiges Zimmer schweifen. Es war Schlafraum, Büro und Fitnesscenter in einem. In der Mitte des Zimmers hingen mehrere Boxsäcke von der Decke, eine Wand und ein Stück der angrenzenden Decke war mit Klettergriffen übersät, der Fußboden darunter mit Matten ausgepolstert. Eine Kraftstation und ein Laufband flankierten den Schreibtisch. Neben der Couch wartete ein Bücherregal auf Bücher.
Ich würde mein Zimmer vermissen!
„Maxi?“
„Mein Alter will diese Tussi heiraten. Wenn die hier einzieht, bin ich weg!“
„Aber wohin?“, fragte Caroline erschrocken.
„Vielleicht zu Leon. Ich hab dort auch ein Zimmer, aber das ist nicht so toll wie dieses hier. Komm, lass uns von was anderem quatschen“, sagte Max und fuhr mit den Fingern zunächst über Carolines gerötete Wangen und spielte danach mit ihren blonden Locken. Anders als Charles vollbusiges Püppchen war Caroline gertenschlank und ihre festen Brüste füllten gerade mal Max’ Hände aus. Er zog Carolines Gesicht zu sich heran, erst fanden ihre Lippen, dann auch ihre Zungen zueinander.
Max’ Hand glitt unter ihr Shirt, strich über die weiche Haut ihres flachen Bauches und tastete sich hinauf zu ihrem Busen.
In seinem Schoß regte sich der kleine Max, wurde immer dicker und länger.
„Maxi?“, keuchte Caroline und versuchte, seinen Lippen zu entkommen.
„Was?“
„Liebst du mich?“
„Caro, wie oft soll ich dir das noch zwitschern, klar lieb’ ich dich, seit … über achtzehn Monaten, okay?“, erwiderte Max, hob ihre Beine aufs Bett und zog sie in seine Arme.
Sie stöhnte leise, als Max mit der Zunge in ihren Mund stieß. Seiner Hand war es endlich gelungen, den nervigen Verschluss des Büstenhalter zu lösen. Doch statt sich nun mit den Brüsten zu befassen, glitt sie wieder zurück über die heiße Haut ihres Bauches und tastete sich zum Hosenbund voran.
Carolines Hände streichelten seinen Rücken. Am liebsten hätte er sich ihre Rechte gekrallt, um sie dorthin zu führen, wo er sie im Moment am dringendsten brauchte.
Sein Herz schien sich in der Brust aufzubäumen.
Endlich würde er erfahren, wie es sich anfühlte, mit einer Frau zu schlafen. Wie hatte ihm Leon die Sache erklärt? Wer das mit sechzehn nicht geschafft hat, aus dem würde nie ein echter Kerl werden. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Schon in vier Wochen würde er siebzehn werden!
Max’ Hand tastete sich etwas weiter voran.
Doch plötzlich gesellte sich eine weitere Hand hinzu und stoppte Max’ Hand.
„Maxi… nicht.“
Max fühlte sich, als hätte sie ihm Eiswasser ins Gesicht gekippt. „Wieso nicht?“, krächzte er. „Du hast immer gesagt, ich soll damit warten, bis du sechzehn bist. Seit einer Woche bist du sechzehn, schon vergessen? Soll ich jetzt warten, bis du siebzehn bist, oder siebzig?“
Caroline seufzte und schloss ihre halb geöffnete Hose. „Ich will nur sicher sein, dass du mich liebst und… Maxi, vielleicht im Sommer, oder im Herbst…“
„… oder im Winter?“
Caroline wischte sich eine Träne aus den Augen. „Ich kann heute nicht, Maxi.“
Max setzte sich auf und tätschelte ihre Schulter. „Vergiss es. Vielleicht hätte ich ja auch nicht gekonnt heute. Hau’n wir uns aufs Ohr. Ich bin müde.“
Anders als Caroline lag Max später noch längere Zeit wach und grübelte über das misslungene erste Mal nach.
Liebe ich sie wirklich?
Caroline war zweifellos eines der hübschesten, nein – das hübscheste Mädchen an seiner Schule, und nicht wenige Jungen beneideten ihn um dieses Mädel. Aber er würde gewiss nicht bis zum Herbst warten, zumal ihm auf Anhieb zwanzig oder mehr Mädchen einfielen, die bestimmt ohne Zögern zu ihm ins Bett steigen würden. Allerdings ergab sich dann das Problem, diese Bettgenossin wieder loszuwerden.
Max sah, dass Caroline neben ihm schlief, als wäre alles in bester Ordnung. Er angelte sein Handy vom Nachtschränkchen und fand dort eine Nachricht seines Onkels Leon.
„Na Champ, hat es geklappt?“
Er überlegte kurz und tippte dann seine Antwort: „Nö, durfte nicht ran. Aus mir wird wohl doch kein echter Kerl.“
- Max wird doch noch ein echter Kerl
Max
Als Max am nächsten Morgen erwachte, vermochte er nicht zu sagen, wie oft er in seinen wirren Träumen versucht hatte, Caroline ihrer Jungfräulichkeit zu berauben und selber zum echten Kerl zu werden. Doch egal wie er es anstellte, das Tor zum Liebeshimmel blieb ihm verschlossen.
Caroline schlief noch, ihre nackte Schulter lugte unter der Bettdecke hervor. Max rechte Hand ging auf Wanderschaft und erreichte ihren Slip. Doch noch ehe er mit den Fingern hinein schlüpfen konnte, fuhr Carolines Hand wieder einmal dazwischen.
„Maxi, nicht…“, ertönte ihre verschlafene Stimme und sie wälzte sich zu ihm herum.
„Wieso nicht?“, fragte Max und zog genervt seine Hand zurück. Wie eine Sturzflut schlugen Enttäuschung und Frust über ihm zusammen.
Stelle ich mich einfach nur zu blöde an? Muss ich mir vielleicht doch von Leon erklären lassen, wie man ein Mädel 'rum kriegt?
„Wieso nicht?“, wiederholte er seine Frage.
„Hab ich dir doch gesagt.“
„Nö, hast du nicht!“
„Erst wenn ich sicher bin, dass wir zusammen bleiben.“
Max schnaubte verärgert. „Bisher hieß es immer, erst wenn du sechzehn bist. Was soll denn das jetzt bedeuten? Muss ich dich zuerst heiraten, bevor ich meinen Pimmel bei dir reinstecken darf?“
"Maxi, ich… "
Max sprang aus dem Bett. Es war ihm egal, dass er dabei seine Erektion zur Schau stellte. Leon hatte ihm kurz und bündig auf seine letzte WhatsApp- Nachricht geantwortet.
„Such dir endlich eine, bei der du ran darfst!“
Genau das werde ich machen!
Viel zu lange hatte er sich damit zufrieden gegeben, dass zwar das hübscheste Mädchen der Schule zu ihm gehörte, er aber nicht wie andere Jungen seiner Klasse beim Thema Nummer Eins so richtig mitreden konnte.
„Vielleicht solltest du dir einen Kerl suchen, der nur Händchen halten will“, fauchte er und ohne auf ihre Antwort zu achten, begann er mit seinen morgendlichen Fitnessübungen. Inzwischen stand für ihn fest, dass an diesem Tag ihre Beziehung enden würde.
Die Beziehung endete wenig später am Frühstückstisch in der Küche. Sein Vater hatte ihm dort eine Nachricht hinterlassen, dass er das Wochenende mit dieser Frau Zimmermann in der Sächsischen Schweiz verbringen würde und der Nachricht zwei Hundert Euro Scheine für Essen und Getränke hinzugefügt.
Während Max zwei Becher mit Cappuccino aus dem Automaten befüllte, hielt ihm Caroline einen Vortrag darüber, warum sie erst ein paar Jahre oder auch Jahrzehnte zusammen sein müssten, bevor sie miteinander ins Bett steigen konnten.
Max stellte ihr den dampfende Becher vor die Nase und fragte sich, wie ein Mädchen im Berlin des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu solch kruden Ansichten kommen konnte. Ihre Eltern gehörten keiner Sekte an, waren - soweit Max wusste - nicht besonders religiös und betrieben einen eigenen Edeka- Supermarkt.
„Okay Caro, wir machen es so…“, beendete er abrupt er ihre Moralpredigt. „… du bist meine Freundin für’s Händchen halten und für die Küsschen, natürlich nicht auf den Mund, so was gehört sich nicht. Und für meinen Pimmel suche ich mir ein Paulinchen wie die von Charly, damit ich nicht immer die Hand nehmen muss.“
Für ein paar Augenblicke schien Caroline nach Luft zu schnappen. Dann starrte sie Max an, als hätte er einen Popel an der Nase und wischte sich Tränen von der Wange, die ihr nun aus den Augen kullerten. „Das ist widerlich, Maximilian. Ich dachte, du bist anders als solche Kerle wie dieser Charly oder deine Kumpel Nicholas und Oskar. Wenn du nichts weiter willst als Sex, dann frag doch Paulinchen. Vielleicht ist die mit ihrem Charles noch nicht ausgelastet.“
Max nickte. „Ich werde Charly um ihre Nummer bitten.“
„Du bist so ein Idiot, Max!“, rief sie, sprang vom Tisch auf und stürzte aus der Küche.
Vielleicht hast du sogar Recht!, ging es ihm durch den Kopf, nach dem das Knallen der Wohnungstür verhallt war.
Ich hätte den Schlussstrich schon viel früher ziehen sollen.
Das war nun schon die dritte gescheiterte Beziehung, er war fast siebzehn, trotz seines blendenden Aussehens in sexuellen Dingen immer noch völlig unerfahren und Max fragte sich, ob irgend etwas mit ihm nicht stimmte…
„Es ist alles in bester Ordnung mit dir, kleiner Bruder!“, versicherte ihm sein Onkel Leon am Abend des nächsten Tages.
Leon war am späten Nachmittag aus Bratislava zurückgekehrt, wo er für die Firma ein Wohnungsbauprojekt betreute. Nach dem Fiasko mit Caroline hielt es Max für das Beste, die Ferienwoche bei seinem Onkel zu verbringen, zumal er dort ein eigenes Zimmer hatte.
Schon einmal war Leons Haus in einem erst vor wenigen Jahren entstandenen Villenviertel am westlichen Stadtrand Berlins für Max eine Zuflucht gewesen. Nach dem Unfalltod seiner Mutter hatte er es zu Hause nicht mehr ausgehalten, zumal er seinem Vater wegen des Seitensprungs eine Mitschuld an ihrem Tod gab.
Leon hatte ihn nicht nur bei sich aufgenommen, sondern in jeder freien Minute mit ihm etwas unternommen. Er trainierte mit ihm im Ring des Kampfsportclubs oder im eigenen Fitnessraum, sie durchstiegen zusammen die schwierigsten Routen in den Berliner Kletterhallen und in den Sommerferien erkundeten sie fast sieben Wochen lang Klettergebiete und Nationalparks im Südwesten der USA. Max wollte lieber nicht darüber nachdenken, was aus ihm geworden wäre, hätte Leon ihn damals nicht aufgefangen.
Sie saßen auf der Couch in Leons Wohnzimmer. Max hatte seinem Onkel erzählt, wie es zum Bruch mit Caroline gekommen war und erhoffte sich von Leon ein paar kluge Ratschläge, während sie sich eine Pizza schmecken ließen.
„Ich würde mal sagen, irgendwas stimmt nicht mit deiner Ex“, fuhr Leon fort. „So einen Prachtkerl wie dich findet sie nicht noch mal.“
Max nippte an einem Radler. „Vergiss das mit dem Prachtkerl, Onkelchen. In ein paar Wochen bin ich siebzehn und ich bin immer noch…“
Leon tätschelte Max’ Schulter. „Bleib locker, kleiner Champ. Morgen Abend steigt hier eine Party zu viert.“
„Zu viert?“
„Zu viert. Du, ich meine Freundin und ihre Freundin.“
Max runzelte die Stirn. „Du hast eine neue Freundin?“
Leon zwinkerte Max zu. „Noch nicht. Aber in zwei Stunden öffnet das Maxxim und in drei Stunden bin ich wieder in festen Händen.“
Das Maxxim war ein Nachtclub, den sein Onkel mindestens einmal in der Woche aufsuchte, wenn er sich in Berlin aufhielt. Max konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Frauen in so einem Nachtclub auf einen Kerl wie Leon standen. Leon war mit knapp dreißig im besten Mannesalter. Er trug stets enge Shirts, die von den Brust- und Bauchmuskeln ausgebeult wurden und die muskulösen Arme unbedeckt ließen. Wie Max hatte er weiches, strohblondes Haar. Während aber Max’ Haare bis auf die Schulter fielen und er zudem das halbe Gesicht darunter verstecken konnte, waren Leons Haare kurz geschnitten und wohl frisiert.
Auch wenn Leon normalerweise hielt, was er versprach, glaubte Max nicht so richtig daran, dass zu Leons Party eine zweite Frau erscheinen würde. Aber sollte Leons neue Freundin tatsächlich eine Freundin mitbringen, hoffte Max, dass diese Freundin nicht so eine vollbusige Sexbombe sein würde wie Charlys Paulichen.
Es gab freilich noch eine weitere Sache, über die er mit seinem Onkel reden wollte. „Leon, weißt du, dass mein Alter diese Tussi heiraten will?“
Ein Schatten huschte über Leons Gesicht. Er seufzte. „Maxi, wie du weißt, ist dein Alter mein großer Bruder. Hätte Alex mich vor siebzehn Jahren nicht gerettet und in eure Familie geholt, würde ich jetzt mit meinen Alten in Costa Rica in der Sonne braten und Palmen zählen. Aber das nur nebenbei…“
Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und strich sich über das glattrasierte Kinn. „Die… äh Tussi, also ich muss schon sagen, da könnte man glatt blass werden vor Neid. Alex hat mir erzählt, dass du die Fliege machen willst, falls die bei euch einzieht. Maxi, von mir aus könntest du hier wohnen, auch wenn ich in Bratislava bin. Aber ich glaube nicht, dass dein Vater damit einverstanden wäre. Sobald Alex von seiner Hochzeitsreise zurückkommt, bin ich dran mit Urlaub. Was hältst du davon, wenn wir uns zusammen in den Sportklettergebieten Südfrankreichs austoben und uns dabei eine Lösung für dieses Problem einfallen lassen?“
Max’ Frust über den unerwarteten Bruch mit Caroline und die bevorstehende Hochzeit seines Vaters wurde regelrecht aus seiner Brust gefegt.
Er umarmte Leon. „Ich halte sehr viel davon Onkelchen.“
Am nächsten Tag kehrte Leon erst am Mittag nach Hause zurück. Die Nacht hatte er bei seiner neuen Freundin verbracht. Als Max etwas mehr darüber erfahren wollte, ob denn die neue Freundin eine Freundin habe, die am Abend zu Leons Party kommen würde, grinste Leon. „Lass dich überraschen, kleiner Bruder!“
Den Nachmittag verbrachten sie in der Magic Mountain Kletterhalle. Während bei ihren Zweikämpfen im Ring Leon Max immer noch leicht überlegen war, durchstieg Max in der Kletterhalle inzwischen Routen, bei denen Leon das Handtuch warf.
Je näher der Abend rückte, desto nervöser wurde Max, zumal er von Leon weder etwas über das Alter noch über das Aussehen der Freundin der neuen Freundin erfuhr. Leon schien sicher zu sein, dass sie zu seiner Party kommen würde, denn er bestellte nach ihrer Rückkehr von der Kletterhalle ein kaltes Buffet für vier Personen.
Gegen sieben Uhr klingelte es an Leons Haustür und gleich darauf führte Leon zwei junge Frauen in sein Wohnzimmer.
Max wusste sofort, welche der beiden Frauen sich Leon am gestrigen Abend geangelt hatte. Leon bevorzugte kurvige Damen. Sein Blick heftete sich auf die andere Frau. Sie mochte Anfang oder Mitte zwanzig sein, war ebenso zierlich wie Caroline, ihr dunkles Haar fiel ihr auf einer Seite bis auf die Schulter, auf der anderen war es kurz geschoren. Ihre Lippen waren kirschrot geschminkt. Sie trug einen Rock und Max Augen klebten einige Sekunden an ihren schlanken Beinen. Er bemerkte, dass sie ihn aus überrascht aufgerissenen Augen musterte. Was hatte sie erwartet? Einen ergrauten Fettklops?
Leon wandte sich am Max und deutete auf seine kurvenreiche Freundin. „Maxi, das ist Jasmin, wir sind seit gestern Abend ein Paar. Jasmin… mein Neffe Max.“
Max erhob sich von der Couch. „Hi Jasmin.“
„Du meine Güte, was für ein süßer Kerl.“ Sie schien Max ihren Blicken zu entkleiden. und drehte sich dann zu ihrer Freundin um. „Was meinst du, Alice?“
„Schön, dich kennenzulernen Max“, sagte Alice und zauberte ein verführerisches Lächeln auf ihre Lippen.
Inzwischen hatte sich Max wieder im Griff. Ihm gefiel Alice, auch wenn er sich nicht in sie verknallen würde. „Mir geht’s genauso, Alice.“
„Na super Leute. Dann lasst uns darauf anstoßen“, sagte Leon und entkorkte eine Flasche Champagner.
Sie prosteten sich gegenseitig zu, dann zwinkerte Leon Max zu und legte einen Arm um Jasmins Hüfte.
Alice blieb an Max’ Seite. „Wie alt bist du, Max?“
Max hielt es für besser, etwas zu mogeln. „Siebzehn, und du?“
Alice lachte auf. „Max! Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter.“
Kurz darauf trafen zwei Männer vom Partyservice ein. Auf einem Tresen, der Leons Wohnzimmer von der Küchenzeile trennte, platzierten sie Teller und Schalen mit Salaten und mit Früchten garnierten Wurstplatten.
Nach dem Abendessen leerten sie eine weitere Flasche Champagner. Leon und Jasmin hatten es sich in den beiden eng nebeneinander stehenden Sesseln bequem gemacht, während Max und Alice etwas steif auf der Couch nebeneinander saßen.
„Maxi, Alice, wenn es für euch okay ist… Jasmin und ich, wir würden gerne einen kleinen Spaziergang machen“, sagte Leon, nachdem er sein Glas geleert hatte und zog Jasmin auf die Füße.
Alice warf Max einen Blick zu. „Was meinst du, Max?“
Max ahnte, was Leon mit dem Spaziergang bezweckte. „Wir könnten so lange hier aufräumen“, grinste er.
Alice erwiderte sein Grinsen. „Gute Idee, wir räumen hier auf.“
Leon zeigte Max einen gereckten Daumen. „Viel Spaß dabei“, kicherte er und verließ zusammen mit seiner Freundin das Wohnzimmer.
So unerfahren Max auch sein mochte, er verstand es, in den Augen einer Frau zu lesen. Und in Alice’ Augen schien in riesigen Lettern „Komm schon, küss mich!“ geschrieben zu stehen. Er streichelte ihre Wangen. Alice Hand strich die Haare aus seinem Nacken und zog ihn zu sich heran.
Alice küsste anders als Caroline. Sie küsste nicht nur mit der Zunge, sondern auch mit den Händen. Und Alice wusste offenbar, wo Max am diese Hände haben wollte. Seine rechte Hand glitt unter ihren Rock und als sie sich der Stelle ihres Bauches näherte, an der ihn Caroline stets gestoppt hatte, stöhnte Alice leise auf.
„Wollten wir nicht hier aufräumen“, hauchte sie ihm ins Ohr, während sie mit ihrer Hand genau dort hin glitt, wo Max die Hand jetzt haben wollte.
„Das Aufräumen hier verschieben wir auf morgen, oben bei mir im Zimmer müsste auch mal wieder aufgeräumt werden“, erwiderte Max und erforschte mit den Fingern eine Gegend, die ihm bislang verwehrt geblieben war.
„Dann sollten wir in deinem Zimmer weiter machen“, sagte Alice und erhob sich, ohne Max loszulassen.
An diesem Abend erreichte Max, was er nach dem Bruch mit Caroline nicht mehr zu hoffen gewagt hatte - er schaffte es doch noch, vor seinem siebzehnten Geburtstag zum echten Kerl zu werden, wenngleich mit klar verteilten Rollen. Alice übernahm die Rolle der Lehrerin, sie führte sogar Unterrichtsmaterialien aus Gummi für den kleinen Max mit sich. Max hingegen gab sich mit der Rolle eines eifrigen und wissbegierigen Schülers zufrieden
Alice verbrachte in den Ferien drei weitere Nächte mit Max. Offenbar genoss sie es, Max zu unterrichten. Auch nach der vierten gemeinsamen Nacht wusste Max weder wie alt Alice wirklich war noch wo sie wohnte oder womit sie ihren Lebensunterhalt verdiente, auch wenn er diesbezüglich einen Verdacht hatte. Ebenso wenig kannte er ihre Telefonnummer, er hatte nie danach gefragt und Alice hatte sich auch nie nach seiner Handynummer erkundigt.
Wie es Max erwartet hatte, war Handarbeit ein mehr als dürftiger Ersatz für echten Sex. Er hatte angenommen, nun ebenso wie Leon geradezu süchtig nach Sex mit einer Frau zu werden. Doch merkwürdigerweise verspürte er keinen Drang, sich alsbald die nächste Frau ins Bett zu holen.
Max vermutete, dass beim Sex mit Alice etwas gefehlt hatte. Er war weder in sie verknallt noch an einer Beziehung mit ihr interessiert gewesen. Vielleicht war aber das Verliebtsein so etwas wie das Salz in der Suppe?
Am Samstag des darauffolgenden Wochenendes begleitete Max seinen Onkel zum Flughafen. Leon hatte für den Nachmittag einen Flug zurück nach Bratislava gebucht.
Max würde seinen Onkel weit mehr als Alice vermissen.
Als sie sich vor der Sicherheitskontrolle voneinander verabschiedeten, stellte Max eine Frage, die ihm bereits seit Tagen auf der Zunge lag.
„Onkelchen, Alice ist gar nicht die Freundin deiner Freundin Jasmin, sondern eine Nutte, oder?“
Leon striegelte Max’ Haare. „Keine billige Nutte, sondern ein Callgirl. Teuer obendrein.“
„Wie teuer?“
Leon grinste und drückte Max an sich. „Wie es scheint, hast du dich wacker geschlagen, Champ. Eine Nummer kostet zweihundert Mäuse. Ich weiß zwar nicht, wie viele Nummern ihr durchgezogen habt, aber ich musste nur für die erste bezahlen. Betrachte das als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk, um aus dir einen echten Kerl zu machen.“
- Eine Freundin für Cosmin
Cosmin
„Was soll ich vier Wochen in deinem Porumbita anstellen, Tata? Du bist von dort abgehauen, weil dich das Nest und die Armut dort so angestunken hat und jetzt schleifst du mich dort hin“, maulte Cosmin. Er saß zusammen mit seinem Vater am Küchentisch beim Abendessen und stocherte ohne Appetit in seinem Maisbrei herum. Je näher die Sommerferien am Ende seines elften Schuljahres rückten, desto mieser fühlte sich Cosmin beim Gedanken an die bevorstehende Reise in das Dorf, in dem die umfangreiche Verwandtschaft seines Vaters lebte. Porumbita, wie Porumbitza ausgesprochen, lag in einer der armseligsten Gegenden im Süden Rumäniens an der Donau. Das gegenüberliegende Ufer des Flusses gehörte bereits zu Bulgarien.
„Ich hätte hier an der Hochschule ein paar Schnupperkurse besuchen können“, fuhr er verbittert fort. Die Dessauer Hochschule veranstaltete im Juli mehrere Vorlesungen für Schüler der Abiturstufe, die Architektur studieren wollten. Sein Vater fuhr sich mit der Hand durch das pechschwarze Haar und senkte den Blick. „Vor drei Jahren hat es dir doch gefallen dort, Cosmine.“
Cosmin konnte inzwischen an die Zeit vor etwas mehr als drei Jahren zurück denken, ohne dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Im Frühjahr war seine Mutter über Nacht verschwunden, durchgebrannt zu einem reichen Kerl, der - soweit Cosmin wusste - irgendwo bei München wohnte und dort eine Baufirma hatte. Für den dreizehnjährigen Cosmin war eine Welt zusammengebrochen. Bis zu jener Nacht war er ihr kleiner Liebling gewesen; wie viele Abende hatte sie neben ihm gelegen, ihn gestreichelt oder ihm beim Einschlafen zugeschaut? Wie viele Geschichten hatten sie einander erzählt?
Cosmin hatte nach ihrem Verschwinden unzählige Male versucht, seine Mutter anzurufen, doch nie kam eine Antwort.
Sein Vater brachte ihn in den Sommerferien nach Porumbita in der Hoffnung, dass Cosmin so leichter über den Verlust der Mutter hinweg kommen würde. Und tatsächlich linderte die ungewohnte Gegend und das Spielen mit den gleichaltrigen Kindern oder das Abhängen mit den Jugendlichen des Dorfes ebenso wie die Fürsorge seiner unzähligen Tanten und Onkel im Dorf die Schmerzen in seiner Brust.
Erst ein knappes Jahr später rief sie ihn mit einer neuen Handynummer an und erklärte ihm, dass sie es einfach nicht ertragen hätte, die Stimme ihres kleinen Lieblings zu hören. Doch nun war es Cosmin, der ihre Stimme nicht mehr hören wollte.
Sie wusste nicht einmal, dass er seit fast einem Jahr in Dessau, einer Stadt im südlichen Sachsen- Anhalt, wohnte, weil sein Vater dort einen besser bezahlten Job als Monteur von Solaranlagen gefunden hatte.
Sein Vater räusperte sich. „Außerdem… hier hast du niemanden außer mir. In Porumbita hättest du Freunde in deinem Alter, Verwandte und… Camelia. Als deine Frau wäre sie…“
„Tata!“, brauste Cosmin auf. „Es interessiert mich nicht, was du dir mit Onkel Radu ausgedacht hast. Ich suche mir selber eine Frau, wenn es soweit ist.“
Onkel Radu war Camelias Vater und der Cousin seines Vaters. Zugleich war er auch so etwas wie der Boss aller in Porumbita lebenden Romi.
An Camelia erinnerte sich Cosmin so gut wie gar nicht mehr.
"Cosmine, hättest du denn nicht gerne auch ein Mädchen. Aus Camelia ist jetzt ein sehr hübsches junges Fräulein geworden. Ich war achtzehn, als ich deine Mutter… "
„… du sie geschwängert hast?“
Cosmins Vater schluckte und schob den halbvollen Teller beiseite. Seine schwarzen Augen füllten sich mit Trauer. Cosmin wusste natürlich, dass sein Vater immer noch unter der Trennung litt.
Er legte die Hand auf den sehnigen, von der Sonne gebräunten Unterarm seines Vaters. „Reden wir nicht von der. Ich kann mir diese Camelia ja mal anschauen.“
Tatsächlich war Cosmin inzwischen siebzehn und hatte überhaupt noch keine Erfahrungen mit Mädchen. Anfangs schien es, als würden sich an der neuen Schule einige Mädchen für ihn interessieren. Vielleicht hätte sich auch etwas ergeben, wären da nicht die Idioten in seiner Klasse. Einer dieser Idioten hieß Anton. Er hatte Cosmin irgendwann in den ersten Schultagen ein ziemlich frivoles Freundschaftsangebot gemacht und war natürlich abgeblitzt. Danach hatten Anton und seine Kumpane angefangen, Cosmin zu mobben. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn „Tziggi“, was soviel wie Zigeuner bedeutete. Kein Mädchen interessierte sich für einen Jungen, der von anderen gemobbt wurde oder für sie die Hausaufgaben machen musste.
Vielleicht würde er in Porumbita endlich erfahren wie es war, eine Freundin zu haben und ein Mädchen zu küssen oder vielleicht sogar…
Nein, das konnte er vergessen. Das würde in Porumbita wahrscheinlich bedeuten, dass dieses Mädel dann auch seine Frau werden müsse.
Sein Vater schien Cosmins Sinneswandel zu bemerken. „Es wird dir gefallen dort, Cosmine. Und keine Sorge, keiner wird dich zu etwas zwingen. Auch Onkel Radu nicht.“
Cosmins Vater hatte es offenbar nicht erwarten können, Porumbita, seine Mutter, seine zehn oder elf Geschwister und die etwa hundert Cousins oder Cousinen wiederzusehen.
Schon an Cosmins erstem Ferientag begann die etwas umständliche Reise von Dessau nach Porumbita. Da die Preise für Flugtickets nach Bukarest in der Ferienzeit unerschwingliche Höhen erklommen, nahmen sie einen Reisebus, der für die Fahrt von Leipzig nach Bukarest wegen einer Panne kurz hinter der rumänischen Grenze mehr als fünfunddreißig Stunden benötigte und bis auf den letzten Sitzplatz besetzt war. Nach einer mehrstündigen Wartezeit auf dem schon am frühen Morgen völlig überfüllten Bukarester Nordbahnhof erwischten sie einen ebenso überfüllten Zug nach Turnu Magurele, der zu Porumbita nächstgelegenen Stadt.
Auf dem Bahnsteig in Turnu Magurele wurden sie von Onkel Vasile, dem ältesten Bruder von Cosmins Vater, überschwänglich begrüßt. Cosmin mochte kaum glauben, dass Onkel Vasile und sein Vater Brüder waren. Zwar hatten sich nach der Trennung von seiner Frau erste Falten ins Gesicht seines Vaters gegraben und an den Schläfen mogelten sich ein paar graue Strähnen ins schwarze Haar, aber es fiel Cosmin nicht schwer, sich vorzustellen, warum sich seine Mutter Hals über Kopf in seinen Vater verknallt hatte und mit ihm durchgebrannt war. Onkel Vasiles stoppelbärtiges Gesicht hingegen war zerknittert wie Elefantenhaut, zudem roch er, als würde er im Schafstall übernachten.
Onkel Vasile zauste Cosmins schulterlange, pechschwarze Zotteln. „Meine Güte, Florin, dein Junge ist ja ein richtiger Prachtkerl geworden. Wieso hat er eigentlich solche Locken?“
„Die hat er wahrscheinlich von Biancas Großvater“, erwiderte Cosmins Vater. „Der war übrigens ein afrikanischer Professor und von dem hat Cosmine auch diese Schlauheit geerbt. Stell dir vor, er hat auf dem Zeugnis in allen Fächern nur Bestnoten.“
Cosmin verdrehte die Augen. Das klang nach der für Porumbita typischen Angeberei. Gleich würde Onkel Vasile erzählen, wie viele Schafe und Kühe jeder seiner Söhne im Stall hatte. „Tata, nicht in allen Fächern. In Sport hab ich nur eine Zwei.“
Wie Cosmin vermutet hatte, begann Onkel Vasile tatsächlich von all den Schafen und Maisfeldern seiner Familie zu erzählen, während sie sich beladen mit Koffern und prall gefüllten Beuteln durch das Gewimmel auf dem Bahnhof zwängten.
Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof parkte Onkel Vasiles altersschwacher Dacia Jeep, ein Duster Geländewagen. Nach Porumbita führte eine Straße, die eher an einen Feldweg erinnerte und nach Regen nur mit einem Allradfahrzeug oder Pferdefuhrwerk befahrbar war. Sie schlängelte sich durch endlose Mais- und Getreidefelder und erlaubte hin und wieder einen Blick auf das blaue Band der Donau. Weit mehr als vierzig Stunden waren seit ihrem Aufbruch in Dessau vergangen, und so verschlief Cosmin den größten Teil der Fahrt.
Cosmin erwachte, als der Dacia vor einem der windschiefen Häuschen am Ortseingang hielt.
„Ihr werdet im Gästehaus von Onkel Radu übernachten“, erklärte Onkel Vasile, der offenbar Cosmins erschrockenen Blick bemerkt hatte. „Hier wohnt unsere Mutter, deine Großmutter.“
Cosmin hatte sie als alte Frau mit krummen Rücken in Erinnerung.
Cosmins Vater schnappte sich eine der prall gefüllten Plastiktüten, dann betraten sie die Hütte. Sie bestand aus einem einzigen Raum; auf dem Boden aus festgestampftem Lehm lag ein löchriger Teppich. In der Mitte des Raumes stand ein grob zusammen gezimmerter Tisch mit ein paar Hockern, auf dem Bett an der hinteren Wand häuften sich trotz der stickigen Hitze im Raum Unmengen an Decken. Am gusseisernen Herd rührte ein uraltes Mütterchen in einem Topf herum.
„Mama, ich bin da“, rief Cosmins Vater und griff nach den schmalen Schultern der Frau. Sie steckten in einem Pullover, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die Frau drehte sich zu Cosmins Vater um. „Florine, mein Junge“, krächzte sie und entblößte dabei ihre zwei verbliebenen Zähne. „Es gibt deine Lieblingssuppe.“
Cosmin begriff weder, wie diese Frau, die seine Großmutter war, in so einem Verschlag leben konnte, noch wie früher die Familie mit zehn Kindern hier gehaust hatte. Aber er verstand, warum sein Vater als junger Bursche aus diesem Elend geflohen war. Im Vergleich dazu war die eigene kleine Plattenbauwohnung in Dessau geradezu luxuriös.
Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf Cosmin. „Wer ist dieser Mann, Florine?“
„Das ist mein Sohn Cosmin, Mama. Er war schon mal vor drei Jahren hier. Erinnerst du dich?“
Sie wackelte ein paar Mal mit dem Kopf, was sowohl eine Verneinung als auch eine Bejahung bedeuten konnte. „Dann ist es gut. Setzt euch, du auch Vasilika.“
Cosmin nahm vorsichtig auf einem der Hocker Platz und versuchte nicht daran zu denken, was gleich auf den Tisch kommen würde. Sein Vater stellte vier Blechschüsseln auf den Tisch und warf Cosmin einen beinahe flehenden Blick zu. „Unsere Mutter kocht die besten Suppen im ganzen Dorf“, versprach er und deute auf einen mit Wasser gefüllten Eimer neben dem Tisch. „Hier gibt es kein fließendes Wasser, aber da kannst du dir die Hände waschen. Wenn du mal musst, die Toilette ist… äh… draußen.“
Anders als es Cosmin befürchtet hatte, war die Suppe seiner Großmutter nicht nur genießbar, sie schmeckte sogar. Während des Essens fragte sie mit einem Kopfnicken in Cosmins Richtung zwei weitere Male, wer denn dieser Mann sei.
„Er sieht gar nicht so richtig wie einer von uns aus“, stellte sie nach dem zweiten Mal fest und Cosmins Vater erinnerte seine Mutter daran, dass Cosmins Mutter Deutsche sei und die nun mal anders als Romi aussehen würden.
„Sind Deutsche nicht weiß? Er ist ja fast schon schwarz.“
„Wir hatten ein heißes Frühjahr, Großmutter“, erklärte Cosmin, um das Gespräch vom mütterlichen Anteil seiner Gene weg zu lenken.
Cosmin verzichtete auf eine weitere Portion Suppe und war heilfroh, als sie nach dem Essen aus dem stickigen Raum ins Freie traten und die Fahrt fortsetzten. Porumbita bestand aus einer unbefestigten Dorfstraße und den Häusern links und rechts der Straße. Zum Dorfzentrum hin waren die Häuser größer und die roten Ziegelwände mit Lehm verputzt. Villen mit Türmchen, Erkern und von Säulen im römischen Stil getragene Balkone bildeten das Zentrum des Dorfes. Beim Anblick der Villen richteten sich Cosmins Nackenhaare auf. Hier stellte die Dorfelite ihren Reichtum zur Schau, ohne sich mit Zweckmäßigkeit oder gar Ästhetik aufzuhalten. Vor der mit Abstand größten Villa stoppte Onkel Vasile und wandte sich an Cosmins Vater, der auf dem Beifahrersitz saß.
„Radu erwartet euch. Geht schon mal rein, Florin. Ich bringe eure Sachen ins Gästehaus.“
„Warum lassen deine Geschwister eure Mutter in dieser Bruchbude hausen?“, fragte Cosmin seinen Vater, während sie die von Koniferen gesäumte und betonierte Zufahrt zur Villa entlang schritten.
„Sie wohnt dort seit ihrer Geburt, Cosmine“, sagte sein Vater und zuckte mit der Schulter. „Sie will nicht raus aus diesem Haus. Und die Möbel… mein Vater hatte sie gebaut, deshalb hängt sie an ihnen.“
Sie erreichten die halbrunde, mit Marmor verkleidete Eingangstreppe. Die Eingangstür stand halb offen, aus dem Inneren des Hauses drangen erregte Stimmen nach außen.
"… sucht der sich hier eine Frau? Findet der Blödmann bei sich keine? Ich will mit Alin zusammen… "
Cosmin griff nach dem Arm seines Vaters. „Warte!“, zischte er ihm zu. Er ahnte, wen die schrille Mädchenstimme mit „Blödmann“ gemeint hatte.
„… was zusammen?“, polterte die Stimme eines Mannes durch den Türspalt. „Schafe hüten? Florin sagt, dass sein Junge mal ein berühmter Architekt wird. Mit ihm könntest du…“
„Tata!“, schnaubte Cosmin leise. „Hör auf, mit mir herum zu prahlen.“
Sein Vater zog ein Gesicht, als wäre er beim Mogeln erwischt worden, sagte jedoch nichts.
„Wenn der es wagt, mich anzufassen…“
Cosmin hatte genug gehört. Zumindest bei Camelia würde er das Sammeln erster Erfahrungen mit Mädchen vergessen können. Er klopfte an die Tür und augenblicklich verstummte das ihn betreffende Streitgespräch.
„Kommt rein, Jungs!“, rief ihnen der Mann zu.
Cosmin betrat hinter seinem Vater einen Raum, der mit all den nicht so richtig zusammenpassenden Möbeln eher wie ein Fundbüro für teure Antiquitäten anmutete. Immerhin schien es Onkel Radu zu verstehen, sein Geld gewinnbringend anzulegen. Er kam ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegen und musterte Cosmin wie eine weiteres interessantes Stück für seine Sammlung.
Cosmin hatte sich einige seiner langen Zotteln ins Gesicht gestrichen und sah zwischen ihnen hindurch, dass Camelia offenbar zu einer Treppe flüchten wollte, die ins Obergeschoss führte und wie angewurzelt stehen blieb. Sie starrte ihn aus ihren schwarzen Augen an, die sich zusehends weiteten. Und plötzlich zupfte sie an ihren langen, pechschwarzen Haaren herum und trat zögerlich näher.
Onkel Radu ergriff Cosmins Schulter und taxierte ihn von den Sandalen bis hinauf zum zerwurstelten Scheitel. „Mein Gott, Florin. Was für ein rassiger Bengel dein Junge geworden ist. Willkommen, Cosmine.“
Er zog Cosmin in seine Arme und und kitzelte dabei Cosmins Gesicht mit dem gewaltigen Schnurrbart. „Camelia, komm her!“ brüllte er, dass es in Cosmins Ohren klingelte. Er wandte sich um und schien für einen Moment die Sprache zu verlieren. Denn Camelia stand bereits hinter ihm.
„Das ist der Sohn meines Lieblingscousins, mein Schatz. Macht euch miteinander bekannt.“
Cosmin strich sich die Locken aus der Stirn. „Hallo Camelia, ich bin Cosmin“, sagte er und reichte ihr die Hand. Ohne ihren Blick von seinem Gesicht abzuwenden, ergriff sie seine Hand. „Ich freue mich, dich zu sehen, Cosmin. Ich hatte mir dich ganz anders vorgestellt.“
Und was wird nun aus Alin und dem Schafe hüten?, fragte Cosmin in Gedanken. Er hatte die Musterung Camelias längst beendet, mit seinen Blicken ihr bis zu den schlanken Hüften reichendes Haar gestreichelt, ebenso wie die beiden Wölbungen in ihrem Shirt. An seiner Schule wäre Camelia zweifellos eines der hübschesten Mädchen.
Und dieses Mädchen schien ihn mit den Augen regelrecht zu verschlingen.
„Mir geht es genauso“, erwiderte Cosmin und wusste nicht so recht, wie er auf ihr offenkundiges Interesse reagieren sollte.
Sie hielt immer noch seine Hand. Aus den Augenwinkeln sah Cosmin, dass sich Onkel Radu und sein Vater zuzwinkerten und dann mit einem Glas Pflaumenschnaps auf ihr Wiedersehen anstießen.
„Möchtest du, dass ich dir ein bisschen das Dorf zeige, Cosmin?“, fragte sie und zog an seiner Hand.
Eben war ich ein Blödmann für dich und jetzt willst du nicht mal mehr meine Hand los lassen?
"Camelia, ich habe zwei Nächte in diesem Bus hinter mir. Ich muss mich ein bisschen ausruhen. Aber heute Abend… "
Camelias Augen leuchteten auf. „Heute Abend nehme ich dich mit zum Sportplatz. Ein paar Jungs sorgen für Musik und wir tanzen dazu. Willst du?“
„Ich äh… ich kann eigentlich gar nicht tanzen, Camelia.“
„Kein Problem. Ich bringe es dir bei.“
Der unweit der Dorfmitte gelegene Sportplatz mit einem Fußball- und Volleyballfeld sowie ein paar kleinen Holzhütten, in denen Frauen des Dorfes gegrillte Hackröllchen oder Getränke und Snacks verkauften, war fast jeden Nachmittag ein Treffpunkt für Kinder und Jugendliche. Sie vergnügten sich dort bei Spielen oder lungerten im Schatten grob zusammen genagelter Unterstände mit ihren Handys an Tischen herum. Abends trafen sich dort häufig ältere Jugendliche. Sie lauschten den wilden Rythmen der traditionellen Zigeunermusik, die beinahe pausenlos von einigen Radiosendern abgespielt wurden und manchmal musizierten auch einige der Jugendlichen. So wie an diesem Tag.
Cosmin vermutete, dass er der Grund war, weshalb die vier Jungen und zwei Mädchen ihre Geigen, Trommeln und eine Ziehharmonika mitgebracht hatten, musizierten und Zigeunerlieder sangen, begleitet vom vielstimmigen Gesang aus den Kehlen von mehr als einhundert Zuschauern. Immer wieder fing Cosmin Blicke der Mädchen und Jungen auf, zumeist neugierig und manche begleitet von einem Lächeln. Auch die sechs Musikanten schauten ständig zu ihm herüber, als wollten sie sich davon überzeugen, dass ihm ihre Musik gefiel. Er lächelte jedes Mal zurück oder zeigte ihnen den gereckten Daumen.
Auch Camelia, die neben ihm am Tisch saß, fragte nach jedem Lied, ob es ihm gefallen hatte, was er natürlich bejahte.
Doch Cosmin fühlte sich alles andere als wohl. Fast wünschte er sich in die Einsamkeit seines Zimmers in Dessau zurück, wo ihn allenfalls ein paar auf Postern abgebildete Leute anglotzten. Sein Blick begegnete dem finsteren Blick eines jungen Mannes, der am Rande des Fußballfeldes an einem Torpfosten lehnte. Cosmin strich sich ein paar seiner schwarzen Locken ins Gesicht und durch die Gardine aus schwarzen Haaren sah er, dass der Mann mal ihn und mal Camelia anstarrte und dabei seinen Dreitagebart striegelte. Er mochte knapp zwanzig Jahre alt sein und war größer und viel kräftiger gebaut als er selber.
Als der Mann endlich seinen Blick abwendete, deute Cosmin mit einem Kopfnicken zum Fußballfeld. „Camelia, der Junge dort am Tor. Ist das Alin?“
Camelia schaute ihn verdutzt an, und schien nach Worten zu suchen. Ohne zum Fußballfeld hinüber zu schauen, nickte sie. „Der ist ein Blödmann und läuft mir schon seit einem Jahr hinterher. Was soll ich mit dem? Mit ihm zusammen seine Schafe hüten? Er ist übrigens ein Cousin von dir.“
Auch das noch!
Vermutlich war er ohnehin irgendwie mit der Hälfte der hier anwesenden Jugendlichen verwandt. Cosmin fühlte, dass sich das schlechte Gewissen in ihm rührte.
Ich habe ihm die Freundin vor der Nase weggeschnappt!
„Ist er der Sohn von Onkel Vasile?“, fragte er vorsichtig und ihm fiel ein Stein vom Herzen, als Camelia verneinte und ihm erklärte, dass Alin ein Sohn seiner Tante Alina sei.
Sollte er mit seinem Vater diese Tante Alina besuchen, würde er sich bei Alin entschuldigen.
Später versuchte Cosmin so gut es ging, sich vorm Tanzen zu drücken, zumal er immer öfter von Jugendlichen umringt wurde, die ihm Löcher in den Bauch fragten. Zudem fielen ihm trotz eines kurzen Nickerchens am Nachmittag fast die Augen zu. Offenbar bemerkte Camelia, dass sie Cosmin an diesem Abend nicht für sich alleine haben konnte und begleitete ihn zurück zum Gästehaus, das eher ein Anbau von Onkel Radus Villa darstellte.
Als sie die Eingangstür erreichten, griff Camelia nach seiner Hand. „Hat dir der Abend gefallen?“
Cosmin wusste nicht so richtig, wo er die andere Hand lassen sollte. Wartete Camelia darauf, dass er sie zum Abschied küsste? Oder würde sie ihm eine scheuern, wenn er es versuchte?
„Danke Camelia. Es war sehr schön.“
„Sehen wir uns morgen? Ich könnte dir ein paar schöne Stellen am Fluss zeigen.“
„Das wäre toll!“
Camelia schenkte ihm ein Lächeln. „Gute Nacht, Cosmin“, sagte sie und noch ehe Cosmin etwas erwidern konnte, flitzte sie zur Villa ihres Vaters.
- Donau am Tag und in der Nacht
Cosmin
Cosmin verschlief den Vormittag.
Als er mittags endlich aus den Tiefen eines langen Schlafes auftauchte, saß sein Vater bereits an einem mit frischem Brot, Schafskäse und Würsten beladenen Tisch, obwohl er erst ins Gästehaus zurückgekehrt war, als Cosmin längst geschlafen hatte.
„Guten Morgen, mein Junge. Wie war dein Abend? Bist du mit Camelia ausgegangen?“, fragte er und schaufelte eine weitere Portion des hausgemachten Käse in sich hinein.
Ja, und einem Sohn deiner Schwester Alina habe ich die Freundin weggeschnappt.
„Sie hat mich zum Sportplatz mitgenommen. Es war ganz lustig dort“, antwortete er und wälzte sich aus dem Bett. Das Zimmer war mit zwei Doppelbetten, einem Tisch und vier Stühlen möbliert. Am erfreulichsten fand Cosmin, dass es ein eigenes Bad hatte, wenngleich das WC nur aus zwei Tritten und einem Loch im gefliesten Boden bestand.
„Und was hast du gestern Abend gemacht?“, fragte Cosmin, nachdem er aus dem Bad zurückgekehrt war.
Wahrscheinlich ziemlich viel Wein und Pflaumenschnaps getrunken. Das zumindest sah er seinem Vater an den verquollenen Augen an.
„Ich habe so viele Geschwister hier, ich wusste gar nicht, bei wem ich anfangen soll. Heute will ich noch Vasile, Claudiu und Alina besuchen. Willst du mitkommen?“
Cosmin dachte an die finsteren Blicke, die ihm sein Cousin Alin zugeworfen hatte.
"Ich will heute mal bis zur Donau wandern, Tata.
„Allein?“
Cosmin setzte sich zu seinem Vater an den Tisch. Das Lauern in dessen Stimme war nicht zu überhören.
Ist es hier so üblich, dass Väter die Ehen ihrer Kinder arrangieren?
„Mal sehen“, erwiderte Cosmin knapp, um den diesbezüglichen Hoffnungen seines Vaters einen Dämpfer zu verpassen.
"Du könntest doch Camelia fragen. Sie kennt bestimmt ein paar schöne Stellen dort und… "
„Tata!“, funkte Cosmin dazwischen. „Hör auf, mich zu verkuppeln! Ich bin vor einem Monat siebzehn geworden und werde jetzt bestimmt nicht ans Heiraten denken.“
„Ich meine es doch nur gut mit dir…“, erwiderte sein Vater leise.
Vom Dorf führten mehrere Wege an Getreidefeldern vorbei bis hinunter zum Donauufer. Nach einem etwas mehr als halbstündigen Fußmarsch erreichten Cosmin und Camelia eine kleine, von mannshohen Schilfstauden eingerahmte Bucht, kleine Wellen plätscherten an das sandige Ufer. Der fast einen Kilometer breite Strom flimmerte in der Nachmittagshitze.
Camelias Mutter hatte Cosmin einen Picknickkorb mitgegeben. Camelia breitete eine Decke im kniehohen Gras nahe des Ufers aus und streckte sich darauf aus. Sie trug Shorts und ihre Bluse verriet mehr als sie verbarg. Cosmin stellte den Korb ab und hockte sich nach kurzem Zögern neben sie.
Camelia stützte den Kopf auf ihren angewinkelten Arm, ihr Blick wanderte von Cosmins schlanken, braunen Beinen hinauf bis zu den Zotteln, die an seiner Stirn klebten. „Hier in der Bucht kann man baden“, sagte sie so, als würde sie über das Wetter reden.
Cosmin zuckte mit der Schulter. „Ich habe keine Badesachen mit.“
„Ich auch nicht“, kicherte Camelia und kämmte mit den Fingern ihre Haare. „Hast du Angst, dass ich gucke, wie du du nackt aussiehst?“
"Ich äh… " Cosmin suchte nach Worten.
Will sie mich hier und jetzt verführen?
War er dann verpflichtet, sie zu heiraten? Obwohl sie erst im Herbst sechzehn Jahre alt werden würde, was bei den Romi Porumbitas als heiratsfähiges Alter galt.
„… vielleicht beobachtet uns jemand“, wand er sich.
Camelia blickte sich um. „Ich sehe niemanden.“
Sie richtete ihren Blick wieder auf Cosmin. „Cosmin?“
„Hm?“
„Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?“
Hitze schoss bis in Cosmins Ohrenspitzen. Er fragte sich, wie es sich anfühlen würde, Camelia zu küssen. Aber es war zugleich peinlich zuzugeben, dass er noch nie eine Freundin gehabt hatte. „Nicht so richtig, glaube ich.“
„Ich habe noch nie mit einem Jungen geküsst“ seufzte Camelia
Und was ist mit Alin?
So unerfahren Cosmin auch war, fühlte er, was Camelia ihm zu sagen versuchte. Sein Herz hämmerte in der Brust, während er sich zu ihr hinunter beugte. Camelia griff in seinen Nacken und zog ihn zu sich heran. Dann spürte er ihre weichen Lippen auf den eigenen. Cosmin hatte erwartet, dass sie sich auch mit ihren Zungen küssen würden. Doch Camelia löste sich wieder von ihm und für einen Moment befürchtete er, dass er sich ungeschickt angestellt hatte.
Stattdessen küsste sie ihn auf die Wange. „Du schmeckst süß, Cosmi.“
Sie sprang auf. „Komm, ich zeige dir was!“
Sie griff nach Cosmins Hand und zog ihn mit sich. Hand in Hand durchstreiften sie das Schilfdickicht am Ufer, kletterten über Baumstämme, die von früheren Hochwasserfluten angeschwemmt wurden, bis sie eine weitere Bucht erreichten, die eher einen kleinen, von Weiden eingefassten Teich bildete. Am Ufer waren ein paar Fischerboote vertäut und auf dem Teich schwamm eine schnittige eine kleine Yacht.
„Wow, wem gehört das Boot?“, fragte Cosmin.
„Meinem Papa. Wenn du möchtest, frage ich ihn, ob er mir uns mal einen Ausflug macht.“
„Das wäre toll! Glaubst du, dass er das machen würde?“
Camelia schenkte ihm ein spitzbübisches Lächeln. „Er mag dich.“
Und nun will mich auch als Schwiegersohn?
Sie kehrten zur Bucht zurück, wo sie die Decke und den Picknickkorb gelassen hatten.
Dort ließen sie sich frisches Brot, Käse und Obst schmecken. Anschließend lagen sie ausgestreckt nebeneinander. Sie lauschten dem Plätschern der Wellen und dem Gezwitscher der Vögel.
„Camelia, kann ich dich was fragen?“
„Das kommt drauf an“, erwiderte Camelia und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Wie alt sind hier die Mädchen, wenn sie heiraten?“
„Es gibt Mädchen, die mit siebzehn oder achtzehn noch keinen Mann haben, weil sie nicht gut aussehen oder weil sie arme Eltern haben“, erklärte Camelia, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Die schönen Mädchen haben natürlich einen Mann, wenn sie sechzehn sind.“
Cosmin ahnte, dass sich Camelia zu den schönen Mädchen zählte und sie ihren Mann offenbar gefunden hatte. Nur dass der Mann plötzlich nicht mehr Alin hieß.
Camelia gefiel ihm, aber er konnte sich kein Zusammenleben mit ihr vorstellen. Zwar war auch seine Mutter etwa in Camelias Alter gewesen, als er geboren wurde, aber er würde gewiss nicht mit siebzehn oder achtzehn heiraten.
„Bei uns darf man erst ab achtzehn heiraten, aber die meisten heiraten erst, wenn sie Mitte zwanzig oder dreißig sind.“
Ein Schatten huschte über Camelias Gesicht. „Willst du etwa so lange warten?“ Fast schien es, als wolle sie ihre Siebensachen zusammen packen und ohne ihn verschwinden.
„Äh nee… natürlich äh… natürlich nicht“, stammelte Cosmin und fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut, weil er ihr was vormachte. Aber ihre Beziehung wäre wohl jetzt zu Ende gewesen, noch bevor sie so richtig begonnen hatte.
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die glühende Wange. „Ich bin immer noch sechzehn, wenn du achtzehn wirst, Cosmi“, sagte sie und streckte sich wieder auf der Decke aus.
Cosmin seufzte leise und ließ seinen Kopf auf die verschränkten Hände sinken. Er war plötzlich froh, dass zwischen Dessau und Porumbita mehr als 1500 Kilometer lagen…
In den darauffolgenden Tagen traf Cosmin auch zahlreiche seiner Cousinen und Cousins. Lediglich um seine Tante Alina machte er einen großen Bogen, um nicht Cousin Alin über den Weg zu laufen. Andererseits fragte er sich, wie lange eine Ehe zwischen Alin und Camelia gehalten hätte. Cosmin vermutete, dass sich Camelia auf den ersten Blick in ihn verknallt und Alin im selben Moment vergessen hatte.
An beinahe jedem Tag verbrachten Cosmin und Camelia einige Stunden am Ufer der Donau.
Ihre Küsse dauerten von Tag zu Tag etwas länger und irgendwann glitt Cosmins Hand bei diesen Küssen auch unter ihre Bluse, ohne dass Camelia seine Hand weg schubste. Allerdings vermied sie es jedes Mal, der Beule in seinen Shorts zu nahe zu kommen.
Cosmin genoss die Zärtlichkeiten. Sie waren vielleicht nicht so atemberaubend, wie er es sich vorgestellt hatte. Insbesondere wenn er daran dachte, was andere Jungs sich so über das Küssen und Mädchenbrüste anfassen erzählten. Aber das lag wohl daran, dass er noch keinen richtigen Sex mit ihr hatte.
Zu Beginn der dritten Ferienwoche unternahm Cosmin zusammen mit Camelia und ein paar anderen Jugendlichen des Dorfes einen Ausflug in das etwa fünf Kilometer entfernte Nachbardorf Cosevita. Dort verkauften Leute aus den umliegenden Dörfern auf einem Flohmarkt alles mögliche, angefangen von Kochlöffeln über Hühner bis hin zu Traktoren, Eseln oder Pferden.
Als er mit Camelia am späten Nachmittag nach Porumbita zurückkehrte, parkten drei fremde Geländewagen vor Onkel Radus Villa. Sie hatten Kennzeichen des Bezirkes Arad, der im Westen Rumäniens an der Grenze zu Ungarn lag.
Cosmin wollte sich von Camelia verabschieden, doch ihr Vater trat aus der Eingangstür der Villa und winkte ihnen zu. Offenbar hatte er sie von seinem Wohnzimmer aus gesehen.
„Kommt mal beide rein, Kinder!“, rief er ihnen zu.
Camelia zog Cosmin mit sich in das mit antiken Möbeln voll gestellte Wohnzimmer. An einem der Tische saßen drei Männer. Auf dem Tisch standen vier Mokkatassen und Gebäck. Sie qualmten Zigaretten, von ihrem Rauch tränten Cosmin die Augen. Die Männer waren hellhäutig, also vermutlich keine Romi.
Onkel Radu wandte sich an die drei Männer und zeigte auf Cosmin und Camelia. Beide standen immer noch Hand in Hand an der Eingangstür, die direkt ins Wohnzimmer führte.
„Das, liebe Freunde und Geschäftspartner, ist meine Jüngste und mein künftiger Lieblingsschwiegersohn“, polterte er und sein ohnehin breiter Brustkasten schien noch etwas anzuschwellen. „Der Junge geht in Deutschland aufs Gymnasium und ist dort der beste Student. Er wird ein Architekt!“
„Glückwunsch!“
„Was für ein tolles Paar!“
„Ein deutscher Architekt in Radus Familie, wunderbar“, kommentierten die Männer Onkel Radus Prahlerei. Camelia strahlte zuerst ihren Vater und die Männer, dann auch Cosmin an.
Cosmin verbog seine Lippen und hoffte, dass es halbwegs wie ein Lächeln aussah. Inzwischen entglitt ihm die Kontrolle über seine Beziehung zu Camelia und würde er nicht 1500 Kilometer entfernt wohnen, hätte er wohl noch heute die Reißleine ziehen und aus diesem Dorf fliehen müssen.
„Cosmine, mein Töchterchen sagte, dass du gerne mal bei einem Ausflug mit meinem kleinen Schiff auf der Donau dabei sein möchtest“, wandte sich Onkel Radu an Cosmin. „Wie wäre es heute Abend? Ich muss ein paar Leute von der anderen Seite des Flusses abholen.“
Für einen Moment vergaß Cosmin das Problem, noch möglichst für ein paar Jahre ledig zu bleiben. „Wir fahren auf die bulgarische Seite?“, fragte er verblüfft.
Onkel Radu grinste nur.
„Danke Onkel Radu, wann fahren wir los?“
„Sei einfach um neun hier, Junge. Und den nächsten Ausflug mache ich nur mit euch zwei Süßen.“
„Das wäre schön“, versuchte Cosmin erfreut zu klingen und verabschiedete sich von Onkel Radu und den Männern. Camelia begleitete ihn nach draußen. „Was machst du bis um neun?“
„Mein Vater hat mir geschrieben, dass er mit ein paar seiner Brüder auf dem Sportplatz ist.“
Camelia hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich kann nicht mitkommen, weil ich meiner Mutter mit dem Essen für die Leute helfen soll. Wir sehen uns morgen.“
Cosmin sah, dass Camelia zögerte und er ahnte, worauf sie wartete. Er küsste ihre Lippen und erst danach kehrte Camelia mit einem zufriedenen Lächeln auf diesen Lippen ins Haus zurück.
Als Cosmin Onkel Radus Grundstück verließ und auf die Dorfstraße hinaus trat, fiel sein Blick auf die Eingangstür des angrenzenden Gästehauses und vor Schreck blieb er wie angewurzelt stehen. Auf den Stufen saß Cousin Alin, die Fäuste geballt, den stechenden Blick fest auf Cosmin gerichtet. Cosmin blickte sich auf der Dorfstraße um. Vor den Häusern saßen alte Leute auf Holzbänken, ein paar kleine Kinder jagten einer Katze hinterher. Falls sich Alin mit ihm schlagen wollte, würde er nicht auf Hilfe hoffen können. Auch wenn seine Knie plötzlich aus Wackelpudding zu bestehen schienen, setzte Cosmin wieder einen Fuß vor den anderen und blieb zwei Schritte vor der Treppe stehen.
Alin schnellte von der Stufe hoch und Cosmin wich einen Schritt zurück. Alin überragte ihn um mindestens eine Handbreit, seine Unterarme waren dicker als Cosmins Oberarme. „Findest du bei dir in Deutschland keine Frau?“, fuhr Alin ihn an, behielt seine Fäuste jedoch bei sich.
„Ich wusste nicht…“, begann Cosmin, doch Alin ließ ihn nicht ausreden. „Erinnerst du dich an mich, Cosmin?“
„Äh, ich weiß nicht.“
Alin lachte freudlos auf. „Vor drei Jahren war ich mit dir fast jeden Tag auf dem Sportplatz, habe versucht, dich auf andere Gedanken zu bringen.“
Cosmin erinnerte sich an diesen älteren Jungen, doch es fiel ihm schwer zu glauben, dass genau dieser Junge jetzt als verbitterter junger Mann vor ihm stand.
„Und jetzt kommst du her und nimmst dir das Mädchen, das ich im Winter heiraten wollte.“
„Alin, es tut mir Leid“, sagte Cosmin leise. „Aber hat dich Camelia wirklich geliebt? An meinem ersten Abend hier auf dem Sportplatz hat sie dich nicht mal angeschaut. Glaubst du, dass du mit ihr glücklich geworden wärst?“
„Spar dir deine schlaue Rede, Cosmin!“, fauchte Alin. „Wärst du nicht der Sohn von Onkel Florin, würdest du jetzt hier im Dreck liegen.“
Plötzlich schoss seine Hand vor und schnappte sich Cosmins T- Shirt. „Ich liebe Camelia immer noch, Cosmin. Wehe, du spielst nur mir ihr, um dich ein bisschen zu vergnügen. Ich schwöre, lässt du sie sitzen, werde ich dir all deine Zähne ausschlagen, auch wenn du Onkel Florins Sohn bist!“
Alin ließ Cosmins T Shirt los und stapfte davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Cosmins Herzschlag beruhigte sich nur zögernd und der Schreck saß ihm noch in den Gliedern, als er den Sportplatz erreichte.
Sein Vater saß zusammen mit mehreren Brüdern und Schwäger bei Wein und gegrillten Hackröllchen, sogenannten, Mici, an einem der Tische und winkte ihm zu. Cosmin begrüßte die Männer und wandte sich an seinen Vater. „Tata, kann ich dich kurz sprechen?“
„Natürlich. Worum geht es denn, Cosmine?“
„Unter vier Augen!“
Sein Vater warf den anderen Männern einen entschuldigenden Blick zu und erhob sich.
„Tata, hast du gewusst, dass Camelia Alins Freundin gewesen ist?“, fragte Cosmin, als sie außer Hörweite der anderen Leute waren.
Der Blick seines Vaters beantwortete bereits Cosmins Frage. „Onkel Radu hätte es nicht gestattet, dass Alin Camelia heiratet.“
„Und deshalb sollte ich dazwischen funken?“, fragte Cosmin verbittert.
„Wir fanden, dass ihr wunderbar zusammen passt. Und wir hatten doch Recht, oder? Man kann richtig sehen, wie gerne ihr euch habt.“
„Ach Mann!“ Cosmin zuckte resigniert die Schulter. Begriff sein Vater nicht, dass er noch nicht ans an Heiraten denken wollte? Und schon gar nicht an eine Braut, die gerade mal sechzehn Jahre alt sein würde.
„Ich könnte eine Portion Mici vertragen“, wechselte Cosmin das Thema, weil sein Vater für das andere Thema offenbar taube Ohren hatte.
Ein von Spurrinnen durchzogener Feldweg führte bis fast an die Bucht mit den Fischerbooten und der Jacht. Onkel Radu ließ seinen geländegängigen Landrover am Ende des Feldweges stehen. Die letzten hundert Meter kämpfte er sich, gefolgt von Cosmin, im Schein einer Taschenlampe durch das Schilfdickicht.
„Onkel Radu, warum fahren wir eigentlich nachts auf den Fluss?“, fragte Cosmin, als sie mit einem der Boote zur Jacht paddelten, die in der Mitte der Bucht ankerte.
„Das verstehst du, wenn wir in Bulgarien sind, mein Junge“, erklärte Onkel Radu und vertäute das Boot an einem Pfahl, der neben der kleinen Jacht aus dem Wasser ragte.
Über eine Strickleiter erreichten sie das Deck der Jacht. Cosmin hätte es nicht für möglich gehalten, dass er in seinem Leben einmal den Fuß auf ein derartiges Schiff setzen würde. Die Kajüte glich eher einem luxuriös eingerichteten Wohnzimmer. Er fragte sich, welchen Geschäften man nachgehen musste, wenn man sich so etwas wie diese Jacht leisten konnte. Onkel Radu startete den Motor und beinahe lautlos glitt die Jacht auf den Fluss hinaus, über dem sich ein klarer Sternenhimmel wölbte.
Cosmin stand an der Reling bestaunte mit offenem Mund das nächtliche Panorama. Er wandte sich zu Onkel Radu um, der das Steuerrad bediente, als wäre das seine alltägliche Beschäftigung. „Das ist wunderschön.“
Vor ihnen tauchte eine Insel auf, an der sich der Fluss gabelte. „Noch wunderschöner ist das Geld, das ich für unseren Ausflug kassieren werde, Cosmine.“
Onkel Radus Handy klingelte. Er sprach mehrere Sätze in einer fremden Sprache, vermutlich bulgarisch, ins Handy und seufzte. „Wir müssen eine kurze Pause einlegen, mein Sohn.“
Mein Sohn?
Onkel Radu lenkte die Jacht im linken Seitenarm des Flusses in die Nähe des Ufers und löschte die Lichter auf der Jacht.
Motorengeräusche drangen an Cosmins Ohren und dann tauchte im anderen Seitenarm der Donau ein Schnellboot auf, das in östlicher Richtung davon schoss. Kaum waren die Lichter des Schnellbootes in der Ferne verschwunden, schaltete Onkel Radu die Beleuchtung wieder ein und startete den Motor.
„Wer war das?“, fragte Cosmin und ihm schwante, dass er gerade einer illegalen Beschäftigung beiwohnte.
„Rumänische Grenzpolizei. Aber wir sind jetzt in Bulgarien“, antwortete Onkel Radu. Er tippte etwas in sein Handy und kurz darauf traf die Antwort ein.
„Hier in Bulgarien ist die Luft rein.“
Inzwischen fiel es Cosmin schwerer, die nächtliche Fahrt unter dem funkelnden Sternenhimmel zu genießen.
Was trieb Onkel Radu hier? Schmuggel? Das war unwahrscheinlich. Wie Rumänien gehörte auch Bulgarien zur EU. Aber was dann?
In der Ferne tauchte ein Licht in Ufernähe auf, zu einsam für eine Ortschaft. Onkel Radu hielt geradewegs auf dieses Licht zu und stoppte die Jacht, als sie sich auf der selben Höhe wie das Licht befanden, etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt. Das einsame Licht war in das Leuchten mehrerer Taschenlampen zerfallen. Cosmin erkannte mehr als ein Dutzend zum Teil ziemlich zerlumpter Gestalten mit Rucksäcken, Beuteln oder Reisetaschen. Die meisten von ihnen hatten eine noch dunklere Hautfarbe als er selber.
„Onkel Radu, wer sind diese Leute?“, fragte Cosmin, obwohl er die Antwort bereits erahnte.
„Zahlende Kundschaft, Junge. Und zwar eine Kundschaft, die sehr uns sehr gut bezahlt.“
- Die Vorverlobung
Cosmin
Die drei Geländewagen der „Geschäftspartner“ von Onkel Radu erwarteten sie und ihre zwölf Passagiere bereits am Ende des Feldweges, wo Onkel Radu den Landrover zurückgelassen hatte.
Cosmin wusste inzwischen, dass Onkel Radus Kollegen die hauptsächlich aus Pakistan, Bangladesh und Nepal stammenden Männer in den Westen Rumäniens bringen würden, um sie dann über die Grenze nach Ungarn zu schleusen. Das Ziel der Flüchtlinge war vermutlich Österreich oder Deutschland.
Nachdem die Nacht die hoppelnden Rücklichter der drei Geländewagen verschluckt hatte, lehnte sich Onkel Radu gegen den Landrover, zündete sich eine Zigarette an und stieß genüsslich den Qualm aus.
„Geschafft, mein Junge“, sagte er und legte seine Pranke auf Cosmins Schulter. Nach dem Cosmin wusste, wie der Onkel zu seinem Reichtum kam, hätte er die Hand am liebsten von seiner Schulter gewischt. „Noch ein paar dieser Touren, und ich habe das Geld für eure Wohnung in Deutschland zusammen. Ich verspreche dir, ihr beide werdet es mal besser haben werdet als ich und Viorica es nach unserer Hochzeit hatten.“
Cosmin traute seinen Ohren nicht. Onkel Radu plante allen Ernstes, ihm und Camelia eine Wohnung zu kaufen, was sich die meisten Dessauer nur dann leisten konnten, wenn sie sich bei einer Bank verschuldeten. Cosmin fühlte sich, als wäre er wie eine Fliege in einem Netz gefangen, das sich immer fester zuzog.
„Onkel Radu, es ist nicht nötig, dass Sie…“
„Schon gut, Cosmine! Ich mache das gerne für euch.“ Onkel Radu trat die Zigarettenkippe aus und sie stiegen in den Landrover. Dort tätschelte er Cosmins Schulter.
„Und morgen Abend planen wir eure Verlobung. Du bist nur noch zwei Wochen hier und auch ich kann so etwas nicht von heute auf morgen organisieren“, sagte er und startete den Motor, während Cosmin auf dem Beifahrersitz vor Schreck erstarrte. Fieberhaft suchte er nach einer losen Masche im Netz. Nach seiner Begegnung mit Alin drohte ihm zudem der Verlust sämtlicher Zähne, sollte sich Camelia sitzengelassen fühlen.
„Da könnte es ein Problem geben, Onkel Radu“, sagte er, während sie über den Feldweg holperten. Schlagartig schien die Temperatur im Landrover um zwanzig Grad zu sinken.
„Was für ein Problem?“ Auch die Stimme des Onkels klang frostig und ließ Cosmins Widerstand bröckeln.
„Nicht weiter schlimm, aber bei uns in Deutschland ist eine Verlobung mit einem Mädchen unter sechzehn strikt verboten“, schwindelte er und hoffte, dass Onkel Radu nicht auf die Idee kam, zu diesem Thema Google zu befragen. „Es wäre besser, das Vorverlobung zu nennen. Dann bekomme ich keine Probleme mit der Polizei.“
Cosmin sah durch den Vorhang aus Haarsträhnen, dass sich Onkel Radus Miene wieder aufhellte. Dann lachte der Onkel. „Vorverlobung. Mir soll es egal sein, wie du es nennst. Sollte dich in Deutschland also jemand von der Polizei fragen, ob du verlobt bist, sagst du einfach, du bist nur vorverlobt.“
Onkel Radu schüttelte sich immer noch vor Lachen und Cosmin fragte sich, ob es auf dieser Welt überhaupt jemanden gab, der ihm aus so einem Schlamassel helfen könnte. Offenbar war er allein dazu nicht in der Lage, auch weil er sich trotz allem ein bisschen nach den den Küssen und Zärtlichkeiten mit Camelia sehnte.
Cosmins Vater und Onkel Radu planten die Verlobungsfeier für das erste Wochenende im August und der Onkel verstand es, das halbe Dorf bei der Vorbereitung einzuspannen. Zugleich wurde Cosmin nicht müde darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Verlobung wegen Camelias Alter ja eigentlich nur um eine Vorverlobung handeln würde.
Die Verlobungsfeier sollte auf dem Sportplatz stattfinden. Und weil mit Camelia die Lieblingstochter des unangefochtenen Bosses der in Porumbita lebenden Romi ihre Verlobung feiern wollte, erwartete Cosmin, dass sich fast alle Dorfbewohner auf dem Sportplatz einfinden würden.
Die Kosten einer solchen Feier, die selbst die am Wochenende zuvor stattfindende Hochzeit in den Schatten stellen würde, bereiteten Cosmin und seinem Vater keinerlei Kopfzerbrechen.
Denn zwei weitere Male tauchten die Geländewagen mit dem Autokennzeichen des Bezirkes Arad auf; beim zweiten Mal waren es sogar fünf Fahrzeuge. Die armen Schlucker aus Südasien, dem Nahen Osten oder Afrika füllten unter anderem auch Onkel Radus Geldbörse.
Cosmin hatte im Reisegepäck unter anderem ein Mathebuch mit Aufgaben des Leistungskurses verstaut. Doch er kam an keinem seiner Ferientage in Porumbita dazu, auch nur einen Blick hinein zu werfen. Fast täglich unternahm er Ausflüge mit Camelia, meistens ins Flusstal der Donau. Zu jedem dieser Ausflüge brachte Camelia eine Decke mit und auf keinem dieser Ausflüge blieb die Decke ungenutzt.
Die Abende verbrachten sie oft zusammen mit anderen Jugendlichen auf dem Sportplatz.
Cosmin gewöhnte sich allmählich daran, dass sich viele der Jungen um ihn scharten, als wäre er so etwas wie ein Popstar. Zum einen lag das daran, dass er aus Deutschland stammte und die Jungen offenbar annahmen, dass man dort wie im Paradies leben würde. Zum anderen galt er als künftiger Schwiegersohn des Dorfbosses und Bräutigam des schönsten Mädchens im Dorf, worum ihn auch einige der Jungen zu beneiden schienen.
Einmal kreuzte Alin auf. Wie schon am ersten Abend beobachtete er Cosmin und Camelia vom Rand des Fußballfeldes. Cosmin nickte ihm einen Gruß zu, den Alin nicht erwiderte.
Der erste Samstag im August begann mit einem morgendlichen Donnerwetter und prasselndem Regen. Fast schien es, als wolle Petrus höchstpersönlich Cosmin zu Hilfe eilen und die Vorverlobung mit Camelia ins Wasser fallen lassen. Doch noch am späten Vormittag klarte der Himmel wieder auf und am Nachmittag strahlte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel und leckte das Wasser aus den Pfützen.
Die Frauen des Dorfes brachten tonnenweise selbstgebackene Kuchen zum Sportplatz, während Onkel Radu mehrere Männer damit beschäftigte, zusätzliche Sitzgelegenheiten und Tische zu zimmern. Kinder tobten auf dem Fußballfeld und stiebiezten Naschereien, die von den Frauen auf einem Buffet aufgereiht wurden.
Cosmin saß zusammen mit seinem Vater und einigen von dessen Brüdern und Schwäger an einem der größten Tische und versuchte sich vorzustellen, dass er sich auf einem ganz normalen Dorffest befinden würde. Die Männer stießen bereits mit Hauswein auf sein Wohl an.
„Junge, ich bin schon richtig auf deine Rede gespannt“, rief ihm Onkel Vasile vom anderen Ende des Tisches zu.
Cosmin runzelte die Stirn und wandte sich an seinen Vater. „Was für eine Rede, Tata?“
Sein Vater zuckte die Schulter. „Onkel Radu und Tante Viorica geben dir ihre jüngste Tochter, Cosmine. Sag ihnen, dass Camelia bei dir in guten Händen ist.“
Cosmin schoss einmal mehr glühende Hitze bis in die Ohrenspitzen. Inzwischen hatte Camelia gefühlte tausend Mal von ihm hören wollen, wie sehr er sie lieben würde.
Er liebte es, mit ihr auf einer Decke zu liegen, sie zu küssen und ja, auch mal ihre Brüsten anzufassen. Aber war das Liebe? Er konnte es kaum erwarten, endlich wieder in seinem Zimmer am Schreibtisch zu sitzen und knifflige Matheaufgaben zu lösen, weit weg von diesem Ort.
Warum will ich nicht hier bleiben, wo Camelia ist?
Sein Hirn arbeitete bereits an einer Rede, bei der er nicht zu viel versprach, aber auch nicht riskierte, sämtliche Zähne zu verlieren.
Immer mehr Leute strömten zum Sportplatz. Aus mehreren Lautsprecherboxen dröhnten die rasanten Rhythmen traditioneller Zigeunermusik.
Tante Elena, die älteste Schwester von Cosmins Vater, erschien im Gedränge und führte die Großmutter an den Tisch. Die alte Frau blickte von einem der Männer zum anderen und schließlich blieb ihr Blick an Cosmin hängen. „Du siehst ein bisschen aus wie mein Florin. Wer bist du?“
„Mama, das ist mein Sohn Cosmin“, antwortete Cosmins Vater an Cosmins Stelle, sprang auf und half seiner Mutter, sich neben ihm auf den schnell herbeigeschafften Stuhl zu setzen. „Er wird Radus Jüngste heiraten und wir feiern heute die Verlobung der beiden.“
„Vorverlobung“, korrigierte Cosmin schwach.
Wenig später trat Onkel Radu an den Tisch und Cosmin entging nicht, dass die Männer am Tisch respektvoll zu ihm aufblickten. Onkel Radu legte seine Pranken auf Cosmins Schulter. „Gleich kommt mein Töchterchen, Sohn.“ Er deutete auf einen auf einer Art Podest platzierten Tisch. Wie ein Berg erhob er sich aus dem von all den anderen Tischen gebildeten Tal. „Ihr werdet dort sitzen. Und wir natürlich auch Florine“, wandte er sich an Cosmins Vater. „Und du, mein Junge…“, fuhr er fort und knetete Cosmins Schulter, „… du bist hier auf deiner Verlobung und brauchst nicht mehr so zu gucken, als wärst du auf einer Beerdigung.“
„Vorverlobung, Onkel Radu. Wegen der Polizei…“, sagte Cosmin leise, doch laut genug für die Ohren des Onkels.
Onkel Radu lachte schallend. „Vorverlobung klingt gut. So etwas können nur die Deutschen erfinden.“ Er schaute zum Rand des Fußballfeldes, wo seine Leute an Brettern herum hämmerten. „Was machen die denn da!“, polterte er und ließ endlich Cosmins Schulter los. „Ich muss schauen, was die Idioten dort treiben.“ Schnaubend wie ein Stier beim Anblick eines roten Tuchs stürmte er zum Fußballfeld.
Cosmin verfolgte ihn mit seinem Blick, doch noch ehe Onkel Radu seine Männer dort nieder machte, klingelte das Handy in seiner Hosentasche. Der einzige, der ihn bisher in diesen Sommerferien angerufen hatte, war sein Vater. Doch der saß gerade neben ihm.
Und Freunde in Deutschland, die ihn hier anrufen würden, hatte er nicht.
Cosmin fischte sein Handy aus der Hosentasche und schaute auf das Display. Es verkündete einen Anruf von „Die Mutter“. Hatte sie etwa von seiner Verlobung erfahren? Aber wie? Sein Vater hatte nach der Scheidung nie wieder mit ihr geredet.
Cosmin drückte die grüne Taste. „Was willst du?“, schnauzte er auf deutsch ins Handy und bemerkte, dass sein Vater neben ihm erstarrte.
„Cosmin, bitte leg nicht auf“, drang die Stimme seiner Mutter aus dem Handy. „Ich habe wieder geheiratet und mein Mann, dein Stiefvater, er möchte dich kennen lernen. Und ich, ich möchte dich sehen.“
„Glückwunsch Mutter, aber ich bin mit meinem Papa in Rumänien. Sag diesem Stiefvater, dass ich nicht interessiert bin. Mach’s gut…“
„Warte, bitte!“, rief seine Mutter.
„Was?“
„Cosmin, bitte… ich will dich sehen, du bist doch mein Kind. Wann kommst du zurück?“
„Wenn die Schule wieder los geht“, schwindelte er einmal mehr. „Also vergiss das mit dem sich sehen. Ich bin hier gerade auf einer Feier in Papas Dorf und kann jetzt nicht stundenlang mit dir reden. Vielleicht in den nächsten Ferien. Mach’s gut!“
"Cosmin… "
Cosmin brachte ihre Stimme mit einem Druck auf die rote Taste zum Verstummen.
Aus dem Gesicht seines Vaters war jegliche Bräune verschwunden. „Stiefvater? Sie hat wieder…?“, fragte er auf deutsch.
Cosmin nickte und tätschelte den Arm seines Vaters. Tränen schimmerten in dessen Augen.
„Tata, vergiss die einfach.“
Sein Vater schüttelte schwach den Kopf. Einer seiner Brüder schenkte ihm Wein ein und schob das Glas in seine Richtung. Auch die anderen Männer hatten offenbar begriffen, mit wem Cosmin geredet hatte und zogen betretene Gesichter.
Für einen Moment verstummte das Stimmengewirr an den Nachbartischen. Camelia bahnte sich zusammen mit ihrer Mutter einen Weg durch das Gewimmel auf dem in eine Festwiese verwandelten Sportplatz. Ihrer Mutter sah man zwar immer noch an, wie schön sie in früheren Jahren gewesen war, aber auch, dass sie sechs Kindern das Leben geschenkt hatte. Graue Strähnen mischten sich in ihr schwarzes Haar. Wie bei Camelia reichte es ihr bis fast zu den vom Alter gerundeten Hüften. Camelia trug eine schneeweiße Bluse und einen ebenso weißen, knielangen Rock, der sich eng an ihre Hüften schmiegte und ihre schlanke Figur betonte. Cosmin hatte gewiss nicht vorgehabt,die Heimreise in ein paar Tagen als Vorverlobter anzutreten. Aber um dieses Mädchen würde ihn vermutlich jeder Junge in seiner Klasse beneiden.
Camelia trat an ihn heran und küsste seine Wange. „Cosmi, wie sehe ich aus?“
Cosmin musste sich ausnahmsweise mal nicht verbiegen. „Du siehst toll aus Camelia“, antwortete er und wandte sich an ihre Mutter. „Und Sie sehen auch toll aus, Tante Viorica.“ Camelias Mutter erwiderte das Kompliment mit einem Lächeln. „Schön, dass du bald zu unsere Familie gehören wirst, Cosmin.“
Cosmin jaulte lautlos auf. Musste man ihn ständig daran erinnern? Waren es die Küsse und Zärtlichkeiten mit Camelia wert gewesen, dass er sich in eine Ehe mit ihr hinein treiben ließ?
Am frühen Abend begannen mehrere Frauen, auf den zum Buffet umfunktionierten Tischen Brote sowie Platten mit Käse und frischer Wurst abzustellen. Andere Frauen brieten Fleisch, für das mehrere Schafe und Lämmer ihr Leben gelassen hatten.
Cosmin saß inzwischen zusammen mit Camelia, seinem Vater und Camelias Mutter auf den Ehrenplätzen und schätzte, dass mindestens dreihundert Erwachsene und Dutzende Kinder an den Tischen oder auf im Gras ausgebreiteten Decken saßen. Noch übertönten rasante Rythmen aus den Lautsprechern das Stimmengewirr.
Onkel Radu trat an den Tisch und reichte Cosmin ein kleines aus zusammen gefaltetem Papier geformtes Päckchen.
Cosmin zögerte, als würde er befürchten, dass sich im Päckchen eine Giftspinne befinden könnte.
„Was ist da drin, Onkel Radu?“
„Mach es auf, Junge!“
Umständlich entfaltete er das Papier. Ihm schwante, dass es etwas verbarg, das seinen Fesseln einen weiteren Knoten hinzufügen würde.
Endlich beförderte er zwei schlichte goldene Ringe ans Tageslicht. Sein Herz sank noch etwas tiefer. Onkel Radu schien seine entglittenen Gesichtszüge als Überraschung über das wertvolle Geschenk zu deuten und striegelt zufrieden seinen Schnurrbart. Camelias Augen leuchteten. Sie schnappte sich den kleineren der beiden Ringe und einen Augenblick später steckte er am Mittelfinger der linken Hand.
„Probier ihn aus, Cosmine“, polterte der Onkel.
Der Ring passte wie angegossen; schien aber an seinem Finger einen Zentner zu wiegen. Cosmin fragte sich, wie Onkel Radu Maß genommen hatte.
„Danke Onkel Radu“, brachte er über die Lippen.
Onkel Radu winkte ab. „Die Zeremonie wird so ablaufen: Zuerst sagst du allen hier, warum du mein süßes Töchterchen zur Frau haben möchtest. Dann wird Camelia antworten, warum sie deinen Heiratsantrag annimmt. Danach steckt ihr euch gegenseitig die Ringe an die Finger und dann seid ihr verlobt und wir stoßen auf euch an.“
„… vorverlobt“, korrigierte Cosmin mit leiser Stimme.
Onkel Radu überhörte den Einwand. „Gib den Ring Cosmin zurück“, sagte er zu Camelia und wandte sich an Cosmins Vater. „Florine, lass uns anfangen. Geh und sag Adrian, er soll die Musik abstellen.“
Cosmins Vater erhob sich und strich Cosmin über das zottelige Haar. „Nur Mut, mein Sohn. Ich bin so stolz auf dich.“
Cosmin fühlte einen Kloß im Hals. Er würde nicht nur vor hunderten Leuten eine Rede halten müssen. Er würde vor all diesen Leuten einen Heiratsantrag machen und unsterbliche Liebe heucheln müssen, ohne dass die Heuchelei jemandem und schon gar nicht Camelia auffallen durfte.
Sein Blick schweifte durch die Menge und wurde von zwei finster zu ihm aufblickenden Augen eingefangen. Alin saß zusammen mit einigen anderen von Cosmins Cousins und Cousinen an einem Tisch und hielt die geballten Fäuste so, dass Cosmin sie gar nicht übersehen konnte.
Die Musik verstummte und einen Augenblick später verebbte auch das Stimmengewirr.
„Willkommen Leute!“, donnerte Onkel Radus Stimme über die Köpfe der versammelten Menge hinweg. „Cosmin, der Sohn meines Freundes und Cousins Florin Munteanu, möchte uns was sagen.“
Cosmin erhob sich und versucht auszublenden, dass sich an die vierhundert Augenpaare auf ihn richteten. Er stellte sich vor, Herr Schneider, sein Deutschlehrer am Dessauer Gymnasium hätte die Aufgabe gestellt, einen Heiratsantrag zu verfassen. Und nun stand er in seinem Zimmer am Schreibtisch und probte die von ihm verfasste Rede.
„Schon, als ich vor drei Jahren hier bei euch im Dorf war, fiel mir auf, was für ein hübsches Mädchen Camelia ist.“ (gelogen)
„Bevor ich jetzt wieder hier her kam, fragte ich mich jeden Tag, wie sie jetzt aussieht, als junge Frau.“ (gelogen)
„Dann, als ich ihr hier vor vier Wochen endlich wieder begegnete, war ich überrascht, wie schön sie jetzt ist…“ (stimmt) „… und verspürte sofort den Wunsch, für immer mit ihr zusammen zu sein.“ (gelogen)
„Die Stunden, die wir hier zusammen verbracht haben, waren die schönsten Stunden meines Lebens.“ (vielleicht etwas übertrieben)
„Ich merkte, dass ich in dich verliebt bin, Camelia.“ (bin ich das wirklich???)
„In drei Tagen fahre ich wieder zurück nach Deutschland und ich werde dich vermissen.“ (mal sehen)
„Ich möchte nie wieder von dir getrennt sein, Camelia.“ (total übertrieben)
„Deshalb frage ich dich, möchtest du meine Frau werden, wenn du so alt bist, dass du heiraten darfst?“ (total gelogen, bitte sag nein oder sag wenigstens, dass du noch ein paar Jahre Bedenkzeit brauchst)
Cosmin verstummte und sah, dass Camelia ihn anstrahlte. Auch sein Vater schien für einen Moment die Nachricht von der Heirat der Ex-Frau vergessen zu haben. Onkel Radu klatschte und gleich darauf klatschten auch die anderen Leute.
„Steh auf Schatz und sag, dass du ihn willst“, raunte Onkel Radu seiner Tochter zu.
Camelia stellte sich neben Cosmin, küsste ihm unter dem Beifall der Menge auf die Wange und sagte so laut sie konnte: „Ich will deine Frau werden, Cosmin. Ich will mit dir in Deutschland leben und ich will deine Kinder gebären.“
Erneut brandete Beifall auf. Doch es gab ein Augenpaar, finster wie ein schwarzes Loch und es vermochte immer wieder, Cosmins Blick in sich hinein zu saugen.
„Die Ringe, Cosmi!“, zischte Camelia ihm zu.
„Äh ja…“ Cosmin löste den Blick von Alins Augen und reichte Camelia den Ring für seinen Finger.
Gegenseitig steckten sie sich die Ringe an den Mittelfinger der linken Hand. Die Leute an den Tischen und auf der Wiese jubelten; sogar die Kinder klatschten Beifall.
Vor allem die Jugendlichen skandierten lauthals, was sie nun erwarteten.
„Küssen!“
„Küssen!“
„Cosmi, du musst mich jetzt küssen. Auf den Mund, aber nicht mit der Zunge“, erklärte Camelia. Ihre Hand glitt unter die Mähne in seinem Nacken und zog ihn zu sich heran. Cosmin legte seine Hand auf ihre Schulter. Für ein paar Sekunden trafen sich ihre Lippen.
„Ich werde den Ring bis zu unserer Hochzeit nicht mehr absetzen“, versprach Camelia anschließend und Cosmin bemerkte, dass nicht nur Camelia auf seine Erwiderung wartete.
„Ich… äh, bei uns in der Schule sind Ringe verboten… Aber… äh sonst werde ich ihn immer tragen“, versprach nun auch Cosmin.
Dieses Versprechen brach Cosmin bereits drei Tage später in Bukarest, kurz nach dem er mit seinem Vater im Flixbus nach Leipzig auf seinem Platz saß.
Sein Vater schaute entgeistert zu, wie er sich den Ring vom Finger zerrte. „Was machst du denn da, Cosmine?“, fragte er erschrocken.
„Tata! Ich brauche jetzt echt mal eine Pause von diesem ganzen Hochzeitsquatsch.“
- Flucht nach Dessau
Max
„Vergiss es, Onkel! Ich komme nicht mit! Ich warte so lange hier in der Kiste auf dich.“
Max warf seinem Onkel Leon einen trotzigen Blick zu. Drei Wochen waren sie zusammen im Campervan unterwegs gewesen, hatten in verschiedenen Sportklettergebieten Südfrankreichs die schwierigsten Routen durchstiegen und die Abende am Lagerfeuer verbracht. Max wäre am liebsten die gesamten Sommerferien mit Leon dort geblieben, aber sein Onkel würde morgen zu irgendwelchen Bauprojekten nach Bratislava zurückkehren. Auf dem Rückweg hatte sein Vater Leon angerufen und ihn zu einem ersten gemeinsamen Abendessen mit dessen neuer Frau eingeladen.
„Maxi, verdammt!“, fluchte Leon, während er den Van zur Tordurchfahrt steuerte, die zu den Parkplätzen hinter dem Haus von Max’ Vater führte. „Keiner zwingt dich, mit deiner Stiefmutter zu reden. Aber wir müssen auch klären, wie es mit dir weiter gehen soll. Vielleicht kriege ich deinen Vater doch noch 'rum und du kannst in meinem Haus wohnen. Aber ich könnte vielleicht auch ein bisschen deine Hilfe dabei gebrauchen, okay?“
„Wenn mich mein Alter nicht bei dir wohnen lässt, haue ich von hier ab“, presste Max zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor.
Leon kraulte Max’ vom Fahrtwind zerzaustes Haar. „Und wohin willst du abhauen, Champ?“
Ein Grinsen huschte über Max’ Gesicht. „Nach Bratislava vielleicht?“
„Und die Schule?“
„Scheiß auf die Schule!“
Leon verpasste Max einen Klaps auf den Hinterkopf. „Los jetzt, Maxi. Zeig deiner Stiefmutter die Zähne.“
Max schnaubte, schwang sich jedoch aus dem Van.
Wenig später betraten sie das Wohnzimmer in der ersten Etage des Hauses. Max’ Vater saß allein auf der Couch und erhob sich, um sie zu begrüßen. Seine Haushälterin arrangierte das Geschirr auf dem zur Tafel ausgezogenen Tisch und nickte ihnen einen Gruß zu. Max’ Vater und Leon umarmten sich herzlich und Max versuchte sich vorzustellen, wie sein Vater früher dem kleinen Leon der geliebte große Bruder gewesen war.
Wieso ist so ein Ätzer aus ihm geworden?
Max ließ sich in einen der Sessel fallen.
„Hallo Maximilian“, sagte sein Vater.
„Vater“, erwiderte Max. Nach dem Tod seiner Mutter hielten sie sich bei einer Begrüßung nicht mal mehr mit einem Handschlag auf. Leon runzelte die Stirn und ließ sich in den anderen Sessel fallen.
Max wartete, bis die Frau in der Küche verschwunden war und tat so, als würde er etwas unter dem Tisch suchen. „Wo ist deine Frau?“
Sein Vater seufzte. „Du suchst an der falschen Stelle, Maximilian.“
„Alex, so lange sie nicht hier ist… wir sollten nochmal darüber reden, was ist, wenn Maxi mit seiner Stiefmutter nicht klar kommt“, wandte sich Leon an Max’ Vater.
„Leon, das haben wir doch besprochen. Maximilian ist immer noch minderjährig. Es kommt nicht in Frage, dass er allein in deinem Haus wohnt.“
„Hör mit diesem minderjährigen Quatsch auf, Vater“, brauste Max auf. „Wenn ich nicht bei Leon wohnen darf, mache ich die Fliege. Und wenn ich irgendwo auf einem Bahnhof pennen muss…“
„Bist du völlig durchgeknallt?“, erwiderte sein Vater lautstark.
„Hehe…“, funkte Leon dazwischen. „Lasst uns doch mal in Ruhe…“ Er unterbrach sich, weil die Haushälterin mit Geschirr anrückte. Er wartete, bis sie wieder in der Küche verschwunden war. „Wie wäre es damit… während der Schultage bleibt Max hier und an den Wochenenden wohnt er bei mir.“
„Nö!“
„Maxi! Schon mal vom Wort Kompromiss gehört?“
„Drei Tage in der Woche hier und vier bei dir“, sagte Max und lehnte sich im Sessel zurück.
„Wo sind wir hier?“, schimpfte sein Vater. „Auf einem Flohmarkt?“
„Alex… ich wollte auch nicht bei unseren Eltern bleiben, weißt du noch?“, sagte Leon leise. „Lass Maxi doch ein paar Tage in der Woche bei mir wohnen. Meinetwegen drei Tage am Stück.“
„Mit den Wochenenden wäre ich einverstanden.“
Max schüttelte den Kopf. „Ich will drei Tage am Stück!“
„Und was machen wir, wenn Maximilian einen Saustall aus deinem Haus macht?“
Leon zuckte mit der Schulter und nickte in Richtung der Küchentür. „Dann kommt jemand vorbei und macht wieder sauber. Also abgemacht, Leute?“ Er zog Max an sich. „Komm schon, kleiner Bruder. Versuch es wenigstens.“
„Aber ich halte trotzdem schon mal nach einem Bahnhof Ausschau“, antwortete Max mit einem flüchtigen Grinsen.
Sein Vater brachte aus der Küche drei Flaschen Radler. Max nahm an, dass der Vater mit Leons Vorschlag einverstanden war und auf diesen Kompromiss anstoßen wollte.
„Wo ist denn nun eigentlich deine Frau, Alex?“, fragte Leon nach einem kräftigen Schluck aus der Bierflasche.
„Sie stand unter der Dusche, als ihr gekommen seid.“
Die als Haushaltshilfe tätige Frau trat aus der Küche. Der Duft nach Grillfleisch und gebackenem Käse wehte ins Wohnzimmer „Wann darf ich das Abendessen servieren, Herr Weller?“, wandte sie sich an Max’ Vater.
Der warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Servieren Sie es in einer halben Stunde.“ Die Frau nickte und verschwand wieder in der Küche.
„So, und nun erzählt mal, was ihr in den drei Wochen alles angestellt habt.“
Während Leon von ihren Kletterabenteuern berichtete, las Max eine zwei Seiten lange Nachricht, die ihm Caroline schon vor einer Woche geschrieben und die er bislang ignoriert hatte. Wie es schien, war sie immer noch scharf auf ihn. Allerdings schrieb sie auch, warum sie nicht mit dem Erstbesten ins Bett steigen würde. Max ließ die Nachricht unbeantwortet und tippte stattdessen mehrere Nachrichten an seine Kumpel Oskar und Nicholas ins Handy.
Die Wohnzimmertür schwang auf und seine Stiefmutter betrat das Wohnzimmer. Sie trug ein helles, ärmelloses Abendkleid, das die Bräunung ihrer Haut betonte. Lockiges, schwarzes Haar fiel ihr auf die unbedeckte, zarte Schulter. Max gestand sich widerwillig ein, dass diese Frau atemberaubend schön war.
Leon erhob sich aus dem Sessel und reichte ihr die Hand und Max bemerkte aus den Augenwinkeln die bewundernden Blicke des Onkels für die neue Schwägerin.
"Guten Abend Maximilian."Offenbar ahnte sie, dass Max ihr nicht die Hand reichen würde. Sie setzte sich sofort zu seinem Vater auf die Couch.
„Und?“, fragte Max, ohne ihren Gruß zu erwidern. „Hast du dich schon eingelebt bei uns?“
Sein Vater zog scharf die Luft durch die Nase, aber falls die Stiefmutter verärgert war, ließ sie es sich nicht anmerken. „Ich glaube, das wird noch eine Weile dauern.“
Die Haushaltshilfe servierte das Essen. Als all die Delikatessen und Köstlichkeiten auf dem Tisch standen, seufzte Max’ Stiefmutter. „Weißt du Alex, wenn ich dieses Essen auf dem Tisch sehe, muss ich daran denken, was für ein billiges und ungesundes Zeug bei meinem Jungen auf den Tisch kommt.“
Max’ Vater tätschelte den Arm seiner Frau. „Schade, dass es mit einem Treffen nicht geklappt hat. Ich hätte deinen Jungen gerne kennengelernt. Vielleicht fahren wir nach den Ferien mal zu ihm nach… wie hieß dieser Ort, wo er mit seinem Vater wohnt?“
„Wurzen.“
„… nach Wurzen und bringen ihn für ein paar Tage hier her zu uns. Maximilian und dein Junge könnten…“
Max knallte sein Besteck auf den Tisch und fuhr zu Leon herum. „Ich warte unten im Van auf dich.“
„Bleib sitzen!“, brüllte ihn sein Vater an und Leon legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Maxi, bitte…“
„Wir werden meinen Sohn nicht hier her bringen, wenn du das nicht willst, Maximilian“, versprach seine Stiefmutter.
Max blieb zwar sitzen, doch der Appetit war ihm vergangen. Er rührte keinen Bissen mehr an.
Am nächsten Nachmittag begleitete er Leon zum Flughafen.
„Wieso musst du ausgerechnet jetzt in Bratislava arbeiten?“, nörgelte Max, während sie zur Schlange trotteten, die sich vor dem Eingang zur Sicherheitskontrolle gebildet hatte.
Leon hatte seinen Arm um Max’ Schulter gelegt. „Das Timing ist ist echt suboptimal, kleiner Bruder, aber wir haben immerhin drei Tage am Stück für dich raus geholt.“
„Und vier Tage am Stück soll ich es zu Hause mit der aushalten?“ Max hatte diese Frage für sich inzwischen beantwortet.
„Bis zum Ende der Ferien bleibst du ja erst einmal bei mir. Und danach… Mach keine Dummheiten, Champ, okay?“
„Okay, Onkelchen.“
Sie umarmten sich und erst als Leon vom Gedränge an den Sicherheitskontrollen geschluckt wurde, machte Max auf dem Absatz kehrt und schlenderte zum Ausgang des Terminalgebäudes.
Auf dem Bahnhof des Flughafens betrat er den Servicebereich mit den Fahrkartenschaltern und begab sich an einen der Schalter, wo eine ältere Bahnangestellte auf Kundschaft wartete.
„Hallo, wo soll es denn hingehen, junger Mann?“
Max erwiderte den Gruß und strich nachdenklich über sein Kinn. „Wissen Sie was?“
Die Frau blickte Max fragend an.
Max fischte seine Kreditkarte aus der Brieftasche. „Ich war in diesem Sommer überhaupt noch nicht in Dessau.“
Es war bereits kurz vor 19 Uhr, als Max an diesem Abend vor einer vornehmen, zweistöckigen Villa stand, die wie die anderen Villen zu beiden Seiten dieser Straße in Dessau im Jugendstil erbaut war.
Er sandte ein Stoßgebet in den wolkenverhangenen Abendhimmel über ihn, dass sich seine Großmutter Lisa zu Hause aufhielt. Zwar hätte er sie vorab anrufen können, aber vielleicht hätte sie versucht, ihm den verrückten Plan auszureden, den er auf dem Weg zum Flughafen ausgeheckt hatte.
Falls sie nicht zu Hause war, würde er vielleicht wirklich auf einem Bahnhof übernachten müssen, weil er mit seinen siebzehn Jahren in den meisten Hotels nicht einchecken konnte. Sein Reisegepäck bestand aus dem, was er am Leib trug.
Er blickte zu den Rundbogenfenstern des Erkers im Erdgeschoss. Dahinter befand sich der Arbeitsplatz seiner Großmutter. Falls sie dort gerade über ihren Steuerabrechnungen brütete, müsste sie ihn bereits gesehen haben. Die Pforte, hinter der ein gepflasterter Weg zur zweiflügligen Eingangstür führte, war nicht abgeschlossen und Max betrat das Grundstück seiner Oma.
Noch ehe er die Eingangstür erreicht, schwang sie auf und seine Großmutter trat ins Freie. Sie trug sie ein elegantes zweiteiliges Kostüm, ihre dunkelblonden Haare bauschten sich auf ihrem Kopf wie eine Haufenwolke.
„Max?!“
Sie schob kurz ihre Brille auf die Nasenspitze, um darüber zu spähen, als würde sie den teuren Brillengläsern keinen Glauben schenken, dann eilte sie Max entgegen und drückte ihn an sich.
„Warum hast du nicht angerufen, Kind. Ich hätte dich doch vom Bahnhof abgeholt.“ Sie ließ ihren Blick über ihn hinweg gleiten. „Hast du nichts dabei?“
„Omi, ich brauche deine Hilfe.“
Die Großmutter sah Max erschrocken an. „Was ist passiert?“, fragte sie und zog ihn ins Haus.
„Ich bin von zu Hause abgehauen“, sagte er und betrat, gefolgt von seiner Oma, das geräumige Wohnzimmer.
Sie räumte einige auf dem Wohnzimmertisch ausgebreiteten Unterlagen auf eine Anrichte, über der ein Flachbildschirm thronte und zeigte auf die Couch. „Setz dich, Maxi. Ich bringe dir was zu essen und dann erzählst du mir, was passiert ist.“
Max nickte, doch er wandte sich nach rechts zu einer Tür. Seit drei Jahren begab er sich zunächst in den dahinter liegenden Raum, wenn er seine Großmutter besuchte.
Oma Lisa hatte dort eine Art Museum eingerichtet mit allen Sachen, die ihr von seiner Mutter geblieben waren.
Max bemerkte, dass ihm die Oma ins Zimmer folgte. In der Mitte des Zimmers reihten sich mehrere Bücherregale aneinander, in einigen stapelten sich Hefter und Ordner, sogar einige Schulsachen seiner Mutter bewahrte Oma Lisa hier auf. An den Wänden wäre für Bücherregale kein Platz gewesen, sie waren übersät mit Ölgemälden, wobei seine Oma die Gemälde sortiert hatte. An einer Wand befanden sich ausschließlich Gemälde mit allen möglichen Landschaften, die Wand rechts von Max war tapeziert mit Stadtansichten und an der Wand links befanden sich unzählige Porträts von Menschen jeden Alters.
Eines der Gemälde zeigte ihn im Alter von zehn Jahren. Seine Mutter hatte ihren Arm um ihn gelegt; die Hand zauste das schulterlange, blonde Haar. Sein Kopf lehnte an ihrer Schulter.
Sie hatte damals als Vorlage für das Gemälde mehrere Selfis in ihrem Atelier aufgenommen und fast war es, als könne er noch immer ihre Hand in seinen Haaren spüren.
Eine Träne rollte über seine Wange. "Mam, es tut mir so Leid, dass du nicht mehr da bist. Jetzt hat mein Vater diese Frau geheiratet und zu uns ins Haus geholt. Warum habe ich nicht aufgepasst, als wir… " Seine Stimme brach. Hinter sich hörte er das Schluchzen seiner Oma. Nur ein Jahr nach dem Tod ihrer Tochter war ihr auch Mann, Max’ Großvater, an Krebs gestorben.
Max’ Blick schweifte über weitere Gemälde, die seine Mutter von ihm gemalt hatte und blieb an der letzten Arbeit seiner Mutter hängen, dem Bildnis des traurigen Zigeunerjungen. Der Gemälde war unvollendet geblieben, der Hintergrund bis auf ein paar Pinselstriche weiß. Als die Großeltern die Gemälde seiner Mutter nach ihrem Tod hier her nach Dessau brachten, hatte Max darauf bestanden, dass das Bildnis des Zigeunerjungen neben einem Bild aufgehängt wird, das ihn selber in etwa demselben Alter zeigte. So waren sie wenigstens an dieser Wand Freunde geworden, wie er es seiner Mutter versprochen hatte.
Max fragte sich, ob der Junge immer noch so traurig darüber war, dass dessen Mutter ihn verlassen hatte. Der Zigeunerjunge musste jetzt ebenfalls siebzehn Jahre alt sein und sah vermutlich verdammt hübsch aus. Vielleicht hatte er inzwischen ein Mädchen, das ihm half, über den Verlust der Mutter hinweg zu kommen?
Einmal mehr wünschte sich Max, er wäre diesem Jungen begegnet. Aber er hatte nicht einmal den Hauch einer Ahnung, in welcher Ecke Deutschlands der Zigeunerjunge lebte.
„Maxi…“, drang die Stimme seiner Großmutter durch die geöffnete Tür.
Wenig später saß er neben seiner Oma auf der Couch. Sie hatte ihm ein Körbchen mit Brötchen, einen Teller mit Aufschnitt und Saft auf den Tisch gestellt und zauste ihm das Haar, so wie es seine Mutter auf dem Gemälde getan hatte.
Max hatte ihr bereits erzählt, weshalb er nach Dessau geflüchtet war.
„Darf ich bei dir bleiben?“, fragte er leise.
Seine Oma drückte ihn noch fester an sich. „Natürlich! Dass du im letzten Jahr die Schule wechselst, noch dazu von einem Bundesland in ein anderes, das ist natürlich nicht so gut. Ich hoffe, du wirst trotzdem dein Abitur schaffen. Ich werde morgen mit deinem Vater reden und dich am Gymnasium in der Stadt anmelden. Und morgen Nachmittag werden wir Sachen für dich einkaufen. Einen Schreibtisch für dein Zimmer müssen wir auch suchen, damit du daran die Hausaufgaben machen kannst.“
„Omi“, stöhnte Max. „Jetzt hörst du dich echt wie meine Mam an.“
Nach dem Essen bat er seine Oma um einen Permanentmarker. Ausgerüstet mit dem Stift stapfte er die Treppe bis zum Dachgeschoss hinauf. Den Dachboden hatten bereits seine Mutter und ihr Bruder Tobi als Trainingsraum benutzt. Beide waren Geräteturner gewesen. Max hatte zudem schon vor Jahren zusammen mit seinem Großvater vier große Boxsäcke und zwei kleinere, die etwa so groß wie Medizinbälle waren, an der Decke befestigt und sich im hinteren Teil des Dachbodens einen Bereich für das Klettertraining eingerichtet.
Mehrere Minuten lang traktierte er die Boxsäcke mit Schlägen und Tritten und schließlich wirbelte er dabei so schnell zwischen den Boxsäcken herum, dass sie alle zugleich heftig ins Schaukeln gerieten und es aussah, als würden sie sich nun gegenseitig traktieren wollen.
Max kramte den Stift aus seinen Sachen und wartete, bis die Boxsäcke ihren wilden Tanz beendet hatten. Dann begann er, auf jeden der Boxsäcke Strichgesichter zu malen, eines hässlicher als das andere. Seine Großmutter betrat den Dachboden und sah seinem Treiben eine Zeitlang mit gerunzelter Stirn zu.
„Maxi?“
Max verpasste einem Strichgesicht einen Mund mit Zahnlücken.
„Max! Was machst du denn da?“
Max betrachtete zufrieden das hässliche Gesicht und verpasste ihm einen derart kraftvollen Tritt, dass der Boxsack gegen den neben ihm hängenden Sack knallte.
„Das ist die dämliche Fresse von meinem Stiefbruder, Omi.“
Am nächsten Tag führte Oma Lisa zum ersten Mal seit drei Jahren ein längeres Telefongespräch mit Max’ Vater. Er war damit einverstanden, dass Max bis zum Ende der zwölften Klasse bei ihr wohnen und die Schule wechseln würde. Nach dem Zoff beim ersten gemeinsamen Abendessen mit seiner neuen Frau schien er zu spüren, dass ein Zusammenleben von Max mit ihr unter einem Dach nicht möglich sein würde.
Zusätzlich zu den fünfhundert Euro, die er jeden Monat Max auf dessen Konto überwies, wollte er der Großmutter monatlich eintausend Euro zahlen, um für Max’ Kosten aufzukommen. Oma Lisa lehnte das Geld nicht ab. Allerdings nahm sie das Geld nur, um es dann ebenfalls auf Max’ Konto zu überweisen. Vom ersten Tausender seines Vaters kaufte sich Max ein Fahrrad für den Schulweg und neue Kletterschuhe für Besuche in der Kletterhalle. Da er nur mit der Kleidung nach Dessau gekommen war, die er beim Abschied von Leon auf dem Flughafen in Berlin getragen hatte, musste Max völlig neu eingekleidet werden und das Geld dafür spendierte ihm seine Oma.
Obwohl das neue Schuljahr in Dessau nur zwei Wochen nach seiner Flucht nach Dessau begann, schaffte es Oma Lisa, den Schulwechsel zu organisieren.
Die letzten Ferientage vergingen wie im Fluge und schließlich brach Max’ erster Schultag in Dessau an…