Ehemann

11

Der letzte Tag

Der offizielle Titel war ja eigentlich “Demo” und war das letzte Stück, welches noch schnell auf Herbert Grönemeyers Album kam. Aber darüber wollte ich ja gar nicht reden.

Es war der letzte Tag für Mark und Colin in Hamburg und ein ganz besonderer für Colin und mich. Wir sahen gerade den Tag über Hamburg anbrechen und hatten bisher kein bisschen geschlafen. Mark und Colin wollten an ihrem letzten Tag den Fischmarkt ansehen und dafür mussten wir früh aufstehen – zumindest, wenn man wie Mark geschlafen hatte.

Colin hatte mir gerade die Frage gestellt, ob ich nur eine Sommerromanze für ihn sei.
“Nein, absolut nicht!”, beteuerte ich. “Ich weiß, dass ich irgendwas für dich empfinde. Irgendwas zwischen Freundschaft und Liebe, ob das so bleibt, kann ich nicht versprechen.”
Colin wollte daraufhin wissen: “Und wie finden wir das raus?”
“Wir haben noch einen ganzen Tag”, erklärte ich “und unser Treffen an Silvester. Ohne Mark. Das wird sich alles zeigen.”

“Mark ist übrigens gerade aus dem Bad raus”, informierte mich Colin.

Also machte ich mit auf den Weg zu den Landungsbrücken und erlebte erstmals – alles andere als wach – die Sorte Menschen, die morgens um sechs U-Bahn fährt. Ich selbst war auch noch nie auf dem Fischmarkt gewesen. Unter anderen Umständen hätte ich einen Teufel getan und wäre so früh aufgestanden, um da alleine hinzugehen. Manche Sehenswürdigkeiten in der eigenen Stadt besichtigt man eben nur, wenn man Besuch hat.

Wieder saßen wir an der Alster. Die Stadt war noch nicht vollends erwacht. Warm wie die letzten beiden Tage war es nicht – und es war kein Tag wie die letzten Tage: Es war der letzte Tag.
Aber er hatte gerade erst begonnen.

Es war der letzte Tag und irgendwie auch der erste.

Und was passieren würde, war noch völlig offen. Colin und ich waren entschlossen, ihn zu nutzen. Ich war voller Vorfreude.
Mark legte seinen Kopf auf meinen Schoss. Das hatte er damals bei Leander auch schon getan. Damals hatte er gesagt, dass er sich geborgen fühle und war so eingeschlafen.
Nun aber hatte ich das Gefühl, dass Colin dies an Mark missfiel und um Colin zu gefallen – heute weiß ich, dass das unglaublich dumm und unfair gegenüber Mark war –, begann ich, mit den Füßen vor und zurück auf Zehenspitzen und Hacken zu wippen, sodass sich meine Knie abwechselnd hoben und senkten, um das Liegen darauf nicht zu bequem zu machen.
Irgendwann fing es zu tröpfeln an und Mark war – natürlich – der erste, der sich unter einen Unterstand zurückzog. Colin und ich harrten aus, genossen die Zweisamkeit. Als der Regen aber stärker wurde und wir langsam durchnässt waren, beschlossen wir, in die Europapassage, einem Einkaufszentrum am Jungfernstieg, also auf der anderen Straßenseite von uns, zu flüchten. Wir alle drei hatten Hunger und beschlossen, eine Pizza zu essen. Während des Essens fielen mir allerdings immerwährend die Augen zu, woraufhin mich Colin, der mir gegenüber saß, mitleidig anschaute.

Nach dem Pizzaessen gingen wir in die Hafencity und setzten – eher legten wir uns, denn wir waren alle nicht wirklich ausgeschlafen – auf eine dieser riesigen Holzdinger, die eine Art Bankersatz darstellten und nicht wirklich gemütlich zum Liegen sind. Nur war das bei der Sonneneinstrahlung des Platzes keine gute Idee, denn wir alle schliefen kurz darauf ein.
Ich wachte zuerst auf, da mir vom Holz der Rücken wehtat.

Später saßen wir in der Bahn nach Altona, um dort im Lidl – denn es war Sonntag – noch ein bisschen was einkaufen.
“Sieht aus, als hättest du einen fetten Sonnenbrand”, bemerkte Colin und verzog sein Gesicht zu einer Miene mit aufrichtigem Mitleid.
Ich schaute in mein Antlitz in der Spiegelung des S-Bahn-Fensters und konnte nichts erkennen.
“Ich glaub nicht. Ist vielleicht nur ein bisschen rot.”
Am Abend stellte sich heraus, dass er recht gehabt hatte.

Zurück an der Alster hatten wir uns an der Ecke zum Gänsemarkt, wo sich auch das NIVEA-Haus befindet, ein Plätzchen gesucht.

“Du sagtest mal, dass du Leute nicht lange ansehen kannst”, meinte Colin. Ich bejahte.

“Das kann man ändern”, erklärte Colin.
Ich fragte nach dem Wie.
“Nicht wie”, erwiderte er. “Wer – nimm mich als Versuchsobjekt.”
Was soll ich sagen: Es funktionierte mit ein paar Versuchen zunehmend besser und am Ende konnte ich kaum genug davon bekommen, tief in diese Augen zu schauen. Es war, als wenn wir – erneut – etwas unglaublich intimes teilen, was in dem Moment nur uns beiden gehörte und das alles andere rundherum ausblendete.

Trotzdem durfte ich nicht vergessen, dass Mark neben uns saß und von alledem nichts mitbekommen durfte. Also zwang ich mich, auch wenn es mir schwerfiel, das Anstarren nicht länger als nötig andauern zu lassen und mich immer mal wieder für einen Moment loszureißen.

An Silvester würde das anders sein. Da würde es nur uns zwei geben. Darauf freute ich mich jetzt schon.

Auch die schönste Zeit geht vorbei und irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man sich verabschieden und Menschen gehen lassen muss, auch wenn man nicht will.
Ich umarmte Mark kurz, aber herzlich und dann war Colin an der Reihe. Die Länge der Umarmung lasse ich meistens durch die andere Person bestimmen und Colins Arme, die mich fest an ihn drückten, schienen mich nie wieder loslassen zu wollen – mir war das nur recht so. Auf einmal bemerkte ich, wie Colins Finger Kreise auf meinen Rücken malten. Zunächst zaghaft, dann selbstbewusster. Erst dachte ich, ich bilde mir das nur ein, aber offenbar tat er das wirklich und so begannen auch meine Finger zärtlich Kreise auf die seinen Rücken bedeckende Jacke zu malen.

Was wir hatten, war und ist schwierig zu beschreiben. Wenn ich es damals in Worte fasste, war es immer “irgendwas zwischen Freundschaft und Liebe”. Es lässt sich aber auch mit zwei Adjektiven beschreiben: “Schön” und “unsicher”.
Schön, weil es mich mit Glück erfüllte, Zeit mit Colin zu verbringen und alles perfekt schien. Unsicher deshalb, weil wir, besonders ich, krampfhaft versuchten, dem Zustand “zwischen Freundschaft und Liebe” einen Namen zu geben und wie auf einer Skala dazwischen einzuordnen. Wir wollten nichts überstürzen und alles richtig machen, wir wollten uns absichern. Rückblickend stagnierten wir so lange, bis uns einfiel, wie wir unsere Beziehung nennen wollten.

1 „Gefällt mir“