Teil 6 – Keine ruhige Minute
Der nächste Tag lief wie am vorigen. Allerdings mit einem kleinen Unterschied: Clara saß am Frühstückstisch und ließ die Treue meines Hundes bröckeln. Rex stand nie am Vormittag vor zehn Uhr auf doch seitdem Clara hier war, hatte sich das offenbar verändert. Sie fütterte ihn mit Speckstückchen. Der Radio spielte eine, für den Morgen, angenehme Musik ab.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich auf einen der Hocker um unseren Küchentisch.
„Morgen, du Sonnenschein.“, sagte sie fröhlich und wuschelte mir durch meine blonden Stachelhaare. Ich kannte genug Leute, die jedes Mal auszuckten, wenn jemand an ihren Haaren herumfummelten aber ich nicht. Meine Haare waren kurz geschnitten und einmal mit der Hand durchfahren brachten sie wieder in Ordnung.
„Warum bist du schon so früh munter?“, fragte ich und stopfte Früchte in den Mixer, um mir meinen täglichen Shake zu mischen.
„Ich fahre mit dir in die Schule.“, sagte sie gut gelaunt und strich sich Marmelade auf eine Scheibe gebutterten Toast.
„Wie bitte?“, fragte ich ungläubig. Wieso verdammt nochmal wollte Clara in die Schule? Sie hatte doch ihren Abschluss.
„Ich will mich nach einem Teilzeitjob umschauen.“, sagte sie lächelnd und biss in ihren Toast. Mit vollem Mund erklärte sie mir: „Ich hab mir gedacht, in einer High-School gibt es bestimmt etwas Kleines für mich und ich wäre auch immer in der Nähe meines Lieblingscousins.“
Kopfschüttelnd holte ich mir die Eiswürfel aus dem Kühl-Fach und leerte sie in den Mixer.
„Ich bin dein einziger Cousin.“, sagte ich, stellte den Mixer an und die Geräusche von zerhackten Früchten und Eiswürfeln und das Summen des Mixers unterbanden eine weitere Unterhaltung. Ich wusste nicht, ob ich es gut fand, dass Clara vorhatte sich einen Teilzeitjob an meiner Schule zu suchen. Einerseits waren die Schüler bei weitem nicht sehr respektvoll, wenn es um heiße, junge Lehrerinnen ging. Andererseits war Clara nicht niemand, der sich von einer Handvoll pubertierender Jugendlicher unterkriegen ließ, zumindest hoffte ich das. Clara aß in aller Ruhe zu Ende bis ich den Mixer abstellte und mir den Shake genehmigte.
„Willst du noch was, bevor wir losfahren?“, fragte sie.
„Nein, danke. Viel zu fettig.“, sagte ich und warf einen Blick in die Pfanne.
„Ohhh, natürlich. Seit wann bist du denn so sehr auf sowas fixiert?“ fragte sie und schüttete die übrigen Streifen in den Futternapf von Rex.
„Keine Ahnung. Aber zu viel fettigem Zeugs krieg ich sowieso Magenschmerzen. Außerdem fahren wir noch nicht in die Schule. Ich gehe vorher noch joggen und duschen. Dann können wir von mir aus fahren. Willst du mitkommen?“
Clara lachte: „Nein danke. Ich bleibe lieber hier und werde fett.“
„Von mir aus.“, sagte ich. „Aber wenn du schon nicht mitkommst, nehme ich ihn hier mit.“
Ich legte Rex die Leine an. Er winselte, denn einer der Gründe, dass er immer spät aufstand war, dass er mein Joggingtempo kannte. Aber ich kannte keine Gnade und zog ihn mit. Früher oder später genoss er die Bewegung. Das wusste ich aus Erfahrung.
Eine Dreiviertelstunde später saß Clara munter plappernd neben mir auf dem Beifahrersitz und verrichtete meine eigentliche Aufgabe: durch zu viel Reden zu nerven. Irgendwann drehte ich den Radio auf, aber Clara kam nicht in den Sinn mitzusingen. Daher drehte ich den Radio ab und ließ sie reden.
Jason war überaus überrascht, dass er diesmal hinten sitzen musste. Noch überraschter war er als er Clara erkannte.
„Seit wann ist denn deine Cousine wieder hier?“, fragte er.
Ich wollte schon antworten, aber Clara war schneller.
„Du kannst mich ruhig selbst fragen. Ich bin gestern angekommen und gehe mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr so schnell hier weg.“, sagte sie zwinkernd. „Übrigens schön dich wiederzusehen, Jason.“
„Danke“, sagte Jason verlegen. „Und schön, dass du dich an meinen Namen erinnerst, Clara.“
„Was denkst denn du, bitte? Dass ich den Namen des besten Freundes meines Lieblingscousins vergesse?“, sagte sie lachend.
„Du hast doch nur einen Cousin.“, sagte Jason verwirrt. Ich blickte ihn vielsagend an. Jason schmunzelte. Clara war inzwischen schon wieder durch etwas anderes abgelenkt worden. Von ihrem Sitz.
„Sag mal Brandy, warum riecht der Sitz so merkwürdig?“
Ich wurde ein klein wenig rot. Zum einen, weil sie mich vor meinem besten Freund Brandy genannt hatte, zum anderen weil es mir komischerweise peinlich war, dass ich Liam heimgefahren hatte. Zögernd erzählte ich die Geschichte wie ich Liam im Müllcontainer gefunden hatte, ihn vor Alvin und seiner Clique beschützt und danach heimgefahren hatte.
Clara nickte als ich zu Ende erzählt hatte.
„Der Arme.“, sagte sie. „Ich habe schon so einiges an gay Drama miterlebt, aber das klingt nach einer ganz anderen Liga.“
„Du hattest in Europa mit Schwulen zu tun?“, fragte Jason ungläubig.
Clara nickte: „Ja. Ich war sogar mal in einen verknallt aber der hatte einen Freund und war nicht geoutet. Ich hatte null Ahnung und als es dann rauskam war ich anfangs ziemlich geschockt. Aber dann sind wir irgendwie Freunde geworden.“
Ich musste grinsen. Irgendwie hörte sich das lustig an.
Als wir dann zur Schule kamen sah ich schon von weitem Alvin. Er und seine kleine Bande von Speichelleckern warfen mir böse Blicke zu während sie wie üblich an ihren Zigaretten zogen. Aber irgendwas hielt sie davon ab herzukommen und mich wegen gestern zu belästigen. Vermutlich die Eier, die sie nicht besaßen.
Jason und ich gingen wie jeden Morgen zu unseren Spints und holten unser Zeug für die erste Stunde. Nur diesmal redete Clara auf uns ein. Sie fragte uns aus über die Schule und über irgendwelche Schüler und Lehrer, die vorbeigingen. Das zog ungewünschte Aufmerksamkeit auf uns. Genervt zeigte ich ihr dann das schwarze Brett der Schule und den Weg zum Büro unserer Direktorin, überließ es ihr allerdings den Weg selbst zu finden. Sie war schon groß, sie konnte das bestimmt.
Die Kantine war diesen Mittag zum Glück nicht überfüllt. Jason und ich erwischten eine Bank ohne Dressing in einer stillen Ecke. Aber gewisse Leute fanden mich natürlich trotzdem. Es dauerte gar nicht lange bis Connor im Anmarsch war, aber diesmal in Begleitung. Headcheerleaderin Vivien und ihr beste Freundin Dianna. Dianna hatte lange rabenschwarze Haare und eine bleiche Haut. Sie stammte aus Kanada. Sie war sehr hübsch und daher auch beliebt. Vivien war eine überaus hübsche Latina, die aber über einen Charakter verfügte der mich strahlkotzen ließ. Für sie hielt eine Freundschaft nur so lange wie der entsprechende Beliebtheitsstatus. Obendrein war sie eine Zicke. Ich mochte sie nicht wirklich, also setzte ich ein gezwungenes Lächeln auf.
„Hiii, Brandon.“, sagte sie mit breitem Lächeln, das ihre weißen Zähne zeigte. Perfekt gerade und gebleicht.
„Hi“, sagte ich kurz angebunden und zog die Mundwinkel hoch.
„Hiii, Brandon.“, sagte Dianna. Offenbar waren ihr die Grüße ausgegangen.
Die etwas hohle Art von Dianna fand ich immer wieder lustig. Genervt sah Vivien zu Dianna. Insgeheim vermutete ich, dass Vivien mit Dianna nichts am Hut hätte wenn da nicht ihre Beliebtheit wäre.
„Wir haben uns gefragt ob du zu unserer Party kommen willst?“, fragte Vivien zuckersüß.
„Das wird bestimmt klasse.“, sagte Connor eifrig und schwang sich sofort neben mich auf die Bank. „Ich selbst hab zwar nichts gekriegt aber mein Süßer hat uns Alkohol besorgt. Gutes Zeug“
Ich musste grinsen bei dem Gedanken wie Connor versuchte Alkohol zu kaufen und dabei älter als 21 zu wirken.
„Ich weiß nicht.“, sagte ich. Eigentlich hatte ich gerade keine Lust auf eine Cheerleader-Party. Aber dann bekam ich einen Tritt gegen mein Schienbein. Jason sah mich flehend an. Ich hatte ganz vergessen, dass ihm Dianna gefiel. Ich verstand sofort.
„Willst du es dir nicht noch überlegen?“, fragte Vivien. „Taylor hat schon zugesagt.“
„Eigentlich wollte ich ja was mit Jason machen.“, sagte ich.
„Von mir aus kann der auch kommen, aber bitte komm, Brandon. Ohne dich ist es nicht so lustig.“, sagte Vivien wimpernklimpernd. Ich tat so als würde ich kurz überlegen. Dann sagte ich: „Joa, wieso nicht?“
„Klasse!“, rief Connor. „Das wird bestimmt super!“
Ich sagte nichts darauf, sondern wollte anfangen meine Mahlzeit einzunehmen, als ich sah, dass Clara hinter Vivien und Dianna aufgetaucht war. Offenbar stand sie dort schon länger, denn als Begrüßung hörte ich ein: „Hiii, Brandon.“
„Hi, Clara.“, sagte ich und besah mir die verärgerte Miene von Vivien. Dianna hatte nicht einmal gemerkt, dass Clara sie gerade nachgeäfft hatte.
„Wer ist das denn? Ist die nicht schon viel zu alt für die Highschool?“, fragte sie und deutete auf Clara. Clara, die gut fünf Jahre älter war als Vivien sah sie belustigt an. Man merkte deutlich, dass Vivien es nicht gewohnt war verarscht zu werden.
„Ich bin die Cousine von Brandon, die hochnäsigen Cheerleaderinnen gerne Arschtritte verpasst.“, sagte Clara. Vivien ließ sich nicht anmerken, ob sie die aussage getroffen hatte. Stattdessen schenkte sie Clara ein schneeweißes Lächeln.
„Wir gehen dann mal.“, sagte sie und zog Dianna mit. Connor blieb sitzen.
„Sag mal Connor, ist das da was du um die Schulter trägst eine Hello-Kitty Tasche?“, fragte ich und deutete auf die weiß-pinke Umhängetasche von Connor.
„Ja, die ist doch niedlich, oder? Und außerdem eine Seltenheit. Die wurde nur hundert Mal produziert“, sagte er stolz.
„Cool“, sagte ich, nicht wissend was ich sonst hätte sagen können.
„Die ist doch wirklich niedlich.“, sagte Clara und setzte sich neben Jason. „Wer waren denn diese Tussen? Sind das Freunde von dir, Brandy?“
„Brandy?“, sagte Connor mit leuchtenden Augen. Ich stöhnte auf. Diesen Spitznamen würde Connor nie wieder vergessen.