Zimtstaub

Queerpoint wünscht einen schönen ersten Advent!

Passend dazu hat uns PurpleGecko erlaubt an jedem Adventssonntag einen Teil seiner Geschichte Zimtstaub zu veröffentlichen.

Zimtstaub

Autor: PurpleGecko

Kapitel 1

Es war Freitag um halb Sieben, als es an der Tür klingelte. Manuel hatte sich gerade für die heutige Nacht fertig gemacht, und nun würden ihn seine Freunde abholen, um mit ihm in die Disco zu fahren und wie öfter mal am Wochenende Party zu feiern. Diesmal würde es eine Pre-Xmas-Party sein, denn der 4. Advent stand kurz bevor und eine allumfassende Weihnachtsstimmung hatte sich bereits wie ein feiner, wohlduftender Nebel über die Stadt gelegt. Er schaute nochmal, ob er alles dabei hatte, und zog schnell seine Jacke an. Dann rannte er von seinem Zimmer über die Treppe zur Haustür hinunter, begrüßte zunächst Markus und schließlich die anderen, die im Auto geblieben waren. Ohne langes Gerede stiegen beide ein und fuhren los.

Eigentlich war Manuel heute so gar nicht nach Disco. Ihm ging es den ganzen Tag über schon grenzwertig, um nicht zu sagen beschissen, und er wusste nicht mal recht, wieso. Er war bereits mit einer miesen Laune aufgestanden, die seither nicht besser geworden war, und nun hoffte er, wenigstens am Abend noch ein bisschen Spaß haben zu können, wenn die Aussichten auch gerade noch gering schienen. Zur Not würde er ein paar heißen Jungs hinterhersehen, von denen es in der Disco immer reichlich zu sehen gab, vielleicht würde ihn das aufheitern.

„Also wir gehen dann schon mal bisschen tanzen, kommt ihr mit?“, fragte Tom die anderen und nahm Julia, in die er sich erst vor Kurzem verschossen hatte, gleich bei der Hand.
„Nee, ich brauch jetzt erst mal was Ordentliches. Fangt schon mal an, wir kommen dann nach!“, antwortete Markus für den Rest der Truppe, die ihm fröhlich zustimmte.
„Na gut, bis denne“, lachte Tom und verschwand mit seiner Freundin.
„Also kommt Leute“, rief Konstantin, und alle folgten ihm zur Bar.

Es war beinahe schon ein Ritual, dass der erste Drink, den die Freunde in der Disco zu sich nahmen, ein Kirsch-Wein-Wodka, genannt „Das kleine Rote“, war. Wie sie gerade auf dieses Getränk gekommen waren, wusste keiner von ihnen mehr so recht, aber es war zur schönen Gewohnheit geworden, die sie seit einer gefühlten Ewigkeit beibehielten. Manuel nahm gar nicht so recht wahr, was die anderen redeten, er war gerade viel zu sehr in seine eigenen Gedanken versunken.
Manchmal konnte er richtig extrovertiert sein und ließ auf Partys gerne mal alles aus sich raus, aber heute war er nur der stille Denker, der wortlos dasaß und sich seiner Melancholie hingab. Ihm war heute einfach nicht nach Feiern zumute, und daran würde sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Lieber wollte er rausbekommen, warum es ihm den ganzen Tag schon so mies ging, und wie er das ändern konnte.

Seine Jungs waren inzwischen fertig mit Trinken und machten sich auf.
„Hey Manu, bist du schon dicht?“, fragte ihn Leon, und Manuel war sich nicht mal sicher, ob sein Kumpel das ernst oder ironisch meinte.
„Nä, wieso?“
„Naja, du siehst so aus… Kommst du? Wir gehn jetzt.“
Manuel war überhaupt nicht nach Tanzen. Ganz und gar nicht. Für einen Sekundenbruchteil dachte er, er sollte es wenigstens versuchen, vielleicht würde das seine Stimmung heben. Aber wenn er so darüber nachdachte… lieber doch nicht.
„Nee, geht schon mal vor, ich komm dann nach!“
„OK, aber nicht schon alles leer saufen, ja? Lass uns was über!“ Lachte und machte sich mit den andren auf zum ersten Dancefloor.

Manuel kam sich auf einmal so einsam vor. Nicht, dass es an seinen Kumpels gelegen hätte, die jetzt fort waren – auf die kam es nicht an, nur bemerkte er es erst jetzt so richtig. Irgendetwas fehlte, eine innere Leere gähnte ihn an, und er war sich fast sicher, dass sie auch vorher schon da gewesen war, und dass er sie erst jetzt, gerade in diesem Moment, in ihrer vollen Intensität wahrnahm. Daran konnten weder die vielen Menschen hier drin, noch der heiße Barkeeper, noch der idiotisch tanzende Weihnachtsbaum in der anderen Ecke des Raumes etwas ändern.

Er trank seinen Becher leer, sprang auf, und lief durch einen zweiten Ausgang über einen kleinen Gang hin zu einem anderen Dancefloor. Manuel hatte das Gefühl, etwas suchen zu müssen. Er wusste zwar nicht wonach, aber sein Bauch sagte ihm, dass er es hier draußen viel eher finden würde als dort im Loungebereich. Vielleicht war es etwas, dass die Leere füllen würde, die sich eben in seinem Inneren breit gemacht hatte, einfach nur etwas, um dieses Loch zu stopfen. So hielt er sich zunächst am Rand, beobachtete die Menschen, wie sie exaltierend zur pulsierenden Musik über den Boden hüpften, sich verrenkten, krakeelten und sich zum Affen machten, während Laserstrahl um Laserstrahl, quietschbunte Lichtkegel und weißer Dampf durch die stickige Raumluft geisterten. Manuel war erstaunt über diesen negativen Blickwinkel, den er gerade innehatte, er war ja sonst auch ein Teil dieser singenden und springenden Meute gewesen, und das im Grunde sehr gerne.

Irgendetwas versetzte Manuel einen Impuls, hier wieder rauszugehen und weiterzusuchen. Er lief wieder durch den Gang, an den Toiletten vorbei und eine Treppe hinauf. Auf dem Plateau gab es irgendwo noch eine Bar, die er beiseite lassen wollte. Vielleicht würde er auf dem dritten Dancefloor noch etwas Spannenderes erleben als unten. Manuel betrat den Raum, musste aber entgegen seinen Erwartungen feststellen, dass hier tote Hose war. Nur ein paar einzelne Liebespaare schweiften über die Tanzfläche, wo gerade eine Popschnulze widerliche Pseudoromantik verbreitete. Er warf noch einen kurzen, fast schon angeekelten Blick auf die Paare, die sich aneinander festklammerten, als würden sie jeden Moment Gefahr laufen, umzukippen, und kehrte schnell wieder um.

Manuel wollte bereits zu den anderen zurücklaufen, als er an der Glastür vorbeikam, die zu einem kleinen Freiluftbereich führte. Eigentlich war es mehr ein kleiner Terrassenbalkon für die, die zwischendrin an die frische Luft wollten, ohne die Disco verlassen zu müssen. Im Sommer war es hier manchmal gerammelt voll, und eine kleine Extrabar bot Cocktails an. Heute war es dafür viel zu kalt, und es befand sich niemand dort draußen – bis auf einen vermutlich gleichaltrigen Jungen, der sich auf der Brüstung abstützte und still in die dunkle Dezembernacht blickte. Einem inneren Drang folgend betrat Manuel den Balkon. Auf unergründliche Weise machte sich das Gefühl in ihm breit, dass der Junge das war, wonach er gerade suchte. Und vielleicht würde sich ja noch mehr ergeben…

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Kapitel 2

Plötzlich war es still, nur noch gedämpft und wie aus großer Ferne drang der Discolärm nach draußen. Er ging ein paar Schritte, stellte sich zunächst ruhig hin, die Hände in den Hosentaschen und nur wenige Meter hinter dem Jungen stehend, und horchte in die Nacht, ließ die Ruhe ganz in sich hineinfließen. Obwohl ihn der Junge bemerkt haben musste, bewegte sich dieser kein bisschen, anscheinend interessierte es ihn gar nicht, wer da gerade den Balkon betreten hatte, oder er gab es zumindest so vor. Kurzerhand lief Manuel weiter, und stützte sich anschließend ebenfalls auf dem Geländer ab, den Blick in die Dunkelheit gerichtet.

Nach einer Weile wagte er es, zu dem Jungen neben sich zu schauen. Sofort fielen ihm die weichen Gesichtszüge auf, die etwas leicht Freches und doch Zartes ausstrahlten, und dann noch die Augen, die an einen Punkt zu starren schienen, der jenseits von dieser Welt lag. Seine Mimik hatte etwas Nachdenkliches, gleichzeitig Glückliches und Bekümmertes, auf jeden Fall etwas sehr Rätselhaftes. Manuel wurde sofort ein bisschen warm ums Herz, ein angenehmes Gefühl breitete sich in seinem ganzen Körper aus, und vor allem war er sich jetzt sehr sicher, das gefunden zu haben, was er unbewusst gesucht hatte, und dachte nun darüber nach, wie er diesen Jungen ansprechen sollte, den er auf eine seltsame Weise sympathisch und anziehend fand. Er musste ihn kennenlernen, seine Neu- und Begierde waren einfach zu groß, als dass er es hätte lassen können.

Manuel überlegte noch, was er hätte erzählen können, als der Junge auf einmal zu reden begann. „Schade, dass der Himmel heute nicht sternenklar ist.“
Etwas verwundert drehte er seinen Kopf zu dem Jungen hin.
„Weißt du, immer wenn ich in die Sterne schau, bekomm ich ein Gefühl dafür, wie groß und weit das alles hier ist. Und meine Probleme werden im Vergleich dazu ganz klein…“
Manuel wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
„Und gleichzeitig hab ich das Gefühl, ich bin nicht ganz allein. Da sind so viele Sterne, so viele Planeten da draußen, und alle beobachten sie mich. Und vielleicht steht da oben auch irgendwer gerade an einer Brüstung, schaut in den Himmel, und denkt das gleiche.“

So viel Philosophie in einer Disco? Manuel fand das ungewöhnlich, aber es passte auch irgendwie zu seiner Stimmung. Aus dem Bauch heraus antwortete er: „Also, mir wär’s ja irgendwie lieber, ein Mensch hier auf der Erde würde mich verstehen.“
Der Junge bewegte nun zum ersten Mal seinen Kopf und lächelte ihn an.
„Ja, das stimmt. Aber manche Mitmenschen sind einem Lichtjahre entfernt, obwohl sie direkt neben dir sitzen.“
„Leider.“ Von diesen Menschen kannte Manuel genug. Und ihn beschlich das Gefühl, oft genug selbst einer von diesen Leuten zu sein, die einfach über andere Menschen hinwegsahen und kein Interesse an ihnen zeigten. Aber heute nicht. Heute hatte er die Menschen gesehen, und sie waren ihm zuwider. Oder waren sie ihm zuwider, weil sie ihn ignorierten, weil sie nicht in ihn hineinsehen konnten, ihn nicht verstanden? Manuel war sich unschlüssig, irgendwie drehten sich die Gedanken gerade im Karussell. Er wusste nur, dass er ein wahnsinniges Interesse an diesem Jungen hatte, und seinen Drang schwer bändigen konnte.

Vollkommen überraschend unterbrach der Junge seinen Gedankengang mit einer passenden Frage. „Warum bist du hier raus gekommen?“
„Ich weiß nicht. Ich… wollte frische Luft schnappen.“
Das war gelogen. Aber nur halb. Irgendwie stimmte es ja auch. Der Junge grinste lächelnd. „Ach ja?“
„Ja, in der Disco isses so stickig.“
Wissend hob der Junge eine Augenbraue und schmunzelte vor sich hin.„Du hast etwas gesucht, was dir diese Lemminge nicht bieten konnten, stimmt’s?“ Der Junge hatte ihn auf seine unaussprechliche Art ertappt.
„Ja“, antwortete Manuel etwas trocken.
„Und dann hast du da diesen Jungen gesehen, der in dieser Arschkälte rumsteht, und hast dir gedacht: das isses!“
Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Was sollte das werden? Billige Psychoanalyse? Der Junge nahm sofort wieder einen sanften Gesichtsausdruck an.
„Sehr schön. Ich würd mich da drinnen auch nicht wohlfühlen.“
Ein Hauch von Beruhigung machte sich in Manuel breit. Offenbar hatte der Junge doch nicht bemerkt, was in ihm gerade vor sich ging.
„Warum gehst du dann überhaupt in eine Disco?“
„Das selbe könnte ich dich fragen.“
Manuel schaute etwas schief drein. Das stimmte zwar, und dennoch ließ es ihn unbefriedigt zurück. Nichtsdestoweniger ließ er ihn gewähren, er hatte jetzt keine Lust darauf, herumzudiskutieren und die Schönheit des Moments zu zerstören.

„Na schön. Ich geh dann mal wieder rein. Aber vorher hab ich noch ein kleines Geschenk für dich. Passend zur Jahreszeit.“
Der Junge holte ein kleines Metallei aus seiner Jackentasche und drückte es Manuel in die Hand. „Damit kannst du die Zeit anhalten, und zwar so, dass nur noch du und eine Person deiner Wahl sich weiter bewegen können. Benutz es weise!“
Mit diesen Worten drehte sich der Junge – noch einmal kurz zwinkernd – um, und verschwand durch die Tür hinein in die Disco.

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Kapitel 3

Manuel blieb perplex und zutiefst verwirrt auf dem Balkon zurück. Es dauerte einen Moment, bis er sich von diesem kleinen Schock, von dieser Sinnes- und Gedankenüberflutung erholt hatte. War das gerade ein Spinner, und dieses glänzende kleine Ding in seinen Händen billiger Ramsch? Er wusste nicht, wie er das alles einordnen sollte. Was hatte ihn hier rausgetrieben? Schicksal? Magie? Zufall? Blindes Interesse? Der Junge schien mehr zu wissen, als er zugab. Vielleicht sollte Manuel einfach in die Disco zurückgehen und ihn suchen. Da waren noch einige Fragen offen.

Stracks ging er zur Tür und betrat die Disco, die ihm auf einmal wieder kochend heiß und vor allem laut vorkam. Er lief eine Treppe hinunter, vorbei an überaus euphorischen, teils besoffenen, teils abgedrehten Menschen, schaute auf den Dancefloor, über dem noch immer die Laserlichter flackerten, ging dann einen Gang weiter, in den Barbereich, und schließlich wieder zum anderen Dancefloor. Nirgendwo wollte sich eine Spur von diesem mysteriösen Jungen finden lassen, von dem er noch nicht mal seinen Namen wusste.

Warum suchte er hier überhaupt alles ab? Vielleicht hatte ihn der Typ nur verarscht und machte sich jetzt einen Spaß daraus, Manuel durch die ganze Disco zu scheuchen. Trotzdem wollte er ihm noch eine Chance geben. Ihn reizte einfach die Vorstellung, das Metallei auszuprobieren und zu sehen, was hinter diesem zauberhaften Gegenstand wirklich steckte. Er würde sich einfach in einen ungesehenen Winkel der Disco stellen, und es dann versuchen. Manuel überlegte kurz, wo er hingehen könnte, als ihm völlig unerwartet Leon über den Weg lief.
„Hey, du lebst ja noch. Kommst du jetzt mal mit, die andren ham schon voll den Spaß da drinne..“
„Aber..“
„Nix aber, du warst jetzt schon ewig aufm Ego-Trip, jetzt kommst mal mit und hast Spaß mit uns.“
„Ok. Is ja gut.“
Widerwillig stimmte Manuel zu, so schnell wollte er nicht aufgeben. Aber vielleicht war es tatsächlich besser, die Sache zunächst bei sich bewenden zu lassen, den Jungen zu ignorieren und den Rest des Abends zu genießen.

* * *

Gegen Samstag Mittag wachte Manuel auf, mit dem Gefühl, noch viel mehr Schlaf zu brauchen. Es war gestern erstaunlicherweise noch eine lange Nacht geworden. Die Stunden vergingen wie im Flug, viel zu schnell mussten alle wieder heim, und Manuel hatte mit seinen Freunden Party gemacht wie eh und je, als wäre all die Stunden zuvor nichts passiert gewesen. Der seltsame, wenn auch hübsche Junge und die Probleme waren mit ein paar Tropfen Alkohol schnell fortgeflossen, und nur noch das Hier und Jetzt zählte. Jetzt lag Manuel auf seinem Bett, vielleicht ein wenig verkatert, auf jeden Fall gerädert, und starrte die Decke über sich an.

Irgendwann gelang es ihm doch, aufzustehen und ein paar Brocken zum Frühstück hineinzuzwingen, um wenigstens ein bisschen was im Magen zu haben. Danach ging er kurz duschen, zog sich etwas Frisches an, und setzte sich auf sein Bett. Er legte den Kopf, noch halb in seiner Lethargie verfangen, auf die geöffneten Hände und versuchte, sich an den gestrigen Abend zurückzuerinnern. Ihm war wieder der Junge in den Sinn gekommen, sein Lächeln, seine Augen, sein hübsches Gesicht, sein wohlgeformter Körper, und gleich fühlte er sich ein kleines Stückchen besser. Aber was wollte er? Hatte er Interesse, spielte er ein Spiel, wie kam das alles überhaupt zustande? Schließlich war da ja noch das Geschenk, das der Junge ihm mitgegeben hatte. Sofort packte Manuel wieder die Neugier, sie verlieh ihm fast schon Flügel, oder zumindest neuen Tatendrang. Er holte das Metallei aus seiner Jacke hervor, ließ es ein paar mal durch seine Finger gleiten, erfühlte es, spürte seine metallene Kälte, und beschloss kurzerhand, auszutesten, ob das Objekt wirklich das einhielt, was der Junge versprochen hatte.Manuel nahm das Metallei, schloss seine Augen und wünschte sich ganz fest, die Zeit würde anhalten, und alles außer ihm und dem Jungen, wo immer er auch gerade sein mochte, würde stehen bleiben.

Zunächst geschah nichts, dann war alles still. Beängstigend still. So still, dass sich offenbar nicht einmal die Zeit bewegte. Vorsichtig stand er auf und sah aus dem Fenster. Draußen war alles wie zuvor, nur sah das Grundstück vor seinem Fenster beinahe wie gemalt aus, kein Ast bewegte sich und kein Windhauch umspielte die Kulisse. Manuel wandte sich um und wollte nach draußen gehen. Allerdings schien sich die Türklinke keinen Millimeter nach unten zu bewegen, sie war steinhart und wie festgefroren. So würde er hier nicht herauskommen. Er würde die Zeit erst weiterlaufen lassen müssen, um es dann erneut zu versuchen.

Schnell zog sich Manuel an, steckte das Metallei in seine Hosentasche, ging nach draußen und suchte sich eine kleine, uneinsehbare Ecke im Vorgarten. Dort holte er das Ei hervor, wünschte sich abermals, die Zeit würde bis auf ihn und den Jungen anhalten, und öffnete die Augen. Wie erwartet wurde alles wieder starr und still. Manuel ging auf den Bürgersteig zurück und sah dort, direkt vor sich, ein Auto, das eben noch in voller Fahrt gewesen war. Nun parkte es scheinbar direkt auf der Fahrbahn. Etwas verwundert ging Manuel weiter den Weg entlang, sah Dackel stundenlang das Bein heben, sah Menschen in wild gestikulierender Pose verharrend miteinander diskutieren, sah ein kleines, einsames, letztes Herbstblatt in der Luft schweben. Es war ein seltsames Gefühl, wie durch einen Film zu wandeln, den gerade jemand per Stopptaste zum Stehen gebracht hatte, so wundervoll merkwürdig und doch euphorisierend. Doch das reichte ihm noch nicht – jetzt wollte er es wissen. Er kam rasch auf den Gedanken, zum Weihnachtsmarkt zu gehen und zu beobachten, wie die Menschenmassen dort in fast schon friedlicher Ruhe stillstanden.

Manuel hatte es nicht weit von seinem Haus bis in die Altstadt. Er würde noch einmal kurz um die Ecke biegen müssen, dann war er auf dem kleinen Marktplatz, das einzige, was man an seiner Stadt wirklich als sehenswert bezeichnen konnte. Dort befand sich auf dem nicht gerade überdimensionierten Platz der schnuckelige, kleine, eher noch altertümlich wirkende Weihnachtsmarkt mit einer kleinen Krippe, die die Weihnachtsgeschichte darstellte, einem riesigen, mit Kugeln und Geschenken geschmückten Tannenbaum, und schließlich den diversen kleinen Holzbuden, die mehr oder minder nützliche Dinge wie Mützen, Kerzen, Teelichter, aber auch Salami, Süßigkeiten, Bratwürste und natürlich Glühwein anboten.

Mit Neugier und Vorahnung stürzte sich Manuel ins Gewimmel, oder schlängelte sich besser gesagt durch ein Feld von mannshohen Statuen, die die Passagen zwischen den Buden belagerten. Ihm wurde bewusst, wie laut und trubelhaft die angeblich so stille Zeit tatsächlich war, und wie lächerlich und belanglos ihm das andauernde Gerede von Menschlichkeit, Liebe und Zuneigung erschien. Hier war nirgends etwas davon zu sehen. Und selbst wenn die Menschen es ausleben würden, warum dann eigentlich nicht das ganze Jahr über, sondern gerade mal einen Monat lang?

Er ging weiter durch die Reihen, und suchte wohl mehr intuitiv als bewusst nach dem Jungen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit doch eher gering war, ihn irgendwo hier auf dem kleinen Weihnachtsmarkt anzutreffen. Weder vor dem Käsestand noch bei der erzgebirgischen Weihnachtsdekoration war er zu finden, ebenso wenig bei der Zuckerwatte und beim Pizzawagen. Aber sein Gefühl hatte Manuel dennoch nicht betrogen. Vor dem gegenüberliegenden Glühweinstand lungerte der Junge an einem der Stehtische, und wartete offenbar schon sehnsüchtig auf ihn.

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Kapitel 4

Der Junge hielt gerade eine Tasse in der Hand und war dabei, seinen heißen Glühwein genüsslich in sich hineinzuschnieseln. Er grinste mit seinem schelmischen, aber freundlichen Lächeln, und Manuel freute sich wie wild, den Jungen doch noch gefunden zu haben. Er fühlte, wie es ihm auf einmal deutlich wohler und wärmer wurde, trotz der fast schon eisigen Winterskälte. Als er auf den Jungen zukam, sprach dieser ihn sofort an.

„War ja klar, dass du dein neues Spielzeug gleich ausprobieren würdest. Gefällt es dir?“
„Öhm, ja… Is schon ein irrer Effekt, wenn alles so stehen bleibt. Sag mal, wie machst du das eigentlich?“
Der Junge feixte.
„Immer wieder nett, wie ihr Menschen euch über das angeblich so Übernatürliche wundert. Das ist unbezahlbar.“
„Bist du ein … Zauberer?“, sprach Manuel seine schon lange gehegte Vermutung aus.
Nochmal ein liebevolles Grinsen beim Jungen.
„Nein. Ich bin eine Fee.“

Sollte das ein Scherz sein? Manuel war irritiert. Nicht etwa, weil er bisher nicht an Feen geglaubt hatte, das erschien ihm nach all dem Unerklärbaren geradezu als die Erklärung. Nein, so hatte er sich Feen ganz und gar nicht vorgestellt.
„Sind Feen nicht eher weiblich, klein, und putzig, mit so kleinen Flügeln?“
Der Junge machte einen gespielt beleidigten Eindruck.
„Du glaubst auch alles, was man dir erzählt, oder?“
„Was soll ich denn sonst glauben? Hab ja noch nie eine gesehen… bis gestern.“
„Haha, naja passt schon. Zumindest das mit den Flügeln stimmt. Aufm Rücken hab ich tatsächlich welche. Wobei die meistens unpraktisch sind. Es gibt inzwischen viel angenehmere Methoden zum Fliegen..“
„Ach ja?“
„Ja. Alles eine Frage der Feenmagie. Oder des Feenstaubs…“
Der Junge zwinkerte und nahm einen Schluck von seinem Glühwein.

„Weißt du, ich frag mich schon die ganze Zeit, was das hier alles zu bedeuten hat“, sprach Manuel das aus, was ihm schon lange unter den Fingernägeln brannte.
„Wie meinst du das?“
„Na dass ich erst auf dich treffe, dann die Zeit anhalten kann, und jetzt…. naja., hier mit dir am Glühweinstand stehe.“
„Du liest nie Märchen, oder?“
„Selten.“
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte man meinen können, bei dem Jungen sei gerade etwas leicht Genervtes übers Gesicht gehuscht, dann nahm er aber wieder eine sehr verständnisvolle Miene ein. „Also, hör zu. In den meisten Fällen geht ein Mensch in den Wald oder sonst wo hin, dort trifft er dann auf eine Fee, die ihm entweder drei Wünsche erfüllt, oder eben irgendwas mitgibt, was er dann verwenden soll, um Gutes zu tun. Je nachdem. Aber anscheinend hab ich mal wieder kläglich versagt.“
„Wieso?“
„Weil ich gesagt hab, dass du damit was Weises tun sollst, aber anscheinend ist die Neugier bei euch Menschen einfach größer als jede Vernunft.“
„Naja…“ Manuel sah leicht verlegen und schuldbewusst zu Boden.
„Jetzt mach dir mal kein' Kopf“, munterte ihn der Junge auf. „Vielleicht… vielleicht hast du gar nicht so unklug gehandelt…“
Es schien kurz so, als würde der Junge überlegen, dann blitzte es förmlich in seinen Augen, und ermusste wieder verschmitzt lächeln.

„Öhm.. was ich dich schon gestern fragen wollte… wie heißt du eigentlich?“, fragte Manuel den Jungen, um das Gespräch aufrechtzuerhalten.
„Leander. Und du?“
„Manuel.“
„Cooler Name!“
Der Junge, der nun endlich einen Namen hatte, strahlte ihn an.
„Danke.. öhm… gefällt's dir hier? Also… auf der Erde.. ich mein… in der Menschenwelt?“
„Ab und zu schon, ja. Ihr seid zwar manchmal etwas naiv, und vor allem viel zu egoistisch. Leider auch grade jetzt an Weihnachten, obwohl ihr da immer so tut, als hättet ihr euch alle ganz doll lieb. Aber ich mag eure Jungs ganz gerne – was man glaub ich auch sieht. Und der Glühwein hier ist klasse!“
Manuel wurde hellhörig.
„Du bist schwul?“
„Klar. Du doch auch.“

Er wusste nicht, ob er sich gerade verhört hatte.
„Woher weißt du das? Können Feen Gedanken lesen?“
„Manche. Ich nicht. Aber das war auch nicht nötig.“
„Ahja? Wieso?“
„Wie du mir nach draußen gefolgt bist, wie du mich angeschaut hast, und wie laut dein Herz geschlagen hat… Das ist mehr als eindeutig. Als Schwuler bemerkt man so was“, erklärte Leander mit einem sanften, aber wissenden Gesichtsausdruck.
„Hast ja recht“, sagte Manuel, und wurde dabei ein bisschen rot.
„Du stehst auf mich, stimmt's?“
„Najaaaaa…“, errötete Manuel noch mehr.
„Sehr gut. Ich steh nämlich auch auf dich.“

Ehe Manuel nun – vollkommen baff und geplättet von diesem Geständnis – ganz und gar zur Tomate werden konnte, zog ihn Leander mit einem „Na komm her“ sacht an sich, um ihn zu knuddeln und zu drücken. Manuel indes wusste nicht so recht, was mit ihm geschah, und ob es gerade wirklich passierte, ob er es träumte oder reine Tatsache war. Der Junge, von dem er seit gestern schwärmte, hatte tatsächlich Gefühle für ihn übrig, und zwar richtig deutliche anscheinend. Manuel beschloss, jetzt nicht zu viel zu denken, sondern einfach die starken Arme dieser männlichen Fee zu genießen, die ihn gerade in diesem Augenblick so leidenschaftlich festhielten. Er spürte seine Wärme, roch seinen bezaubernden Duft, der ihn wieder an bessere Zeiten, an Frühling und Sommer erinnerte, und sog die tiefen Gefühle, die Leander für ihn hatte, wie ein liebesbedürftiger Schwamm auf.

Der Junge hielt einen kurzen Moment inne, und schaute seinem Gegenüber direkt in die Augen. „Manuel?“
„Ja?“
„Wenn ich ehrlich bin, frag ich mich das schon seit gestern… Darf ich deine schwule Fee sein?“ Er wartete kurz, auch wenn er für seine Antwort nicht lange zu überlegen brauchte, und lächelte ihn dabei an.
„Ja. Sehr gerne sogar.“
Leander strahlte über das ganze Gesicht.
„Darf ich dir noch was zeigen?“
„Klar.“
„Dann schließ mal deine Augen.“
Manuel zögerte nur kurz, vertraute ihm schließlich einfach und tat, wie ihm befohlen.

Eine kurze Zeit passierte nichts. Dann war plötzlich alles wärmer und dunkler als zuvor. Fast automatisch öffnete Manuel seine Augen wieder, und blickte in einen von tausenden Sternen erleuchteten Nachthimmel. Sie standen auf einem kleinen Bergeshügel, an dessen Ausläufern kleine Siedlungen in der Dämmerung lagen. Es war nicht mehr eisig kalt, sondern angenehm warm. Hinter ihnen stand eine Bank, auf die sich beide sogleich setzten. Es war wieder Sommer, oder besser: es war eine sternenklare Sommernacht, und beide Jungs saßen dicht beieinander.

Nach einem kurzen Moment der Ruhe ergriff Leander das Wort.
„Du wirst nicht immer in dieser Zeitblase leben können. Und.. sicher können wir auch hier nicht für immer bleiben. Du musst dein Menschenleben leben, und ich mein Feenleben. Aber bei einem kannst du dir sicher sein: Wo immer du bist, wann immer du mich brauchst, ich bin für dich da. Halte einfach die Zeit für uns beide an, und ich weiß, dass mein Mensch mich ruft.“
Manuel sah Leander mit fröhlicher, tief zufriedener und glücklicher Miene an.
„Danke. Es tut gut, dich zu haben.“

Er drückte ihn kurz, eine halbe Ewigkeit lang, hielt dann aber noch einen kleinen Moment, für die Dauer eines Kolibris Flügelschlag inne.
„Weißt du, es ist wirklich herrlich hier, aber…. irgendwas passt hier nicht so ganz. Es riecht so… nach Zimt. Dabei ist doch Sommer. Also, seit ein paar Minuten..“
Leander schmunzelte.
„Ja, das ist Zimtstaub. Wir müssen wohl ein bisschen was davon mitgenommen haben.“
„Zimtstaub?“
„Ja. Er macht Kaltes wärmer, Abgedroschenes feierlicher und Gefühltes kitschiger. Normalerweise verschwindet er pünktlich am 27. Dezember wieder, deshalb irritiert es euch Menschen ja so, wenn ihr in jedem anderen Monat auf Weihnachten stößt.“
Verdutzt bis irritiert über diese Ansprache starrte Manuel seinen Zeitgenossen an und schien nicht ganz zu verstehen. Vielleicht würde es später verstehen, aber jetzt war absolut nicht der richtige Augenblick dafür. Schließlich sagte er, mit einem verzeihenden Lächeln auf den Wangen:
„Ach halt die Klappe, es ist Weihnachten.“

Dann legte er seine Hände auf Leanders Rücken, zog den Jungen zu sich heran und drückte seine Lippen auf den warmen Feenmund. Und als einzige Zeugen blieben in dieser Nacht die Sterne, die unterm Firmament zwei frisch verliebte Seelenbrüder in ihrer stillen Zweisamkeit beobachteten.

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