Ehemann

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Sonnenuntergang

Abends fuhren die beiden zu sich in die Unterkunft und ich in meine WG. Einige Zeit später schrieb mich Colin an und wir redeten über den Tag. Schnell kamen wir auf den soziophoben Moment an der Alster zu sprechen. Er versicherte mir, dass ich das ruhig hätte tun können und ermunterte mich, genau das bei der nächsten Gelegenheit einfach zu tun. Also nahm ich mir vor, beim nächsten Mal mutiger zu sein. Irgendwie geben mir seine Worte Kraft.

Am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Gemeinsam besuchten wir Planten un Blomen – einen Park im Hamburger Stadtteil St. Pauli – und stellten relativ schnell fest, dass Mark einmal die Stunde Hunger bekam und quengelig wurde, wenn wir keinen Imbiss aufsuchten. Wieder kam ich mir so vor, als würde ich mit einer zweiten Person – in diesem Fall Colin – zusammen Mark betreuen.

Abends wollten die beiden unbedingt in die Lange Reihe. Das ist Hamburgs Schwulenstraße. Es war Mittwoch und es war absolut nichts los. Die einzigen Gäste der Bar, für die wir uns entschieden, waren ein Mann und eine Frau, die an einem Tisch weiter hinten saßen und sich unterhielten. Heteros waren in dieser Straße normal. An sonnigen Tagen findet man ganz Hamburg hier. Einen großen Bogen um die Straße zu machen, fiele den allermeisten im Traum nicht ein.

Das einzige Schwule hier in St. Georg – so heißt das Stadtviertel, in dem sich auch die Lange Reihe befindet und in dem ich drei Monate gewohnt hatte – waren vielleicht noch die paar verstreuten Regenbogenfahnen. Sonst sah alles fast schon enttäuschend gewöhnlich aus. Ein paar Clubs, die 18+-Events anbieten und sich in den Seitenstraßen befinden, bilden da die absolute Ausnahme.

Am darauffolgenden Tag war auf dem Dom – unser vierteljährliches Hamburger Volksfest, welches Mark ‘Kirmes’ nennt, obwohl das Wort hier oben niemand benutzt – LGBT*-Tag. Mark hatte irgendwo von den massenhaft verteilten Pappregenbogenfahnen zwei Exemplare gefunden und lief nun damit herum. Um zum halben Preis mit einem Fahrgeschäft fahren zu können, gaben sich Mark und Colin beim Kartenkauf als Paar aus. Ich wartete solange davor, da ich generell nicht Achterbahn fahre. Als ihre Fahrt beendet war, kamen sie von hinten angelaufen und auf einmal hielt mir jemand die Hände vor die Augen. Für mich bestand kein Zweifel daran, dass es sich dabei um Mark handelte, da dieser für derlei Späße bekannt war. Doch ich irrte mich: Es war Colin. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ihn hatte ich nicht so eingeschätzt, auch wenn ich ihn durch lange Chats und Skypegespräche mittlerweile recht gut kannte. Er schien in dem Moment geradezu übermütig gewesen zu sein. Wir entschieden uns danach schließlich für ein Labyrinth als Fahrgeschäft. Mark war der erste, der wieder draußen war und auf uns wartete. Als Colin und ich die vor uns liegende Treppe erklommen hatten, erreichten wir das Dach des Fahrgeschäfts, wonach es nicht mehr weit bis zum Ausgang war. Von hier oben konnte man auf das Heiligengeistfeld blicken, auf dem der Dom schon seit Jahrzehnten stattfand. Man sah das St.-Pauli-Stadion, den Hochbunker und Teile des Stadtteils nach dem sich die zweite Hamburger Fußballmannschaft benannt hatte.
Noch ein paar Schritte und wir waren draußen. Wir aber wollten noch nicht raus. Das eilte nicht. Ich kam hinter Colin die Treppe hinauf und er blieb am Geländer stehen. Ich gesellte mich zu ihm. Das war wohl das erste Mal, dass er St. Pauli von oben sah. Aber er schaute sich nicht nur die Stadt aus der Vogelperspektive an. Er genoss den Sonnenuntergang, der den Himmel orangerot färbte. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, diesen Anblick einige Momente auf mich wirken zu lassen. “Schön, nicht?”, kommentierte Colin, ohne den Blick abzuwenden.

Ich gab einen zustimmenden Laut von mir – darauf bedacht, diesen Moment nicht durch zu viel Worte oder ablenkenden Laute zu unterbrechen. Es freute mich, dass wir beide die Schönheit dieses Naturschauspiels zu schätzen wussten. Er schien gerade so fasziniert zu sein. Dann beendete etwas anderes diesen Moment. Colins Handy vibrierte.
“Mark”, informierte er mich, als er aufs Display geschaut hatte. “Er will, dass wir runterkommen und fragt, warum wir so lange brauchen.”
In Colins Stimme schwangen sowohl Genervtheit als auch Enttäuschung mit.

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