Teil 4 – Wenn er das Zuckerbrot nicht will, kriegt er die Peitsche
„Das ist sehr nett von dir Brandon, aber das musst du nicht machen.“, sagte Liam und versuchte aufrecht zu stehen.
„Blödsinn! Natürlich muss ich das machen. Ich kann dich in dieser Verfassung doch nicht alleine lassen. Was ist wenn du irgendwo zusammenbrichst?“
„Ich breche schon nicht zusammen.“, sagte Liam und versuchte ein paar Schritte zu gehen. Er wankte immer noch. Schnell stützte ich ihn indem ich seinen linken Arm hinter meinen Hals zog und seine Hand mit meiner festhielt. Seine Haut fühlte sich warm und weich an.
„Ich bringe dich nach Hause, ok?“, sagte ich nochmal in einem Ton, der keinen Platz für Wiederspruch zuließ.
„Na gut. Danke Brandon.“, sagte Liam leise.
„Keine Ursache.“, sagte ich. Ich war wütend auf Alvin. Wenn ich den Kerl das nächste Mal sehen würde, konnte er was erleben. Sowas durfte man einfach nicht machen.
Vorsichtig brachte ich Liam in Richtung Auto. Auf dem Weg dahin fragte ich: „Ist das schon öfter vorgekommen?“
„Ja, schon ein paar Mal. Aber diesmal war es besonders schlimm. Vielleicht waren sie wütend weil du sie heute Morgen in die Schranken gewiesen hast. Oder weil ich sie dreckige Hurensöhne genannt habe.“, sagte er und lachte einmal trocken auf.
Trotz der unschönen Situation musste ich auch lachen. Liam lächelte stolz. Er schien stolz auf sich zu sein. Das konnte er auch. Er hatte sich einer Überzahl gestellt und hatte nicht nachgegeben. Ich wusste nicht, ob ich diesen Mut aufgebracht hätte.
„Davon hab ich gar nichts gewusst. Wieso hast du nie was gesagt?“, fragte ich. Die Antwort kannte ich schon
„Ich muss selbst damit fertig werden. Außerdem hat jeder seine eigenen Probleme. Warum sich dann noch meine aufbürden?“
„Wo ist dein Auto?“, fragte ich. „Ich fahr dich damit nach Hause und hole meines dann einfach morgen ab. Ich könnte am Morgen zur Schule joggen.“
„Ich nehme den Bus zur Schule“, sagte er.
„Du hast du kein Auto?“, fragte ich überrascht.
„Doch schon, aber ich fahre nicht damit zur Schule. Mir wurden schon zu oft die Reifen zerstochen und die Scheiben beschmiert. Einmal sogar eingeschlagen.“
„Oh“, sagte ich. Schlechtes Gewissen beschlich mich. Ich hatte mich einmal beteiligt an den Schmierereien. Wir haben pinke Farbe aus dem Kunstunterricht gestohlen. Ich wusste nicht einmal, wessen Auto es war.
Ich kam mit Liam zum Parkplatz. Liam erblickte etwas und stöhnte auf.
„Das glaube ich jetzt nicht!“, sagte ich.
Alvin und Percy standen an mein Auto gelehnt und rauchten Zigaretten. Liam versuchte mich aufzuhalten, doch angetrieben von Wut und schlechtem Gewissen, konfrontierte ich die Gruppe.
„Alvin!“, rief ich.
Alvin sah auf.
„Hey Bro, ich hab schon auf dich gewar… Was machst du denn mit dem da?“
„Die bessere Frage ist, was machst du mit ihm?“, fragte ich zornig.
„Weiß nicht was du meinst“, sagte er. Aus seinem Tonfall hörte ich, dass es ihm überhaupt nicht leidtat. Er war sogar stolz darauf.
„Was soll das Alvin? Ich dachte wir hätten einen Deal!“
„Haben wir doch immer noch. Ich lass dieses Stück schwule Scheiße in Ruhe wenn du mir eine geile Cheerleaderin klarmachst. Und das hast du nicht geschafft.“
Liam lachte laut auf und Alvins Fokus richtete sich auf ihn.
„Was willst du damit sagen, Homo?“, fragte Alvin provozierend.
„Dass du eine hässliche Arschgeburt bist mit einem noch beschisseneren Charakter! Glaubst du ernsthaft irgendjemand interessiert sich für dich. Ich wette nicht mal deine Mutter wollte dich haben“, erklärte Liam wütend.
„Halt. Dein. Maul!“, verlangte Alvin schäumend.
„Und wenn nicht? Kommst du dann wieder mit fünf deiner „Freunde“, die dir den Rücken stärken müssen, bevor du dich auch nur irgendetwas traust?“, provozierte Liam weiter. Er hatte Blut geleckt. Höchste Zeit einzugreifen.
„Geh zum Auto“, sagte ich im ruhigen Tonfall „Das silberne dort drüben“
Liam wollte widersprechen, aber ich fiel ihm ins Wort: „Ich kümmre mich um den hier“
„Was? Wieso hilfst du dem?“, fragte Alvin, während er zusah, wie Liam sich entfernte, allerdings nicht ohne seine Mittelfinger zu präsentieren. „Du bist mein Bro, du müsstest zu mir halten.“
„Hör mir mal gut zu, Bro“, sagte ich in ruhigem, aber bedrohlichen Tonfall „Ich weiß nicht was dein Problem ist mit ihm, aber das hört jetzt auf. Du wirst ihn nicht mehr schlagen, nicht anfassen, nicht mal ansehen. Wenn du ihn weiter quälst, sorge ich persönlich dafür, dass du aus der Mannschaft fliegst“
„Was?“, fragte Alvin entsetzt.
„Du hast mich schon verstanden! Ich bin Team Captain und der Coach mag mich definitiv mehr als dich. Wenn ich ihm erzähle, dass du ständig deine Position riskierst, weil du einen Schüler mobbst, bist du raus“
„Das würdest du nicht“, sagte er und wurde rot im Gesicht „Das würde der Coach nicht. Ich bin einer seiner besten Spieler!“
„Einer der Besseren“ korrigierte ich „und absolut ersetzbar. Wir haben eh bald Tryouts. Willst du es riskieren?“
„Aber… Für den?“, fragte Alvin und versuchte einen guten Grund zu finden „Aber er ist eine Schwuchtel! Ein Schwanzlutscher und ein…“
„Mir egal“, sagte ich, doch meine Gedanken landeten bei pinker Farbe.
„Ohh gefällt er dir? Ist es das?“, fragte Alvin „Hat dich der Homo angesteckt oder sowas?“
Heißes Blut lief in meine Ohren, doch ich versuchte meinen Ton ruhig zu halten. „Ich steh nicht auf Kerle“, sagte ich. So einen Blödsinn hatte ich noch nie gehört. Mein Resümee sprach für sich.
„Fällt mir ein bisschen schwer das zu glauben, wenn du dich mit dem abgibst. Da könnte man auf falsche Gedanken kommen“, sagte Alvin drohend.
Ich trat einen Schritt nach vorne, sodass nur ein Meter zwischen uns war. Ich überragte Alvin und er musste zu mir aufsehen. Das gefiel ihm gar nicht. „Lass es sein, ok?“, sagte ich leise „Ich kann auch ganz anders“
Alvin sah mir in die Augen, schürzte die Lippen und nickte. „Ist ok King. Dann geh halt. Aber das merk ich mir“, sagte er drohend
„Genau! Das merken wir uns!“, rief Percy, der sich nun einmischte und ähnliche Aussagen kamen von den anderen Chipmunks. Ich nickte, ging ein paar Schritte rückwärts, während ich die Bande im Auge behielt und drehte mich schließlich um und ging zu meinem Auto.
„Alles ok?“, fragte ich Liam, der schon dort stand.
„Ich hasse den Kerl.“, sagte Liam. Ich beförderte ihn auf den Beifahrersitz und setzte mich ans Steuer.
„Tut mir leid für den Gestank“, sagte er und roch an seiner Jacke.
Ich lächelte und sagte: „Ach was. Ist doch nicht deine Schuld und nichts, das nicht durch ein bisschen Lüften nicht wieder weggeht“
Liam sah erleichtert aus: „Okay… und danke“
„Keine Ursache. Stört es dich wenn ich das Radio einschalte?“, fragte ich.
„Nein, gar nicht.“, meinte Liam erleichtert wegen der Stimmungsaufhellung.
Ich drehte das Radio auf und schaltete so lange um, bis ich einen Song gefunden hatte, den ich gerne mochte. Ich bewegte meinen Oberkörper zu der Musik und summte die Melodie mit. Eine Zeit lang schwiegen wir. Mir behagte das Schweigen nicht. Ich raffte mich auf das zu fragen, was ich schon immer mal wissen wollte.
„Wie kommt es eigentlich, dass Connor beliebter ist als du?“
Liam gluckste: „Tja, das ist schon merkwürdig, oder?“
„Als Hetero wärst du vermutlich ganz an der Spitze“, sagte ich
Liam lachte und sagte: „Das würde alles einfacher machen, ja. Aber das bin eben ich. Und ich kann nichts dagegen machen“
Ich sah kurz von der Straße ab und zu Liam rüber. Seine Mundwinkel zuckten.
„Was Connor angeht, habe ich eine Theorie: Ich denke das liegt daran, dass Connor eben wirklich etwas feminin ist. Er macht fast nur Sachen die Mädchen machen und hängt auch nur mit Mädchen herum. Connor hat sehr viele Freundinnen mit denen er shoppen geht oder mit denen er sich Modemagazine ansieht und sich über Kosmetik und solche Sachen unterhält. Er ist außerdem bei den Cheerleadern und im Volleyballteam und es macht ihm auch nichts aus sich in der Mädchenumkleide umzuziehen. Dass er etwas klischeehaft ist, ist sein größter Schutzschild“
Ich fing an zu verstehen und nickte.
„Ich dagegen bin nicht so. Ich weiß, ich bin ganz sicher schwul aber ich bin nicht so wie Connor. Ich kann mit Mode und Kosmetik nichts anfangen. Deswegen habe ich auch nicht so viele Freundinnen. Außerdem kann ich mich nicht bei den Mädchen umziehen. Dabei fühle ich mich komisch. Ich bin kein schwuler bester Freund aus dem Fernsehen. Ich habe versucht ein bisschen mehr wie Connor zu sein, um auch diese Vorteile zu genießen, aber das bin einfach nicht ich, weißt du? Ich bin zu hetero für die Mädchenumkleide und zu schwul für die Jungs. Ich passe nirgends dazu. Ich habe nirgends wirklich Platz“
„Ach so. Wäre es dann nicht klug wenn du dir einen ähnlichen Schild aufbaust wie Connor? Du könntest zum Footballteam kommen. Da könntest du allen zeigen wie falsch sie mit dir liegen und würdest gleichzeitig sogar beliebt werden. Es wird etwas dauern, aber sie werden dich anfangen zu respektieren, wenn du gut spielst“
Liam lachte traurig, ich habe bisher nicht gewusst das sowas geht, und sagte: „Angenommen, ich könnte überhaupt so gut spielen, wie du annimmst, die meisten wollen sich doch gar nicht überzeugen lassen. Die wollen das Bild, das sie sich von mir gemacht haben, behalten. Ich werde für die meisten immer der sein, der ich jetzt bin. Nämlich der Schwule, den niemand leiden kann. Der typische Außenseiter und ein Loser“
„Du bist kein Loser.“, sagte ich. „Ich weiß doch wie gut du spielen kannst und dass du witzig bist und gutaussehend und…“
„Du findest mich gutaussehend?“, fragte Liam belustigt.
Ich sah wieder zu ihm rüber. Er war in der Tat sehr hübsch. Dunkelbraune Haare, die immer cool gestylt waren, auf eine Art und Weise, die ich selbst nie hinbekommen würde, Augen so blau wie das Meer, beinahe makellose Haut. Nun grinste er.
„Joa schon. Man muss ja nicht schwul sein, um zu erkennen, dass du gut aussiehst und Alvin eine Hackfresse ist.“, sagte ich und heftete meinen Blick wieder auf die Straße.
„Ich bin nicht schwul!“, sagte ich schnell, um das sicher zu stellen.
„Lass dich nicht verarschen“, sagte Liam „Ich weiß ja wie viele Mädchen du schon hattest“
„Das stimmt.“, sagte ich und eine seltsame Erleichterung machte sich breit.
„Ich wäre an deiner Stelle nicht so stolz darauf.“, sagte Liam. „Diese Mädchen sind teilweise sehr zerbrechlich. Connor hat mir schon oft erzählt wie sie sich bei ihm ausgeheult haben.“
Die Erleichterung wich einem unangenehmen Gefühl. Ich hatte mir selten Gedanken darum gemacht, ob meine Abenteuer für andere auch so belanglos waren, wie für mich.
„Die meisten wissen auf wen sie sich einlassen, wenn sie es versuchen.“, sagte ich und sah weiter stur auf die Straße.
„Wenn du meinst.“, sagte Liam. „Behalte nur vielleicht im Hinterkopf, was ich dir gesagt habe“
Eine Zeit lang fuhren wir wieder schweigend nebeneinander, bis ich mich nach dem Weg erkundigte. Liam gab mir Auskunft und ich fuhr den besagten Weg entlang.
„Ich finde immer noch, dass du es zumindest beim Football-Team versuchen solltest.“, sagte ich irgendwann.
„Hast du schon mal mitgekriegt, wie Jungen in einer Umkleidekabine auf mich reagieren? Außerdem ist da noch Alvin.“
„Die werden dich schon in Ruhe lassen.“, sagte ich. „Ich lege ein gutes Wort für dich ein. Die meisten hören auf mich weißt du. Bleib einfach in meiner Nähe und bei den cooleren Jungs und dir wird nichts passieren“
„Mach was du willst, aber ich glaube nicht, dass es viel helfen wird. Wenn ich nicht gut spiele, werden sie sagen, dass Schwule nicht gut sind im Männersport. Wenn ich sehr gut spiele, werden sie anfangen einen Groll zu hegen, weil ein Schwuler sie auf ihrem Feld schlägt“
„Das wäre doch ziemlich cool oder nicht?“, meinte ich „Genau das hätten die doch verdient. Und auch wenn sich einige ärgern werden, sind wir doch ein Team. Gewinnt einer, gewinnen alle“
Liam zuckte mit den Schultern.
„Probiere es zumindest. Du hast nicht viel zu verlieren.“, drängte ich aufmunternd.
„Vielleicht“, sagte er. Nach einer Weile fügte er noch was hinzu: „Brandon? Wieso machst du das? Ich meine wieso hilfst du mir? Ich könnte dir doch egal sein“
Ich dachte kurz darüber nach. Ich war kein Robin Hood, der sich ständig für die Armen und Schwachen einsetzte. Ich hatte kein Vergnügen an Grausamkeiten, war allerdings für Pranks zu haben. Dann fiel mir die pinke Farbe wieder ein.
„Ich weiß nicht.“, sagte ich nur. „Aber ich finde, es war das Richtige“
Liam antwortete erstmal nicht. Dann sagte er: „Ich mag dich. Du wärst ein toller Freund. Ich muss hier aussteigen.“
„Ok“, sagte ich und fuhr an den Rand. „Ciao“, sagte ich und gab Liam die Hand. Seine Hand war warm und die Haut weich.
„Ciao“, sagte er. „Und nochmal danke.“
Damit schlug er die Autotür zu und ließ mich wegfahren.
„Du wärst ein toller Freund“
Dieser Satz schwirrte mir noch bis Zuhause im Kopf herum.