Was ist eigentlich Weihnachten? (Kurzgeschichte)

Hallo ihr Lieben!

Ich wünsche ein einen frohen ersten Advent, genießt die Weihnachtszeit und denkt ein bisschen an die Menschen um euch herum; nicht immer nur geradeaus schauen. :wink:

Was ist eigentlich Weihnachten?


Als unser Religionslehrer die Klasse fragte, was eigentlich Weihnachten sei, war die Reaktion gespalten; und zwar vor allem zwischen Gähnen und Augenrollen. Die Frage, so unser Klassenstreber Theodor, sollte ja nun wirklich jeder beantworten können. So etwas nicht zu wissen, naja, das sei dann doch schon irgendwie peinlich. Dann ging es um Jesus und Maria und irgendwelche Hirten und Könige, aber da hatte ich dann auch schon abgeschaltet.

Aber mal ehrlich, Weihnachten ist heutzutage in Deutschland nicht mehr, als ein reines Konsumfest. Bereits im September kann man den berühmt-berüchtigten Coca-Cola Weihnachtsmann in der Werbung sehen, und jeder ist schon ganz wild darauf, Geschenke für das Wichteln zu finden. Schenken ist inzwischen eher eine Pflicht, als ein freiwilliges Geben, während Trittbrett-Christen sich plötzlich wie die Schafe in Scharen gen Kirche begeben.

‘Aber andererseits’, dachte ich mir, als mein Freund meine Hand in seine nahm, ‘andererseits, ist Weihnachten auch das Fest der Liebe.’ - und das weihnachtlich geschmückte Einkaufszentrum, die Kinder, die schon am Eingang spekulierten, was von all den tollen Dingen in den Geschäften am Heiligabend unter dem Baum auf sie warten würden, der Duft von gebrannten Mandeln; das alles trug dann doch irgendwie zur perfekten Atmosphäre des Verliebtseins bei.

„Bist du dir sicher, Djadi?”, fragte ich ihn, mit einem bedeutsamen Blick auf unsere ineinander verschlungenen Finger.

Er nickte nur stumm, und drückte meine Hand leicht. Anstatt weiter darüber zu reden, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange. Mein Herz schlug einen Schritt schneller, als ich ihn daraufhin lächeln sah. Solche Dinge waren mit Djadi immer schwierig. Seine Familie wäre von uns beiden vermutlich eher weniger begeistert gewesen. Aber das waren nun mal die Vorzüge einer Mittelstrecken-Fernbeziehung von etwa dreißig Kilometern. Nah genug, um sich schnell zu sehen, aber fern genug, um nicht erkannt zu werden, wenn man den anderen besuchte.

„Lass uns erst einmal Geschenke kaufen gehen, und dann, wie immer, gebrannte Mandeln holen”, schlug er vor, woraufhin wir uns in Richtung Haupteingang des Einkaufszentrums bewegten.

Als die drückende Welle warmer Luft im Eingang über uns hinwegwusch, seufzte Djadi mit einem Blick auf die sich langsam wälzenden Menschenmengen. „Musst du deine Weihnachtseinkäufe eigentlich immer auf das letzte Wochenende vor Weihnachten verschieben?”, fragte er.

„Was heißt hier immer?”, grinste ich zurück. „Das ist erst das zweite Weihnachten, seit wir uns kennen.”

Er streckte mir mit übertriebener Kindlichkeit die Zunge heraus, aber musste dann auch grinsen. „Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass sich das auch in den nächsten Jahren nicht ändern wird”, behauptete er selbstsicher, und zog mich dann an meiner Hand weiter.

Glücklicherweise waren wir beide nicht gerade besonders shoppingbegeisterte Menschen. Daher hatte ich meine Einkäufe nach gerade einmal anderthalb Stunden in der Tasche, wobei wir den Großteil dieser Zeit in einer Schlange wartend an den Kassen verbracht hatten. Pralinen für meine Mutter, eine Krawatte für meinen Vater, ein neues Computerspiel für meinen Bruder und für meine Schwester eine Puppe von dieser russischen Zeichentrickserie, von der sie immer so schwärmte. Kurz bevor wir fertig waren, schnappte sich Djadi eine kleine Flasche teures Parfüm. Eigentlich feiern wir kein Weihnachten”, erklärte er, „aber meine Mutter freut sich trotzdem, wenn ich ihr etwas schenke.”

„Siehst du”, lachte ich, „selbst als Muslim kommt man um den Konsumzwang nicht herum. Das beweist doch wieder einmal, was hier in Deutschland inzwischen aus Weihnachten geworden ist.”

Djadi zuckte mit den Achseln. Ich hatte ihm gerade erst von unserer Religionsstunde erzählt. „Stimmt schon, aber ist das so schlimm? Ein paar schöne Tage mit der Familie, sich gegenseitig beschenken… euer Jesus würde es vermutlich ziemlich traurig finden, dass ihr dafür einen Anlass und ein Datum braucht, aber der ist schon lange tot, also zählt seine Meinung nicht wirklich. Immerhin passiert es überhaupt.”

Ich nickte nachdenklich, Recht hatte er schon irgendwie. Immerhin hatten wir ein Familienfest im Jahr. Mit etwas Glück, dank erstem und zweitem Weihnachtstag, sogar wirklich eine Chance auf ein Stück Ruhe und Besinnlichkeit. Wenn man es so sah, wurde es schon schwieriger, etwas gegen das Fest der Liebe zu sagen. Apropos Fest der Liebe. Ich zwinkerte meinem Freund zu. „Weißt du schon, ob du Weihnachten bei mir übernachten kannst?”

Djadi grinste mich breit an. ”Ja, Marc deckt wieder für mich.” Marc war irgendein Cousin zweiten Grades oder so von Djadi, dessen Profil er in den blauen Seiten gefunden hatte. In derselben Community, in der wir uns auch kennengelernt hatten, soweit ich mich richtig erinnerte. Seitdem hatte Marc sich bereit erklärt, Djadis Cover zu sein, wenn seine Eltern mal wieder wissen wollten, wo er sich so herumtrieb, oder wo er die Nacht verbracht hatte, was zum Glück aber nicht mehr oft passierte.

Meine Eltern waren da zum Glück offener. Sie wussten von uns, und obwohl ich glaubte, dass sie unsere Beziehung nicht so wirklich komplett verstanden hatten, unterstützten sie uns und waren immer freundlich zu Djadi. Da seine Familie kein Weihnachten feierte, und wir schon eine Weile zusammen waren, hatten sie mir sogar erlaubt, ihn über die Feiertage einzuladen. Ob das für seine Eltern okay sei, hatten sie wissen wollen. ‘Denen ist das egal’, hatte ich ihnen schnell versichert, und dann schaute ich leicht bedrückt, ‘die kümmern sich nicht so sehr.’

Okay, es war vermutlich nicht gerade nett, sie als Rabeneltern darzustellen - als ob Djadi ihnen egal wäre. Vielleicht half seine Herkunft auch dabei, auf ein vorgeformtes Bild im Kopf meiner Eltern anzuspielen. Aber was hätte ich machen sollen? Hätten meine Eltern gewusst, dass wir seine Eltern anlogen, damit er zu uns kommen konnte… das wäre nicht gut gegangen.

Nachdem wir uns geröstete Mandeln gekauft hatten, verließen wir den Weihnachtsmarkt und waren wieder vor dem Einkaufszentrum, wo wir uns auf einer Bank neben dem Eingang niederließen. Wir saßen direkt nebeneinander, dick verpackt in Jacken und Pullover, Schultern in Kontakt, während wir den Schneeflocken beim Fallen zusahen und uns ab und zu gegenseitig die süßen Nüsse in den Mund schoben.

„Weißt du”, stellte ich fest, als ich meinen Arm um Djadi legte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte, „Ich glaube Weihnachten ist doch gar nicht so schlecht. Ich kann mich im Moment jedenfalls nicht beschweren.”

„Hmmm”, machte er zustimmend, während er sich in meine Umarmung lehnte und seinen Kopf auf meine Schulter legte.

So saßen wir dort einige Zeit und beobachteten die Familien, die im Weihnachtsstress vorbeizogen. Eine genervte Mutter, die mit ihrem quengelnden Kleinkind schimpfte. Zwei etwa achtjährige Jungen, die uns beim Kuscheln sahen, und kicherten und tuschelten, ohne sich näher an uns heran zu trauen, und dann schließlich weiterzogen. Ein Geigenspieler, der es schaffte, trotz der eisigen Kälte ‘Halleluja’ zu spielen, und die Leute, die einige Münzen in den Hut vor seinen Füßen warfen. Ob er wohl wirklich an Jesu Christi Geburt glaubte, oder ob er nur wegen des Geldes hier war?

Gerade als ich darüber nachdachte, ob wir aufstehen und uns wieder in das Warme bewegen sollten, sah ich eine ältere Frau aus dem Einkaufszentrum kommen. Sie trug zwei voll beladene Taschen, jede in einer Hand. Offensichtlich hatte sie für Weihnachten und die kommenden Feiertage eingekauft.

Ich musste an meine eigene Großmutter denken, die vor einigen Jahren verstorben war. Da sie in einem kleinen Dorf lebte, hatten meine Mutter und ihre zwei Geschwister sich die Einkäufe von ihr immer geteilt. Jede Woche fuhr ein anderer mit ihr einkaufen. Als kleine Kinder waren ich und meine Cousins und Cousinen oft dort gewesen, aber über die Zeit hatten wir immer mehr mit der Schule und unseren eigenen Leben zu tun, bis es schließlich nur noch die einjährigen Besuche am zweiten Weihnachtsfeiertag waren.

Ich schaute weiter zu ihr herüber, während meine Hand Kreise auf Djadis Rücken zog. Ihre Schritte waren unglaublich kurz und langsam. Sie brauchte bestimmt zwei Minuten, bis sie vom Eingang des Zentrums bis zu unserer Bank kam, eine Strecke die ein normaler Mensch in einem Bruchteil der Zeit hätte schaffen können. Sie musste schon sehr alt sein, mindestens achtzig, und während die rechte Tasche schwer an
ihrem Arm hing, schleifte die linke mit jedem Schritt leicht auf dem Boden. Es war offensichtlich, wie sehr sie sich abmühte, weiter zu gehen.

Djadi stieß mich leicht an und nickte mit seinem Kopf in Richtung der älteren Frau. Er hatte sie also auch gesehen. „Können wir Ihnen irgendwie helfen? Die Taschen sehen ja unglaublich schwer aus”, sprach er sie freundlich an, während er sich erhob.

Sie schaute auf und brauchte eine Sekunde, bevor sie sprach. „Ach Danke, aber das ist doch nicht nötig”, antwortete sie in dieser typisch leicht leiernden, leicht krächtzenden Stimme, die manche ältere Menschen so haben. „Sie müssen mir doch nicht helfen.”

„Ach Quark, ich muss nicht, aber ich möchte gerne”, erwiderte er lächelnd. „Sollen wir Ihre Taschen für Sie tragen? Wohin müssen sie denn?”

Sie sah uns einen Moment lang an und lächelte dann dankbar „Nur nach da vorne, zu der Haltebucht. Ich habe ein Taxi angerufen.”

Ich schaute die Straße hinunter zu der Ladefläche für LKWs, auf die sie zeigte. Es war tatsächlich die allernächste Möglichkeit vom Einkaufszentrum aus, die ein Taxi hätte erreichen können. Für die nächsten hundertfünfzig Meter hätte sie schätzungsweise weitere zehn bis fünfzehn Minuten gebraucht. Das heißt, wenn sie nicht vorher erfroren oder zusammengebrochen wäre.

‘Hatte sie denn keine Kinder oder Verwandte, die sich um sie kümmerten? Keinen Pflegedienst? Nicht einmal einen Rollator?’, wunderte ich mich, aber wagte nicht, meine Gedanken laut auszusprechen. Es gibt Themen, die man lieber nicht anschneiden sollte, und dieses erschien mir als ein solches. Stattdessen nahmen Djadi und ich ihr jeweils eine Tasche ab und begleiteten sie langsam den Weg entlang der Seite des Einkaufszentrums.

Ein Mitarbeiter stand rauchend an einem Seitenausgang direkt an der Ladebucht. „Es ist zu schade, dass ich nicht durch den Seitenausgang gehen kann”, klagte sie.

Unsicher was ich sagen sollte, nickte ich nur. „Das ist schon echt doof.”

„Und die Einkaufswagen muss man direkt am Geschäft lassen”, fuhr sie mit erschöpfter Stimme fort. „Selbst durch das ganze Einkaufszentrum muss ich meinen Einkauf tragen. Wenn man nicht mehr so jung ist, naja…”, sie redete nicht weiter, sondern konzentrierte sich wieder mehr auf ihre kleinen, mühsamen Schritte.

„Haben Sie denn etwas Schönes für Weihnachten eingekauft?”, fragte Djadi, offensichtlich um die peinliche Stille zu vertreiben.

„Ja, Heiligabend gibt es bei mir Ente”, sie lächelte uns melancholisch zu. „Wie früher, als mein Franz noch gelebt hat. Damals haben wir jedes Jahr Ente zu Weihnachten gegessen.”

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. „Wir essen dieses Weihnachten auch Ente”, versuchte ich schließlich, und fügte dann scherzhaft hinzu: „Zumindest solange Djadi hier”, ich nickte in seine Richtung, “sie nicht bei der Zubereitung verbrennt.”

Djadi lachte: „Wissen Sie, vor einigen Monaten meinte seine Mutter, wir beide müssten kochen lernen und hat uns an den Herd gestellt. Ich wusste nicht, dass man Spaghetti nicht in kaltes Wasser werfen sollte. Das wird er mich nie vergessen lassen.”

In diesem Moment wurde unser Gespräch vom vorfahrenden Taxi unterbrochen. Ich lud die Taschen in den Kofferraum während Djadi ihr die Tür öffnete.

„Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Weihnachten”, sagte er lächelnd, als sie im Auto saß und wir beide an der Tür standen.

„Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben”, sagte sie, offensichtlich erschöpft,aber sehr dankbar. Sie lächelte Djadi an. „Das mit der Weihnachtsente schaffen sie schon. Ich wünsche Ihnen beiden einen wundervollen Heiligabend.”

„Frohe Weihnachten”, wünschte auch ich, und damit fuhr das Taxi davon.

Als Djadi und ich drei Tage später, am Heiligabend, unsere Geschenke ausgepackt hatten, saßen wir zusammengekuschelt auf dem Sofa und beobachteten meine jüngeren Geschwister beim Spielen. Im Hintergrund brannte der Kamin und als ich in die Flammen starrte, kam wieder das Gesicht der älteren Dame in meinem Kopf auf. „Was die alte Frau vom Einkaufszentrum wohl gerade macht?”, fragte ich Djadi.

Er seufzte. „Ich hoffe, dass sie nicht alleine ist.” Dann rollte er sich ein bisschen wie eine Katze zusammen und ich drückte ihn näher an meine Brust.

„Das hoffe ich auch”, flüsterte ich. Ein Holzscheit knackte, und Funken stoben aus dem Feuer empor. Ich starrte in die Glut.‘Ob sie wohl eine richtige Bestattung haben würde, oder würde sie praktisch anonym kremiert und in einem Urnengrab beigesetzt werden?’

Ich versuchte die Gedanken zu verdrängen und zog Djadi an mich. Und trotzdem war es mir unmöglich, die Vorstellung vollkommen loszuwerden, wie sie alleine ihre Weihnachtsente aß und an ihren Franz dachte.

Mit einem Blick auf meine spielenden Geschwister schloss ich meine Augen. Würden Djadi oder ich in vielen Jahren auch einmal an einem Tisch sitzen und uns wünschen, dass wir jemanden hätten, dass wir nicht alleine wären? Hätte ich vielleicht mehr tun können?

Und was mir zuvor schon immer so klar war, was ich als selbstverständlich angenommen hatte, wurde nun wieder zu einer Frage:

„Was ist eigentlich Weihnachten?”

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Hallo Sammy Blue, schöne Geschichte. Sicher,so glaube ich, mit der richtigen Antwort auf die Frage was Weihnachten denn sei. Glücklich zu sein dürfen, wie die Beiden. Sich Lieben können und auch Liebe weitergeben. Sei es auch nur durch Tragen von Taschen - oder der Last eines Anderen. LG

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